Paul Virilio, eine mutige Stimme zur Medienethik: Die heutigen Medien müssen mehr in ihre staatsbürgerlichen Pflichten genommen werden
25. Dezember 1998 ∙ Moritz Nestor
„Wir haben es heute mit einer neuen Art von Information zu tun, die zu einer Gefahr für die Demokratie werden kann. … Alles sehen wollen, alles zeigen zu wollen, das ist die Gefahr. Der Paparazzo ist das Auge des Grossen Bruders. … Wir stehen vor der optischen Globalisierung, wo jeder Mensch permanent der Öffentlichkeit ausgesetzt sein kann.“ sagt der Soziologe Paul Virilio in einem Spiegel Interview anlässlich des Todes von Lady Diana.
„Sehen ist nicht dasselbe wie Wissen. Wissen, das ist der Diskurs, die Debatte, die Analyse. Ein Bild drängt sich auf, zwingt sich dem Geist auf – ein Bild ist ein Schock.“ warnt Virilio. Und auf die Frage, was gegen Paparazzi-Fotos spreche, antwortet er: „Bilder sind Munition, Kameras sind Waffen, vergessen Sie das nicht. Schon die Sprache sagt es. Von ´Bilderjägern´ ist die Rede, die ´auf Safarin gehen´.“ Und als der Journalist nicht locker lässt und einwendet, die Kamera töte doch nicht, stellt Virilio unmissverständlich klar: „Sie kann mehr Menschen töten als das Gewehr. Sie ruft zur Nachahmung auf. Mit einer Bilderfolge kann man Millionen töten. So wie mit den Propaganda-Meisterwerken im Dritten Reich.“ Schliesslich will ihn der Journalist mit der Meinungsfreiheit aufs Glatteis zu führen: Wer Fotos von Kriegsopfern zeige, verbreite doch „nur“ politische Informationen. „So einfach ist es nicht.“ reagiert Virilio, „Über die Toten von Algerien berichten – das ist ungeheuer wichtig. Sie zeigen? Das ist etwas anderes. Ich war zwölf, als in Nantes das Bombardement der Alliierten erlebt habe. Ich habe abgerissene Köpfe, aufgerissene Lungen gesehen. Das erzähle ich jetzt, aber ich zeige es nicht.“ Der Journalist versucht nachzudoppeln: Grausame Kriegsbilder – zum Beispiel jenes vom Polizeichef von Saigon, der vor der Kamera einen Menschen erschiesst – hätten zur Beendigung des Vietnamkrieges geführt. „Nein, es gab Veränderungen im Ost-West-Verhältnis, gab politische Entwicklungen – es war nicht dieses Bild, das den Krieg beendet hat. Das ist keine Begründung, das ist nicht mehr als ein Alibi für dieses Bild. … Wie weit wollen sie denn gehen mit der Aufdringlichkeit? Schauen? Hören? Riechen? Oder vielleicht auch mal den Finger eintauchen und schmecken, ach, so was, das ist der Geschmack von Blut? Wo ist die Grenze? … Wir brauchen eine Ökologie der Bilder.“ Eine mutige Stimme auf Gegenkurs im allgemeinen Strom des Zeitgeistes.
Die tägliche Dosis härtester Fernseh-Grausamkeiten und Brutalitäten ist heute schon kaum noch übertreffbar. Die psychischen Schäden dieser Medien-Sozialisierung zur Gewalt zeigt sich schon mehr als deutlich in einer erhöhten Gewaltbereitschaft vieler Jugendlicher. Trotzdem behauptet der Chef von RTL, ein promovierter Intellektueller, vor den Augen von Millionen von Zuschauern immer noch, es sei „wissenschaftlich überhaupt nicht erwiesen“, dass sich Horrorfilme schädigend auf das menschliche Gemüt auswirkten. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Mediengewalt und tatsächlich begangenen Morden bestehe nicht.
Wenn Josef Goebbels noch lebte und behaupten würde, es sei wissenschaftlich nicht erwiesen, dass seine Kriegs-Propaganda etwas mit dem Toten des Zweiten Weltkriegs gehabt hätte … ? Kaum einer von denen, die zu den zynischen Worten des RTL-Chefs schweigen oder ihn entschuldigen, würde Goebbels recht geben! Wie viele Eltern nehmen aber die Haltung des RTL Chefs, eines studierten Intellektuellen, achtlos hin, während sich täglich in das Gemüt ihrer eigenen Kinder die brutalsten TV-Bilder einbrennen und jahrzehntelang – wenn nicht ein Leben lang – darin haften bleiben?
Es wäre die einfachste staatsbürgerliche Weisheit in einer demokratischen Gesellschaft, dass die Freiheit der Information dort ihre vernünftige Grenze hat, wo die nachgewiesene Schädigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit beginnt. Der Wesensgehalt des Grundrechts auf Meinungsfreiheit besteht im Schutz der Freiheit der Person. Eine Freiheit zu schädigen kann es nicht geben. Es kann also auch keine Schädigungsfreiheit durch Gewaltdarstellungen geben, wenn wissenschaftlich erhärtet ist, dass diese Schäden bestehen. Oder sollen die Menschenrechte für die Medien nicht gelten?
Hier gilt, was Hans Scholl ‑ Bruder von Sophie Scholl und Mitglied der „Weißen Rose, einer Widerstandsgruppe gegen Hitler ‑ bei seiner Vernehmung durch die Gestapo sagte: „Ich bin der Ansicht, daß in Deutschland in der Zeit von 1918 – 1933 und vor allem 1933 nicht zu sehr die Masse des Deutschen Volkes politisch versagt hat, sondern gerade … die Intelligenz. Obgleich sich in Deutschland ein Gelehrten- und Spezialistentum auf allen Gebieten des geistigen Lebens zu voller Blüte entwickelte, waren gerade diese Menschen nicht in der Lage, die einfachsten politischen Fragen richtig zu beantworten. Nur aus diesem Grunde ist es erklärlich, daß Massenbewegungen mit ihren einfachen Parolen jede tiefere Gedankenarbeit übertönen konnten. Ich empfand, daß es höchste Zeit war, diesen Teil des Bürgertums auf seine staatspolitischen Pflichten aufs Ernsteste hinzuweisen.“
Dem ist nicht hinzufügen!