«Schicksalsgefährte» sein wollen

9. November 2016 Moritz Nestor


«Schicksalsgefährte» sein wollen


 

Die Bildungspolitik tut mit Blick auf die drängenden gesellschaftlichen Probleme gut daran, ihre Präferenzen gelegentlich zu überprüfen. Etwas lauter wird in letzter Zeit diese Forderung. Eine grundsätzliche Rückbesinnung auf eine Pädagogik, die den werdenden Menschen als personales Wesen erfasst, tue Not, forderte Erika Vögeli in ihrem Leitartikel vom 15. März 2010. In demselben Sinne täten auch Psychologie und Psychotherapie gut daran, sich grundsätzlich auf die werdende menschliche Person rückzubesinnen.

In manchen unserer heutigen exzellent qualifizierten Institutionen, in denen seelisch Leidende untergebracht sind und auf Heilung hoffen, steht der Therapeut einmal die Woche für 10 Minuten zur Verfügung. Kostenbewusstsein garantiert angeblich die Qualität der Institution. Der sowieso schon in Einsamkeit versinkende seelisch Leidende muss sechs Tage lang auf zehn Minuten warten und – dann wieder warten.

Wir brauchen aber (wieder) therapeutische Verfahren, die den psychisch Leidenden nicht als „Fall von etwas“, als gestörte Gehirnfunktion oder „Teilleistungsstörung“ auffassen, sondern als seelisch leidenden Mitmenschen. Nicht „ein Teil von etwas“ leidet seelisch, sondern immer der ganze Mensch. Wir brauchen (wieder) mehr Therapeuten, die nicht „Techniker“ an Körper- oder Seelen“teilen“ sein wollen, sondern die seelisches Leiden als Ausdruck einer leidenden Gesamtpersönlichkeit in ihrer Kultur und historischen Epoche begreifen. Psychologe sein muss wieder heissen, mitmenschlich denken, fühlen und handeln können. Denn im Zentrum jeder Heilung steht das innere emotionale Erfassen des seelisch Leidenden.

 

Jenny

Die 11jährige Jenny kam zu mir als „Zappelphilipp“. Sie sei nervös und im letzten Jahr in der Schule immer schlechter geworden, sagt die Mutter. Wie bei vielen Kindern war im Laufe der Vorabklärungen eine Konzentrationsstörung mit Minderbegabung auf dem Hintergrund eines fraglichen POS diagnostiziert worden. Man riet der Mutter zum Psychiater. „Da bekommt sie doch nur Pillen. Davon wird sie auch nicht gescheiter. Ich gebe mein Kind nicht auf“, empörte sich diese. Durch Vermittlung ihres Beistandes kam Jenny zu mir.

Jenny war im Kern ihrer Persönlichkeit der tiefen Überzeugung, sie könne nicht auswendig lernen, weil sie „dumm“ sei. Sie legte Aufgaben, die sie nicht sofort und schnell lösen konnte, zur Seite, fand tausendundeine Rationalisierung als Ausrede dafür. Sie hielt (tatsächliches oder eingebildetes) Nichtkönnen emotional nicht aus: Der Stoff sei blöd, man brauche solches Zeugs nicht fürs Leben und ähnliches mehr. Ihr fehlte Mut, ihr Selbstwertgefühl schwankte. Dafür hatte sie einen bemerkenswerte neurotische Kompensation ihrer vermeintlichen Schwäche entwickelt: Sie konnte solange herzzerreissend jammern und sich klein machen, als wäre sie 2 oder 3, aber nicht 11, bis die von Mitleid gepackte Mutter ihr die Aufgabe abnahm. Aber oft gelang das auch der Mutter nicht, denn auch diese fühlte sich zutiefst dumm. Wenn es um Dinge des Alltags ging, nahm sie diese der Tochter ab, aber in schulischen Dingen war sie bald am Ende.

Ihre drei Kinder (Jenny war die zweite nach Klaus, nach ihr kam Fabian) hatten vier Jahre in Heimen verbracht. Die stark um sich kreisende Mutter war mit der Erziehungsaufgabe völlig überfordert gewesen und hatte den Kindern jenen menschlichen Halt zu wenig geben können, wie er für die Ausbildung eines stabilen Persönlichkeitskerns wichtig gewesen wäre. Jetzt war die Mutter seelisch stabiler, und ihre Kinder lebten wieder bei ihr.

Jenny, ein munteres, keckes Mädchen, die einen fröhlich und offen anschaute, rutschte im ersten Gespräch auf dem für sie noch zu grossen Stuhl herum, daneben ihre Mutter, und erklärte ernsthaft und ohne Aufforderung: Ihr Problem sei, dass sie nicht auswendig lernen könne. Sie brauche daher Therapie. Als ich ernsthaft auf sie eingehe und wissen will, warum das denn eigentlich in der Schule mit dem Lernen nicht so gut klappe, da erklärt sie hochdifferenziert, offen und aufrecht, was ihr fehle. Dieses Mädchen redete, wie ich es mir von manchem Erwachsenen wünschen würde! Und in kurzer Zeit war das Bild vollständig: Sie war ein aufgewecktes Kind mit schneller Auffassungsgabe, als sie in die erste Klasse der Volksschule eintrat. Von Dummheit keine Spur. Was in der Schule durchgenommen wurde, war alles ohne Probleme verständlich, da sie aufmerksam verfolgte, was in der Klasse passierte. Und wenn sie nach Hause kam, konnte sie den neuen Stoff längst. So bildete sie unbemerkt ein falsches inneres Modell, nämlich, dass Lernen Können heisst.

Als die Hausaufgaben anfingen, machte sie diese schnell in der Schule während des Unterrichts, wenn die anderen noch an etwas herumdachten. Sie hatte ja gut aufgepasst. Ohne dass es irgendjemand gemerkt und ohne dass es zunächst Probleme bereitet hätte, gewöhnte sie sich den Lernstil an: Einmal anschauen und: können! Die Schule war zur „Könnschule“ geworden. Sie kam und sah und siegte buchstäblich. Sie hatte aber keine Ausdauer und wenig Mut. Das aber sollte sich später erst bemerkbar machen.

Zu Hause gab es für Jenny keine Aufgaben, die Ausdauer und Mut verlangten. Die Mutter tat alles für die Kinder, ersparte ihnen jede Anstrengung. Sie wollte eine „gute“ Mutter sein. Die Eltern wollten sich etwas leisten und ihren Kindern etwas bieten können, um gesellschaftlich gleichgestellt zu erscheinen: ein Haus, Elektronik, mindestens einmal im Monat einen Besuch im Europapark usw. Das väterliche Einkommen eines Lastwagenchauffeurs war daher meist schon Mitte des Monats so dezimiert, dass man den Gürtel enger schnallen musste. Aber dann kam ja bald das nächste Gehalt.

Als dann aber die Menge von Jennys Hausaufgaben zunahm, der Stoff schwieriger wurde und nicht mehr alles auf den ersten Blick hängenblieb, begannen Jennys Schwierigkeiten. Ihr Mangel an Ausdauer, Mut und Selbstvertrauen trat zutage. Sie wollte immer alles schnell auf den ersten Blick können. Wenn sie las, war ihr Geist immer schon am Ende des Abschnitts, während sie noch nicht einmal den Sinn des ersten Satzes verstanden hatte. Bald einmal resignierte sie: Ich bin dumm; mein Kopf hat nicht die gleiche Kraft, Dinge festzuhalten, wie der Kopf der anderen; ich kann nicht auswendig lernen.

Sie konnte das alles während des durch ihre fröhliche Art kurzweiligen Erstgesprächs schildern, verstand aber nicht, warum sie das alles tat! Ihr unbewusster Lebensstil trieb sie. Da sass vor mir ein Mädchen, das zutiefst in seiner gesamten Persönlichkeit ‑ und die umfasst die gesamte seelisch geistige Innenwelt: Gefühl und Verstand ‑ davon durchdringen war, „dumm“ zu sein. Ihre vielen Misserfolge der letzten Jahre waren allen, auch ihr, „Beweis“ dafür. Aber: Welch Widerspruch zwischen ihrer emotional verankerten Privatlogik: „Ich bin dumm“ und ihrem Handeln hier im Sprechzimmer: Denn im Dialog mit mir erschloss sie mit grosser emotionaler und intellektueller Leichtigkeit ihr Seelenleben und den psychodynamischen Hintergrund ihrer Schwierigkeiten ‑ eine hochintelligente Leistung, die ich nicht jeder Elfjährigen zutraue! Immer erstaunter merkte ich, dass dieses Kind gescheit war, aber zutiefst dachte und fühlte und glaubte, dumm zu sein.

Die erste Stunde hatte genügend Gelegenheit geboten, einen ersten Einblick in Jennys Lebensstil zu gewinnen: Können will ich, Lernen kann ich nicht, ich bin zu dumm für die Schule, aber das zeige ich nicht. Mache dich klein, jammere und weiche aus, bis Mami das Problem löst.

Von dieser ihr unbewussten seelischen Lebensgleichung her aus wollte ich ihr Problem lösen. Ich dachte, sie deshalb irgendwie überraschen zu müssen! Sie musste doch diesen Widerspruch, den der Aussenstehende bald merkt, der ihr aber unbewusst ist, tief innen merken, spüren, erfühlen, erleben. So könnte doch ein korrigierendes Gefühlserlebnis entstehen: Dass sie etwas Gescheites tat, ohne zu wissen, dass es gescheit war. Wir verabredeten uns wieder. Sie sollte nicht in die gleiche Falle laufen wie so viele, deren „gelernte Dummheit“ nur daraus besteht, dass sie unsicher sind und nicht an sich glauben.

Auf keinen Fall also an ihrem wunden Punkt, dem Dummheitsgefühl, anpacken. Diese seelische Wunde wollte sie ja vor Zugriffen schützen. Keine Analyse, keine Besprechung ihres „Problems“, aber auch keine „Sonderbehandlung“: Entlastung, Sonderklasse, oder ähnliches. Sie musste von innen gestärkt werden, indem man die gesunden Seelenteile aufgriff und stärkte, bis die Schwäche überwunden wäre.

Zu sehen, dass die Intelligenz dieses Kindes ausreichend entwickelt war, brauchte keine Stunde. Ihre gesamte seelische Bewegung war Ausdruck einer emotionalen und intellektuellen Höchstleistung. Sie verbrauchte ihre geistigen Kräfte für den Ausbau eines hochkomplizierten neurotischen Lebensstil.

 


 

Für die nächste Stunde dachte ich mir etwas aus: Sie hatte sich auf „Therapie“ eingestellt, auf das „Behandeln“ ihrer „Dummheit“. So wie bei einem Arzt. Sie war ja behandlungsbedürftig – wie sie dachte ‑ und erwartete, dass ich zusammen mit ihr die verhassten Hausaufgaben machen würde, an denen sie immer scheiterte, und dass sie dann wieder dieses blöde Gefühl haben würde, dass da oben im Kopf etwas nicht stimmte und dass dann wieder diese Leere im Kopf sein würde, so dass sie nicht verstand, was da auf dem Blatt Papier stand.

Da ihr bei mir dieses Schrecklichste alles Schrecklichen für ihr Gefühl drohte, wollte sie sich im Wartezimmer von der Mutter kaum losmachen, klammerte sich an sie und jammerte kläglich. Sie führte ihre „Lösung“ filmreif vor: Kleinmachen, Jammern, bis Mami einem das Schreckliche abnahm und das verflixte Dummheitsgefühl, das sie nicht aushielt, wieder weit weg war. Mami hatte sie auch zu mir bringen müssen, obwohl Jenny sich längst im Strassenverkehr gut zurechtfand.

Ich lachte sie daher freundlich an: „Da ist ja die gescheite junge Dame vom letzten Mal. Du hast mich das letzte Mal ja überrascht, wie fix Du im Kopf sein kannst!“ Sie musste selbst lachen und gab mir strahlend die Hand. Für eine Sekunde legte sie das Kleinkindhafte ab. „Wieso jammerst Du denn heute auf einmal wie ein kleines Baby und als ob Du nicht auf drei zählen könntest?“ Jenny erinnerte sich und klammerte sich wieder jammernd (aber schon mit einem lachenden Auge zu mir) an die Mutter: „Mami, Mami, bleib bei mir.“ Ihr spitzer Mund suchte den Mund der Mutter. Diese wollte Jenny halbherzig zu mir schubsen, sie solle nur mit mir gehen. Jenny war eine Meisterin darin, die Mutter bei ihren Mitleidsgefühlen und dem Ich-will-eine-gute-Mutter-sein zu „packen“, damit diese tat, was Jenny wollte: Schutz geben vor dem Ungeheuer namens Dummheit. Und dass die Mutter jetzt nicht sicher war, war Jennys Chance, diese doch noch herumzukriegen. Die Chance musste sie doch wahrnehmen! Sie blieb so lang wie möglich im Kleinkindhaften, obwohl es ihr mir gegenüber schon fast etwas peinlich war, sich so zu benehmen.

Ich lachte sie mit einer Mischung aus Empörung und Humor aus: “Jenny, mir kommen die Tränen. Hör auf das jammernde Kindchen zu spielen. Steht Dir nicht. Verhältst Dich ja wie ein Dubbeli. Komm, wir machen etwas Gescheites. Wirst sehen, der Kopf ist nachher noch drauf.“ Wenn die Stimmung stimmt, dann geht es. Und es ging! Jenny kam mit. „Und das nächste Mal brauchst Du kein Mamihändchen zum Festhalten, um zu mir kommen. Du bist gross genug. Denk einmal, in ein paar wenigen Jahren heiratest Du und hast Kinder. Da kannst Du nicht klein Baby spielen.“ – Die Mutter hatte mir erzählt, wie gerne Jenny ihrem kleinen Neffen half.

Mein ungarischer Hirtenhund, ein weisser Puli namens Emil, der mich in meiner Praxis begleitet, tat das Seine und lockte Jennys Neugierde spielerisch in mein Zimmer: „Tschüs Mami“, und sie sprang hinter Emil her, vergass in ihrer Begeisterung für den quirrligen Hund, dass sie sich hatte klein machen wollen, um das zu überstehen, was jetzt, wie sie dachte, kommen sollte. Aber das Gespenst Dummheit kam nicht. Dafür sorgte ich.

„Ich hab mir etwas ausgedacht Jenny: Du gehst doch jeden Tag zur Schule.“ – „Ja, sicher.“ – „Wie kommst Du dorthin?“ – „Das ist doch klar.“ – „Aber ich weiss es nicht, und ich möchte, dass Du es mir so erklärst, dass ich es verstehe. Und dann am Schluss verrate ich Dir, warum ich das alles frage.“ – Sie sprudelte unbefangen los, und ich fragte, was mir unklar war, während ich auf einem Blatt Papier sorgfältig aufzeichnete, was sie mir erklärte. Ohne an so Dinge wie Lernen zu denken, sprudelte sie nur so. Genau das wollte ich. Schliesslich hatten wir einen bunten Plan mit allen Details ihres Schulweges aus dem Kopf hervorgezaubert. (Alles „auswendig“ gelernt!)

„Schau, jetzt haben wir eine tolle Karte von Deinem Schulweg hergestellt. Du hast alles genau erklärt. So genau, dass ich den Plan habe zeichnen können, obwohl ich nie dort war. Jetzt sag einmal: Warum hast Du das alles so genau erklären können?“ – „Weil ich es im Kopf habe. Dort ist ein Bild.“ – „Genau, Du siehst es im Kopf, was Du jeden Tag machst. Oder?“ – Sie lacht: „Genau.“ – „Ja, gut, und wie ist das denn: Wie ist das Bild in Deinen Kopf hineingekommen?“ – „Weil ich immer wieder den Weg gegangen bin und aufgepasst habe. Ich muss ja ankommen. Da muss man schauen und aufpassen.“ ‑ „Dann hast Du also den Weg auswendig gelernt!“ Ich sage es langsam, ruhig und schaue sie ganz ernst an. ‑ Sie stutzt, eine tiefe Bewegung geht durch sie. Sie hat mit Kopf und Herz den Widerspruch gemerkt. ‑ „Hast Du je einmal eine Hausaufgabe gehabt: `Ich lerne meinen Schulweg auswendig`?“ – Sie lacht über diesen absurden Gedanken: „Nein.“ – „Aber Du hast ihn auswendig gelernt!“ – Sie schaut mich mit immer grösseren Augen an: „Ja. Das stimmt.“ – „Dann kannst Du auswendig lernen! Das habe ich mit eigenen Augen gesehen!“ – Könnte man doch beschreiben, welch tiefe Gefühlsregung dieses Mädchen erfasst hatte!

„Wie oft bist Du diesen Weg denn schon gegangen?“ – „Sehr oft.“ Sie rechnet. – „Und wie oft schaust Du etwas an, was Du lernen musst?“ – Sie stutzt wieder und schaut mich lange still an, während man ihr ansieht, wie es in ihr arbeitet. Ich warte. Und dann kommt plötzlich die Erkenntnis aus ihrer inneren Mitte: Einmal, aber dann lege ich es weg! Aber das ist ja zuwenig!“ – „Ja, Jenny, das stimmt. Aber jetzt ist es doch ganz einfach: Was hast Du beim Auswendiglernen für die Schule immer gedacht, was Du beim Schulweg nie gedacht hast?“ – „ich habe immer gedacht, ich bin blöd, und habe nicht mehr geübt!“ – „Ja, genau, und was musst Du also einfach tun, damit Du in der Schule genauso gut auswendig lernst?“ – „Ich darf nicht aufhören zu üben, weil ich es noch nicht kann.“ ‑ „Ja, erinnere Dich einfach an die Stunde heute, wenn Dein Schlossgespenst namens Dummheit wieder kommt und etwas von Dir will.“

Sie schaut mich einen Kopf grösser an: „Wieviel Uhr ist es?“ Die Zeit ‑ weder sie noch ich hatten es gemerkt – ist im Flug vergangen! Sie steht auf, und beugt sich strahlend zu mir herüber: „Ich habe gar nicht gewusst, dass Therapie so schön sein kann!“ – „Siehst Du, Jenny, Du bist gar nicht dumm. Dein Kopf ist in Ordnung. Du glaubst nur, dass Du dumm bist. Und wenn Du glaubst, dass Du dumm bist, dann hörst Du auf. Und diesen Glauben, dass Du dumm sein sollst, den hast Du irrsinnig gut auswendig gelernt! Du hast Deine Intelligenz an der falschen Stelle eingesetzt.“ – Jetzt müssen wir beide lachen.

„Und bei Deinem Schulweg bist Du gar nicht auf die Idee gekommen, Du könntest dumm sein. Und deswegen ist der in Deinem Kopf geblieben.“ – „Klar, sonst wäre ich ja nie in der Schule oder zu Hause angekommen“, platzt sie heraus. Dann überlegte sie wieder: „Ich kann“, jubelt sie schliesslich. – „Genau, und das werden wir zusammen üben, dass Du nicht mehr zu früh aufhörst, und dann nicht mehr den Weg findest, sondern weitermachst. Dann bekommst Du genau die gleiche Freude am Lernen wie jetzt gerade.“ Ein glückliches Mädchen geht mit einem neuen Gefühl nach Hause, das ihr niemand mehr nehmen kann.

 


 

Nach etwas mehr als einem Jahr ist Jenny eine Schülerin geworden, die lernen kann. Sie macht ihre Arbeiten im Gegensatz zu früher selbständig. Aus dem einstigen Problemkind ist eine kleine junge Dame geworden, die nicht mehr jammern muss, damit Mami ihr die Probleme abnimmt, sondern die den Weg ins Leben nimmt. Daher erklärte sie eines Tages, jetzt wolle sie ausprobieren, ob sie auch ohne Therapie leben könne.

Viele weitere Erlebnisse waren zur ersten Stunde hinzugekommen. Aber die erste Stunde war der Einstieg und entschied über alles.

 


 

Jennys schulische Ausbildung und die Chance, später einmal einen Beruf ergreifen zu können, waren zutiefst gefährdet. Ihre Gesamtpersönlichkeit war geschwächt, und das hatte Auswirkungen auf alle anderen Lebensbereiche. Hätte man Jenny statt mitmenschliches Verstehen und therapeutische Hilfe Medikamente gegeben, wäre Jenny in der Schule gescheitert, wäre ein befriedigendes Berufsleben verschlossen geblieben. Auch wenn sie das danach subjektiv überspielt hätte, hätte sie dadurch zeitlebens darunter gelitten. Wenn es nicht noch schlimmer gekommen wäre. Wir wissen es nicht, aber wir sehen im therapeutischen Alltag an zig Beispielen, welch tragische Lebensschicksale aus einem schulischen Scheitern entstehen können, wenn andere ungünstige Faktoren hinzukommen.

Was Jenny half, war Persönlichkeitswirkung, ein rein geistiger Vorgang zwischen ihr und mir, einem Menschen wie sie. Das Wort Therapeut passt eigentlich hier nicht. Wie sehr stellen wir uns damit schon eine kleine, aber entscheidende Stufe höher als der Leidende und kränken ihn. Der seelisch Leidende hat aus einer inneren Zerrissenheit, Unsicherheit, Mutlosigkeit, Gekränktheit und aus einer tiefen Empfindlichkeit heraus feine Antennen entwickelt, mit denen er ausleuchtet, ob dieser da vor ihm, der sich „Therapeut“ nennt, an dessen Wand er das Diplom sieht und dessen weisser Kittel den „Herrn Doktor“ signalisiert, ob der ihn annimmt als Menschen. Ob er ihn vielleicht zutiefst da drinnen in seiner kleinen Welt versteht, dort wo er keinen hinschauen lässt – nur vielleicht diesen da, der jetzt vor ihm steht und ein Diplom an der Wand hängen hat.

Jenny überwand ihre Schwäche und reifte daran. Kein „Teil“ von ihr wurde „repariert“, keine „Kompetenz“ entwickelt, kein Stoffwechsel beeinflusst, kein „psychisches Organ“ operiert, keine Pille verabreicht.

Was Jenny half, war Persönlichkeitswirkung. Am Anfang ihrer Persönlichkeitsentwicklung stand ein korrigierendes emotionales Erlebnis (Franz G. Alexander 1951), das ich plante und herbeiführte. Ich durfte aber nur der Geburtshelfer ihrer Erkenntnis sein. Man kann das Pferd zum Brunnen führen, aber trinken muss es selbst. Jenny hat „getrunken“! Sie hat diese korrigierende emotionale Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes gemacht. Ihre Kraft und meine wirkten zusammen und erschütterten ihr Gefühl, sie sei dumm. Hätte sie diese Aktivität nicht vollbracht, wäre mein Tun wirkungslos verpufft.

Man muss es daher immer wieder neu betonen: Psychologen, Pädagogen und Ärzte sind nicht dazu da, Kinder an die „chemische Leine“ zu legen, weil die ganze Gesellschaft mit den Produkten ihrer verfehlten Theorien vom Menschen und der Kindererziehung nicht fertig wird, und stattdessen unsere Kinder dem freien Pharmamarkt überantwortet. Erinnern wir uns wieder an die Grundsubstanz personaler Psychologie und Pädagogik: Das Kind soll unter kundiger Führung eigenverantwortliches und mitmenschliches Handeln erwerben – und dazu gehört, dass es seine Verhaltensstörungen selbst überwinden lernt und daran seelisch wächst. Das macht den Kern der menschlichen Person aus. Und allein dazu sind die helfenden und heilenden Berufe da. Dafür war Jenny ein Beispiel, dass es geht und wie es geht.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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