Recht auf Leben gefährdet

3.1.1994 Moritz Nestor

Was würden Sie sagen, wenn ein Psychiater bei Ihrer depressiven, körperlich aber gesunden Mutter ein «natürliches Todesverlangen» diagnostizieren würde, wenn er sich mit Kollegen beriete, diese – ohne ihre Mutter zu sehen! – zum gleichen Schluss kämen und man daraufhin Ihrer Mutter zu Hause Gift gäbe? «Jeder», so würde Ihnen der Arzt erklären, «hat das Recht, sein Leiden als unerträglich zu empfinden und um Euthanasie zu bitten.» Würden Sie als Arzt den Kollegen zur Rede stellen, käme die Antwort, Sie seien «störrisch», «arrogant», «unflexibel» und würden Ihre Mutter nicht «auf ihre Art sterben lassen».

Dies alles ist nicht Einbildung, es ereignete sich so unter der Verantwortung eines gewissen Dr. Chabot im heutigen Holland! Aber nicht nur die Tatsache lässt einem die Haare zu Berge stehen, sondern auch die Folgen. Der verantwortliche Arzt wurde vom holländischen Gericht bereits in zweiter Instanz freigesprochen. Er habe sich in einer «unlösbaren Notsituation » befunden, so die Verteidigung!

Diese Rechtfertigung stammt vom Euthanasiepropagandisten Admiraal, Anästhesist am Reiner de Graft-Hospital in Delft. Admiraal «erlöst» Patienten mit Barbituraten und Curare. Admiraal 1986: In 30 Jahren werde man nicht mehr verstehen, warum man so lange brauchte, Euthanasie als Menschenrecht zu akzeptieren. Damit ist die Begriffsverwirrung komplett. Artikel 293 und 294 des holländischen Strafgesetzbuches verbieten seit 1886 Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Selbstmord. Artikel 40 räumt allerdings ein, man könne «durch einen übermächtigen Einfluss» in einen die Tötung rechtfertigenden Notstand geraten – und mit dieser Ausnahmeregelung operieren nun die holländischen Euthanasieliberalisierer.

Durch zwanzig Jahre lebensfeindliche Propaganda dieser Kreise aufgeweicht, fühlen sich immer mehr holländische Richter dazu gedrängt, für Fälle wie den von Chabot einen solchen «Notstand» einzuräumen. Dass dabei das Grundrecht auf Leben opportunistisch suspendiert wird, nehmen heute in Holland schon viele in Kauf. Ist die Erinnerung an derartige Praktiken unter Hitler in Holland schon verblasst?

Am 30. September 1993 diskutierte Admiraal in Zürich zusammen mit Professor Klijn, Ethiker an der Universität Utrecht und Mitglied der Staatskommission Euthanasie in den Niederlanden, über die gegenwärtige Euthanasiepraxis in Holland. Dabei konnte man Unglaubliches hören. Admiraal schätzte ganz unbefangen, in den vergangenen zwanzig Jahren seien in Holland etwa 25 000 Menschen aktiv euthanasiert worden. Und das sei, so Admiraal, «Humanismus». Wer den unbedingten Schutz des Lebens verlange wie die überwiegende Mehrheit traditionell empfindender Ärzte, sei «arrogant», «unflexibel», «störrisch» und habe kein Mitgefühl für den Leidenden. Der traditionell empfindende Arzt ist für Admiraal gefühllos und achte die «Selbstbestimmung» des Patienten nicht. Admiraals «neuer» Arzt sei demgegenüber wirklich «humanistisch», er töte den Patienten auf dessen Verlangen – übrigens auch körperlich gesunde –, denn er achte dessen «Selbstbestimmungsrecht».

Diese neue «Moral» wurde dem Publikum mit einem leicht zu durchschauenden Trick schmackhaft gemacht: Es wurden ausschliesslich schwere Fälle geschildert, der «Gnadentod» erschien vor diesem düsteren Hintergrund dann als sanfte Erlösung. Schliesslich steht nicht der aktive Euthanasiearzt, sondern der traditionell empfindende Arzt auf der Anklagebank.

Admiraal schloss mit der beruhigend gemeinten Bemerkung, «nur» im Spital und im «Team» werde in Holland Euthanasie geübt. Dass sich auf Grund der Situation in Holland ältere Menschen nicht mehr ins Spital wagen, erwähnte er nicht. Viele fürchten heute bei einem Klinikaufenthalt vor dem Hintergrund der Auflockerung bislang strikte gehandhabter Prinzipien um ihr Leben.

In der Diskussion wurde der Referent gefragt, was er zum folgenden Fall sage: Bei einer körperlich gesunden Holländerin mit Sozialbeziehungen kam ein Psychiater nach Rücksprache mit Kollegen zum Schluss, sie wolle nicht mehr leben, er gab ihr zu Hause Gift. Admiraal wird spöttisch. Hier in der Schweiz wisse man offenbar besser über sein Land Bescheid als er in Holland, er kenne den Fall nicht. Als der Teilnehmer nun Chabot als den das Gift verabreichenden Arzt nennt, kennt Admiraal den Fall plötzlich. Er kontert: Dies sei ein Einzelfall.

Im anschliessenden Referat zeigte Professor Klijn, dass es in Holland – nach amtlicher Quelle – 400 solcher «Einzelfälle» pro Jahr gebe, Fälle notabene, wo nicht körperlich schwerstkranke Menschen, sondern psychisch kranke, suizidgefährdete Patienten getötet werden. Sowohl Chabot wie Admiraal wurden vor Gericht vom gleichen Gutachter mit ethischen Argumenten verteidigt. Dieser Euthanasie «liberalisierer» springt mit Kritikern nicht gerade zimperlich um. Ähnlich wie die militanten Drogenliberalisierer ihr «Recht auf Rausch» propagieren, vertritt er kategorisch das «Recht auf den eigenen Tod».

Hier wie dort werden Menschen, die gegenüber solchem Abbau von Grundrechten Bedenken anmelden, als Antihumanisten hingestellt, während man den Humanismus für sich selbst pachtet. Das Schweizer Strafrecht verbietet die Beihilfe zum Suizid nicht kategorisch. Professor Klijn wies in seinem Vortrag warnend auf diese gefährliche Lücke hin. Es bleibt abzuwarten, ob es die Einfallspforte für kommende Schweizer Euthanasieliberalisierer wird – gegen den jetzt noch vorhandenen Widerstand breiter Ärztekreise. Wie die Drogenlegalisierung unter anderem dadurch gerechtfertigt wurde, dass man immer wieder behauptete, man müsse «neue Wege» finden, so berichtete die «NZZ» aber Ende Juni 1993 vom Fall Chabot unter dem merkwürdigen Titel «Unerforschte Wege der Euthanasie in Holland»! War die Euthanasie in Hitler-Deutschland mit der entsprechenden «Forschung» dazu erst die Vorstufe gewesen? Will man auf Kommendes vorbereiten? Statt neugierigem Interesse wäre hier ein Aufschrei darüber am Platze, dass so etwas in Europa schon wieder möglich ist!

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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