Aktuell ist die Welt durch die Pandemie einer neuen Viruserkrankung in Atem gehalten, und uns allen ist die Bedeutung eines guten und gut funktionierenden Gesundheitswesens wieder einmal deutlich vor Augen getreten. Aber obwohl die Stimmen in der Bevölkerung noch lauter werden, dass Spitalschliessungen gerade jetzt, angesichts des nachweislich ungenügenden Pandemieschutzes, absolut unverantwortlich wären, halten Gesundheitsökonomen am Kurs von Spitalschliessungen eisern fest. Es stellt sich die Frage, ob Bundesrat und Parlament stramm ihren gesundheitspolitischen Kurs weiterverfolgen werden, der weitere Sparmassnahmen vorsieht, oder ob doch mehr Vernunft einkehrt. Es bleibt zu befürchten, dass die schon vor dem Auftauchen des Corona-Virus geplanten Spitalschliessungen und Massnahmen gegen die stetig steigenden Krankenkassenprämien von den Entscheidungsträgern ungeachtet der Fakten weiterverfolgt werden. Ungeachtet der Fakten, will heissen, dass einer Planung von Sparmassnahmen ein Blick auf die Ursachen der steigenden Krankenkassenprämien voranzustellen wäre. Gemeinhin ist der Bevölkerung aber nicht klar, wie und warum die Krankenkassenprämien stetig steigen oder warum Bund und Kantone sich immer weniger an Gesundheitskosten beteiligen. Diese Klärung soll hier nachgeholt werden, wobei ein Blick in die jüngste Geschichte unseres Landes unumgänglich ist.
Was haben die WTO-Verträge mit den Umwälzungen im Schweizer Gesundheitswesen zu tun?
Am 15. April 1994 unterschrieb der damalige Bundesrat Jean-Pascal Delamuraz (FDP) in Marrakesch die Beitrittserklärung der Eidgenossenschaft zur Welthandelsorganisation WTO (admin.ch/Dokument0.632.20). Entgegen der staatsrechtlichen Auffassung namhafter Juristen wurde dieser Entscheid nicht dem obligatorischen, sondern lediglich dem fakultativen Referendum unterstellt, welches nicht zustande kam. Mit dem Beitritt zur WTO und den damit verbundenen GATS-Verträgen verpflichtet sich jeder Beitrittsstaat, immer weniger staatliche Mittel (Steuergelder) in den Service public und damit auch ins Gesundheitswesen einfliessen zu lassen.
In einer Volksabstimmung im September 1995 wurde das neue Krankenversicherungsgesetz (KVG) angenommen. In einer Kampagne unter Federführung der Vorsteherin des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) Ruth Dreifuss (SP) wurde dem Volk schmackhaft gemacht, dass sich die bislang moderat ansteigenden Krankenkassenprämien verbilligen würden, wenn sich die Krankenkassen vom Korsett des sogenannten Krankenkassenkonkordats[1]verabschieden und den freien Wettbewerb untereinander antreten könnten.
Die Umwälzung der Kosten infolge der KVG-Reform 1996
In der Zeit vor 1996, also vor der KVG-Reform, wurden sämtliche im Gesundheitsbereich anfallenden Kosten im ambulanten Bereich (z. B. Besuch beim Hausarzt oder in der Poliklinik eines Spitals) über die Krankenkasse (KK) abgerechnet. Die strenge Vorgabe war, dass die Kassen keinen Gewinn erwirtschaften durften. Neben den Einnahmen durch die Prämien der Versicherten hatten sie eine Art Defizitgarantie durch die öffentliche Hand, indem die öffentliche Hand diejenigen Kosten übernahm, die durch die Prämieneinnahmen nicht gedeckt werden konnten. Bei der Behandlung stationärer Patienten teilten sich KK und öffentliche Hand die Kosten jeweils hälftig. Was nun anlässlich der KVG-Abstimmung im September 1995 am Volk vorbeigemogelt wurde, war die Tatsache, dass die KK per 1. Januar 1996 nur noch die Prämien der Versicherten als Einnahmequelle erhielten. Die KK wurden dazu verpflichtet, die ambulanten Behandlungen ohne Beiträge der öffentlichen Hand zu stemmen.
Unverändert wurden die Kosten für die stationären Behandlungen je hälftig durch KK und die Gemeinde bzw. den Kanton getragen. Nun galt es aber für Politik und Wirtschaft, sich auch aus der Finanzierung stationärer Behandlungen mehr und mehr zu verabschieden. Nach der Einführung des neuen KVG am 1. Januar 1996 beanstandeten die Gesundheitsdirektoren angebliche Überkapazitäten in den Spitälern. Im Kanton Zürich entschied Regierungsrätin Verena Diener (Grüne bzw. Grünliberale) kurzerhand, sieben Spitäler auf einen Schlag zu schliessen, ohne ein Sparpotential beweisen zu können. Andere Kantone widersetzten sich solchen Bestrebungen, da neben der kleinräumigen Gesundheitsversorgung ein kleines Spital auch einen Standortvorteil und Wirtschaftsfaktor darstellt.
Ursachen der Prämienexplosion und die Verlagerung von stationär auf ambulant
In die Versorgung ambulanter Patienten fliessen keine Steuermittel mehr ein. Einzig die Spitex-Einheiten (die spitalexterne Hilfe und Pflege zu Hause) erhalten Steuermittel der Gemeinden, da diese mit den Abgeltungen durch die Krankenkassen allein ihren Betrieb nicht aufrechterhalten könnten. Durch Spitalschliessungen konnten die Kantone weiter Steuergelder einsparen. Zieht man nun zudem die Tatsache in Betracht, dass dank dem medizinischen Fortschritt ohnehin immer mehr Behandlungen ambulant durchgeführt werden können, werden folglich immer mehr Kosten allein über die KK und damit über den Prämienzahler abgewickelt. Die Krankenkassenprämien begannen stetig zu steigen, worüber sich immer mehr Menschen zu beklagen begannen, so dass sich die offiziellen Stellen von Bund und Kantonen aufgerufen sahen, den Sparhebel im ambulanten Versorgungsbereich anzusetzen. Ambulante Abklärungen und Behandlungen werden mit dem Tarifsystem des sogenannten «TarMed» abgerechnet. Es war nun klar, dass die Gesundheitspolitiker die Klagen der Bevölkerung über hohe Prämien an die Ärzte und ambulanten Behandlungsinstitutionen weiterleiteten. In einem schier nicht enden wollenden Streit der Politik mit den Ärzten über den TarMed erwiesen sich die Politiker als stärker. Besonders die Ärzte in der Grundversorgung und die Polikliniken in den Spitälern sahen sich damit konfrontiert, dass der Behandlungstarif TarMed ihre Kosten kaum noch zu decken vermochte. Dennoch hielt der Bundesrat an weiteren Sparmassnahmen fest und verkündete die Botschaft «ambulant vor stationär». Diese schreibt den Ärzten vor, welche Operationen ambulant und nicht mehr stationär durchgeführt werden müssen. Die Gegenwehr der Ärzte war chancenlos angesichts der Artikelflut der politisch Verantwortlichen in den Mainstream-Medien. Entsprechend unkritisch berichtete die «Neue Zürcher Zeitung» vom 13. Mai 2019 unter dem Titel: «Ambulante Operationen entlasten die Kantone», weil «die Spitäler die Patienten immer öfter ohne Übernachtung nach Hause schicken».
Durch den medizinischen Fortschritt sank die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in einem Spital seit mehr als zwei Jahrzehnten kontinuierlich. Sie verringerte sich von 25,4 Tagen im Jahr 1982 auf 9,4 Tage im Jahr 2011. Da aber die Menschen in unserem Land immer noch krank werden und behandelt werden müssen, wird nach diesen Zeilen klar, dass es die öffentliche Hand ist, die sich immer weniger an den Kosten beteiligt, während der Prämienzahler, sprich der Kranke, entsprechend mehr Kosten selbst übernehmen muss.
Spitalschliessungen im Zeitalter der Fallkostenpauschalen (DRG)
Was die Politik mit «Effizienzsteigerung im Gesundheitswesen» bezeichnet, ist oben dargelegt worden und besagt nichts anderes als das systematische Vorenthalten von Steuergeldern, die staatsrechtlich eigentlich dem Gesundheitswesen zustehen würden. Aus dem oben Gesagten wird deutlich, dass jede Spitalschliessung eine Entlastung der Finanzen der jeweiligen Gemeinde bzw. des Kantons bedeutet. Neben den Spitalschliessungen haben die politisch Verantwortlichen auch erheblichen Druck auf die stationären Tarif- bzw. Abrechnungssysteme ausgeübt. Bei der stationären Behandlung werden die Kosten für die Grundversorgung (bei allgemein Versicherten) über eine Fallkostenpauschale (sogenannte Diagnosis Related Group, DRG) abgegolten. Dies heisst nichts anderes, als dass für eine bestimmte Diagnose (zum Beispiel einen Leistenbruch) ein fixer Betrag (Pauschale) für die Behandlung bezahlt wird – unabhängig vom individuellen Fall und dessen möglichen Komplikationen. Als dieses DRG-System eingeführt wurde, haben sich die Ärzte mit Hinweis auf die verheerenden Auswirkungen in Deutschland gewehrt. Doch selbst ein offener Brief von über 50 Leitenden Ärzten des Universitätsspitals Zürich – alles habilitierte Dozierende und Professoren – löste höchstens einen kleinen Sturm im Wasserglas im Departement des Innern in Bern aus (Schweizerische Ärztezeitung 2011;92: 964f).
Alle damals geäusserten Befürchtungen haben sich bewahrheitet, sollen hier aber nicht detailliert aufgelistet werden. Die politisch Verantwortlichen sind nicht mehr im National- und Ständerat, auch im Bundesrat sind heute andere verantwortlich. Anstatt einer Schadensbegrenzung geht der Fahrplan der Gesundheitspolitiker, eskortiert von den sogenannten Gesundheitsökonomen, nichtsdestotrotz weiter. Nur wer das Geld und Glück hat, über eine Spitalzusatzversicherung zu verfügen, wird von den Sparmassnahmen weniger berührt werden. Die DRG wurden, wie befürchtet, rigoros heruntergedrückt, weswegen z. B. die Zürcher Gesundheitsdirektion am 8. Juli 2019 stolz berichten konnte, dass die durchschnittlichen Fallkosten um 2,3 % gesenkt werden konnten (Pressemitteilung der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich und «Neue Zürcher Zeitung» vom 9.7.2019).
Die «Verselbständigung» alias Privatisierung der öffentlichen Spitäler, ein übler Griff in die Trickkiste
Angeführt von den bürgerlichen Parteien FDP und grossen Teilen der SVP wurde und wird von Ärzten und Spitälern gefordert, in der Gesundheitsversorgung mehr marktwirtschaftliche Prinzipien walten zu lassen. Ersichtlich wird das nur schon an der Terminologie, wo von Kunden statt Patienten, Leistungserbringern statt Ärzten, Pflegern, Physiotherapeuten oder Spitälern gesprochen wird. In den letzten Jahren wurden die Gebäude – also die Spitäler – in die Eigenverantwortung der Spitäler als «selbständige Unternehmen» entlassen. So wurden Kantonsspitäler in Aktiengesellschaften überführt (z. B. das Kantonsspital Aarau). Dies bedeutet konkret, dass die Spitäler für den ganzen Unterhalt (Reinigung, Reparaturen, Brandschutz, Renovation usw.) selbst aufkommen und dies über die eigenen Einnahmen aus der Patientenversorgung finanzieren müssen. Im Falle des Universitätsspitals Zürich konnten sich die Verantwortlichen im Kantonsrat damit auf unrühmliche Art der Kosten für die Sanierung der in die Jahre gekommenen Gebäude entledigen. Praktisch sämtliche Gebäude waren zum Zeitpunkt der Übergabe vom Kanton an das Universitätsspital sanierungsbedürftig. Fast schon fatal ist die Geschichte mit dem Trakt der Nuklearmedizin, bei dessen Erstellung etliche Tonnen Asbestmaterial verbaut worden waren; der Abbau des Gebäudes erfordert eine äusserst kostspielige Demontage und Entsorgung, ehe man dort ein neues Gebäude errichten kann. Auch schaffte sich der Kanton damit den Streit mit dem Denkmalschutz vom Halse. So gäbe es noch zahlreiche weitere «heisse Kartoffeln», derer sich der Kanton mit der «Verselbständigung/Privatisierung» der Spitäler elegant entledigen konnte.
Es ist offenkundig, dass die öffentlichen Spitäler zu wenig profitabel sind. Die EBITDA-Margen[2] von Akutspitälern und Psychiatrien liegen gemäss Price Waterhouse Coopers lediglich bei 5,9–6,4 %. Das reicht langfristig nicht aus, um notwendige Investitionen tätigen zu können, wofür Margen von 10 % notwendig wären (Richard Schindler, Leiter Kapitalmarkt der Zürcher Kantonalbank und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 22. März 2017). Der Kantonsrat jedoch legt diese Margen fest und konnte so z. B. am Universitätsspital Zürich erreichen, dass die Ärzte Teile ihrer Zusatzverdienste abgeben müssen, um diese unrealistische Marge vielleicht doch noch erreichen zu können. Zur Erklärung: Bisher setzt sich das effektive Einkommen von angestellten Kaderärzten (Leitende Ärzte, Klinik- und Institutsdirektoren) aus einem fixen Lohn und Zusatzverdiensten (Ärztliche Zusatzhonorare) zusammen, die aus der Behandlung von zusatzversicherten Patienten (Privat- und Halbprivatversicherung) erwirtschaftet werden. In den meisten öffentlichen Spitälern werden etwa 55 % dieser Zusatzhonorare dem Spital abgegeben, während die restlichen 45 % in einen Klinikpool fliessen. Aus letzterem werden gemäss einem Verteilschlüssel Anteile unter den Kaderärzten verteilt.
Die «Früchte» (Auswüchse) dieser neuen Gesundheitspolitik
Der Kanton Zürich hat in den letzten Jahren mit schwarzen Zahlen im Haushalt aufwarten können. Vor dem Hintergrund des bisher Dargelegten wirken die Worte von Finanzdirektor Ernst Stocker (SVP) allerdings sehr bitter: «Ins Auge sticht aber ein anderer Posten: Für die Fallpauschalen bei den Spitälern musste der Kanton 112 Millionen Franken weniger ausgeben als budgetiert» («Neue Zürcher Zeitung» vom 16.3.2019). Auch der elegante Coup mit dem Schlagwort «ambulant vor stationär» hat dazu geführt, dass die Kantone erheblich Geld einsparen konnten und können. So schreibt die «Neue Zürcher Zeitung» vom 19. März 2019, dass im Jahre 2018 neun Stände (Kantone) insgesamt 200 Millionen eingespart haben gegenüber dem Budget, 112 Millionen davon der Kanton Zürich. «Doch einhellig heisst es: Die Hauptursache dürfte die Verlagerung vom stationären in den ambulanten Bereich sein.» Dass die Kosten noch mehr den Krankenkassen und damit dem Prämienzahler aufgebürdet wurden, blieb natürlich unerwähnt.
Patienten können nicht mit Schrauben verglichen werden – oder: vom Unsinn marktwirtschaftlicher Prinzipien im Gesundheitswesen
Es ist nicht schwer zu erkennen, dass die Gesundheitsversorgung nicht in ein marktwirtschaftliches Korsett gezwängt werden kann. Aber genau das hat 1996 seinen Anfang genommen. Damals begannen politisch Verantwortliche, von medizinischen «Angeboten» und «Nachfrage» zu sprechen. Vor allem die bürgerlichen Parteien warfen den Ärzten vor, ihre Arbeit nicht kostenbewusst zu erledigen und die WZW-Kriterien (wirtschaftlich, zweckmässig, wirksam) nicht zu erfüllen. Bis heute sind aber diese WZW-Kriterien nie definiert worden, auch nicht auf wiederholte Nachfrage des Autors dieses Artikels.
Mit der Geburt eines neuen Berufsstandes, dem des Gesundheitsökonomen, haben die Wirtschaftsparteien eigentliche Propagandisten aufgebaut, deren Nutzen bis heute nicht ausgewiesen ist. Es war und ist ein Irrglaube, dass bei der Behandlung eines Patienten Prinzipien von Angebot und Nachfrage angewandt werden können. Bei der Herstellung von Schrauben mag dies funktionieren, die Abläufe sind standardisiert und somit plan- und berechenbar. Die Schöpfer einer ökonomisierten Medizin ignorierten die individuellen Bedürfnisse, Begleiterkrankungen und andere Umstände bei Patienten. So kann eben nicht jeder 73jährige Patient mit einem Leistenbruch in gleicher Weise wie die Schrauben standardisiert behandelt werden. Der eine ist kerngesund, während ein anderer Gleichaltriger unter Bluthochdruck, Zuckerkrankheit usw. leidet und kaum noch gehfähig ist. Kaum wurde dieser Umstand erkannt, hat man die Patienten in unterschiedliche Schweregrade eingeteilt, was im sogenannten Case-Mix-Index (CMI) erfasst wird. Mit dem CMI werden solche Begleiterkrankungen einbezogen. Damit wurde aber den Ärzten und Spitälern eine zusätzliche Aufgabe aufgebürdet: Bei jedem Patienten muss bei der Rechnungsstellung eine möglichst minuziös-vollständige Liste all seiner Begleiterkrankungen aufgeführt sein, was den administrativen Wildwuchs nochmals antrieb, um die effektiven Kosten für die Patientenversorgung decken zu können. In diesen DRG haben die Vertreter einer ökonomisierten Medizin Verzögerungen durch Komplikationen wie z. B. einen Wundinfekt ausgeblendet. Im Unterschied zur Schraube ist jeder Patient einmalig und einzigartig, sozusagen ein Prototyp. Zudem lässt sich Gesundheit nicht messen. Beides blenden die Gesundheitsökonomen aus.
Immer mehr Spitäler haben sich dem Wettbewerb gestellt und haben ihr «Angebot» erhöht, machen Werbung auf teuren Homepages, in öffentlichen Verkehrsmitteln und anderes mehr. So haben einige kleinere Spitäler, die einem Konkurs zuvorkommen wollten, die Flucht nach vorne angetreten. Als sich zum Beispiel das Regionalspital Einsiedeln vor wenigen Jahren überlegte, ein invasives Herzzentrum zu eröffnen, hagelte es herbe Kritik seitens der Politik. Auf Anfrage des Regional-Journals von Radio SRF1 beantwortete der damalige Spitaldirektor die Frage, ob das nicht übertrieben sei, sinngemäss wie folgt: Wenn die Politik von uns Spitälern fordert, wir sollen in einen Wettbewerb treten, dann steht es uns ja frei, das Angebot auszubauen. Auf die Frage, ob dadurch nicht zu viele Patienten teuer und intensiv abgeklärt würden, entgegnete der Spitaldirektor, das müssten die politisch Verantwortlichen beantworten, er sei dafür verantwortlich, dass das Spital nicht schliessen müsse.
Störende Exzesse
Privatkliniken wie die Klinik Hirslanden haben eine höhere Profitabilität. So beträgt deren EBITDA-Marge gemäss Richard Schindler rund 20 % («Neue Zürcher Zeitung» vom 22.3.2017). Negativ zu Buche schlagende Bereiche wie die Weiterbildung bzw. Ausbildung zu Fachärzten und die Annahme von Notfällen werden sehr restriktiv gehandhabt. Ein öffentliches Spital jedoch muss jeden Notfallpatienten, der von sich behauptet, ein «Notfall» zu sein, untersuchen bzw. abklären. Diese Abklärungen müssen auch dann durchgeführt werden, wenn der Patient keinerlei Dokumente vorweisen kann.
Gelegentlich sind Privatkliniken negativ in den Medien aufgefallen, weil ihr Anteil an Patienten, die nur über eine Grundversicherung verfügen, wesentlich tiefer war und ist als in öffentlichen Spitälern (beispielsweise in der Klinik Hirslanden lediglich 24 % im Jahr 2017). Dennoch hat gerade die Privatklinikgruppe Hirslanden zum Beispiel alles unternommen, um einen Listenplatz zu erhalten. Ein Listenplatz bedeutet, dass der Kanton dem Spital einen Leistungsauftrag zur Behandlung von Grundversicherten erteilt und in der Folge 55 % von deren Kosten trägt.
Über die «Mengenausweitung» wurde oben schon berichtet. Allgemein kann nicht bezweifelt werden, dass viele Spitäler im Sog der Sparmassnahmen seitens der öffentlichen Hand einerseits und der freimarktwirtschaftlichen Ausrichtung der Politik andererseits immer mehr bestrebt waren und sind, ihr medizinisches Angebot auszuweiten. Den grössten Gewinn kann das öffentliche Spital nur aus den stationären Behandlungen und da vor allem bei den zusatzversicherten Patienten herausholen. Dafür haben etliche Spitäler darauf gesetzt, möglichst viele dieser Privatpatienten anzusprechen, wofür sie nicht zuletzt eigene Marketingabteilungen gebildet haben.
In der öffentlichen Diskussion aber thematisieren Politiker und Gesundheitsökonomen, welche die Ökonomisierung der Medizin und damit die Gewinnorientierung der Spitäler erzwungen haben, nun eine «Mengenausweitung» und schieben den Schwarzen Peter erneut den Ärzten und Spitälern in die Schuhe.
Wie könnte man Gegensteuer geben? Mögliche Ansätze zum «way out»
Ein öffentliches Gesundheitswesen braucht finanzielle Mittel der öffentlichen Hand und kann sich nicht selbst finanzieren. In diesem Sinne war es richtig, was wir einmal in der Staatskunde gelernt haben: Bund und Kantone erheben Steuern, um unter anderem die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Darum ist eine Krankenversicherung eine Sozialversicherung.
Die Unterschrift des Bundesrates unter die WTO- und damit die GATS-Verträge hatte verheerende Folgen, die korrigiert werden müssten.
Freimarktwirtschaftliche Prinzipien in der Gesundheitsversorgung können nicht funktionieren, da nur schon die Definitionen von «Patient» und «Kunde» nicht kongruent sind und zudem der Zustand der Gesundheit eines Volkes nicht mit Franken und Rappen gemessen werden kann. Es kann und darf auch nicht das Ziel einer Gesundheitsinstitution wie etwa eines Spitals sein, dass es auf Rendite bzw. Gewinn getrimmt wird. Bei der Feuerwehr gibt es auch Faktoren, die nicht in Franken gemessen werden können, und das ist die Sicherheit.
So wie die AHV, die IV und andere Versicherungen müssten Krankenkassen Sozialversicherungen sein, bei denen Bund und Kantone zur finanziellen Sicherstellung beitragen. Es wurde ausser acht gelassen, dass eine gute gesundheitliche Versorgung mit angemessener und kontrollierter Dichte von Ärzten und Spitälern auch einen Wirtschaftsfaktor darstellt.
Eine Umkehr in der Wertebeurteilung in der Gesundheitsversorgung ist nötiger denn je. Hohe Lebenserwartung und tiefe Kindersterblichkeit waren und sind immer noch Messparameter einer hohen Lebensqualität und wirtschaftlichen Prosperität eines Landes. Es ist ein hohes Gut und ein deutliches Zeichen des medizinischen Fortschrittes, wenn heute sehr viele über 75jährige mit etwa drei Diagnosen leben und sich einer guten Lebensqualität erfreuen. Gewiss sollen die Gesundheitskosten nicht ausufern, doch zeigt die gemachte Erfahrung, dass die Abschaffung von regulierenden Massnahmen zugunsten von «mehr Markt» ein Fehler war. Vor 1996 war es Aufgabe des jeweiligen Kantonsarztes, genau festzulegen, wo in seinem Kanton Bedarf an welchen Ärzten oder einer stationären Einrichtung besteht. Zudem waren die Verfahren für die Zulassung zur Praxistätigkeit von Ärzten, Physiotherapeuten usw. sehr strengen Richtlinien unterworfen. Das hat man ersatzlos aufgegeben.
Ein sehr zentraler und hier sicher nicht abschliessend abgehandelter Aspekt betrifft den Arzt in seiner Rolle als Helfer, «Dienstleister» am Patienten. Es kann nicht geleugnet werden, dass im Rahmen eines gewissen Wertewandels, vor allem in den Industrieländern, verschiedentlich Ärztinnen und Ärzte die Bedeutung ihres Berufes missverstanden haben. Dies allerdings ist Ausdruck einer allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung, durch die der menschlich-soziale Aspekt (nicht nur) des Arztberufes völlig in den Hintergrund gedrängt wurde zugunsten wirtschaftlicher Überlegpungen und einer Mentalität der Gewinnmaximierung. Es ist an der Zeit, Werte wie Freude an der Hilfeleistung, Verantwortung für das Allgemeinwohl, Rücksichtnahme, Sparsamkeit und andere im richtigen Sinne wieder mehr Gewicht zu geben – nicht nur im Bereich des Gesundheitswesens.
Gewiss sind in den letzten 25 Jahren zahlreiche neue Faktoren hinzugekommen, die es zu berücksichtigen gilt. Das heisst aber nicht, dass in den Jahrzehnten zuvor alles schlecht war. Eine kritische Beurteilung mit einer notwendigen Umkehr in der Wertebetrachtung wird mit Bestimmtheit zu einer gesünderen Gesundheitsversorgung führen, die wir uns auch leisten können.
Erstpublikation: Zeit-Fragen Nr. 14 vom 30. Juni 2020
Anmerkungen
[1] Konkordat: So werden in der Schweiz vertragliche Vereinbarungen zwischen Kantonen genannt. Sie können zwischen einzelnen, einigen wenigen oder allen Kantonen abgeschlossen werden. Mit solchen Konkordaten können Bereiche unter kantonaler Hoheit nach Bedarf vereinheitlicht werden, ohne dass es dazu eines nationalen Gesetzes bedürfte.
[2] EBITDA-Margen: Earnings Before Interest, Taxes, Depreciation and Amortization. «Gewinn vor Zinsen, Steuern, Abschreibungen auf Sachanlagen und Abschreibungen auf immaterielle Vermögensgegenstände.» Sie gelten als Kennzahlen der Gewinn- und Verlustrechnung und sollen Ertragskraft und Effizienz eines Unternehmens widerspiegeln.