Sigmund Freud: Kriegsverherrlichung (1915)
1915 - Zitatensammlung ∙ Moritz Nestor
Sigmund Freud: Unser Verhältnis zum Tode (1915) [1]
«Editorische Vorbemerkung»: Dem Essay «Unser Verhältnis zum Tode» «liegt offenbar ein Vortrag zugrunde, den Freud vor der Veröffentlichung (und vermutlich in leicht abweichender Form) Anfang April 1915 bei einer Zusammenkunft des B’nai B’rith («Söhne des Bundes») gehalten hat, jenes jüdischen Klubs, dessen Wiener Loge er lange Zeit als Mitglied angehörte. […] wohl im März und April 1915, also rund sechs Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges, geschrieben […].»[2]
Der Krieg mache das Leben „wieder interessanter“ und es habe „seinen vollen Inhalt wiederbekommen“
„Es ist evident, dass der Krieg diese konventionelle Behandlung des Todes hinwegfegen muss. Der Tod lässt sich jetzt nicht mehr verleugnen; man muss an ihn glauben. Die Menschen sterben wirklich, auch nicht mehr einzeln, sondern viele, oft Zehntausende an einem Tage. … Das Leben ist freilich wieder interessant geworden, es hat seinen vollen Inhalt wiederbekommen.“ (S. 51)
Der Urmensch habe keine Tötungshemmung gehabt: „grausamer und bösartiger als andere Tiere“
Wir richten „unsere psychologische Untersuchung auf zwei andere Beziehungen zum Tode …, auf jene, die wir dem Urmenschen, dem Menschen der Vorzeit, zuschreiben dürfen, und jene andere, die in jedem von uns noch erhalten ist, aber sich unsichtbar für unser Bewusstsein in tieferen Schichten unseres Seelenlebens verbirgt. Wie sich der Mensch der Vorzeit gegen den Tod verhalten, wissen wir natürlich nur durch Rückschlüsse und Konstruktionen, aber ich meine, dass diese Mittel uns ziemlich vertrauenswürdige Auskünfte ergeben haben. … Der Urmensch hat sich in sehr merkwürdiger Weise zum Tode eingestellt. … Der Tod des anderen war ihm recht, galt ihm als Vernichtung des Verhassten, und der Urmensch kannte kein Bedenken, ihn herbeizuführen. Er war gewiss ein sehr leidenschaftliches Wesen, grausamer und bösartiger als andere Tiere. Er mordete gerne und wie selbstverständlich. Den Instinkt, der andere Tiere davon abhalten soll, Wesen der gleichen Art zu töten und zu verzehren, brauchen wir ihm nicht zuzuschreiben. Die Urgeschichte der Menschheit ist denn auch vom Morde erfüllt.“ (S. 52)
In jeder geliebten Person stecke „ein Stück Fremdheit“, daher sei dem Urmensch der Tod eines lieben Angehörigen „recht“ gewesen. Hinter der Trauer um den Tod des Geliebten stecke „Hassbefriedigung“
„Die Liebe kann nicht um vieles jünger sein als die Mordlust. … Anderseits war ihm [dem Urmenschen] ein solcher Tod [eines lieben Angehörigen] doch auch recht, denn in jeder der geliebten Personen stak auch ein Stück Fremdheit.“ (S. 53)
„An der Leiche der geliebten Person entstanden nicht nur die Seelenlehre, der Unsterblichkeitsglaube und eine mächtige Wurzel des menschlichen Schuldbewusstseins, sondern auch die ersten ethischen Gebote. Das erste und bedeutsamste Verbot des erwachsenen Gewissens lautete: Du sollst nicht töten. Es war als Reaktion gegen die hinter der Trauer versteckte Hassbefriedigung am geliebten Toten gewonnen worden und wurde allmählich auf den ungeliebten Fremden und endlich auch auf den Feind ausgedehnt. An letzterer Stelle wird es vom Kulturmenschen nicht mehr verspürt. Wenn das wilde Ringen dieses Krieges seine Entscheidung gefunden hat, wird jeder der siegreichen Kämpfer froh in sein Heim zurückkehren, zu seinem Weibe und Kindern, unverweilt und ungestört durch Gedanken an die Feinde, die er im Nahkampfe oder durch die fernwirkende Waffe getötet hat. […] Aber die Geister der erschlagenen Feinde sind nichts anderes als der Ausdruck seines bösen Gewissens ob seiner Blutschuld; hinter diesem Aberglauben verbirgt sich ein Stück ethischer Feinfühligkeit, welches uns Kulturmenschen verlorengegangen ist. Fromme Seelen, welche unser Wesen gerne von der Berührung mit Bösem und Gemeinem ferne wissen möchten, werden gewiss nicht versäumen, aus der Frühzeitigkeit und Eindringlichkeit des Mordverbotes befriedigende Schlüsse zu ziehen auf die Stärke ethischer Regungen, welche uns eingepflanzt sein müssen. Leider beweist dieses Argument noch mehr für das Gegenteil. Ein so starkes Verbot kann sich nur gegen einen ebenso starken Impuls richten. Was keines Menschen Seele begehrt, braucht man nicht zu verbieten, es schliesst sich von selbst aus.“ (S. 55)
„Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, dass wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen“
„Gerade die Betonung des Gebotes: Du sollst nicht töten, macht uns sicher, dass wir von einer unendlich langen Generationsreihe von Mördern abstammen, denen die Mordlust, wie vielleicht noch uns selbst, im Blute lag. […] Wie verhält sich unser Unbewusstes zum Problem des Todes? Die Antwort muss lauten: fast genauso wie der Urmensch. In dieser wie in vielen anderen Hinsichten lebt der Mensch der Vorzeit ungeändert in unserem Unbewussten fort. […] Die rationelle Begründung des Heldentums ruht auf dem Urteile, dass das eigene Leben nicht so wertvoll sein kann wie gewisse abstrakte und allgemeine Güter. Aber ich meine, häufiger dürfte das instinktive und impulsive Heldentum sein, welches von solcher Motivierung absieht … .“ (S. 55f.)
„Wir beseitigen in unseren unbewussten Regungen täglich und stündlich alle, die uns im Wege stehen, die uns beleidigt und geschädigt haben. […] Ja, unser Unbewusstes mordet selbst für Kleinigkeiten […] So sind wir auch selbst, wenn man uns nach unseren unbewussten Wunschregungen beurteilt, wie die Urmenschen eine Rotte von Mördern.“ S. 57
„Den zärtlichsten und innigsten unserer Liebesbeziehungen hängt mit Ausnahme ganz weniger Situationen ein Stückchen Feindseligkeit an, welches den unbewussten Todeswunsch anregen kann.“
„Den zärtlichsten und innigsten unserer Liebesbeziehungen hängt mit Ausnahme ganz weniger Situationen ein Stückchen Feindseligkeit an, welches den unbewussten Todeswunsch anregen kann. Aus diesem Ambivalenzkonflikt geht aber nicht wie dereinst die Seelenlehre und die Ethik hervor, sondern die Neurose, die uns tiefe Einblicke auch in das normale Seelenleben gestattet.“ (S. 58)
Dadurch dass der Liebe Feindseligkeit anhänge, bringe die Natur es zustande, „die Liebe immer wach und frisch zu erhalten, um sie gegen den hinter ihr lauernden Hass zu versichern.“
„Unserem Verständnis wie unserer Empfindung liegt es freilich ferne, Liebe und Hass in solcher Weise miteinander zu verkoppeln, aber indem die Natur mit diesem Gegensatzpaar arbeitet, bringt sie es zustande, die Liebe immer wach und frisch zu erhalten, um sie gegen den hinter ihr lauernden Hass zu versichern. Man darf sagen, die schönsten Entfaltungen unseres Liebenslebens danken wir der Reaktion gegen den feindseligen Impuls, den wir in unserer Brust verspüren. (S. 59)
Angesichts des Massenstötens 1915: Der Krieg lasse „den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen“, sei „nicht abzuschaffen“. Daher sollte man „dem Tode den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt“.
„Es ist leicht zu sagen, wie der Krieg in diese Entzweiung eingreift. Er streift uns die späteren Kulturauflagerungen ab und lässt den Urmenschen in uns wieder zum Vorschein kommen. Er zwingt uns wieder, Helden zu sein, die an den eigenen Tod nicht glauben können; er bezeichnet uns die Fremden als Feinde, deren Tod man herbeiführen oder herbeiwünschen soll; er rät uns, uns über den Tod geliebter Personen hinwegzusetzen. Der Krieg ist aber nicht abzuschaffen; solange die Existenzbedingungen der Völker so verschieden und die Abstossungen unter ihnen so heftig sind, wird es Kriege geben müssen. […] Wäre es nicht besser, dem Tode den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt, und unsere unbewusste Einstellung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben, ein wenig mehr hervorzukehren?“ (S. 59)
[1] Freud, Sigmund: Unser Verhältnis zum Tode. In: Ders.: Studienausgabe. Band IX. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Fischer. Frankfurt/Main, 1982. S. 49-60.
[2] In: Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band IX. Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Fischer. Frankfurt/Main, 1982. S. 34.