«Euthanasie» in den Niederlanden

30. September 1993

«Sterbehilfe ohne Grenzen?»

 

Eingeladen sind Dr. med. Piet Admiraal, Anästhesist am Reiner de Graft-Hospital im niederländischen Delft und W. Klijn, Professor für Ethik an der Universität Utrecht und Mitglied der ‚Staatskommission Euthanasie’ in den Niederlanden, um kontrovers über die gegenwärtige Euthanasie-Praxis in Holland zu diskutieren.

 

Vortrag Prof. Klijn «Euthanasie» in den Niederlanden

 

Meine Damen und Herren

Sie sind interessiert am Verlauf der Debatte in Holland über Euthanasie und Lebensbeendigung. Es ist unmöglich, davon in einem kurzen Vortrag ein vollständiges Bild zu entwerfen. Ich möchte mit der heutigen Situation beginnen.

Heute [am 30. September 1993] wurde das Urteil des Gerichtshofs der Stadt Leeuwarden in einem Fall von Beihilfe zum Suizid veröffentlicht. Die Beihilfe war von einem Psychiater geleistet worden. Die Betroffene war eine etwa fünfzigjährige Frau, die körperlich völlig gesund und höchstwahrscheinlich nicht psychiatrisch im eigentlichen Sinn erkrankt war. Sie war geschieden und hatte zwei Söhne verloren, den einen durch Krankheit, den anderen durch einen wahrscheinlich nur unglücklicherweise gelungenen Suizid. Sie war lebensmüde und verlangte unbedingt den Tod, wenn möglich in «würdiger Weise». Der Psychiater hatte die Beihilfe nach 35 Beratungsstunden und etwa sechs Wochen nach der ersten Begegnung mit der Patientin geleistet.

In derselben Stadt Leeuwarden ist 1972 eine Ärztin vom dortigen Gericht verurteilt worden, weil sie bei ihrer im Pflegeheim liegenden Mutter Euthanasie durchgeführt hatte. Diese Verurteilung war der unmittelbare Anlass zur Gründung der ‚Nederlandse Vereniging voor Vrijwillige Euthanasie’ (‚Niederländische Vereinigung für freiwillige Euthanasie’). Diese Vereinigung hat vor kurzem eine neue Ausgabe eines sogenannten «Lebenstestamentes» oder «Euthanasie-Erklärung» publiziert. Darin kann der Unterzeichner, unter anderem, für den Fall Euthanasie wünschen, dass er bei beginnender Demenz in ein Pflegeheim aufgenommen werden muss.

Dieselbe Vereinigung [‚Nederlandse Vereniging voor Vrijwillige Euthanasie’] war im heutigen [30. September 1993] Fall die Verrmittlungsinstanz zwischen der Frau und dem Psychiater. Der Psychiater ist vor einigen Jahre dieser Vereinigung als «Sachverständiger» freiwillig beigetreten.

Dieser Psychiater hat bewusst eine gerichtliche Gutheissung seiner Tat angestrebt. Das Gericht in Assen hatte als erste Instanz vor einigen Monaten, Ende Mai, diese Beihilfe zum Suizid für «objektiv gerechtfertigt» erklärt und das Verfahren eingestellt. Der Staatsanwalt hat jedoch bei der zweiten Instanz, beim Gerichtshof in Leeuwarden, Berufung eingelegt. Wie das Urteil heute auch ausfallen wird, es ist praktisch sicher, dass eine Kassation beim Obersten Gerichtshof folgen wird.

Dies sind reine Tatsachen, die die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre umspannen. Innerhalb dieses Zeitraums ist vieles geschehen.

 

Zunächst die nüchternen Zahlen: Jedes Jahr gibt es in Holland etwa 2 300 Fälle von ‚Tötung auf Verlangen’; 1 000 Fälle von ‚Tötung ohne Verlangen’ bei nicht-urteilsfähigen Patienten und 400 Fälle von ‚Beihilfe zum Suizid’. Zusammen ergibt das 3 700 Fälle. Zieht man von der Gesamtzahl aller [in den Niederlanden] jährlich Verstorbenen diejenigen ab, bei denen der Tod plötzlich eintrat und der Arzt nichts oder nicht viele an Sterbebegleitung tun konnte, so sind diese 3 700 Toten 4.31 Prozent der jährlichen Sterberate. Ich würde mich nicht wundern, wenn die Zahl sogar noch höher wäre.

Gestatten Sie mir drei etwas provozierende Fragen. Diese Fragen haben eine inhaltliche Absicht.

1. Warum organisieren und besuchen Sie ein Ethik-Forum über die Euthanasie-Debatte in Holland? Dichten Sie den Holländern besonders hellsichtige und mutige Erkenntnis und Einsicht in dieser Frage an? Es handelt sich ja nicht um ein spezifisch nationales Thema, sondern um eine existenzielle und universelle Problematik. Holländer können und dürfen in diesem Thema kein besonderes Vorrecht oder Verdienst beanspruchen. Schweizer sind doch auch autonome Menschen. Menschen mit denselben Lebens- und Leidenserfahrungen, mit denselben Fragen über Leben, Krankheit und Tod. Die Situation in einer anderen Nation kann und soll ja nicht die bestimmende Hintergrund sein für die Weise, wie Sie in der Schweiz mit diesen Fragen umgehen.

2. Zweitens: Warum haben Sie heute einen Arzt und Mediziner eingeladen? Haben Ärzte eine spezifisch fachmännische Expertise oder Befugniss, um zu urteilen? Und zwar nicht nur über Diagnose, Prognose und Therapie, sondern auch über den Sinn des (restlichen) Lebens und das Sterben eines konkreten Patienten? Kann das menschliche Leben selbst jemals eine medizinische Indikation sein, die durch ärztliches Eingreifen bekämpft werden soll? Medizinische Ethik ist kein Eigentum der Ärzte, sondern eine allgemeine Ethik für Ärzte in ihrem Beruf.

Dasselbe oder ähnliches könnte ich fragen wenn Sie einen holländischen Juristen eingeladen hätten. Der 1920 verstorbene deutsche Jurist Karl Binding hat hinsichtlich des Themas ‚Euthanasie’ keinen guten Ruf, weil er im selben Jahr mit dem Psychiater Alfred Hoche das Büchlein «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» veröffentlicht hat. Binding aber hatte damals eine glänzende Karriere als scharfsinnige Jurist hinter sich. Er war nicht der letzte Jurist, der sich im hohen Alter besonders mit unserem Thema beschäftigt und eine radikale Meinung verteidigt hat. Auch in Holland hat es solche älteren Juristen gegeben und gibt es noch. Am Anfang seiner Schrift verwirft Binding ein subjektives «Recht auf den Tod». Es gehe zu weit, wenn man aus der Straflosigkeit der Selbsttötung die Schlussfolgerung ziehe, dass das Recht jedermanns Freiheit anerkenne mit seinem Leben ein Ende zu machen. Aber nebenbei sagt er ein an sich sehr wahres Wort: Das Recht ist «ohnmächtig, dem Einzelnen die Tragkraft nach der ihm vom Leben auferlegten Traglast zu bestimmen». (S. 6). Im Grunde und letzten Endes gilt dasselbe für den Arzt und die medizinische Wissenschaft. Mit dieser ihren eigenen Ohnmacht sich abzufinden gehört zum Beruf des Arztes wie des Juristen.

3. Drittens: warum haben Sie einen Ethiker eingeladen? Vielleicht erwarten Sie, dass ich das für das Allerselbstverständlichste halte. Aber auch hier ist ein Vorbehalt anzubringen, und es ist Vorsicht geboten. Auch der Ethiker als angestellter Wissenschaftler und Akademiker hat nicht automatisch eine inhaltliche Autorität. Das Resultat seiner persönlichen und wissenschaftlichen Reflexion darf kein Alibi werden und kann nicht vom eigenen Denken entlasten. Das ist meinerseits keine Sache persönlicher Bescheidenheit. Wenn ich einen solchen Anspruch hätte, würde ich die eigene Natur des Objektes meines Faches verletzen. Die Aufgabe des Ethikers ist wie die eines jeden Menschen: die Wahrheitsfindung, keine eigenmächtige Wahrheitsbestimmung. Nicht wichtig ist es, ob es ein Ethiker ist, der etwas sagt. Denn dann würde alles davon abhängen, welcher Ethiker gefragt worden ist. Autorität kann nur das haben, was ein Mensch – Arzt oder nicht, Jurist oder nicht, Ethiker oder nicht – zu entfalten und sichtbar zu machen vermag: die Sache oder die Wirklichkeit selbst.

Die Absicht dieser drei Fragen ist es, Ihre Aufmerksamkeit auf die Frage der wahren Autonomie in der Ethik zu lenken. Die eigentliche Autorität liegt im Geheimnis des konkreten Lebens des Patienten selbst. Das ist um so notwendiger, als in unserem Lande meiner Meinung nach Leben und Tod zu sehr zur Sache von Experten und damit von Autoritäten verschiedener Berufsgruppen und Expertenkommisionen geworden sind. Dadruch droht die eigentliche Schwere der ethischen Sachfrage im Hintergrund zu verschwinden wird und nicht rnehr ernsthaft diskutiert. Mit dem Ausdruck ‚Sache der Experten’ meine ich folgendes: Der Arzt als Arzt darf und kann sich vor der Tat und der Richter als Richter darf und kann auf Grund des Dossiers [des Arztes] und der Meinung anderer Experten nach der Tat urteilen und sagen: Es ist objektiv besser gewesen, dass dieser Mensch nicht mehr (weiter) lebt. Und auf Grund dieses Urteils wird die Tat der Lebensbeendigung oder der ‚Beihilfe zur Selbsttötung’ nicht nur für straflos, sondern auch für objektiv gerechtfertigt erklärt. Damit ist das Urteil über den Sinn eines konkreten Lebens in den Bereich der Sachverständigen gestellt und abgeschirmt worden.

Die Tat kann Lebensbeendung oder ‚Beihilfe bei Selbsttötung’ sein. Der betreffende Mensch kann ein somatisch Kranker sein, der im terminalen Stadium ist oder nicht. Der betreffende Mensch kann ein leiblich kranker Mensch sein oder nicht. Der betreffende Mensch kann ein leiblich gesunder Mensch sein, der an einer psychiatrische Krankheit leidet oder nicht. Bezüglich des Unterlassens kann ich an dieser Reihe hinzufügen: Es kann auch ein neuer Mensch sein, der unheilbar ist oder nicht unheilbar.

Unterschätzung oder Verherrlichung des Leidens als solches ist weder christlich noch menschlich. Das Leiden eines Patienten und seiner Familie darf und soll authentisches Mitleid und Mitgefühl erregen. Aber in einer pluralen Gesellschaft hat keiner das Recht, dieses Bekümmernis für sich selbst und seine Meinung zu monopolisieren. In der Diskussion handelt es sich eben um die richtige Gestalt des Mitleids. Das ist in der Sache um Leben und Tod der harte ethische Kern der Diskussion. Das gute Motiv eines Gesprächspartners soll respektiert werden, aber der Gebrauch des Wortes ‚Barmherzigkeit’ hat an sich noch keinen legitimierenden oder auto-argumentativen Wert für eine bestimmte Auffassung. Dennoch ist es eben das, was heute bei uns in der Diskussion ausser- und innerhalb der Gerichtssäle geschieht.

Meiner Überzeugung nach gibt es nur ein Argument zugunsten der Euthanasie und der Lebensbeendung, das – obwohl ich selbst es nicht unterschreibe – logisch tragbar und nicht in sich widersprüchlich ist. Bevor ich meine eigenen Standpunkt dazu darlege, begründe und erkläre, möchte ich die inhaltlichen Grundlinien und Hauptmomente in der Entwicklung der Diskussion kurz und knapp andeuten. Ich meine die Argumentationsfiguren, die immer wieder in der Debatte in Holland auftauchen und angewand wirden, um Lebensbeendung annehmbar zu machen, aber diese Folgerung nicht tragen können.

 

Argumentationsfiguren

 

1 . Das Selbstbestimmungsrecht.

 

Das Selbstbestimmungsrecht ist auch mir teuer. Aber es ist ein Abwehrrecht, kein Anspruchsrecht. Aus dem Recht, dass der andere mein Freiheitsraum im Leben unversehrt lassen soll und mich unter anderem nicht tötet, kann kein Recht auf den Tod durch aktives Handeln des Arztes abgeleitet werden. Wenn der Patient – sei es ethisch zurecht oder selbst vielleicht zu unrecht – eine weitere Behandelung verweigert, hat der Arzt letzten Endes kein Recht, die Behandlung gegen den Willen des Patienten doch durchzusetzen. Aus einem Nicht-Recht, aus diesem Fehlen eines Rechtes des Arztes, kann aber kein positives Recht des Patienten auf aktive Lebensbeendung abgeleitet werden. Umgekehrt impliziert das Ablehnen der aktiven Lebensbeendung keineswegs, dass man eine unbegrenzte Pflicht zum Leben mit allen möglichen technischen Mitteln behauptet oder befürwortet. Auch ein solcher Vorwurf ist nicht fundiert und enhält einen Kurzschluss: Aus dem Fehlen dieser Pflicht des Patienten kann kein Recht des Arztes auf die Tötungshandlung gefolgert werden. Das Höchste, was logisch aus dem Selbstbestimmungsrecht gefolgert werden kann, ist, dass einer bei der Selbsttötung nicht gehindert werden dürfte. Aber die existentielle und psychologische Probleme des Suizids lehren uns, dass man auch hier mit reiner Logik nicht auskommt.

 

 

2. Die Verzerrung der Begriffe von Kausalität und Intention

 

Mittels eine Änderung von Begriffsinhalten werden dem Arzt Dinge und Zustände zugeschrieben, die man ihm nicht zuschreiben darf. Es handelt sich um das klassische Problem der sogenannten Imputation.

 

a.      Erstens findet diese Verzerrung statt durch die analoge Ausdehnung der kausalen Begriffe ‚Lebensbeendung’ oder ‚Lebensverkürzung’ auf alles ‚Unterlassen’ – ohne Unterschied. Auf diese Weise werden erlaubtes Unterlassen und aktive Tötung gleichgesetzt. Unterlassen und Unterlassen sind aber zweierlei. Der Unterschied liegt in der An- oder Abwesenheit einer Pflicht zum Eingreifen. Wenn der Arzt unterlässt, wozu er nicht oder nicht mehr verpflichtet ist, dann ist das ‚Unterlassen’ keine Tat, sondern ein Nichts. Wo es keine Handlung gibt, da ist auch kein Raum mehr für eine Intention, die auf den Tod gerichtet ist. Das Wissen, dass der Patient sachlich länger lebt, wenn man sein Leben bis zum bitteren Ende verlängert, ist noch keine solche Intention bei jedem Unterlassen. Es gibt kein erlaubtes Töten durch Unterlassen. Wenn das Unterlassen erlaubt ist, ist es kein Töten. Und ist das Unterlassen unerlaubt, dann hndelt es sich um ein Töten, das per definitionem wegen Verletzung einer Pflicht unerlaubt ist. Dabei ist es nicht ausschlaggebend, warum eine Pflicht zur weiteren Behandlung fehlt. Bei einem nicht-urteilsfähigen Patienten kann es nur der Zustand des Patienten sein, der einer Behandlung die Proportionalität wegnimmt. Bei einem urteilsfähigen Patienten kann auch die Verweigerung der Behandlung hinzukommen.

In einer solchen Ausweitung der Worte und Begriffe steckt ein innerer Widerspruch. Gerade die technologische Macht, gegen deren unbegrenzte Ausnützung bis zum bitteren sich Befürworter der Euthanasie so widersetzen, wird eben der Bezugsrahmen ihrer Begriffe. Die blosse Tatsache der vorhandenen Technologie darf nicht zu einer Hypertrophie der ethischen Begriffe ‚Kausalität’, ‚Zurechnung’ und ‚Verantwortlichkeit’ führen.

Dasselbe geschieht – nun spiegelbildlich – bei der technischen Macht zur Lebensbeendung selbst. Das Unterlassen der Euthanasie oder der Lebensbeendung wird vielfach kausal beschrieben als eine Verlängerung des Lebens oder ja eben eine Vermehren und Steigeren des Leidens. Weil kein guter Arzt das Leiden vermehren will, wird er auf diese Weise psychologisch unter Druck gesetzt. Dieser Sprachgebrauch kann aber nur richtig sein, wenn es schon eine Pflicht zur Tötung gibt, und kann deshalb als Sprachgebrauch eine solche Pflicht nicht begründen. Es ist derselbe Fehler. Als feststehend wird angenommen, was bewiesen werden muss. Es ist ein Zirkelschluss.

 

b.     Analoges geschieht bei der sogenannten Handlung mit doppeltem Effekt. Es kann so weit kommen, dass die Notwendigkeit, Schmerzen und Leiden zu bekämpfen eine mögliche Verkürzung des Lebens als Nebeneffekt bewirkt. Wenn die Verhältnismässigkeit beachtet wird und wenn die Wahl des Mittels oder der Dosis aus einem sorgfältigem Ermessen der Schmerzen oder des Leidens erfolgt und deshalb keine Nebengedanken ausschlaggebend sind, darf dieses allgemein als erlaubt erkannte Handeln nicht nach dem Nebeneffekt und deshalb nicht als Tötung definiert werden. Es gibt auch dann kein Raum für eine Intention zur Tötung. Wenn es in der normalen medizinischen Praxis keine Kontra-lndikation gibt und ein Mittel oder ein Eingreifen als verhältnismässig betrachtet wird, beschreibt kein Arzt das Handeln nach den Nebenwirkungen. Kein Onkologe nennt Chemotherapie ein Mittel zum Haarausfall. Wir sollen in dieser Materie keine Sprache einführen, die wir im alltäglichen Leben und in der normalen medizinischen Praxis auch nicht gebrauchen .

 

c.      Ein dritter Punkt ist die Kausalität des ärztlichen Handelns selbst. Wenn ein Arzt einen Fehler macht oder wenn er aus Übermut gehandelt hat, ist er dafür haftbar. Aber wir sollten die Verantwortlichkeit des Arztes und seine sachverständliche Ausübung nicht quasi-ethisch überfordern. Jeder Arzt hat mit statistischen, klinischen und andersartigen Unbestimmtheiten zu leben und zu arbeiten. Er hat sich in seinem Ethos damit abzufinden. Eine Krankheit entwickelt sich nicht immer, wie er wünscht. Dasselbe gilt für eine Therapie im konkreten Fall. Wenn er aber nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln seiner Kunst eine Entscheidung getroffen und ausgeführt hat, darf nachher der Zustand des Patienten, wenn dieser enttäuschend ist, nicht als durch den Arzt verursacht betrachtet werden, auch dann nicht, wenn er selbst nachher zu der Überzeugung kommt, dass er die Behandlung nicht begonnen oder fortgesetzt hätte, wenn er alles gewusst hätte, was er nur im Nachhinein wissen konnte. Aus einer solchen Situation kann keine Pflicht zur Lebensbeendung hergestellt werden. Der Gedanke, dass der Patient anders nicht mehr leben und deshalb nicht mehr leiden würde, ist dazu kein hinreichender Grund. Ein solches Ineinanderschieben des ex post und ex ante, des Nachhers und des Vorabs, wäre eine nichtrealistische Überdehnung der menschlichen Verantwortlichkeit.

 

Die genannten Punkte kann ich für die Juristen unter Ihnen in einem Satz zusammenfassen: Eine conditio-sine-qua-non-Relation in einer Situationsstruktur darf man nicht als eine hinreichende Grund annehmen für die Kausalität und die Zurechnung. Tut man es doch, dann wird der Inhalt dieser Begriffe uferlos.

 

 

Il. Die juristische Situation

 

Unseres Strafgesetzbuch enthält neben den Paragraphen über Totschlag und Mord zwei weitere Paragraphen:

Art. 293 – Wer vorsätzlich und mit Vorbedacht einem anderen auf dessen ausdrückliches und ernsthaftes Verlangen das Leben nimmt, wird mit Gefängnisstrafe bis zu zwölf Jahren oder Geldstrafe der fünften Kategorie ( 100.000 Gulden) bestraft.

Art. 294 – Wer vorsätzlich einen anderen zum Selbstmord antreibt, ihm dabei behilflich ist oder ihm Mittel dazu verschafft, wird mit Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren oder Geldbusse der vierten Kategorie (25.000 Gulden) bestraft, wenn der Selbstmord erfolgt.

In unserem Zusammenhang sind zwei weitere Paragraphen relevant:

Art. 9a – Falls der Richter es im Hinblick auf die geringe Schwere der Tat, die Persönlichkeit des Täters oder die Umstände, unter denen die Tat begangen worden ist oder die sich danach gezeigt haben, für ratsam hält, kann er in dem Urteil bestimmen, dass keine Strafe oder Massregel verhängt werden soll.

Art. 40 – Nicht strafbar ist, wer eine Tat begeht, zu der er durch einen übermächtigen Einfluss gedrängt wird.

Ein Gesetzesentwurf der Opposition sieht für Artikel 293 und 294 einen Strafausschliessungsgrund vor für «einen Arzt im Rahmen sorgfältiger Hilfeleistung an jemandem, der sich in einer aussichtlosen Notlage befindet».

Dieser Entwurf wurde Anfang dieses Jahres von einer Mehrheit der Zweiten Kammer des Parlementes definitiv abgelehnt. Die Regierung will keinen der beiden Artikel ändern und betrachtet eben dieses Nichtändern ausdrücklich als eine neue Bestätigung der Norm. Soweit voraussehbar ist, wird es in Holland in Zukunft keine Gesetzesänderung geben. Diejenigen, die in Ihrem Lande [Schweiz] eine solche Änderung anstreben, werden sich deshalb in absehbarer Zeit nicht auf Holland als Vorbild berufen können.

Aber das ist – ich für mich sage: leider – nicht die ganze Geschichte. Die Regierung als Gesetzgeberin akzeptiert die Jurisprudenz und will diese in ihrem eigenen Entwurf nicht korrigieren, sondern [die bestehenden Artikel des Strafgesetzes] mittels einer Anzeigepflicht und einem ‚Meldeverfahren’ für Ärzte regeln und kanalisieren. Der Entwurf enthält eine kleine Änderung des Gesetz über das Bestattungswesen. In dieses Gesetz wird eine allgemeine Verfügung eingefügt, die eine Liste von sogenannten ‚Beachtungspunkten‘ [Punkte, die der Arzt beachten muss, wenn er töten und straffrei bleiben will] enhält. Anhand dieser Punkte soll der Arzt versuchen, seine Berufung auf dem Strafausschliessungsgrund «Notstand» glaubhaft und annehmbar zu machen.

Dieser Regierungsentwurf ist im Februar dieses Jahr von einer Mehrheit der Zweiten Kammer des Parlements angenommen worden. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob auch die Erste Kammer den Enwurf gutheissen wird. Weil das Strafrecht repressiv ist, will die Regierung das [Melde-]Verfahren nicht als ein Verfahren verstanden wissen, mit dem die geplante Tat vor ihrer Ausführung gutgeheissen werden kann, sondern als ein Mittel der nachträglichen juristischen Kontrolle. Es ist aber zu befürchten dass dieser Weg faktisch und praktisch zu einer weiteren Normalisierung von Euthanasie und Lebensbeendung führen wird und dass die schriftliche und mündliche Bestätigung der Norm in den Erläuterungen, aber nicht in den Text eines Gesetzes nur ein beruhigendes Zeugnis oder Bekenntnis bleiben wird.

 

 

Rechtsprechung

 

Der Begriff ‚Notstand’ wurde 1984 durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtes eingeführt. In dieser und den nachfolgenden Entscheidungen wurde formell das Selbstbestimmungrecht, die sogenannte medizinische Ausnahme oder Exzeption und das sog. «Fehlen materieller Rechtswidrigkeit» als Rechtfertigungs- oder Strafausschliessungsgrund abgelehnt. Angeknüpft wurde vielmehr an Art. 40 über ‚höhere Macht’. In der Lehre und in der Rechtssprechung wird unterschieden zwischen psychischer (subjektiver) ‚Übermacht’ und ‚Notstand’. Kurz gesagt, bedeutet ‚Notstand’ nicht nur einen Einfluss oder Drang, dem der Täter nicht nur nicht widerstehen kann, sondern auch nicht zu widerstehen braucht. ‚Notstand’ bedeutet eine objektive Rechtfertigung der Tat und nicht nur eine subjektive Entschuldigung des Täters. Andererseits bedeutet ‚Notstand’ juristisch-technisch nicht die Situation des Betroffenen als solche, sondern die Lage, in die der Arzt gerät, wenn er als Arzt mit der Situation des Patienten konfrontiert wird. Dies lässt schon ahnen, dass hier implizit eine neue Konzeption der Garantenstellung des Arztes eingeführt worden ist.

Die Tatsache, dass das Oberste Gericht über den Notstand als Pflichtenkollision gesprochen hat, macht das noch klarer. Die eine Pflicht ist die ethische und gesetzliche Pflicht, nicht zu töten. Aber welches ist die andere Pflicht? Das kann nur die Pflicht zur Leidensminderung sein. Wenn man aber von einer Kollision dieser beiden Pflichten spricht, dann dehnt man in diesem Moment die zweite an sich normale ärztliche Pflicht analog so aus, dass sie schon im voraus das Töten umfasst. Mit anderen Worten: Das Oberste Gericht hat eigenmächtig das bisher fehlende Glied geschaffen, um die Berufung auf den Pflichtenkollision zu ermöglichen. Diese Argumentation ist eine petitio principii, ein Zirkelschluss. Oder mit anderen Worte: Dies ist keine rechtsprechung mehr, sondern eine neue Gesetzgebung durch das Gericht, was kaum noch ‚implizit’ genannt werden kann. Selbst ein oberster Richter kann nicht auf eigene Faust die ethische Reichweite der ärztlichen Aufgabe ausdehnen und ihre Grenze woandershin verschieben. Wenn überhaupt, dann muss die Gesellschaft als Ganze, das heisst der Gesetzgeber das tun.

Hoffentlich verstehen Sie jetzt, warum ich schon aus nur juristisch-hygienischen Gründe meine Schwierigkeiten mit dem Regierungsentwurf habe, der diese Rechtssprechung einfach hinnimmt. In einem demokratischen und souveränen Staat von erwachsenen Bürger sollen wir kein Kuckuckei legen und einander oder uns selbst an der Nase herumführen.

Die Formulierungen, die immer wieder bei dem Einstellen eines Strafverfahrens oder Freisprechung von der Anklage angewendet, sind zusammenfassen gesagt die folgende. Der Richter hat zu prüfen,

«ob nach wissenschaftlich zu verantwortender medizinischer Einsicht und nach den in der medizinischen Ethik geltenden Normen eine Situation vorgelegen habe, die als Notstand erachtet werden musste und ob die Wahl, die der Verdächtigte in ihr getroffen hat als gerechtfertigt gelten kann.»

Diese Worte rufen in einer pluralen Gesellschaft unmittelbar die Frage auf: Welche ‚medizinische Ethik’ und deshalb welche Normen? Man kann es den Rechtsanwälten nicht übelnehmen, dass sie darauf achten und versuchen, dass nur eine bestimmte ethische Meinung, sei es von Ärzte, sei es auch von einem liberalen Ethiker, im Gerichtssaal hörbar wird und auf die Richter die grösste Wirkung ausübt, sodass diese anschliessend meinen, zurecht diese Rechtsmotivation wiederholen zu dürfen. Gerichtsverhandlungen entarten immer mehr in medizinisch-ethischen Workshops aus, wo die Richter die eigentliche Laien geworden sind.

Ich möchte Sie nun – besonders die Ärzte unter Ihnen – auf eine Konsequenz aufmerksam machen, die das Argument der ‚Pflichtenkollision’ für die berufliche Autonomie hat. Wenn ein Arzt die objektiv gerechtfertigte Wahl zwischen zwei Plichten trifft, beinhaltet das logischerweise auch, dass sein Kollege, der sich in derselben Situation nicht für Euthanasie oder Lebensbeendigung entschieden hat, nicht die wichtigste Plicht gewählt hätte. Er kommt dadurch berufsmässig auf eine niedrigere Stufe zu stehen, und ihm kann nur der Raum der Gewissensfreiheit gelassen werden. Und selbst diese bleibt nicht unberührt.

In der Gesetzgebung über den Schwangerschaftabbruch hat der Gesetzgeber einstimmig und klar jede Form einer Überweisungspflicht verneint. In der Euthanasiediskussion taucht eine solche Überweisungspflicht immer wieder auf. Vor kurzem in einer schriftlichen Erläuterung des Regierungsentwurfes. Es ist aber eine lllusion zu glauben, dass in ein und demselben Spital oder in ein und demselben Land zwei einander ausschliessende Meinungen über Euthanasie und Lebensbeendung, also in einer so existenziellen und emotional aufgeladenen Angelegenheit, auf die Dauer gleichwertig nebeneinander her bestehen können. Was zu Beginn eine Ausnahme war, wird zur Regel werden. Was als Freiheit hereingekommen ist, wird als Pflicht herrschen. Diese Entwicklung zeichnet sich bei uns deutlich ab. Am Ende wird das auch seine Auswirkung haben auf die Chancen bei einer Bewerbung [des Arztes].

Es gibt noch ein anderes wichtiges Urteil des Obersten Gerichts. Im Anfang habe ich gesagt, dass beim Unterlassen der Patient unheilbar sein kann oder nicht unheilbar. In einem Universitätsspital hat ein Arzt bei einem Baby mit Downsyndrom und Darmverschluss, aber ohne weitere Komplikationen, auf Wunsch der Eltern die gut ausführbare Operation unterlassen. In der gleichen Woche hat er in einem gleich gelagerten Fall auf Wunsch der Eltern die Operation ausgeführt. Im ersten Fall war klar, dass das Downsyndrom als solches und nicht die Art der Operation der durchschlaggebende Beweggrund des Unterlassens war. Trotzdem hat das Oberste Gericht gesagt, dass es für den Arzt keine Pflicht zur Operation gab. Damit hat der Richter die Garantenstellung des Arztes juristisch ein­geschränkt und dadurch geleugnet, dass in diesem Fall das Unterlassen mit einer aktiven Tötung gleichzusetzen war. Das Gericht hat, um das Fehlen einer Pflicht zum Eingreifen [zu rechtfertigen], eine gelungene Operation als ein Hinzufügen von Leidens charakterisiert. Das Kind war aber schon da und war schon mongoloid.

In einem kürzlich veröffentlichten  Gutachten des ‚Verbandes für Kinderheilkunde’ hat die Mehrheit der Kommision dieselbe Meinung vertreten; nur ein Minderheit betrachtete es als Pflicht des Arztes, juristisch das Jugendamt einzuschalten. Das Letztere war übrigens in diesem Fall auch geschehen. Aber das Jugendamt hat die Verweigerung der Eltern unterstützt. In demselben Gutachten wird von einigen Neonatologen auch die Meinung vertreten, dass eine aktive Tötung nicht immer unerlaubt ist, wenn das Kind nach dem Einstellen einer nicht mehr verhältnismässigen Behandlung nicht bald genug stirbt. Diese Meinung ist nicht die offizielle Stellungnahme des Verbandes, aber wird respektiert. In dem Gutachten wird das (künstliche) Verabreichen von Flüssigkeit und Nahrung ganz allgemein als ‚medizinische Lebensverlängerung’ bezeichnet. Damit kann prinzipiell der Abbruch diese ‚Lebensverlängerung’ wie jede andere medizinische Behandlungen erlaubt oder selbst geboten sein. In der praktischen Interpretation dieser allgemeinen Auffassung droht aber das «kann» durch ein allgemeines «ist» ersetzt zu werden, und zwar schon nur deshalb, weil die Handlung eine medizinische ist. Damit droht die Frage nach der Verhältnismässigkeit in den Hintergrund zu treten und die Beantwortung [der Frage: Abbruch oder nicht?] als eine rein medizinische Entscheidung gewertet zu werden. Verhältnismässigkeit heisst, die ganze Situation des Patienten zu berücksichtigen, das ist aber genau die ethische Dimension und damit der tragende Grund des Begriffes der Indikation. Dieser Begriff hat nicht nur eine medizinisch-technische Bedeutung.

 

 

Ill. Bestimmende Einflüsse in der medizinischen Welt

 

Die KNMG, das heisst das Präsidium der ‚Königlich Niederländischen Gesellschaft zur Förderung der Heilkunde’ hat 1984 eine Erklärung verabschiedet, mit der die ‚Tötung auf Verlangen’ erlaubt wird, auch, wenn indiziert, bei äusserugsunfähigen Patienten. Nicht alle Glieder des Präsidiums waren damals ausgesprochene Befürworter, im Gegenteil. Aber der kollegiale gegenseitige Respekt hat den Ausschlag gegeben. Diese Erklärung enthält auch keine ethische Grundlegung. Auf eine ethische Diskussion wird vielmehr verzichtet, da sie doch zu keinem Konsens führen werde. Der rein pragmatische und einfache Ausgangsgpunkt war, dass Euthanasie und Lebensbeendung nun einmal praktiziert würden und deshalb mittels sogenannten Sorgfältigkeitsbedingen geregelt werden sollten. Die Sorge um die Straflosigkeit für ihre Mitglieder hatte für diese Gesellschaft Vorrang.

Immer wenn ich diese Erklärung wieder lese, bekomme ich Heimweh nach der weisen und fachmännischen Zurückhaltung, die in den Richtlinien der ‚Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften’ SAMWvon 1976 und 1981 zum Ausdruck kommt.

Anschliessend hat die KNMG eine Kommission eingesetzt, um die Bedingungen zu definieren, wann aktive Lebensbeendung bei nicht urteilsfähigen Patienten erlaubt sein soll. Die Mehrheit und die dominanten Kräfte in dieser Kommission sind euthanasiefreundlich. Die Anwesenheit einer Minderheit Andersdenkender wirkt wie ein Alibi für die Objektivität. Sie sind ständig vor die Frage gestellt: Bleibe ich noch in der Kommission, um Einfluss auszuüben oder nicht. Inzwischen haben schon zwei Mitglieder die Kommission verlassen.

Diese Kommission hat bis jetzt vier sogenannte ‚Diskussionsgutachten’ publiziert. Das Präsidium hat dazu noch nicht definitiv und offiziell Stellung genommen, aber inzwischen wirken sie in der Öffentlichkeit als Dokumente der KNMG, der Berufsgruppe.

Die vier Gutachten behandeln schwerbehinderte Neugeborenen, Patienten in einem längeren Koma, schwer demente Patienten und die Beihilfe zum Suizid. Eine Art von Getriebenheit, immer wieder neue Gruppen von Patienten zu definieren, bei denen – unter Vorbehalt – auch gegegebenfalls die aktive Lebensbeendung begründet werden kann, ist unverkennbar. In diesen Gutachten überwiegt die verkehrte Handlungslehre, die ich schon bespro­chen habe. Ihre Inhalt kann ich jetzt nicht behandeln. Ich nenne nur zwei Punkte:

1.     In dem Gutachten über Neugeborene wird von «nicht mit dem Leben vereinbar» gesprochen. Dieser technische Begriff deutet an, dass solch ein Kind sowieso in Kürze sterben werde. Noch ein anderer Begriff wird eingeführt: «unlebbares Leben». Die Bedeutung dieses Begriffs bleibt aber sehr allgemein und unbestimmt und ist deshalb gefährlich. Der Unterschied zwischen «unlebbar» und «lebensunwert» bleibt völlig unklar.

2.     In dem Gutachten über ernstlich demente Patienten wird im Anfang festgestellt, dass es in Pflegeheimen praktisch keine aktive Lebensbeendigung gibt, und zwar aus moralischen Gründen. Dessen ungeachtet wird 20 Seiten später gesagt, dass die ‚aktive Lebensbeendigung’ bei diesen Patienten ein «äusserst kompli­ziertes Problem» sei, und es werden neun Seiten diesem Problem gewidmet. Im letzten Abschnitt kann man dann lesen, dass eine ernstliche Demenz an und für sich kein hinreichender Grund sei für aktive Lebensbeendigung und dass diese jedenfalls nicht durchgeführt werden dürfe, wenn das [Euthanasie] vom Betroffenen vorher in einer expliziten Willenserklärung abgelehnt worden ist. Wenn Sie fragen, warum solche Selbstverständlichkeiten aufgeschrieben worden sind, ist die Erklärung in den zwei vorangehenden Abschnitten zu suchen. In dem ersten Abschnitt wird eine Diskussion befürwortet über die Erlaubtheit der Tötung bei einer schweren Demenz, wenn eine vom Betroffenen im früherem Leben verfasste Erklärung dazu vorliegt. Zwei Glieder der Kommission haben öffentlich ausgesagt, dass sie eine solche schriftliche Erklärung verfasst haben oder die Sache mit ihren Kindern besprochen haben. In den zweiten Abschnitt wird eine andere neue Diskussion befürwortet für solche Fälle, wo keine solche Erklärung vorliegt. Diese Diskussion sollte handeln über aktive Lebensbeendung auf Grund eines sogenannten «unterstellten (mutmasslichen) Willens». Was für die normale medizinische Praxis bei einem nicht-urteilsfähigen Patienten gilt, die sogenannte «Geschäftsführung ohne Auftrag», wird so auf das Töten ausgedehnt. In diesem Zusammenhang soll auf einen anderen Begriff achten, der sich in demselben Gutachten findet. Dieser Begriff lautet: «das Lebenskonzept des abenländischen Menschen»!

Wenn diese Tendenz sich durchsetzen wird, geraten wir in ein völlig anderes Klima. Ein Bürger, der in einem solchen Klima trotzdem nicht will, dass sein Leben jemals, auch wenn er nicht mehr urteilsfähig ist, aktiv beendet wird, ist dann gezwungen gegen seinen Sinn und gegen den Geist des zweiten Artikels der Europäischen Konvention das unzweideutig und am besten schriftlich festzulegen. Das wäre die umgekehrte Welt.

 

 

 

IV Eigene Stellungnahme

 

Die schiefe Ebene ist keine nur praktische Gefahr, die mit Vorsicht, Sorgfältigkeit und Anständigkeit gebannt werden kann. Ungeachtet des subjektiv guten Motivs ist die schiefe Ebene meines Erachtens rational in der Natur der Sache eingebaut und vorprogrammiert. Der Schutz des Lebens kann nicht kontrollierbar begrenzt gelockert werden. Der Schutz des Lebens ist eine Tür, die nur geöffnet werden kann, wenn man sie aus den Angeln hebt.

Es gibt nur ein Argument für Euthanasie oder Lebensbeendung, das logisch schlüssig ist und nicht in sich widerspruchsvoll. Das Argument ist das Urteil, dass das Leben lebensunwert geworden ist. Das Wort «lebensunwert» ist zwar historisch mit dem Begriff «Nutzwert» verbunden, aber diese Verbindung ist an sich nicht notwendig.

Die Frage nach dem Töten mit oder ohne ausdrücklichem Verlangen in der Gesundheitspflege und im ärztlichen Beruf soll von den Implikationen aus beantwortet werden, die in der bewussten Entscheidung zu dem Eingriff notwendig enthalten sind.

Das Verabreichen eines Euthanasie-Giftes impliziert zu allererst ein Urteil über das Leiden und die Lebensqualität des Patienten. Ein solches Urteil und Ermessen gehört zum mitmenschlichen Pflicht. Das Leiden als solches ist sinnlos und soll wie möglich bestreitet werden. Urteile über Lebensqualität bilden Ärzte sich jeden Tag, und das gehört zu ihrem Beruf, der darauf ausgerichtet ist, diese Qualität wiederherzustellen, sie zu verbessern oder mindestens der Verschlechterung entgegen zu treten oder sie zu mildern und zu lindern. Das Recht und die Pflicht, solche Urteile zu haben, soll nicht in Zweifel gezogen werden. Das ist nicht die Frage.

Die Entscheidung zur Lebensbeendung impliziert aber logisch-notwendig noch ein anderes Urteil. Diese Entscheidung schliesst das Urteil ein, dass dieses heutige konkrete Leben und das Leben das [diesem Menschen] noch verbleibt, wenn keine Tötung geschieht, alles zusammenrechnend und abziehend letzten Endes seinen Sinn verloren hat und deshalb sinnlos geworden ist. Selbst wenn ein partieller Sinn in verschiedener Hinsicht vielleicht noch erkennt werden kann, wiegt dieser das Negative des Leidens nicht auf. In seinem bekannten Schrift «Das Recht auf den Tod» hat Alfred Jost 1895 geschrieben:

«Das Leben kann dahin kommen, dass sein Nutzen nur noch Minimum, sein Leiden Maximum ist, und der Wert des Menschen kann aber nicht bloss Null, sondern auch negativ werden» (S. 26).

Der schon genannte Jurist Karl Binding hat 1920 diese Worte in seinem Schrift über «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» zitiert und fragt dann:

«Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüsst haben, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?» (S. 17). Seine Antwort ist ein unzweideutiges Ja.

Meiner tiefsten Überzeugung nach soll der Mensch sich eines solchen Urteils auch über sein eigenes Leben, sei es noch so einfühlbar, aber gewiss über das Leben eines anderen Menschen enthalten. Das Leiden als solches ist sinnlos, aber zu dem Urteil, dass das Leben selbst durch das Leid sinnlos geworden ist, sollen wir niemals übergehen.

Wenn der Arzt sich zur Tötung seines Patienten entschliesst, auch wenn er das auf dessen ausdrückliches Verlangen hin tut, so hat er notwendig ein solches Urteil [dass das Leben selbst durch das Leid sinnlos geworden ist]. Es gibt dann kein Raum für eine sogenannte «restrictio mentalis» eine mentale Restriktion. Er kann sich nicht hinter dem Urteil und dem Verlangen des Patienten verstecken.

Denn erstens tut der Arzt niemals etwas, nur weil ein Patient es verlangt. Es muss immer eine Indikation dazu geben. Die Einwilligung des Patienten erlaubt dem Arzt aber nicht automatisch jedes willkürliche Handeln, sondern ist bei einem urteilsfähigen Patienten nur eine, sei es wichtige und unentbehrliche, Vorbedingung. Zweitens:

Wenn ein Arzt das Verlangen des Patienten nach Tötung aktiv honoriert und dennoch gleichzeitig sagt, dass er kein eigenes Urteil über den Sinn des Lebens seines Patienten hat, sagt er ipso facto, dass er für seine Tat [der Tötung] keine Verantwortung übernimmt. Es ist doch seine Tat, und diese Handlung ist eine ganzheitliche und totale. Es ist kein Eingriff ins Leben, sondern eine Beendigung des Lebens schlechthin.

Wenn ein Arzt einmal einem solchen Urteil über den Sinn des Lebens eines urteilsfähigen Menschen zugestimmt und es übernommen hat, gibt es auch keinen prinzipiellen Grund mehr, warum er ein solches Urteil gegebenenfalls nicht auch über den Sinn des Lebens eines Menschen, der nicht urteilsfähig ist, fällen würde und dürfte. Die Entwicklung in Holland hat dies in den letzten Jahre in zunehmendem Masse bestätigt.

Der Sinn des Lebens, auch wenn er subjektiv nicht mehr erfahren wird, geht nicht in der Lebensqualität auf und verschwindet nicht mit der Erfahrung der Sinnlosigkeit. Selbst wenn man den Sinn eines Lebens als fragwürdig be­trachtet, soll man diese Fragwürdigkeit intakt lassen und nicht auflösen. Tut man das nicht, dann betritt man ein Land ohne Grenzen. Wir müssen uns hüten, den unfassbaren Sinn des Lebens, auch wenn er eine unbekannte Chiffre geworden ist, mit der erfahrbaren Lebensqualität zu identifizieren. Nicht ein Urteil über die Lebensqualität ist verkehrt, sondern eben diese tätige Identifizierung: die Identifizierung von Qualität und Sinn des Lebens.

Der Sinn des Lebens transzendiert oder übersteigt die unmittelbare Erfahrung, sei diese auch noch so eingreifend und schwer. Meine Stellungname ist nicht auf ein Wort oder einen Begriff gegründet, sondern auf die Wirklichkeit in jedem Menschen, die mit dem Begriff der Würde des Menschen zum Ausdruck gebracht wird. Es ist ein fundamentaler Begriff nicht nur in dem Grundgesetz Deutschlands, sondern auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderen Dokumenten der Vereinigten Nationen. Dennoch ist es meine Erfahrung, dass es schwierig ist, die grundsätzliche und praktische Bedeutung der Inhalt dieses Begriffes klar zu erhellen. Es geht doch in der heutigen Problematik um Situationen, in denen das Wort «menschenunwürdig» leicht solch einen selbstverständlichen Klang bekommt. Deshalb ist es gut etwas tiefer darauf einzugehen.

Zusammengefasst beinhaltet dieser internationale Begriff folgendes:

1. Die Würde des Menschen ist dem Menschsein inhärent und mit dem Person-sein gegeben. Jedes menschliche Wesen ist eine Person.

2. Diese Würde geht als Fundament allem Recht voran, sowohl dem Recht auf Freiheit als auch dem Recht auf Leben.

3. Mit dieser Würde ist auch die Gleichheit aller Menschen gegeben, unabhängig von der Zustand, in dem sie sich befinden und der ungleichen Weise, auf die sie tatsächlich behandelt werden.

4. Die Anerkennung der menschlichen Würde ist keine Selbstverständlichkeit sondern eine Überzeugung, ein «faith».

5. Der Staat und die Obrigkeit haben als solche ein Interesse an der Würde jedes Menschen.

Rechte und auch Menschenrechte beschreiben keine faktische und keine unveränderliche Situation. Eben darum sind sie da. Es sind Sollensforderungen, es sind Imperative. Die Würde des Menschen aber und, worauf sie gegründet ist, ist ein Indikativ, ist immer da. Die Frage, ob das Recht auf Leben veräusserlich ist oder nicht, geht nicht tief genug. Der Grund meiner Stellungnahme ist deshalb nicht das Recht auf Leben, sondern eine tiefere Schicht im Menschsein, die das Fundament dieses Rechtes ist. Weil diese Würde aber ipso facto mit dem Leben gegeben ist und Tötung per definitionem unwiderruflich ist, ist das Leben selbst unveräusserlich.

Die Kommision, welche die Allgemeine Konvention über bürgerliche und politische Rechte vorbereitet hat, hat in einer Formulierung erklärt, dass das Recht auf Leben nur geschützt werden kann, wenn das Leben selbst geschützt wird. Das ist eine tiefes und sehr praktisches Wort.

Die Würde des Menschen und Menschen(un)würdigkeit sind nicht dasselbe, aber doch reziprok miteinander verbunden und verflochten. Die Würde ist kein stoisches Ideal, wo ein Mensch sich von allem Elend löst und sich immun macht gegen das Leiden. Das Gegenteil ist wahr. Die Würde des Menschen ist eben die Quelle der Sensibilität hinsichtlich jede Menschenunwürdigkeit [unwürdige Behandlung], die Quelle des Rufes nach dem Mitmenschen. Als solches ist es kein abstrakter Begriff, der im Studierzimmer ausgedacht worden ist, sondern eine Wirklichkeit, die innerhalb der historischen Kontrasterfahrung des Unrechts und des Leidens entdeckt worden ist.

Solange ein Mensch lebt, kann seine Würde nicht nicht da sein. Der gefolterte und erniedrigte Mensch kann seine Selbstachtung verlieren, aber nicht seine Würde. Diese eben klagt den Unrechttäter an. Der kriminelle Mensch kann die Ausübung mancher wichtigen Rechte verlieren, aber nicht seine Würde. Diese eben klagt ihn an – mehr und tiefer als der Staatsanwalt oder der Richter.

Dasselbe gilt mutatis mutandis für jeden kranken Menschen. Seit der Aufklärung wird die Würde nicht mehr nur Königen, Adligen und Weisen zuerkannt, sondern in einem tieferen Sinn jedem Menschen, insbesondere armen, schwachen, behinderten und leidenden Menschen. Die Ohnmacht, in uns selbst oder bei einem anderen Menschen Leidens nicht zu heilen oder ändern zu können, soll meiner Überzeugung nach mit allen unlösbaren Fragen akzeptiert werden, und zwar in dem Sinn, dass die Ohnmacht keine Rechtfertigung werden darf, eine Person mit ihrer inhärenten Würde zu vernichten. Es gehört nicht zum Fachwissen des Arztes, zu wissen, was nach dem Tode kommt. Der Arzt kann daher niemals objektiv gerechtfertigt sagen, dass das Jenseits (was das auch sein möge) besser sei als das noch verbleibende Leben. Dieses Urteil übersteigt die menschliche und gewiss auch die ärztliche Vernunft. Das Sterben eines Menschen ist ein Geheimnis und eine Paradox. Es ist natürlich, wenn Familie und Freunde eines Kranken hoffen, dass das Leiden nicht zu lange dauern werde. Wenn aber der Arzt aktiv einen Mensch über die Grenze zum Todes hinweg hebt, dann ist das Unbekannte Ziel seines Handelns geworden. Das Jenseits aber übersteigt die Ziele ärztlichen Handelns.

Bei allem Respekt für das Ethos und die mitmenschliche Haltung, die Ärzte bewegen können: Wenn wir die Grenze zur aktiven Lebensbeendung überschreiten, dann muss doch eine Frage gestellt werden, die nicht rhetorisch gemeint ist, aber doch nicht anders als eindringlich sein kann: Ist Tötung auf Verlangen oder im Interesse des Patienten tatsächlich eine konkrete realistische Anerkennung des Leidens als Leiden? Oder ist sie eine tätige Gestalt der Abstraktion, ein Abstrahieren vom Personsein und ein Abstrahieren vom Wesen des Leidens, welches nur auf Grund der Würde des Menschen denkbar und möglich ist? Ist aktives Töten eines Menschen, auch wenn dieser es aus einem einfühlbaren Motive heraus verlangt, nicht eine Form der Abstraktion und zwar eine Abstraktion im Quadrat? Ist es nicht ein Umschlag, ein Umkehren und deshalb Ver-kehren dessen, was Barmherzigkeit immer fordert: Für einen Mensch sorgen, solange er da ist? Ist im Lichte der unveräusserlichen Würde des Menschen nicht das Allererste, das wir für ihn tun sollen, aber auch das Allerletzte, das wir für ihn tun können, ihn oder sie nicht zu töten und ihm oder ihr dazu nicht zu helfen? Das Akzeptieren der Grenzen unseres Könnens und unserer Ohnmacht ist menschlicher als einen noch existierenden Mitmenschen, das Subjekt des Leidens und und das Objekt unserer Sorge, zunichte zu machen.

Nicht geleugnet werden darf die Perplexität, in die das Leiden uns versetzen kann. In der Diskussion in unserem Lande tauchen immer wieder die Worte «Problem» und «Lösung» auf. Es ist sehr ethisch, so viel wie möglich Probleme zu lösen. Aber es ist meines Erachtens eine Hypertrophie des ärzlichen Ethos, wenn man verlangt, alle Probleme lösen zu können. Jedenfalls soll der leidende Mensch selbst nicht zum Problem des Arztes degradiert werden.

In diesem Kontext ein kurzes Wort über die Entwicklung der medizinischen Technologie: Die Technologie enthält keinen ethischen Imperativ, das Leben bis zum bitteren Ende zu verlängern. Das wäre die «acharnement medicale». Deshalb ist die Anwesenheit dieser Technologie auch kein ausreichender Grund für aktive Lebensbeendung. Meines Erachtens ist die Möglichkeit aktiver Euthanasie keine Korrektur, sondern im Spiegelbild die Extrapolation der «acharnement medicale». Die Grundhaltung der «achernement medicale» ist: «Ich soll als Arzt mit meinen Mitteln immer meinen Patienten helfen.» Das ist genau dieselbe Grundhaltung der aktiven Euthanasie: «Ich soll als Arzt immer meinen Patienten helfen. Wenn ich nichts anders für ihn tun kann, dann wenigstens dies». Dazu kommt, dass eine offene gesellschaftliche Möglichkeit zur aktiven Euthanasie tatsächlich die «acharnement medicale» nicht zurückdrängen, sondern eher fördern wird: Man hat dann doch immer noch das andere Hinterhand. Die Gewissenhaftigkeit in dem Suchen der richtigen Diskretion im Handeln kann darunter leiden .

Jedem Arzt ist das Phänomen der somatischen oder psychischen Therapie-Resistenz bekannt. Er muss in Bescheidenheit und Zurückhaltung sich damit abfinden, soll sich aber nicht, koste es was es wolle, darüber hinwegsetzen. Zum Ethos des Arztes gehört auch die Resistenz gegen Therapie-Resistenz.

Der Mensch hat seine unveräusserliche Würde und seine unvermeidbare quantitative und qualitative Endlichkeit. Gegenüber beiden Wirklichkeiten im Menschen soll der Arzt in Bescheidenheit Zurückhaltung bewahren. Dazwischen liegt seine dienende und aktive Aufgabe. Zu seinem Ethos gehört es immer wieder, den Gleichgewicht zwischen diese Aktivität und diese Zurückhaltung anzustreben .

Meine Damen und Herrn, wenn Sie mich nach meineen Erwartungen bezüglich der Zukunft fragen, kann ich nur sagen, dass es Andeutungen gibt, dass allmählich die Ansicht wächst und an Evidenz gewinnt, dass die Entwicklung zu weit und viel zu weit fortgeschritten ist. Die Gegenstimmen werden kräftiger. Aber der Unterscheid zwischen zu weit und nicht zu weit bleibt unbestimmt und heikel. Der Sache ist eine innere Dynamik eigen. Diese Dynamik wird meines Erachtens noch immer unterschätzt. Es kommt mir als unbedingt notwendig vor, dass das Bewusstsein dieser zwangsläufigen Dynamik sich den Durchbruch verschafft.

Wenn Sie mich fragen, ob ich optimistisch oder pessimistisch bin, kann ich wie folgt antworten. Wenn man als Ausländer in die Schweiz kommt, bekommt man Lebensweisheiten. So auch ich heute morgen beim Frühstück im Hotel. Auf einer Zuckertüte las ich ein Wort von James B. Cabell: «Der Optimist erklärt, dass wir in der besten aller Welten leben, und der Pessimist fürchtet, dass dies wahr ist.»

Ist Holland die beste aller Welten? Ich möchte bescheiden sein. Ob ich als Holländer Optimist oder Pessimist sein muss, wird unter anderem von der Entwicklung in der Schweiz abhängen!

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