Sozialistisches eugenisches Denken – oder der Darwinismus als «wissenschaftlicher Beweis» für den schliesslichen «Sieg des Proletariats»

Zitatauswahl Moritz Nestor


Sozialistisches eugenisches Denken – oder der Darwinismus als «wissenschaftlicher Beweis» für den schliesslichen «Sieg des Proletariats»


 

 

Michael Schwartz (1994): «PROLETARIER» UND «LUMPEN». Sozialistische Ursprünge eugenischen Denkens.

In: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Jg. 42 (1994), H. 4. S. 537ff.

[Die Seitenzahlen am Ende der Abschnitte geben die Fundstellen bei Schwartz an.]

 

«Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden politische Legitimationsmuster unter dem Eindruck der neuen naturwissenschaftlichen Leit-Disziplinen zunehmend naturalisiert und biologisiert.[1] Der in diesem Kontext entstehende bürgerliche Sozialdarwinismus predigte die individuelle Emanzipation im Rahmen einer als „Kampf ums Dasein“ bezeichneten gesellschaftlichen Konkurrenz. Damit erteilte er jeglichen kollektiven Emanzipationsforderungen und einer hierauf basierenden sozialen Umgestaltung eine klare Absage.[2] Diesen Generalangriff auf seine grundlegenden Ziele konnte der Sozialismus nicht unbeantwortet lassen.» (Schwartz, Seite 551f.)

«Sämtliche Gegenstrategien der Arbeiterbewegung beriefen sich aber ebenfalls auf die Naturwissenschaften, die als neue gesellschaftliche Leitwissenschaften auch das szientistische Selbstverständnis des wissenschaftlichen Sozialismus stützen mußten. Es ist deshalb sogar von einer „naturwissenschaftlichen Frömmigkeit“ der Sozialdemokratie gesprochen worden.[3]» (Schwartz, Seite 552)

«Der Sozialismus des 19.Jahrhunderts war, insbesondere in seiner Frühzeit, stark durch einen „Sozialistischen Darwinismus“ geprägt.[4] Der Sozialdarwinismus erwies sich damit, wie jede szientistische Legitimationsideologie, „für sehr verschiedene Deutungen sozialen Geschehens“ und damit auch für die sozialdemokratische Variante als verfügbar.[5]» (Schwartz, Seite 552)

«Allerdings übernahm die sozialistische Intelligenz, hierin Engels folgend, mit den zentralen Kategorien des bürgerlichen Sozialdarwinismus nicht auch dessen kruden Naturalismus, der letztlich alle Kultur in Natur aufzulösen drohte. Statt dessen wurde die kulturelle Evolution als jeweils höhere Phase dieses „Kampfes ums Dasein“ gedeutet, der – streng marxistisch-biologistisch – zur kommunistischen Endgesellschaft führen werde.[6] Die deutsche Arbeiterbewegung erblickte in dem auf das Soziale angewandten Darwinismus einen „wissenschaftlichen Beweis“ für den schließlichen „Sieg des Proletariats“, indem man einfach das gegen den Sozialismus ins Feld geführte selektionistische Recht des Stärkeren „vom Individuum auf die Klasse“ übertrug.[7] Damit wurde auch die Klassensolidarität zu einem entscheidenden Kriterium im Daseinskampf.» (Schwartz, Seite 552f)

«So sah der junge Karl Kautsky im Sozialismus eine „höhere Stufe“ im Kampf ums Dasein, und er attestierte der proletarischen Klassensolidarität „nach aller natürlichen und geschichtlichen Analogie“ größere Siegeschancen als einer „aus egoistischen und unter einander concurrierenden Mitgliedern zusammengesetzte[n] Gesellschaft“. Darum werde „das fatale Gesetz des Kampfes um das Dasein […], der natürlichen Auswahl jener, die am fähigsten sind zu leben, […] dem Sozialismus den Sieg sichern“[8]» (Schwartz, Seite 552f)

 


 

 

August Bebel (1876/1970): Die parlamentarische Tätigkeit des Deutschen Reichstages und der Landtage und die Sozialdemokratie von 1874 bis 1876.

In: H. Bartel, R. Dubek & H. Gemkow (Hg.) (1970): Ausgewählte Reden und Schriften. Band. 1. Berlin/DDR: Dietz Verlag, S. 343-439.

 

«Die Kriege und das Militärsystem dezimieren unsere Männerwelt, sie degenerieren die neuen Generationen, weil durch Massenabschlachtung, durch erzwungene Auswanderung der Kräftigsten und Tüchtigsten nur minder Kräftige und Tüchtige zurückbleiben, welche die Fortpflanzung übernehmen». (Bebel, Seite 359)

Als wissenschaftlichen Zeugen dafür zitiert Bebel eine entsprechende Passage aus der «Natürlichen Schöpfungsgeschichte» des radikalen Sozialdarwinisten Ernst Häckel.

 

 


 

 

August Bebel (1878/1978): Die Arbeiterpartei ist durch Ausnahmegesetze nicht zu vernichten.

 

In: H. Bartel, R. Dubek & H. Gemkow (Hg.) (1970): Ausgewählte Reden und Schriften. Band. 1. Berlin/DDR: Dietz Verlag, S. 12-37.

 

«Meine Herren, nach meiner Auffassung hat Herr Professor Häckel, der entschiedene Vertreter der Darwinschen Theorie tatsächlich, weil er die Gesellschaftwissenschaft nicht versteht, keine Ahnung davon, daß der Darwinismus notwendig dem Sozialismus förderlich ist und umgekehrt der Sozialismus mit dem Darwinismus im Einklang sein muß, wenn seine Ziele richtig sein sollen [Bewegung. ,Sehr gut!‘]. Ist das richtig, so gehören zu den gemeingefährlichen Bestrebungen, die auf Untergrabung von Staat und Gesellschaft abzielen, auch die modernen Naturwissenschaften … ». (Bebel, Seite 31)

 


 

August Bebel (1883/1929): Die Frau und der Sozialismus. Berlin: Dietz Nachf. 1929.

 

Nur  w e n i g e  Theoretiker und politische Führer der Arbeiterbewegung (eine rühmliche Ausnahme war der berühmte Schweizer Anthropologe Adolf Portmann!)  v e r z i c h t e t e n  darauf, mit der Evolutionistheorie „wissenschaftlich“ zu „beweisen“, dass der Kapitalismus mit „historischer Notwendigkeit“ zusammenbrechen und der Sozialismus kommen müsse.

«Unsere Darlegungen zeigen, daß es sich bei Verwirklichung des Sozialismus nicht um willkürliches Einreißen und Aufbauen, sondern um ein naturgeschichtliches Werden handelt. Alle Faktoren, die in dem Zerstörungsprozeß einerseits, im Werdeprozeß andererseits, eine Rolle spielen, sind Faktoren, die wirken, wie sie wirken müssen.» (Bebel, Seite 509)

 

 


 

 

K. Bayertz: Darwinismus als Politik. Zur Genese des Sozialdarwinismus in Deutschland 1860-1900.

In: Stapfia 56, zugleich Kataloge des OÖ. Landes- museums, Neue Folge Nr. 131 (1998), 229-288.

 

«Auf soziale Veränderungen und ökonomische Umwälzungen hinarbeitend, sahen die Vertreter der Arbeiterbewegung in der Evolutionstheorie den naturwissenschaftlichen Beweis für ihre Überzeugung, daß der gesellschaftliche Fortschritt auf einem unausweichlichen Naturgesetz beruhe und daß folglich jeder Versuch, ihn anzuhalten, mit Naturnotwendigkeit zum Scheitern verurteilt sei

 

 

 


 

 

 

J. Steinberg (1979): Sozialismus und deutsche Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem 1. Weltkrieg. 5. Aufl. Berlin/Bonn: Dietz Nachfolger.

In: K. Bayertz: Darwinismus als Politik. Zur Genese des Sozialdarwinismus in Deutschland 1860-1900. In: Stapfia 56, zugleich Kataloge des OÖ. Landes- museums, Neue Folge Nr. 131 (1998), 229-288. 

 

In einem Kalender, den tausende sozialdemokratischer Haushalte abonniert hatten, stand:

Die Abstammungslehre „erfüllt uns endlich mit fröhlicher Zuversicht insofern, als sie uns hoffen läßt, daß all die Unvernunft, die Ungerechtigkeit und Unzulänglichkeit, die wir in vielen unserer Einrichtungen, besonders aber in unserer Gesellschaftsordnung vorfinden, nicht ewig bestehen werden, sondern nur Entwicklungsstufen sind zu höheren, vollkommeneren Formen menschlichen Zusammenlebens.“ (Steinberg, Seite 141)

 

 

 

 


 

Anmerkungen

 

 

[1] Vgl. Gunter Mann (Hrsg.), Biologismus im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1973; Günter Altner (Hrsg.), Der Darwinismus. Die Geschichte einer Theorie, Darmstadt 1981; Heinz-Georg Marten, Sozialbiologismus. Biologische Grundpositionen der politischen Ideengeschichte, Frankfurt a. M. 1983.
[2] Vgl. Rolf Peter Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt a. M. 1989.
[3] Kurt Bayertz, Naturwissenschaft und Sozialismus. Tendenzen der Naturwissenschaftsrezeption in der deutschen Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, in: Social Studies of Science 13 (1983), S. 355-394, hier S. 357.
[4] Terence Ball, Marx and Darwin. A Reconsideration, in: Political Theory 7 (1979), S. 469-483, hier S. 469 f.; zur Darwinismus-Diskussion in der SPD nach wie vor unverzichtbar: Ludwig Woltmann, Die Darwinsche Theorie und der Sozialismus. Ein Beitrag zur Naturgeschichte der menschlichen Gesellschaft, Düsseldorf 1899; Hans-Josef Steinberg, Sozialismus und Sozialdemokratie. Zur Ideologie der Partei vor dem Ersten Weltkrieg, Bonn 41976.
[5] Sieferle, Krise, S. 118 ff.; die neuere Wissenssoziologie bestätigt diese Beobachtung; vgl. etwa: Berger/ Luckmann, Konstruktion, S. 137; Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S.20-23; Loren R. Graham, Between Science and Values, New York 1981.
[6] Vgl. Ted Benton, Social Darwinism and Socialist Darwinism in Germany: 1860 to 1900, in: Rivista di Filosofia 73 (1982) S.79-121, hier S. 88f., 120f.
[7] Alfred Blaschko, Natürliche Auslese und Klassenteilung, in: Neue Zeit 13 (1894/95), S. 615-624, hier S. 615.
[8] Karl Kautsky, Der Sozialismus und der Kampf ums Dasein, in: Der Volksstaat vom 28. und 30.4. 1876.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

Weiterempfehlen