Politik muss auf Ethik ruhen

Moritz Nestor

Papst Benedikt XVI. hielt am 22. September 2011 vor dem Deutschen Bundestag eine viel beachtete Rede zur politischen Ethik. In den Mittelpunkt seiner Ausführungen stellte er das Naturrecht und mahnte Wahrhaftigkeit im politischen Handeln an: «Die ­Politik muss Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Frieden schaffen. […] Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren, ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des ­Politikers.» Es gehe um «die Frage, was nun dem Gesetz der Wahrheit entspreche, was wahrhaft recht sei und Gesetz werden könne […]». Man hat dies als «katholische Sonderlehre» gegeisselt …

Dabei greift das Oberhaupt der katholischen Kirche jene Forderung von Aristoteles auf, die seit der griechischen Antike vor 2’500 Jahren im Zentrum des Naturrechtsdenkens steht: Politik muss auf Ethik ruhen. Macht allein kann keine Gerechtigkeit erzeugen. Recht muss an ethischen Massstäben gemessen und danach geformt werden, damit es erst gerecht wird. Recht wird daher, so Aristoteles, weder durch blossen Meinungsstreit (Diskursethik) noch durch Gewalt oder Ideologie gerecht.

Damit traten die Griechen damals vor 2’500 Jahren in eine neue historische Phase ein: Das Naturrecht erkannte, dass dauerhafter Friede nicht allein durch Macht zu sichern ist, sondern dass die politische Gewalt auf die Sicherung eines gerechten und sicheren Friedens verpflichtet werden muss.

Das hatte seinen Grund darin, dass Recht und Unrecht im Staat davon abhängen, wie der Mensch die Realität wahrnimmt und bewertet. Rechtes und gerechtes Handeln hängen unmittelbar mit Wahrhaftigkeit zusammen. Wer die Dinge so wahrnimmt, wie sie sind, kann ihnen gerecht werden und das Richtige tun, und dadurch wird er glücklich.

Aristoteles

Seit Aristoteles ist die Grundidee des Naturrechts: Der Mensch lebt dann glücklich, wenn er sein Leben im Einklang mit den Gesetzmässigkeiten der äusseren Natur wie auch seiner Sozialnatur (Zoon politicon) führt. Lebensführung heisst aber nichts anderes, als dass sich der Mensch seines Verstandes bedient und, geleitet durch mitmenschliches Fühlen, erfasst, was richtig und falsch ist. ­Politisches Handeln nach diesem Massstab nähert sich der Gerechtigkeit an.

Es gehört zu den Unsäglichkeiten unserer Zeit, dass die politikberatende intellektuelle Elite diesen ehernen Zusammenhang von Politik und Ethik wieder zu zerschlagen versucht. Jürgen Habermas masste sich die Aussage an, «die» Moderne habe erst richtig begonnen, als der Amerikaner John Rawles Ende des 20. Jahrhunderts Politik und Ethik wieder strikt zu trennen versuchte.

Dabei hatte der deutsche Widerstand gegen Hitler in der Ethik des Naturrechts seinen vorstaatlichen Massstab gefunden, gegen die Diktatur mit ihrer unmenschlichen Macht­politik Widerstand leisten zu dürfen. Der NS-Staat missbrauchte den Menschen als Mittel zum Zweck, gerade weil er die Naturrechts­ethik der europäischen Tradition verachtete. Dass das zutiefst ungerecht war, war nach dem Zweiten Weltkrieg jedem klar.

Erklärungsbedürftig bleibt daher, wem die intellektuelle Elite zudient, wenn sie gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts wieder Politik und Ethik trennen will und damit der Rückkehr zur reinen Machtpolitik den Boden bereitet. Es wundert eigentlich nicht, dass in einer Welt, die von reiner Machtpolitik geprägt ist, das Naturrecht als «katholische Sonderlehre» oder sonst auf irgendeine Art und Weise abgetan wird. Gemäss dem Naturrecht aber ist jede imperiale Machtpolitik ungerecht und menschenfeindlich.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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