Das Verhältnis einer Gesellschaft zum Suizid und der Umgang damit sind ein Maßstab für die Humanität des Umgangs miteinander, für die Achtung des menschlichen Lebens und die gelebte Solidarität ihrer Mitglieder. Das gilt für Menschen in Not, insbesondere für alte Menschen, Menschen mit schweren psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen und sozial benachteiligte und bedrohte Menschen. Die aktuelle öffentliche Diskussion erfordert, die innerpsychische und soziale Realität suizidalen Erlebens und Verhaltens sichtbar zu machen. Daher gilt es, Fehlinformationen und Mythen auszuräumen. Immer wieder stößt man dabei auf ein verkürztes Autonomieverständnis. Dieses blendet wichtige Aspekte der ethischen und humanistischen Tradition des Autonomiebegriffs aus und lässt die Forschungsergebnisse und Erfahrungswerte aus Anthropologie, Kulturanthropologie, Entwicklungspsychologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Suizidprävention und Palliativversorgung weitgehend außer Acht.
Ein Innehalten und Nachdenken ist notwendig. Die Unterzeichnenden fordern, die folgenden Thesen in konkretes gesamtgesellschaftliches und politisches Handeln umzusetzen:
- Es ist nicht Aufgabe einer Gesellschaft, den (assistierten) Suizid zu fördern. Der Staat ist verpflichtet, das Wohl und den Schutz der Menschen zu gewährleisten.
- Die Hilfe zum Leben muss Vorrang haben. Jeder Mensch in einer suizidalen Krise muss eine angemessene mitmenschliche und fachliche Unterstützung erhalten.
- Die Suizidprävention muss ausgebaut, verstärkt und in die Gesellschaft integriert sein. Entsprechende finanzielle Mittel müssen bereitgestellt werden. Weiter bedarf es einer gesetzlichen Verankerung der Suizidprävention und deren rascher Umsetzung. Suizidprävention richtet sich ebenso an Menschen mit einem Wunsch nach assistiertem Suizid.
- Assistierter Suizid ist keine ärztliche und keine pflegerische Aufgabe. Institutionen des Gesundheits- und Sozialwesens dürfen nicht dazu verpflichtet werden, assistierte Suizide zuzulassen oder zu unterstützen. Die Gesundheitsberufe haben eine besondere Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und dem einzelnen Individuum in Not. Jegliche Vereinnahmung der Gesundheitsfachberufe zur Mitwirkung an assistierten Suiziden ist abzulehnen.
- Die Erkenntnisse zur Suizidprävention aus Forschung und Praxis, zu assistiertem Suizid und Autonomie, aus der Palliativversorgung und Hospizarbeit sollen in Rechtsprechung, Politik, Ethik und Medien berücksichtigt und allgemein bekannt gemacht werden. Die gesellschaftliche Aufklärung und Diskussion ist dringend notwendig.
- Die Erkenntnisse aus der Suizidforschung müssen in alle Disziplinen, die mit Wünschen nach assistiertem Suizid konfrontiert werden, einfließen und obligatorische Ausbildungsinhalte werden.
- Niedrigschwellige, d.h. rasch verfügbare und für Nutzerinnen und Nutzer kostenfreie institutionelle Angebote der Krisenintervention müssen flächendeckend ausgebaut und verfügbar gemacht werden.
- Hospiz- und Palliativversorgung muss allen Menschen, die diese benötigen, ohne Einschränkung und Vorbedingung zur Verfügung stehen. Der Anspruch darauf ist gesetzlich zu verankern. Es besteht die Notwendigkeit einer umfassenden und stetigen Information und Aufklärung der Bevölkerung über palliative und hospizliche Angebote.
- Forschung über den assistierten Suizid und dessen Folgen für Angehörige und weitere Betroffene ist notwendig. Die Motive von Betroffenen und Suizidassistierenden sollen untersucht werden, ebenso wie die Auswirkungen auf die Gesellschaft. Voraussetzung dafür ist die zeitnahe, umfassende Erhebung und Dokumentation der assistierten Suizide.
- Die bestehenden Medienempfehlungen über die Berichterstattung zum Suizid und zur Darstellung des Suizids in Medienproduktionen inklusive der neuen Medien müssen umfassend verbreitet und berücksichtigt werden. Das betrifft sowohl die Nachrichten- und Hintergrundberichterstattung als auch Unterhaltungsmedien und die Werbung. Genauso gilt das für Produktionen und die Berichterstattung zum assistierten Suizid.
- Niemand darf genötigt, dahingehend beeinflusst oder gedrängt werden, Angebote der Suizidassistenz zu nutzen, weil Unterstützung oder Hilfen nicht zur Verfügung stehen oder gar verweigert werden. Es besteht die Gefahr, dass der assistierte Suizid mit dem Ziel verbunden wird, Kosten im Gesundheitswesen oder der Altersvorsorge zu senken, Angebote im Bereich der Betreuung alter Menschen oder der Palliativmedizin in Quantität und Qualität nicht auszubauen oder generell Maßnahmen der sozialen Sicherheit und Daseinsfürsorge einzuschränken.
- Finanzielle Mittel für eine adäquate personelle Betreuung und Pflege älterer und anderer betreuungsbedürftiger Menschen zu Hause und in Institutionen müssen ausreichend zur Verfügung gestellt werden. Modelle sorgender Gemeinschaften müssen vermehrt gefördert werden, z. B. Mehrgenerationenhäuser, verbesserte Demenzbetreuung, Nachbarschaftshilfe.
Schloss Hofen, Lochau (A), den 27. August 2023
Für das D-A-CH-Forum Suizidprävention und assistierter Suizid
Bäurle Peter, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, spez. Alterspsychiatrie und -psychotherapie, em. Chefarzt der Psychiatrischen Klinik Aadorf,
Bausewein Claudia, Prof. Dr. med., PhD MSc, Fachärztin für Innere Medizin, Direktorin der Klinik und Poliklinik für Palliativmedizin am LMU Klinikum München,
Becker, Gerhild, Prof. med., Dipl.-Theol. Dipl.- Caritaswiss., MSc Palliative Care, Ärztliche Direktorin der Klinik für Palliativmedizin, Universitätsklinikum Freiburg,
Becker, Carola, Dipl.-Theol., Dipl.-Caritaswiss., Dipl.-Soz.Päd., Psychoonkologin, Universitätklinik Freiburg,
Bielefeldt Heiner, Prof. Dr. Dr. h.c., Lehrstuhl für Menschenrechte, Universität Erlangen-Nürnberg,
Bobbert Monika, Prof. Dr. theol., Direktorin des Seminars für Moraltheologie, Universität Münster,
Fiedler Georg, Dipl.-Psychologe, Geschäftsführer der Deutschen Akademie für Suizidprävention, Hamburg,
Feichtner Angelika, MSc (palliative Care), Innsbruck, Gruber Beate, MMag.a, Junior Health Expert in der Abteilung Psychosoziale Gesundheit, Gesundheit Österreich GmbH, Wien,
Heller, Andreas, Prof. i.R. Dr., M.A., Zentrum für interdisziplinäre Alterns- und Careforschung (CIRAC), Universität Graz,
Hillgruber Christian, Prof. Dr., Institut für Kirchenrecht, Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen-Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn,
Kirchner, Stefanie, PhD MPH MSc, Medizinische Universität Wien, Departement für Sozial- und Präventivmedizin,
Klesse Raimund, Dr. med., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chur,
Kapitany Thomas, Prim. Dr. med., Leiter des Kriseninterventionszentrums Wien,
König Katharina, Dr. phil., Dipl.-Ing., Wissenschaftliche Mitarbeiterin Werner-Felber-Institut für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im
Gesundheitswesen e.V.,
Kränzle Susanne, MAS Palliative Care, Gesamtleitung Hospiz Esslingen,
Kummer, Susanne, Mag., Direktorin des Instituts für Medizinische Anthropologie und Bioethik,
Lewitzka Ute, PD Dr. med. habil., Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden,
Ley Susanne, Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin und Rheumatologie, St. Elisabeth-Hospital Meerbusch-Lank, Fachklinik für Orthopädie und Rheumatologie,
Ley, Wolfgang, Diplom-Sozialarbeiter (FH), Köln,
Lindner Reinhard, Prof. Dr. med., Institut für Sozialwesen des Fachbereichs Humanwissenschaften der Universität Kassel,
Lippmann-Rieder Susanne, Dr. med., Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie (FMH), Uetikon a. See,
Nestor Karen, Dr. med., Fachärztin für Innere Medizin und Onkologie mit interdisziplinärem Schwerpunkt Palliativmedizin, Leiterin onkologische
Palliativmedizin, Kantonsspital St. Gallen,
Nestor Moritz, M.A. & lic.phil., Philosoph und Psychotherapeut, Schurten,
Niederkrotenthaler, Thomas. assoz.Prof. Dr. med. univ. PhD. MMSC, Sozialmediziner, Leiter der Forschungsgruppe Suizidprävention, Abteilung für Sozial- und Präventivmedizin, Zentrum für Public Health, Medizinische Universität Wien,
Psota, Georg, Prim. Dr. med., Facharzt für Psychioatrie und Neurologie, Chefarzt der Psychosozialen Dienste Wien,
Rados Christa, Dr. med., Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin, Fachliche Leitung des psychosozialen Therapiezentrums Kärnten,
Schneider Barbara, Prof. Dr. med., M.Sc., MBHA, Chefärztin an der LVR-Klinik Köln, Abteilung für Abhängigkeitserkrankungen, Psychiatrie und Psychotherapie,
Sperling Uwe, Dr., Diplomgerontologe, Universitätsmedizin Mannheim, Geriatrisches Zentrum,
Stuckenberg, Silvia, Dr. med., Hausärztin in eigener Praxis, Lochau,
Teising, Martin, Prof. Dr. phil., Facharzt für Psychiatrie, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psychoanalytiker, Bad Hersfeld,
Voltz, Raymond, Prof. Dr. med., Facharzt für Neurologie, Dipl. Pall. Med. (Cardiff), Direktor des Zentrums für Palliativmedizin an der
Universitätsklinik Köln,
Weixler, Dieter, Dr. med. Msc., Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin, Präsident der Österreichischen Palliativgesellschaft, AKH Wien,
Wolfersdorf, Manfred, Prof. Dr. med. Dr. hc., Universität Bayreuth, em. Ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhaus Bayreuth, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychosomatik,
Wurst, Friedrich, Prof. Dr. med., Psychiatrie und Psychotherapie, Universitäre Kliniken Basel, private Praxis,Traunstein
Unterstützende Organisationen
Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention (DGS)
Nationales Suizidprogramm für Deutschland (NaSPro)
Werner Felber Institut für Suizidprävention und interdisziplinäre Forschung im Gesundheitswesen e.V.
Deutscher Hospiz- und PalliativVerband (DHPV)
Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie (DGPT)
AG Suizidalität und psychiatrisches Krankenhaus
Hippokratische Gesellschaft Schweiz
Österreichische Gesellschaft für Suizidprävention (ÖGS)
Österreichische Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP)
Österreichische Palliativgesellschaft (OGP)
Die Schloss Hofener Thesen zum assistierten Suizid können von weiteren Einzelunterzeichnern und Organisationen unterstützt werden. Anfragen nach Ländern unter folgenden E-Mail Adressen einsenden (Name, Vorname, Titel, Affiliation analog Thesen oder die Organisation mit der Bestätigung durch den Präsidenten)
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