Stadtindianer-Kommune
1979 Zitatauswahl ∙ Moritz Nestor
Teil der Antipsychiatrie-Bewegung
«Erinnern wir uns noch an die Antipsychiatrie-Bewegung? Ihr gehörten namhafte Ärzte an, die psychische Krankheiten als gesellschaftliche Konstrukte betrachteten und die Auflösung aller psychiatrischen Kliniken verlangten. Das war in den 1970er und 80er Jahren, als Gedanken-Experimenten keine Grenzen gesetzt wurden und man sogar über die Sexualität zwischen Kindern und Erwachsenen relativ empörungsfrei diskutierte. […] Ende der 70er Jahre etablierte sich die Indianer-Kommune in Gostenhof, einem damals noch nicht sanierten und angesagten Stadtteil. Bis vor sechs oder sieben Jahren existierte sie in der Stadt. Sie betrieb einen Fahrradladen in der Mittleren Kanalstraße und erschien auf den Trempelmärkten mit einem riesigen Bücherstand. […] Im Internet findet sich immer noch eine Homepage der Gruppe, wohl aus dem Jahr 2006. Da tritt sie auf als „Jugendselbsthilfe Nürnberg für echte Kinderrechte“. Neben einer naiven Zeichnung von fröhlichen abenteuernden Kindern im Tarzan-Gewand werden utopische Forderungen erhoben: „Lieber unter Brücken schlafen – Reise- und nächtliche Ausgangsfreiheit ab 12! Schulpflicht abschaffen ab 12!“ Und dann kommt die damals umstrittene, heute so strittige Passage: „Sexualität nix pfui! Selbstbestimmung über den eigenen Körper ab 12!“ Übrigens firmierte die „Jugendselbsthilfe“ als eingetragener Verein. […] Und das versuchten die Nürnberger Stadtindianer auch auf Parteitagen der ganz neuen und für unkonventionelle Programmatik offenen Partei „Die Grünen“ durchzusetzen. In den Archiven finden sich Medienberichte von ihren vehementen Auftritten etwa in Bad Godesberg. Dort okkupierten sie die Mikrofone und skandierten Floskeln wie „Sex mit Paps ist schön!“. Die meisten Delegierten reagierten nach denselben Medienberichten allerdings mit Ablehnung: „Wir wollen euch nicht hören!“ […] Der Kinderhaufen um den Oberindianer Uli Reschke mit seinem ewigen Halstuch als Markenzeichen machte einen verschmuddelten Eindruck. Die Umgangsformen zwischen Reschke und den Kindern (meist Jungs) schienen erstaunlich autoritär angelegt zu sein. Der Fahrradladen der Kommune wurde den Verdacht nie los, dass dort geklaute Vehikel verscherbelt würden.»
[„Sex mit Paps ist schön!“ – Die Nürnberger Stadtindianer. Rückblick auf schmuddeligen Verein – Ausgangsfreiheit und sexuelle Selbstbestimmung ab 12. In: nordbayern.de. 21.09.2013 11:00 Uhr. URL: https://www.nordbayern.de/region/nuernberg/sex-mit-paps-ist-schon-die-nurnberger-stadtindianer-1.3169685 (eingesehen am 2. November 2020)]
«Wir brauchen keinen Streß, keine Gehirnwäsche, keine Lebens- und keine (Welt-)Muster, sondern lernen die Sachen, die wir wissen wollen von unseren Freunden, mit denen wir freiwillig zusammenleben»
[Indianerkommune Nürnberg, Flugi 10/87. URL: http://www.selbsterkenntnis-eigensinn.de/86_beispiel_kinderrechts-bewegung.html (eingesehen am 2. Juli 2010)]
«Schon seit dem 2. Juni befanden sich Mitglieder der Nürnberger „Indianerkommune“ vor der Lorenzkirche, auf halbem Weg zwischen Hauptbahnhof und historischer Kaiserburg, im Hungerstreik. Anlässlich des von den Vereinten Nationen ausgerufenen „Jahr des Kindes“ machten sie ihre Forderungen nach mehr Kinderrechten auf Transparenten publik. Diese umfassten das Recht auf Auszug und Scheidung von den Eltern, die Abschaffung der Schulpflicht und die Schließung aller Erziehungsheime. Daneben forderten sie aber auch die „legalisierung aller zärtlichen sexuellen beziehungen zwischen erwachsenen und kindern, die gewaltfrei sind und auf freier vereinbarung beruhen“, also die Straffreiheit pädosexueller Handlungen.[1] Durch die Berichterstattung in der lokalen Presse wurden ihre Forderungen auch weiten Teilen der Bevçlkerung bekannt. Die Reaktionen waren dabei offenbar überwiegend ablehnender Natur. So berichtete die Abendzeitung, die von „teils absurden, teils berech- tigten Forderungen“ der Indianerkommune sprach: ‚Ein Indianer muß dabei recht tapfer sein. Täglich diskutieren die buntbemalten Jugend- lichen in einer dichten Traube von zum Teil aufgebrachten Demonstranten. ,Kopf ab, Rübe ab, Arbeitslager, da muß der Hitler wieder her‘, schimpft eine ältere Dame mit sauberer Dauerwelle, und ihr Nebenmann assistiert: ,Ungewaschenes Pack, Wasserwerfer drauf.‘[2]»
[1] Forderungen zit. n. Archiv Grünes Gedächtnis, G.01 FU-Berlin, 6, Indianerkommune Nürnberg: [Forderungen der Indianerkommune], Flugblatt, 1980
[2] Karin Lorenz. Zärtlichkeit und freie Sexualität. Nürnbergs Indianer im Hungerstreik. In: Abendzeitung vom 13. Juni 1979, S. 18
[Jan-Henrik Friedrichs. Freie Zärtlichkeit für Kinder. In: Geschichte und Gesellschaft , 44. Jahrgang, Heft 4 (Oktober – Dezember 2018), S. 554–585]