Ohne Zuwendung und Zwischenmenschlichkeit zu ermöglichen, kann Medizin nicht wirklich human sein – Die Herrschaft der Ökonomie macht unser Gesundheitswesen krank

12. April 2016 David Holzmann


«Ein Letztes und Grundlegendes, was den Ärzten ermöglicht werden muss zu geben, ist die Wertschätzung. Erfüllung in seinem Beruf kann ein Arzt doch nur finden, wenn es ihm gelingt, sich eine grundlegende Wertschätzung für den Patienten zu bewahren und diese ihm auch zu bekunden. […] Aber Zwischenmenschlichkeit kann man nicht verordnen, und man kann sie nicht im Managementsystem abhaken. […] Die Strukturen müssen der Menschlichkeit Raum geben, damit sie gedeihen kann. Dazu muss es einen Konsens geben, dass aller Wirtschaftlichkeitsgebote zum Trotz ganz selbstverständlich in gute Arbeitsbedingungen für die Heilberufe investiert wird […]. Damit Ärzte und Pflegende ihre Patienten wertschätzen und sich für sie menschlich engagieren können, müssen sie auch vom System eine Wertschätzung erfahren.» Giovanni Maio, S. 160f.


 

Gesundheit ist immer noch das höchste Gut für uns Menschen, und das spürt jeder Arzt als Rückmeldung seiner Patienten, zum Beispiel in Form der grossen Erleichterung, wenn eine Abklärung oder eine Behandlung ein erfreuliches Resultat beschert. Die Hoffnung auf Gesundheit oder auch auf erfolgreiche Behandlung von Krankheiten oder Verletzungen ist so gross, dass der Patient nicht selten grosszügig über Fehlverhalten von Ärzten oder Pflegenden, Ungereimtheiten in administrativen Abläufen und so weiter hinwegsieht. Eine zunehmende Unzufriedenheit macht sich dennoch bei den Patientinnen und Patienten bemerkbar. Sortiert man diese Klagen der Patienten aus Rückmeldungen, Briefen oder auch Leserbriefen in Zeitungen, werden bestimmte Mängel mit konstanter Regelmässigkeit angesprochen. Ärzte und Pflegende hätten zu wenig Zeit für die Patienten, Patienten verstehen zum Teil nicht, worin ihre Krankheit besteht und warum sie diese oder jene Behandlung brauchen. In der Korrespondenz mit Krankenkassen, Spitälern oder anderen Behandlungsinstitutionen sind eine Unmenge Formulare mit Fragen zu beantworten und Hinweise zu lesen. Die Klagen der Patienten beziehen sich auf Mängel in der Arzt-Patient-Beziehung, der immer weniger Beachtung geschenkt wird oder die schlicht zu kurz kommt. Auch umgekehrt klagen immer mehr Ärzte und Pflegefachleute, dass sie immer weniger Zeit für Patienten aufwenden können, weil lückenlose Leistungserfassung, Controlling, Berichtswesen und so weiter immer mehr Zeit verschlingen. Wo geht diese Zeit für den Patienten verloren? Was soll die stets zunehmende Bürokratie?

Professor Giovanni Maio, Internist und Lehrstuhl­inhaber für Medizinethik, bringt in gut verständlicher und nachvollziehbarer Darstellungsweise in seinem Buch «Geschäftsmodell Gesundheit. Wie der Markt die Heilkunst abschafft» eine aktuelle Entwicklung unseres Gesundheitssystem auf den Punkt: Indem das Gesundheitswesen immer mehr dem sogenannten freien Markt ausgesetzt wird, werden administrative, bürokratische Arbeiten und vor allem das Einhalten von Budgetlimiten immer höher priorisiert, während die effektive Hilfeleistung am Patienten zunehmend vernachlässigt wird. Ärzte, aber auch Pflegende und weitere Gesundheitsberufe werden immer mehr gezwungen, die Patienten nach wirtschaftlichen beziehungsweise finanziellen Kriterien einzuteilen und zu behandeln.

Die stetig fortschreitende Unterweisung der Medizin, die nach ökonomischen beziehungsweise neoliberalen Prinzipien funktionieren soll, erklärt, warum der Arzt immer weniger Zeit für die Patienten hat. Nicht anders geht es den anderen versorgenden Berufen wie Pflegepersonen, Physiotherapeuten und so weiter. Wohl haben sie ihren Beruf ergriffen, um mit Patienten zu arbeiten, doch genau davon müssen sie sich immer mehr verabschieden, weil die Beziehung zum Patienten nicht mehr zuoberst auf der Prioritätenliste steht.

So erklärt sich auch die zunehmende Unzufriedenheit in den medizinischen Berufen, deren Vertreter immer mehr zu Verwaltern und Administratoren von Patientendaten degradiert werden.

 

Die Medizin auf dem Weg zu Fallpauschalen und Budgetierung

In Deutschland und in der Schweiz galt bis Anfang der 90er Jahre ein retrospektives Finanzierungssystem, womit gemeint ist, dass zuerst der Patient versorgt wird und erst danach ein Krankenhaus die effektiven Kosten feststellt und um die Abgeltung ersucht. Nach einer Gesundheitsreform – in der Schweiz die Änderung des Krankenversicherungsgesetzes im Jahre 1996 – fand ein Wechsel in ein prospektives Finanzierungskonzept statt. Bevor der Patient also in einem Spital behandelt wird, muss dieses sich über die Finanzierung Gedanken machen, wie es mit den vorhandenen Mitteln seine Patienten behandeln kann. Mit dieser Umstellung wird den Spitälern ermöglicht, Verluste oder Gewinne zu erzielen, was in Handel, Industrie und Gewerbe üblich ist. Diese Umstellung wiederum beeinflusst die Befindlichkeit des Personals und färbt auf die Zufriedenheit und die Arbeitsplatzsicherheit ab. Dies ist denn auch ein zentraler Gedanke Giovanni Maios: Der Verlust des Sozialen, der Arzt-Patient-Beziehung, als Resultat einer ökonomischen Umformung der Medizin, die immer mehr auf Leistung, finanzielle Optimierung und letztlich Gewinn­erwirtschaftung zielt. Der Arzt hat jedoch dem Patienten gegenüber eine Loyalitätspflicht, die er nicht einfach aufgeben kann. Einen Ausgleich, ein Ausbalancieren von ökonomischem Vorteil und dem Wohl des Patienten kann es schlicht nicht geben, weil letzteres nicht verhandelbar ist. Gewiss ist es richtig, dass sich jeder Arzt ökonomische Gedanken in der Medizin machen soll. Er muss ein gewisses Kostenbewusstsein haben, darf aber nicht unter Druck geraten und gewisse Abklärungen und Behandlungen unterlassen, um ein Defizit seines Krankenhauses zu vermeiden. Verachtenswürdig sind Kranken­hausstrategien, die primär auf eine Gewinnmaximierung ausgerichtet sind.

 

Praktische Auswirkungen einer ökonomisierten Medizin

Weder die Politik noch die Spitalverwaltungen schreiben den Ärzten offen vor, dass sie nach rein ökonomischen Kriterien Patienten behandeln sollen, beziehungsweise sie schreiben nicht vor, ab welchem Alter ein Patient wie in England kein Anrecht mehr auf eine Dialyse hat. «Die Krankenhausleitungen machen zwar keine klaren Vorgaben, aber durch die Abteilungsbudgets und durch die Transparenz der Erlöse werden die einzelnen Abteilungen unterschwellig unter Druck gesetzt. Man erpresst sie sozusagen, beteuert aber, dass letztendlich die Ärzte selber entscheiden sollen.» (Dieses und die folgenden Zitate sind dem Buch von Giovanni Maio entnommen.) Ärzte werden einer strukturellen Bevormundung unterzogen, indem ihnen immer mehr Ressourcen entzogen werden. Beispielsweise werden Ärzten immer mehr rein bürokratische Aufgaben wie minutiöse Leistungserfassung, Kodierungen, Kostengutsprachegesuche und so weiter aufgebürdet, womit sie zwangsläufig immer weniger Zeit für den Patienten haben.

Neben der strukturellen findet auch eine ideelle Bevormundung statt, indem der Arzt subtil aufgefordert wird, nach ökonomischen und nicht nach medizinisch sinnvollen Kriterien zu behandeln. Er wird förmlich dazu gezwungen, Patienten nach «Verlustposten» oder «Erlöseinbringer» zu kategorisieren, womit die Überdiagnostik bei privatversicherten Patienten erklärbar wird.

Direkte Auswirkung der zunehmenden Ökonomisierung ist die drakonische Reduktion des Personals beziehungsweise der Personalkosten. Spätestens hier wird ersichtlich, dass das Dikat der Ökonomie zu einer Minimierung der Kontaktzeit mit dem Patienten führt. Um diese Kontaktzeit noch weiter reduzieren zu können, wird administrativen Aufgaben höchste Priorität eingeräumt, «das Nicht-sofort-Dokumentieren wird gnadenlos sanktioniert». Maio resümiert denn auch konsequenterweise: «Innerhalb einer ökonomisierten Logik wird die ärztliche Behandlung auf eine technische Reparatur reduziert, die so kostensparend wie möglich ablaufen soll.» In dieser Vorstellung jedoch, in welcher Wettbewerb und Konkurrenz oberste Zielgrössen darstellen, werden auch unrentable Teile des Unternehmens bestimmt und abgestossen. Eine Medizin jedoch, die Patienten in dieser Weise meidet, verdient es nicht mehr, Medizin genannt zu werden.

Umgekehrt beobachten wir schon heute in der erlösorientierten Patientenversorgung Rentabilitätskriterien, die für die Entscheidung einer Abklärung und Behandlung wesentlich zentraler sind als der Patient mit seiner Krankheit selbst. Unverfroren sprechen denn auch Spitalverwaltungen und Gesundheitsökonomen von Kunden und nicht mehr von Patienten. Damit einhergehend findet laut Maio eine Deprogrammierung der Ärzte statt, die sich immer mehr contre coeur gezwungen sehen, nach ökonomischen Vorgaben zu handeln und sich von der anteilnehmenden Beziehung zum Patienten verabschieden zu müssen. Damit ist der Arzt im doppelten Sinne der Verlierer: Er verliert das Vertrauen seiner Patienten und den Sinn seiner ärztlichen Tätigkeit.

 

Theoretische Implikationen einer ökonomisierten Medizin

Die Rolle der Ökonomie hat sich in bezug auf die Medizin dahin gewandelt, dass sich die Ökonomie von der Dienerin zur Beherrscherin der Medizin entwickelt hat. Der mit Scheinargumenten erzwungene Zeitdruck verdrängt ruhige Gespräche zwischen Ärzten und Pflegenden, dafür wird jeder Handstrich mit Zeitkontingenten aufgefächert beziehungsweise mit fixierten Zeitfenstern definiert.

Eine zentrale Vorannahme der Ökonomisierung ist die Vorstellung, dass die Behandlung von kranken Menschen nach dem Modus eines Algorithmus beziehungsweise nach dem Modell der industriellen Produktion zu erfolgen hat. Doch von diesem Moment an wird der Patient automatisch zu einem Mechanismus herabgestuft. Entsprechend müssen Ärzte lernen, rationale Automatismen an Stelle persönlicher Entscheidungen zu setzen, womit die Heilberufe deprofessionalisiert und industrialisiert werden. In diesem ökonomisierten System wird die Therapie nicht dem Patienten angepasst, sondern die Patienten einem Therapieschema. Folglich werden Ärzte austauschbar, da es in der Klinik nicht um die Person des Arztes geht, sondern um den «Prozess» der Behandlung. Durch die «Managerialisierung» und «Prozeduralisierung» der Therapie wird letzten Endes ein zentraler Bestandteil der Medizin wegrationalisiert, auf den es in der Medizin ankommt, nämlich die vertrauensvolle Mitmensch-Beziehung. In diesem ökonomisierten System gibt es keine Helfer mehr, sondern Dienstleister, an die Stelle der Sorge für den anderen tritt die Lieferung einer bestellten und vertraglich vereinbarten Gesundheitsware. Das empathische Engagement des Arztes wird durch eine Verpflichtung zur perfekten Dienstleistung ersetzt. An dieser Stelle zitiert Maio Erich Kästner treffend:

«In ihren Händen wird aus allem Ware,
in ihrer Seele brennt elektrisch Licht,
sie messen auch das Unberechenbare,
was sich nicht zählen lässt, das gibt es nicht.»

Unter dem Diktat dieser ökonomischen Rationalität werden Ärzte und alle Helfer dazu gezwungen, ganzheitliches Denken abzulegen. Die ärztliche Qualität wird systematisch herabgesetzt, indem eine wilde Dokumentationswut ausgebrochen ist. Alles muss belegt werden, alles wird kontrolliert, nichts wird als selbstverständlich erachtet, sondern im Gegenteil, für alles muss man Rechenschaft ablegen. Die Ärzte sehen sich einem ständigen Generalverdacht ausgesetzt. Der stete Druck auf die Ärzte dient nicht dem Wohl der Patienten, sondern allein den Bilanzen. Das rein auf Erlös orientierte Arbeiten schwächt die Eigenmotivation und somit die eigentliche Stärke in diesem menschennahen Beruf. Doch gerade das Gespräch der Helfenden – seien es Ärzte oder Pflegende – wird nicht belohnt. Vielmehr sind es teure technische Abklärungen und Interventionen, die hoch vergütet werden.

«Dass dieses System überhaupt so funktioniert und die Ärzte das so mitmachen, liegt an der subtilen Individualisierung einer strukturell verhängten Knappheit. Die Knappheit an Zeit und Ressourcen wird von oben festgelegt, aber es sind die Mitarbeiter der Klinik, die damit fertig werden müssen: Sie müssen immer unter zunehmendem Druck arbeiten.» Dass die Heilberufe sich bislang nicht genug gegen diese verordnete Knappheit gewehrt haben, liegt an der geglückten Strategie, die äusserlich vorgegebene Knappheit zu einem individuellen Problem des einzelnen Arztes zu deklarieren.

In einem solchen ökonomischen System hat Hingabe oder Dienst am Menschen keinen Platz mehr, gilt gar als antiquiert. Die Beziehung zum Patienten soll nach dieser Denkweise nicht mehr eine soziale, sondern eine geschäftliche sein.

 

Vom Patienten zum Kunden

In der modernen Medizin – sofern man hier noch von Medizin sprechen kann – wird der Patient immer seltener als ein notleidender Mitmensch, sondern als Verbraucher von medizinischen Dienstleistungen, als mündiger Kunde gesehen, der eine wohlinformierte Kaufentscheidung zu treffen hat. Der Patient hat durch sein Leiden aber häufig kaum eine Wahl. Die ökonomische Zielsetzung, einen Kunden dazu zu bewegen, auch in Zukunft und möglichst ständig beim gleichen Anbieter zu kaufen, kann nicht wirklich dem Ziel eines Arztes entsprechen. Dennoch ist unser Gesundheitssystem durch die Umsetzung ökonomischer Prinzipien soweit entpersonalisiert worden, dass immer mehr Ärzte und Spitäler ihre «Angebote» auf Hochglanzbroschüren, Webseiten und so weiter anpreisen, womit sie weniger helfen oder heilen, sondern mehr Absatzsteigerungen realisieren können.

 

Problemfeld Bonuszahlungen: Belohnung für das Falsche

Wenn Ärzte sich für das Wohl ihrer Patienten einsetzen, dann ist das ein genuin soziales Engagement und somit ein ökonomiefremdes Verhalten. Bonuszahlungen jedoch sind ein ökonomisches Instrument. Viele Studien zeigen, dass Ärzte den persönlichen Gewinn in ihrem Beruf vor allem aus ihrem Kontakt mit den Patienten beziehen und aus dem Gefühl, ihnen geholfen zu haben. Mit Boni jedoch geht eine Entwertung des Helfens einher und damit eine Gefährdung dieses Gefühls der Erfüllung der inneren Freude am Beruf. Die aktuellen ökonomischen Prinzipien in der Medizin wollen einen Arzt, der sich als Leistungserbringer versteht und sich nicht primär an die professionseigene Linie halten soll, sondern an die Vorgaben des Managements. Daraus resultiert eine Deprofessionalisierung, die gewollt ist, womit wir eine Entwertung des Arztberufs erleben, weil ein Arzt, der sich auf seinen Professionsstatus beruft und damit Freiheit im Denken und Behandeln reklamiert, schwieriger zu managen ist. Der Arzt befindet sich heute auf einer Gratwanderung, auf der er zwischen innerer Motivation und Gratifikation entscheiden muss. Er muss sich bewusst sein, dass finanzielle Anreizsysteme eine Untergrabung der Selbstverständlichkeit des Helfens bedeuten.

«Solange sich der Arzt Arzt nennt, bekennt er sich dazu, dem Gemeinwohl zu dienen, doch daraus folgt nicht, im Interesse der Effizienz einzelnen Patienten die Hilfe zu versagen oder eine Priorisierung vorzunehmen. Gemeinwohl kann hier nur heissen, dass der Arzt das Ganze im Blick haben muss und daher die öffentlichen Gelder nicht verschwenden darf, auch wenn das der einzelne Patient für sich wünschen würde. Gemeinwohlverpflichtung heisst aber auch, dass der Arzt seine vom Staat finanzierte Ausbildung nicht dazu missbrauchen darf, sie in den Dienst der Gewinnmaximierung zu stellen, weil das eine Zweckentfremdung wäre. Deswegen müssen Ärzte noch deutlicher klar machen, dass sie als Vertreter öffentlicher Interessen nur dort und nur so arbeiten werden, wie es dieser letzten Zielsetzung ihres Arztberufes gerecht wird.» Giovanni Maio, S. 152

 

«Lohnt es sich zu helfen?» Der Irrweg der Priorisierung

Infolge des Zusammenspiels von zahlenorientierter moderner Medizin und rechnender Ökonomie wird derzeit all das als unnötig eingeschätzt, wofür man keine Zahlen liefern kann. Dabei wird das Diktat der Zahl etabliert, und dieses Diktat der Zahl kennt keine Qualitäten, sondern allein Quantitäten. Das ureigenste Bedürfnis, dem Menschen zu helfen, hat in einem solchen System keinen Platz. Ein rein ökonomisches Kalkül beschränkt sich darauf, die Kosten gegen den Nutzen aufzurechnen; ein medizinisches Vorgehen orientiert sich hingegen vorrangig an der Wahrscheinlichkeit, mit der noch ärztliche Hilfe möglich ist. Hier entstehen Zielkonflikte beim Arzt. Der Arzt ist primär Anwalt des Patienten; er kann den Patienten nicht der Ökonomie überlassen, die nur Anwalt guter Bilanzen ist. Doch solange sich der Arzt Arzt nennt, bekennt er sich dazu, dem Gemeinwohl zu dienen, doch daraus folgt nicht, im Interesse der Effizienz einzelnen Patienten die Hilfe zu versagen oder eine Priorisierung vorzunehmen. Die Gemeinwohlverpflichtung heisst, dass der Arzt seine vom Staat finanzierte Ausbildung nicht dazu missbrauchen darf, sie in den Dienst der Gewinnmaximierung zu stellen, weil das eine Zweckentfremdung wäre.

Maio legt in seinem Buch klar den Finger auf die Gefahr, dass der Patient, aber auch die helfenden Berufe, letztlich die Opfer der zunehmenden Ökonomisierung der Medizin sind. Von Ärzten wird erwartet, dass sie lernen, ökonomisch zu denken; aber es ist noch viel wichtiger, dass Ökonomen lernen, medizinisch zu denken. Die eingangs gestellte Frage: «Soll die Medizin der Ökonomie dienen oder die Ökonomie der Medizin?» würden Ärzte und Patienten gleich beantworten. Es ist sicher korrekt, dass sich Ärzte Gedanken zu finanziellen und volkswirtschaftlichen Fragen machen.

 

Schlussbemerkung

Für Maio ist die zunehmende Herrschaft der Ökonomie über die Medizin ein zentraler Grund, warum unser Gesundheitswesen immer kränker wird und die Patienten trotz Fortschritten in der Medizin drohen, immer schlechter behandelt zu werden. Hinter dieser Ökonomisierung müssen die neoliberalen Agenden von Politikern wie alt Regierungsrat Buschor (New Public Management) und politische Ausrichtungen von Bundesrat und Parlament mit einbezogen werden. Gerade der Bundesrat orientierte sich in den letzten zwei Jahrzehnten eng an den Vorgaben der Welthandelsorganisation (WTO), die jedem Mitgliedsland auferlegt, immer weniger finanzielle Mittel in den Service public einfliessen zu lassen. Diese WTO-Vorgabe zusammen mit der neoliberalen Wirtschaftspolitik sind zentrale Gründe, weswegen immer weniger öffentliche Mittel (Steuergelder) in das Gesundheitswesen fliessen. So werden ganze Kantonsspitäler vollständig und Universitätsspitäler teilprivatisiert. Was nach aussen liberal tönt, ist nichts anderes als Vorenthalten von verfassungsmässig zustehenden Geldern.

 


Erstveröffentlichung: Zeit-Fragen Nr. 8 vom 12. April 2016


 

Autor

David Holzmann, Prof. Dr. med.

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