Thesen zur Familie: Kulturanthropologische und ethnologische Aspekte

1. Januar 1999 Joachim Hoefele


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These 1

Definition: Kulturanthropologie befaßt sich mit dem Zusammenleben der Menschen in verschiedenen Kulturen. Sie untersucht alle menschlichen Vorstellungen, Verhaltensweisen, alle (materiellen und geistigen) Güter und Werte, Sitten und Gebräuche, die Menschen gemeinsam hervorbringen. (vgl. Marschall, 7)

Biologische Grundlagen: Der Mensch zeichnet sich vor allem durch seine relativ hohe Instinktungebundenheit (Entscheidungsfreiheit) aus, er verfügt über ein hohes Maß an Intelligenz (abstraktes Denken, Selbstbewusstsein, einsichtiges Handeln, Werkzeuggebrauch etc.) sowie über starke soziale Fähigkeiten (wie Sprache und Kommunikation, Mitgefühl, Kooperation (Montague), Vertrauen und soziale Bindung (Montague), Gemeinschaftsgefühl (Adler), Vernunft, Moral, Gerechtigkeit etc.).

All diese naturgegebenen Fähigkeiten machen das kulturelle Zusammenleben der Menschen möglich und notwendig. Wir können sagen: Der Mensch ist von Natur ein Wesen, das in Kultur lebt.

 

These 2

Menschenbild: Der Mensch ist leib-seelisch einheitliche Person; er ist ein höchst individuelles und soziales Wesen (Portmann), das von Natur auf das Zusammenleben mit anderen angelegt ist, das sich als Individuum nur entwickeln und entfalten kann im Zusammenleben mit anderen Menschen in Kultur. Und hier spielt die Familie zunächst die größte wichtigste Rolle. Denn durch sie werden kulturelle Werte und Normen von Generation zu Generation weitergegeben und auch weiterentwickelt.

Wie Menschen das Zusammenleben gestalten, das ist von Kultur zu Kultur verschieden. Und so könnte man (aufgrund empirischer Feldforschung) meinen, jede Kultur sei ein in sich geschlossenes Ganzes und anders als jede andere (à Auffassung, daß alle kulturellen Werte und Normen kulturspezifisch und relativ seien [kultureller Relativismus]). Bei aller (empirisch feststellbaren) Verschiedenheit aber – das ist unumstritten – gibt es kulturübergreifende Konstanten, die überall, in fast jeder Kultur zu finden sind. Denn: Jede Kultur muss den Grundbedingungen der menschlichen Natur entsprechen und sie tut es auch, denn sonst könnten wir Menschen als Menschen gar nicht leben. «Die Existenz solcher Kulturkonstanten steht für den Ethnologen außer Frage.” (Rippe, 109)

Denn: «… jede Gesellschaft und Kultur [muß] notwendigerweise bestimmte Aspekte und Bedürfnisse der menschlichen Existenz ausfüllen …» (Rippe, 109), d.h. m.a.W. die kulturellen Einrichtungen eines Volkes erfüllen existentielle Zwecke des menschlichen Lebens. Daraus folgt ganz klar «keine menschliche Handlung ist nur natural oder nur kultural” (ebd.) [m.a.W. gesellschaftlich-historisch-dialektisch, wie Marxismus und Feminismus[1] behaupten, A.H.] Das heißt: Die Kulturanthropologie geht von der Tatsache aus, daß der Mensch durchaus eine feste Natur hat – also bestimmte existentielle Zwecke erfüllen muß, die durch die Natur des Menschen vorgegeben sind -, wobei der Mensch (auch das eine Naturtatsache) in einer Vielfalt historisch gewachsener Kulturen lebt.

 

These 3

In allen Kulturen gibt es fest regulierte «Verwandtschaftssysteme», in deren Kern die Familie steht (die sogenannte «Kernfamilie» mit Mann, Frau und Kindern, egal ob es sich um Klein- oder Großfamilien oder Sippen handelt, um matrilineare oder patrilineare Formen; darüber hinaus gibt es auch immer eine umfassendere «politische Ordnung, usw.” (Rippe, 109), d.h.: Institutionen. die durch Regeln oder Gesetze festgelegt sind, deren Einhaltung durch moralische Werte und Normen (oder: Tabus wie z.B. das Inzesttabu) gesichert werden. Ausnahmen widerlegen nicht die Regel. (vgl. auch Schockenhoff, 90)[2]

 

These 4.

Die Biologie des Menschen «legt» sozusagen gewisse kulturübergreifende Konstanten nahe: Die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen, insbesondere die Liebe zwischen Mann und Frau, die in der Verschiedenheit der Geschlechter und dem personalen Wesen des menschen (Ich-Du-Beziehung) gründet, verlangt nach einer dauerhaften Beziehung/Bindung; darüber hinaus erfordert die Schwangerschaft, die Ernährung und Fürsorge für die Kinder (vgl. Humanbiologie, Bindungstheorie …), die langdauernde Kindheits- und Jugendphase, Notwendigkeit der Erziehung der Kinder eine dauerhafte Arbeitsteilung/Zusammenarbeit zwischen Mann und Frau, wodurch die emotionale Bindung noch verstärkt wird.

Die Heirat, die meist durch Feste und Riten sozusagen «vertraglich» (vgl. Ehevertrag) festgeschrieben wird, begründet gewisse Rechte und Pflichten zwischen Mann und Frau. Die Verbindung zwischen Mann und Frau und schliesslich auch die Familie ist in allen Kulturen durch die Ablehnung des Ehebruchs (siehe unten, Liste der Universalien) geschützt.

 

5.

Aufgrund metaanalytischer Sekundärforschungen (also nicht primär-empirische Feldforschung) können bezogen auf die Familie folgende Universalien zusammengefaßt werden: nach Richard Beis (1964, Stand: 50er Jahre) à Rippe (1993, Stand: erste Hälfte der 90er Jahre); zitiert nach Rippe, 111-112:

I Universalien, die sich auf Verpflichtungen innerhalb der Familie bzw. Verwandtschaft beziehen:

1.  Ablehnung des Ehebruchs.

2. Vermeidung inzestuöser sexueller Beziehungen innerhalb der Kernfamilie.

3. Das Gebot der Exogamie.

4. Reziproke Verpflichtungen von Kindern und Eltern (bzw. Kindern und ihren Erziehern).

4a   Die Verpflichtung, für das Wohl und die Erziehung der Kinder zu sorgen.

4a‘ Die Verpflichtung, eine «gute” Mutter zu sein.

4b   Die Verpflichtung, den Eltern gehorsam zu sein und für sie im Alter zu sorgen.

5. Gebot zur Solidarität (= Hilfsbereitschaft, A.H.) und Loyalität innerhalb der Familie.

6. Die Verpflichtung, Erbschaften und Hinterlassenschaften zu regulieren.

 

II. Universalien, die sich auf die Verwandtschaft oder auf die gesamte Gesellschaft (In-group) beziehen:

1.  Kooperationsbereitschaft innerhalb der In-group

2. Fürsorge für Arme und Benachteiligte

3. Verhütung von Gewalt innerhalb der In-group

4. Gehorsam gegenüber den «Führern” (Autoritäten, A.H.)

5. Die Verpflichtung, die religiösen Vorstellungen und Praktiken der eigenen Gruppe nicht zu verunglimpfen.

 

III. Verpflichtungen, die sich auf Verwandte, die eigene Gesellschaft oder auf alle Menschen beziehen:

1.  Verbot des Mordes.

2. Verbot der Lüge.

3. Verurteilung der Vergewaltigung

4. Respekt vor den Toten.

5. Gebot, Versprechen einzuhalten.

6. Verpflichtung zur Reziprozität (Tauschgerechtigkeit; Goldene Regel der Moral: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg‘ auch keinem andern zu! A.H.) (vgl. Rippe, 111f.)

 

These 6

(a) Kein Zweifel besteht darin, daß eheliche Verbindungen in allen kulturanthropologischen Untersuchungen, die uns bekannt sind, Verbindungen zwischen Mann und Frau sind. Die eheliche Verbindung – auch das kann als universelle Konstante angenommen werden – ist eine auf Dauer angelegte Beziehung zwischen Mann und Frau. Siehe oben Ablehnung des Ehebruchs (Vgl. Rippe, 110)

(b) Die Familie, egal in welche weiteren Verwandtschaftsbeziehungen sie eingeordnet sein mag (Klein-/Großfamilie oder Sippe …), erscheint in ihrem Kern immer als eine dauerhafte Beziehung zwischen Mann, Frau und Kind(ern).

Dabei spielt es auch keine Rolle, ob es sich um patrilineare (patriarchalische) oder matrilineare (matriarchalische) Formen handelt. Ruth Benedict (S.61f.) berichtet von einem nordamerikanischen Indianerstamm, den Zuni, wo Haus, Besitz und Heiligtümer in den Händen der Mutter bzw. Grossmutter bleiben, während die jungen Männer in die Sippe der Frauen einheiraten. Also die genau umgekehrten Verhältnisse wie bei uns.

Funktion der Familie (nach Malinowski, funktionalistische Schule), «die Gemeinschaft mit Mitgliedern zu versorgen», diese zu erziehen, sie mit materiellen Gütern auszustatten (ebd. 37), Geborgenheit, Schutz, Vertrauen zu geben (vgl. Bischof: Kapitel «Beistand und Tradition», 60); und gleichzeitig Tradierung von Besitz und kulturellem Erbe; d.h. Erhalt der Familien- und Kulturtradition. (ebd., 61)

(nach Messner, 551:) «Der Zweck der Familie ist ein dreifacher: die Versorgung ihrer Glieder mit den für das geordnete tägliche Leben notwendigen Güter für Körper und Geist; die Heranziehung der Kinder; die Zelle der Gesellschaft zu sein.» (ebd., 551)
1. Familie (Verwandtschaft) in ihrer Funktion als Wirtschaftsgemeinschaft
2. Heranziehung der Kinder
3. Zelle der Gesamtkultur

 

These 7

Was das Heiraten betrifft, so gibt es bestimmte Regeln die durch das Inzest-Tabu und das Exogamie-Gebot gekennzeichnet sind. Bischof (53): «Alle Kulturen, so verschieden ihre Heiratsregeln auch im Detail sein mögen, sind offenbar intolerant gegen allzuenge «Nähe» oder allzuweite «Ferne» von Partnern einer sexuellen Beziehung. Darin könnte ein biologischer Sinn liegen: Inzucht und Artenkreuzung schmälern beide den Fortpflanzungserfolg.» (ebd., 53) à genetische Degenerationserscheinungen

Einschränkung: «Aber so einfach geht es nicht. Man kann gesellschaftliche Strukturen nicht gradlinig aus biologischen Selektionsvorteilen ableiten.» (ebd., 53)

Durch verwandtschaftliche Exogamie und kulturelle Endogamie werden verwandschaftliche Beziehungen und Bindungen über die engere Familie bzw. Sippe hinaus geknüpft, was den Bestand der Gesamtkultur sichert, insofern verwandschaftliche Beziehungen geknüpft und damit die Bindungen der Mitglieder einer Kultur enger werden, damit aber auch gegenseitige Hilfe und Solidarität (Überlebensvorteil des Individuums und der Art); vgl. «gesellschaftliche und gemeinschaftsstiftende Bedeutung dieses Tabus» (Rippe, 181); vgl. Bindungstheorie (Bowlby).

–> Inzestverbot und Exogamie ermöglichen kulturelle Vielfalt; Heirat innerhalb der Familie würde zur unilinearen Weitergabe ein und derselben Tradition führen.

 

These 8

Nach Bischof (38ff.): Verwandschaftliche Ferne (Exogamie), aber kulturelle Nähe (Weltanschauung, gemeinsame Werte etc.) –> kulturelle Endogamie, begünstigen eine Eheschließung (vgl. Murdocks Theorie); d.h. mit anderen Worten: Eheschließung setzt auch eine gewisse Gemeinsamkeit kultureller Werte und Ziele voraus. Und nur so können Kinder heranwachsen, die durch eine mehr oder weniger gemeinsame Kulturtradition eine eigene Identität entwickeln.

Aufgabe der Familie: Geborgenheit, Schutz, Vertrauen; und gleichzeitig Tradierung von Besitz und kulturellem Erbe; d.h. Erhalt der Familien- und Kulturtradition. «Familienbildung kommt schon bei den Tieren vor. … Aber sie hat auch hier schon die Funktion, an der sich bis zum Menschen hin nichts ändert: Geborgenheit zu spenden. Auch bei uns erfüllen Verwandschaftsgruppen noch primär die Aufgabe, dem Einzelnen einen Personenkreis zuzuordnen, der ihm aushilft, wenn er Not leidet, der ihn verteidigt, wenn er bedroht ist, der ihn rächt, wenn ihm Schaden zugefügt wurde. Beistandsgemeinschaft zu sein – das ist die erste und ursprünglichste Funktion der Verwandtschaftsgruppe.» (Bischof, 60)

Zur zweiten Funktion: materielle und immaterielle Werte zu tradieren, vgl. Bischof, 61

 

These 9

(a) Gebot zur Solidarität und Loyalität innerhalb der Familie und Verwandschaft: Das heißt, daß es als selbstverständlich gilt, sich innerhalb der Familie und Verwandschaft gegenseitig zu helfen, wenn ein Mitglied der Hilfe bedarf. Soziobiologie (zum In-group/Out-group-Altruismus) (Rippe, 177) erklärt den Altruismus innerhalb der Verwandschaft als ein Strategie der Evolution, den Fortpflanzungserfolg der eigenen Gene zu sichern. Heute geht man davon aus, dass innerhalb der Verwandschaft die Bindungen stärker sind und somit auch Mitgefühl, Solidarität, gegenseitige Hilfe, Altruismus (siehe Bindungstheorie). Vgl. auch Rippe, 183 ff.

(b) Die reziproke Verpflichtung der Eltern für die Kinder zu sorgen, diese zu nähren, zu pflegen und zu erziehen gilt ebenfalls universell. Selbst wenig altruistische Kulturen, wie z.B. die der Ik (Turnbull «Volk ohne Liebe», vgl. Anm.2), kennen die Verpflichtung der Mütter, ihre Kinder wenigstens bis zum dritten Lebensjahr zu ernähren, zu pflegen und zu erziehen. Keine Ik-Mutter setzt ihr Kind aus! (vgl.Bindungstheorie)

(c) Ebenso gilt es als unehrenhaft, die Eltern im Alter nicht zu unterstützen. Parentizid ist universell verboten. (vgl. Schockenhoff, 86ff.)

 

These 10

Auch das universelle Gebot, Erbschaften zu regeln (vgl. letzter Punkt der Universalien), kann als natürlicher Wunsch der Eltern angesehen werden, über ihr eigenes Leben hinaus für die Kinder zu sorgen und ihnen eine Existenzgrundlage zu geben. (vgl. Bischof, 61)

 


 

Literatur

 

Adler, Alfred: Menschenkenntnis. 16. Auflage. Frankfurt/M. 1981

Beis, Richard: Some Contributions of Anthropology to Ethics. In: The Thomist 1964/28, S.174-224

Benedict, Ruth: Urformen der Kultur. Hamburg 1955

Bischof, Norbert: Das Rätsel Ödipus. Die biologischen Wurzeln des Urkonfliktes von Intimität und Autonomie. München 1985

Bowlby, John: Bindung. Eine Analyse der Mutter-Kind-Bindung. München 1976

Malinowski, Bronislaw: Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur. Hg. von Reinwald. Zürich 1949, Neuauflage Frankfurt/M. 1975

Marschall, Wolfgang (Hrsg.): Klassiker der Kulturanthropologie. Von Montaigne bis Margaret Mead. München 1990

Mead, Margaret: Brombeerblütenim Winter. Ein befreites Leben. Reinbek 1978

Messner, Johannes: Das Naturrecht, Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik. 7. Auflage. Berlin 1984

Montagu, Ashley: The direction og human Development: Biological and Social Bases. New York 1955

Portmann, Adolf: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Basel 1944

Rippe, Klaus Peter: Ethischer Relativismus. Seine Grenzen, seine Geltung. Paderborn/München/Wien/Zürich 1993 (Göttingen Univ. Diss.)

Schockenhoff, Eberhard: Naturrecht und Menschenwürde. Universale Ethik in einer geschichtlichen Welt. Mainz 1996

Turbull: Das Volk ohne Liebe. Reinbek 1972

 

[1] Margaret Mead schreibt (in Brombeerblüten im Winter, 183f.): «Als ich … Male and Female schrieb [(1949), nach Sex and Temperament in Three Primitive Societies (1935)], ein Buch, in dem ich vorsichtig die durch Kultur und Temperament bedingten Unterschiede behandelte, wie sie sich im Leben von Männern und Frauen spiegeln, und dann die Eigenschaften diskutierte, die mit primären Geschlechtsunterschieden zwischen Männern und Frauen in Zusamenhang zu stehen schienen, wurde mir von Frauen Anti-Feminismus vorgeworfen …»
[2] vgl Turbulls Feldforschungsbericht über die Kultur der Ik (Turbull: Das Volk ohne Liebe (1972). «Turnbull bestreitet nicht nur, …, daß Moral eine Kulturkonstante ist, sondern auch die These, daß der Mensch ein zoon politikon ist. (Rippe, 115) Siehe auch Anm. 5, Zitat Turnbull. (ebd.) « … so wenig widerlegen isolierte Sonderwege einzelner Volksstämme die universelle Anerkennung eines Kernbestandes gemeinsamer Moralvorstellungen.» (Schockenhoff, 90)

 

Autor

Joachim Hoefele, Prof. Dr. phil., Dozent, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache

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