Gerhard Botz: Julius Wagner-Jauregg, ein österreichischer Vordenker von nationalsozialistischer Eugenik und Sterilisierungspolitik?
URL: http://www.lbihs.at/BotzWagnerJauregg.pdf
«Theorien der Vererbungslehre, Rassenhygiene-Ideen und Sozialreformpläne kursierten seit dem Ersten Weltkrieg nicht nur in der Medizin, Psychiatrie, Anthropologie [1] und generell in akademischen Kreisen, die sich als modern verstanden. Sie dominierten in deutschnationalen Milieus, tauchten auch in liberalen, selbst in manchen katholischen Kreisen auf und fanden sogar in sozialdemokratischen und anderen linken Reformprogrammen ihren Niederschlag,[2] etwa in Österreich bei Julius Tandler und in der Weimarer Republik bei Alfred Grotjahn.[3] Dies entsprach einer modern-technizistisch, sozialdarwinistischen Denkweise,[4] die bereit war, das individuelle Prinzip der medizinischen Ethik zugunsten eines präventiven, rassistischen (klassenutopischen oder sonst wie kollektiven) Gemeinwohls aufzugeben. Dies war das geistige Umfeld, aus dem heraus sich das eugenische und rassenpolitische Programm der Nationalsozialisten erst entwickeln konnte.» (Seite 2)
«Wagner-Jauregg zeigte … schon 1935 jenes wissenschaftlich-weltanschauliche Syndrom, das eine große Zahl von deutschen und österreichischen Medizinern, Human- und Naturwissenschaftlern, Technikern und Gesellschaftsplanern dazu brachte, nicht nur willig an der NS-Politik mitzuwirken, sondern in dieser eine Chance zur Verwirklichung ihrer längst vorgedachten (zunächst nicht unbedingt NS-orientierten) wissenschaftlichen Ideen zu sehen.» (Seite 5)
1940 wird im Sterbezimmer Wagner-Jaureggs ein Manuskript gefunden,
«das sein Sohn 1941 herausgab. Darin erörterte Wagner-Jauregg noch einmal Fragen der Eugenik anhand der Möglichkeiten und Wünschbarkeit der „Lebensverlängerung durch menschliche Tätigkeit“. Einerseits sei es die Aufgabe des Sozialhygienikers, die menschliche Lebensdauer zu verlängern, dem Tod in der genetisch vorgegebenen Zeitspanne ein längeres Leben abzuringen. Andererseits sei die „Herstellung eines möglichst günstigen Erbgefüges […] die Aufgabe des Arztes und ärztlich beratenen Gesetzgebers als Rassenhygieniker“. Indem er sich mit dem Arzt, der als Berater auch dem nationalsozialistischen Gesetzgeber dient, identifizierte, enthüllte Wagner-Jauregg, auf welcher schiefen Ebene er schon im Begriffe war, abzugleiten, wäre er nur weniger alt gewesen. Immerhin hatte nach Kriegsbeginn die massenhafte Ermordung von Geisteskranken im Reichsgebiet und in den besetzten polnischen Gebieten bereits begonnen, und die Verfolgung und die Segregation der Jüdinnen und Juden und anderer „Rassefeinde“ waren gegenüber 1935 schon wesentlich verschärft worden. Wagner-Jaureggs Einschätzung ist daher als Bekenntnis zu dieser Politik des „Dritten Reiches“ zu nehmen: „Die Ausmerzung der schlimmsten Erbgefügsänderungen, wie sie die menschlichen Erbkrankheiten und Erbübel darstellen, ist durch die deutschen Rassenschutzgesetze angebahnt.“[5] … der 83-Jährige [stellt] die Frage, ob „die Förderung der Langlebigkeit überhaupt erwünscht“ sei, da Menschen, die schon das biologische Höchstalter erreicht haben, „ja doch zum größten Teil den jüngeren Schichten eines Volkes nur zur Last fallen und anderseits mit den zeitgegebenen Anschauungen und Grundsätzen der jüngeren Geschlechter in Widerspruch zu geraten pflegen“.[6] » (Seite 6f.)
«Wagner- Jauregg stand wohl auch mit seiner repressiven Psychiatrie, den uns heute als inhuman erscheinenden Behandlungsmethoden, der Leichtfertigkeit, mit der Menschen zu Versuchen herangezogen wurden, eher im wissenschaftlichen Mainstream seiner Zeit, und sowohl auf der Rechten wie auch teilweise auf der Linken dominierte ein Denken in Kategorien von Kollektiven, seien es Rassen, Nationen, Volkskörper, Klassen oder Stände, denen gegenüber die Einzelnen und die Menschenrechte geringer gewertet wurden.» (Seite 8)
Nebenbei: Damit dürfte auch klar sein, warum Julius Wagner-Jauregg die Habilitation Alfred Adlers, des Begründers der Individualpsychologie, wegen angeblicher „Unwissenschaftlichkeit“ ablehnte und Adler damit den Weg an die Universität verbaute.[7]
Anmerkungen aus: Gerhard Botz: Julius Wagner-Jauregg, ein österreichischer Vordenker von nationalsozialistischer Eugenik und Sterilisierungspolitik?
[1] Siehe Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Berlin 2005, S. 21 ff.
[2] Vgl. Pauline M. H. Mazumdar, Eugenics, Human Genetics and Human Failings. The Eugenics Societies, its Sources and its Critics in Britain, London 1992, S. 256 ff.
[3] Siehe Doris Byer, Rassenhygiene und Wohlfahrtspflege. Zur Entstehung eines sozialdemokratischen Machtdispositivs in Österreich bis 1934, Frankfurt/Main 1988; Michael Schwartz, Sozialistische Eugenik. Eugenische Sozialtechnologien in Debatten und Politik der deutschen Sozialdemokratie 1890–1933, Bonn 1995.
[4] Vgl. Gerhard Baader, Auf dem Weg zum Menschenversuch im Nationalsozialismus. Historische Vorbedingungen und der Beitrag der Kaiser-Wilhelm-Institute, in: Carola Sachse (Hg.), Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten, Berlin 2003, S. 105–157, hier S. 122.
[5] Julius Wagner-Jauregg, Über die menschliche Lebensdauer. Eine populär-wissenschaftliche Darstellung, Innsbruck 1941, S. 83.
[6] Ebenda, S. 84 f.
[7] Alfred Lévy, Gerald Mackenthun (2002): Gestalten um Alfred Adler: Pioniere der Individualpsychologie : Alexandra Adler, Rudolf Allers, Rudolf Dreikurs, Viktor Frankl, Carl Furtmüller, Otto Glöckel, Henry Jacoby, Fritz Künkel, Sofie Lazarsfeld, Friedrich Liebling, Ida Löwy, Alice Rühle-Gerstel, Oswald Schwarz, Manès Sperber, Oskar Spiel, Wilhelm Stekel, Erwin Wexberg. Königshausen & Neumann. S. 12.