«Schicksalsgefährte» sein
2017 ∙ Moritz Nestor
Die Bildungspolitik tut mit Blick auf die drängenden gesellschaftlichen Probleme gut daran, ihre Präferenzen gelegentlich zu überprüfen – eine Forderung, die seit einiger Zeit wieder etwas lauter wird. Eine grundsätzliche Rückbesinnung auf eine Pädagogik, die den werdenden Menschen als personales Wesen erfasst, tut not. In demselben Sinne täten auch Psychologie und Psychotherapie gut daran, sich grundsätzlich auf die werdende menschliche Person rückzubesinnen.
Denn mittlerweile steht in manchen unserer heutigen exzellent qualifizierten Institutionen für seelisch Leidende der Therapeut einmal die Woche für 10 Minuten zur Verfügung. Kostenbewusstsein garantiere angeblich die Qualität der gleichen Institution. Der sowieso schon in Einsamkeit versinkende seelisch Leidende muss sechs Tage lang auf zehn Minuten warten und – dann wieder warten.
Wir brauchen aber (wieder) therapeutische Verfahren, die den psychisch Leidenden nicht als «Fall von etwas», als gestörte Gehirnfunktion oder «Teilleistungsstörung» verstehen, sondern als seelisch leidenden Mitmenschen. Wir brauchen (wieder) mehr Therapeuten, die nicht «Techniker» an Körper- oder Seelen«teilen» sein wollen, sondern die seelisches Leiden als Ausdruck einer leidenden Gesamtpersönlichkeit in ihrer Kultur und historischen Epoche begreifen. Psychologe sein muss wieder heissen, mitmenschlich denken, fühlen und handeln können.
Eine Mutter wehrt sich gegen die Psychiatrisierung ihres Kindes
Die 11jährige Jenny kam zu mir als «nervöser Zappelphilipp». Sie war im vorangegangenen Jahr in der Schule immer schlechter geworden, und bei den Vorabklärungen wurde eine Konzentrationsstörung mit Minderbegabung vor dem Hintergrund eines fraglichen POS diagnostiziert. Man riet der Mutter zum Psychiater. «Da bekommt sie doch nur Pillen. Davon wird sie nicht gescheiter. Ich gebe mein Kind nicht auf», empörte sich diese. Durch Vermittlung ihres Beistandes kam Jenny zu mir.
Jenny war im Kern ihrer Persönlichkeit der tiefen Überzeugung, sie könne nicht auswendig lernen, weil sie «dumm» sei. Sie legte Aufgaben, die sie nicht sofort und schnell lösen konnte, zur Seite, fand tausendundeine Rationalisierung als Ausrede dafür. Sie hielt (tatsächliches oder eingebildetes) Nichtkönnen emotional nicht aus: Der Stoff sei blöd, man brauche solches Zeugs nicht fürs Leben und ähnliches mehr. Ihr fehlte Mut, ihr Selbstwertgefühl schwankte. Dafür hatte sie eine bemerkenswerte neurotische Kompensation ihrer vermeintlichen Schwäche entwickelt: Sie konnte solange herzzerreissend jammern und sich klein machen, als wäre sie 2 oder 3, aber nicht 11, bis die von Mitleid gepackte Mutter ihr die Aufgabe abnahm. Aber oft gelang das auch der Mutter nicht, denn auch diese fühlte sich zutiefst dumm. Wenn es um Dinge des Alltags ging, nahm sie diese der Tochter ab, aber in schulischen Dingen war sie bald am Ende.
Ihre drei Kinder (Jenny war die zweite nach Klaus, nach ihr kam Fabian) hatten vier Jahre in Heimen verbracht. Die stark um sich kreisende Mutter war mit der Erziehungsaufgabe völlig überfordert gewesen und hatte den Kindern jenen menschlichen Halt zu wenig geben können, wie er für die Ausbildung eines stabilen Persönlichkeitskerns wichtig gewesen wäre. Jetzt war die Mutter seelisch stabiler geworden, und ihre Kinder lebten wieder bei ihr. Und es kam für sie nicht in Frage, ihr Kind aufzugeben und es mit Pillen abzuspeisen.
Anfänglich ging alles gut…
Jenny, ein munteres, keckes Mädchen, das einen fröhlich und offen anschaute, rutschte im ersten Gespräch auf dem für sie noch zu grossen Stuhl herum und erklärte ernsthaft und ohne Aufforderung: Ihr Problem sei, dass sie nicht auswendig lernen könne. Sie brauche daher Therapie. Als ich wissen will, warum es in der Schule mit dem Lernen nicht so gut klappe, erklärt sie hochdifferenziert, offen und aufrecht, was ihr fehle: Sie war ein aufgewecktes Kind mit schneller Auffassungsgabe, als sie in die erste Klasse der Volksschule eintrat. Von Dummheit keine Spur. Sie verstand den Schulstoff gut, da sie den Unterricht aufmerksam verfolgte. Die Hausaufgaben machte sie während des Unterrichts, wenn die anderen noch an etwas herumdachten. Unbemerkt und ohne dass es zunächst Probleme bereitet hätte, gewöhnte sie sich den Lernstil an: Einmal anschauen und – können! Sie hatte aber keine Ausdauer und wenig Mut.
Zu Hause gab es für Jenny keine Aufgaben, die Ausdauer und Mut verlangten, denn die Mutter tat alles für die Kinder und ersparte ihnen so Anstrengungen. Sie wollte eine «gute» Mutter sein. Sie und ihr Mann wollten ihren Kindern etwas bieten können, um gesellschaftlich gleichgestellt zu erscheinen: ein Haus, Elektronik, mindestens einmal im Monat einen Besuch im Europapark usw. Das väterliche Einkommen war oft schon Mitte des Monats so dezimiert, dass man den Gürtel enger schnallen musste. Aber dann kam ja bald das nächste Gehalt.
… aber als es etwas mehr brauchte, setzte sich ein Irrtum fest und entfaltete seine Wirkung
Als die Menge von Jennys Hausaufgaben zunahm, der Stoff schwieriger wurde und nicht mehr alles auf den ersten Blick hängenblieb, begannen Jennys Schwierigkeiten. Ihr Mangel an Ausdauer, Mut und Selbstvertrauen trat zutage. Sie wollte immer noch alles auf den ersten Blick können. Wenn sie las, war ihr Geist immer schon am Ende des Abschnitts, während sie noch nicht einmal den Sinn des ersten Satzes verstanden hatte. Bald einmal resignierte sie: Ich bin dumm; mein Kopf hat nicht die gleiche Kraft, Dinge festzuhalten, wie der Kopf der anderen; ich kann nicht auswendig lernen.
Da sass vor mir ein Mädchen, dessen Gesamtpersönlichkeit von dem falschen Bild geprägt war, «dumm» zu sein. Die schulischen Misserfolge der letzten Jahre waren Eltern, Lehrern und Psychiatern, aber auch Jenny, der «Beweis». Aber: Welch Widerspruch bestand zwischen Jennys Privatlogik «Ich bin dumm» und ihrem Handeln hier im Sprechzimmer? Denn im Dialog mit mir erschloss sie mit grosser emotionaler und intellektueller Leichtigkeit ihr Seelenleben und den psychodynamischen Hintergrund ihrer Schwierigkeiten – eine hochintelligente Leistung, die ich nicht jeder Elfjährigen zutraue! Man sah, dass dieses Kind gescheit war.
Die erste Stunde hatte genügend Gelegenheit geboten, einen ersten Einblick in Jennys Lern- und Lebensstil zu gewinnen. Von dieser ihr unbewussten seelischen Lebensgleichung her wollte ich ihr Problem lösen. Ich dachte deshalb, sie das nächste Mal irgendwie überraschen zu müssen! Sie sollte diesen Widerspruch, der dem Aussenstehenden sofort auffiel, tief in sich merken, spüren, erfühlen, bewusst erleben: dass sie nur glaubte, dumm zu sein, aber sehr gescheit erklärte, warum sie «dumm» sei. Sie sollte nicht in die gleiche Falle laufen wie so viele, deren «gelernte Dummheit» nur daraus besteht, dass sie unsicher sind und nicht an sich glauben.
Schwächegefühle kompensieren – eine hinderliche, aber sehr menschliche «Fähigkeit»
Dazu durfte man sie nicht an ihrem wunden Punkt, dem Dummheitsgefühl, anpacken. Diese seelische Wunde wollte sie ja vor Zugriffen schützen. Also weder Analyse ihres «Problems», aber auch keine «Sonderbehandlung»: Entlastung, Sonderklasse oder ähnliches. Sie musste von innen gestärkt werden, indem man die gesunden Seelenteile aufgriff und stärkte, bis sie die Schwäche überwunden hatte.
Ich wusste: Jenny war auf «Therapie» eingestellt, auf das «Behandeln» ihrer «Dummheit». Sie würde von der nächsten Sitzung erwarten, dass ich die verhassten Hausaufgaben würde machen wollen. Sie sollte ja auch ihre Schulsachen mitbringen. Dann aber würde sich wieder dieses blöde Dummheitsgefühl einstellen, und sie würde wieder nicht verstehen, was da auf dem Papier stand.
Da ihr bei mir dieses Schrecklichste alles Schrecklichen für ihr Gefühl drohte, wollte sie sich eine Woche später im Wartezimmer von der Mutter kaum losmachen, klammerte sich an sie und jammerte kläglich. Sie führte ihre «Lösung» filmreif vor: Kleinmachen, Jammern, bis Mami einem das Schreckliche abnahm und das verflixte Dummheitsgefühl, das sie nicht aushielt, wieder weit weg war. Mami hatte sie auch zu mir bringen müssen, obwohl Jenny sich längst im Strassenverkehr gut zurechtfand!
Ich lachte sie daher freundlich an: «Da ist ja die gescheite junge Dame vom letzten Mal. Du hast mich das letzte Mal ja überrascht, wie fix Du im Kopf sein kannst!» Sie musste selbst lachen und gab mir strahlend die Hand. Für eine Sekunde legte sie das Kleinkindhafte ab. «Wieso jammerst Du denn heute auf einmal wie ein kleines Baby und als ob Du nicht auf drei zählen könntest?» Jenny erinnerte sich und klammerte sich wieder jammernd (aber schon mit einem lachenden Auge zu mir) an die Mutter: «Mami, Mami, bleib bei mir.» Ihr spitzer Mund suchte den Mund der Mutter. Diese schob Jenny nur halbherzig zu mir. Jenny war eine Meisterin darin, die Mutter bei ihren Mitleidsgefühlen und dem Ich-will-eine-gute-Mutter-sein zu «packen», damit diese tat, was Jenny wollte: Schutz geben vor dem Ungeheuer namens Dummheit. Die Unsicherheit der Mutter war Jennys Chance, doch noch um das Schreckliche herumzukommen.
Jenny geht mit und macht eine korrigierende emotionale Erfahrung
Ich lachte sie mit einer Mischung aus Empörung und Humor aus: »Jenny, mir kommen die Tränen. Hör auf, das jammernde Kindchen zu spielen. Steht Dir nicht. Verhältst Dich ja wie ein Dubbeli. Komm, wir machen etwas Gescheites. Wirst sehen, der Kopf ist nachher noch drauf.» Und Jenny kam mit! «Und das nächste Mal brauchst Du kein Mamihändchen zum Festhalten, um zu mir kommen. Du bist gross genug. Denk einmal, in ein paar wenigen Jahren heiratest Du und hast Kinder. Da kannst Du nicht klein Baby spielen.» – Die Mutter hatte mir erzählt, wie gerne Jenny ihrem kleinen Neffen half. Mein ungarischer Hirtenhund, ein weisser Puli namens Emil, tat das Seine und lockte Jenny spielerisch in mein Zimmer: Mit «Tschüss Mami» sprang sie hinter Emil her und vergass in ihrer Begeisterung für den quirligen Hund, dass sie sich hatte klein machen wollen, um das Kommende zu überstehen. Aber das Gespenst Dummheit kam nicht. Dafür sorgte ich.
«Ich hab mir etwas ausgedacht, Jenny: Du gehst doch jeden Tag zur Schule.»
«Ja, sicher.»
«Wie kommst Du dorthin?»
«Das ist doch klar.»
«Aber ich weiss es nicht, und ich möchte, dass Du es mir so erklärst, dass ich es verstehe. Und dann am Schluss verrate ich Dir, warum ich das alles frage.»
Sie sprudelte unbefangen los, und ich fragte, was mir unklar war, während ich auf einem Blatt Papier sorgfältig aufzeichnete, was sie mir erklärte. Ohne an so Dinge wie Lernen zu denken, sprudelte sie nur so. Genau das wollte ich.
Schliesslich hatten wir einen bunten Plan mit allen Details ihres Schulweges aus dem Kopf hervorgezaubert. (Alles «auswendig» gelernt!)
«Schau, jetzt haben wir eine tolle Karte von Deinem Schulweg hergestellt. Du hast alles genau erklärt. So genau, dass ich den Plan habe zeichnen können, obwohl ich nie dort war. Jetzt sag einmal: Warum hast Du das alles so genau erklären können?»
«Weil ich es im Kopf habe. Dort ist ein Bild.»
«Genau, Du siehst es im Kopf, was Du jeden Tag machst. Oder?»
Sie lacht: «Genau.»
«Ja, gut, und wie ist das denn: Wie ist das Bild in Deinen Kopf hineingekommen?»
«Weil ich immer wieder den Weg gegangen bin und aufgepasst habe. Ich muss ja ankommen. Da muss man schauen und aufpassen.»
«Dann hast Du also den Weg auswendig gelernt!» Ich sage es langsam, ruhig und schaue sie ganz ernst an.
Sie stutzt, eine tiefe Bewegung geht durch sie. Sie hat mit Kopf und Herz den Widerspruch gemerkt.
«Hast Du je einmal eine Hausaufgabe gehabt: ‹Ich lerne meinen Schulweg auswendig›?»
Sie lacht über diesen absurden Gedanken: «Nein.»
«Aber Du hast ihn auswendig gelernt!»
Sie schaut mich mit immer grösseren Augen an: «Ja. Das stimmt.»
«Dann kannst Du auswendig lernen! Das habe ich mit eigenen Augen gesehen!»
Könnte man doch beschreiben, welch tiefe Gefühlsregung dieses Mädchen erfasst hatte!
«Wie oft bist Du diesen Weg denn schon gegangen?»
«Sehr oft.» Sie rechnet.
«Und wie oft schaust Du etwas an, was Du lernen musst?»
Sie stutzt wieder und schaut mich lange still an, während man ihr ansieht, wie es in ihr arbeitet. Ich warte. Und dann kommt plötzlich die Erkenntnis aus ihrer inneren Mitte: «Einmal, aber dann lege ich es weg! Aber das ist ja zuwenig!»
«Ja, Jenny, das stimmt. Aber jetzt ist es doch ganz einfach: Was hast Du beim Auswendiglernen für die Schule immer gedacht, was Du beim Schulweg nie gedacht hast?»
«Ich habe immer gedacht, ich bin blöd, und habe nicht mehr geübt!»
«Ja, genau, und was musst Du also einfach tun, damit Du in der Schule genauso gut auswendig lernst?»
«Ich darf nicht aufhören zu üben, weil ich es noch nicht kann.»
«Ja, erinnere Dich einfach an die Stunde heute, wenn Dein Schlossgespenst namens Dummheit wieder kommt und etwas von Dir will.»
Sie schaut mich einen Kopf grösser an: «Wieviel Uhr ist es?»
Die Zeit – weder sie noch ich hatten es gemerkt – ist im Flug vergangen!
Sie steht auf, und beugt sich strahlend zu mir herüber: «Ich habe gar nicht gewusst, dass Therapie so schön sein kann!»
«Siehst Du, Jenny, Du bist gar nicht dumm. Dein Kopf ist in Ordnung. Du glaubst nur, dass Du dumm bist. Und wenn Du glaubst, dass Du dumm bist, dann hörst Du auf. Und diesen Glauben, dass Du dumm sein sollst, den hast Du irrsinnig gut auswendig gelernt! Du hast Deine Intelligenz an der falschen Stelle eingesetzt.»
Jetzt müssen wir beide lachen.
«Und bei Deinem Schulweg bist Du gar nicht auf die Idee gekommen, Du könntest dumm sein. Und deswegen ist der in Deinem Kopf geblieben.»
«Klar, sonst wäre ich ja nie in der Schule oder zu Hause angekommen», platzt sie heraus. Dann überlegte sie wieder: «Ich kann», jubelt sie schliesslich.
«Genau, und das werden wir zusammen üben, dass Du nicht mehr zu früh aufhörst und dann nicht mehr den Weg findest, sondern weitermachst. Dann bekommst Du genau die gleiche Freude am Lernen wie jetzt gerade.»
Ein glückliches Mädchen geht mit einem neuen Gefühl nach Hause, das ihr niemand mehr nehmen kann.
Jenny geht ihren Weg
Nach etwas mehr als einem Jahr ist Jenny eine Schülerin geworden, die lernen kann. Sie macht ihre Arbeiten im Gegensatz zu früher selbständig. Aus dem einstigen Problemkind ist eine kleine junge Dame geworden, die nicht mehr jammern muss, damit Mami ihr die Probleme abnimmt, sondern die den Weg ins Leben nimmt. Daher erklärte sie eines Tages, jetzt wolle sie ausprobieren, ob sie auch ohne Therapie leben könne.
Viele weitere Erlebnisse waren zur ersten Stunde hinzugekommen, aber diese erste Stunde ermöglichte einen Einstieg, der dem Mädchen einen neuen Weg eröffnete.
Jennys schulische Ausbildung und die Chance, später einmal einen Beruf ergreifen zu können, waren zutiefst gefährdet. Ihre Gesamtpersönlichkeit war geschwächt, und das hatte Auswirkungen auf alle anderen Lebensbereiche. Hätte man Jenny Medikamente gegeben und sie ihrem Schicksal überlassen, wäre sie in der Schule gescheitert, und ein Berufsleben wäre ihr wohl verschlossen geblieben. Auch wenn sie ihren Misserfolg danach subjektiv überspielt hätte, hätte sie zeitlebens darunter gelitten. Wenn es nicht noch schlimmer gekommen wäre. Wir wissen es nicht, aber wir sehen im therapeutischen Alltag an zig Beispielen, welch tragische Lebensschicksale aus einem schulischen Scheitern entstehen können, wenn andere ungünstige Faktoren hinzukommen.
Ein paar Gedanken zum therapeutischen Prozess
Was Jenny half, war Persönlichkeitswirkung, ein seelisch-geistiger Vorgang zwischen ihr und mir. Ein wesentlicher Faktor dabei ist die Haltung des Therapeuten. Der seelisch Leidende hat oft – sei es aus Unsicherheit, Mutlosigkeit oder Gekränktheit – eine tiefe Empfindlichkeit entwickelt, aus der heraus er mit feinen Antennen auslotet, ob der da vor ihm ihm als Menschen gleichwertig begegnet und ihn in seiner Welt versteht, dort wo er keinen hinschauen lässt – nur vielleicht diesen da, der jetzt vor ihm steht. Selbstverständlich ist dies nicht immer so einfach möglich wie in diesem Beispiel. Manchmal bedarf es eines längeren Vertrauensaufbaus in der Arbeitsgemeinschaft zwischen Ratsuchendem und Therapeuten.
Jenny überwand ihre Schwäche und reifte daran. Kein «Teil» von ihr wurde «repariert», keine «Kompetenz» entwickelt, kein Stoffwechsel beeinflusst, kein «psychisches Organ» operiert, keine Pille verabreicht.
Am Anfang dieser Persönlichkeitsentwicklung stand ein korrigierendes emotionales Erlebnis (Franz G. Alexander, 1951), das ich plante und herbeiführte. Ich war aber nur der Geburtshelfer ihrer Erkenntnis. Jenny hat diese korrigierende emotionale Erfahrung im wahrsten Sinne des Wortes gemacht. Ihre seelische Energie und meine Überzeugung, dass dieses aufgeweckte Kind aus einem emotionalen Irrtum heraus nicht lernt, erschütterten ihr Gefühl, sie sei wirklich dumm. Hätte sie ihre Aktivität nicht vollbracht, wäre mein Tun wirkungslos geblieben.
Man muss es daher immer wieder neu betonen: Psychologen, Pädagogen und Ärzte sind nicht dazu da, Kinder an die «chemische Leine» zu legen, weil die ganze Gesellschaft mit den Produkten ihrer verfehlten Theorien vom Menschen und der Kindererziehung nicht fertig wird und stattdessen unsere Kinder dem freien Pharmamarkt überantwortet. Erinnern wir uns wieder an die Grundsubstanz personaler Psychologie und Pädagogik in Familie und Schule: Das Kind soll unter kundiger Führung eigenverantwortliches und mitmenschliches Handeln erwerben – und dazu gehört, dass es seine Verhaltensstörungen überwinden lernt und daran seelisch wächst. Das macht den Kern der menschlichen Person aus. Allein dazu sind die helfenden und heilenden Berufe da.
Wie gesagt, ist dies nicht immer so unmittelbar möglich wie mit Jenny. Eine grosse Hilfe war in diesem Beispiel die Einstellung der Eltern, die meinen Bemühungen von Anfang an positiv gegenüberstanden. Manchmal braucht es einen längeren Weg, bis man sich in der gemeinsamen Arbeit dem Kern des Problems nähern kann. Aber dass es geht und was es für das Leben eines jungen Menschen bedeuten kann – dafür ist Jenny ein Beispiel.
(Zuerst erschienen in Zeit-Fragen vom 20. Dezember 2016)
Personale Psychologie und Pädagogik, Heft 2, Dezember 2017