Tritt man den Wert des Menschen mit Füssen? Aus dem Briefwechsel von zwei Freundinnen
März 1995 ∙ Moritz Nestor
Im Film «Tod auf Verlangen. Film über das Recht zu sterben» wird «live» gezeigt, wie ein Mann von einem Arzt bewusst eine tödliche Dosis Gift gespritzt erhält. Er wurde im Laufe der letzten Monate auf vielen Fernsehkanälen ausgestrahlt. So zeigte auch das Schweizer Fernsehen diesen Film am 19.1.1995 im Rahmen einer «DOK»-Sendung. Im Anschluss daran machten sich zwei Freundinnen in ihren Briefen Gedanken über das Thema Tod und Sterben. Im Einverständnis mit den beiden Frauen druckt Zeit-Fragen einige eindrückliche Passagen aus diesem sehr persönlichen und feinfühligen Briefwechsel ab.
… Dass wir heute Abend länger über den Tod, das Sterben gesprochen haben, hat mich sehr betroffen gemacht. Das war nicht der Tod von denen, die eigenständig gegangen sind, nein, das war der natürliche Tod. Ich kann die Momente nicht vergessen, in denen ich Zeuge sein durfte von jenem Geheimnis, wenn ein Menschenleben aufhört. Könnte ich die zufriedenen, ja manchmal lächelnden Gesichter vergessen? Die «Blumen», die «offene Tür», «das Licht an der Decke» . . . Immer hat es mich sehr berührt, so als würde in diesem Zimmer jetzt die Zeit stehenbleiben. Diese Menschen, dieses Geschehen beschenkte mich, ich kam mir reich vor. Je nachdem wie gut die Beziehung zu dem Menschen war, machte es mich auch sehr traurig, aber gleichzeitig auch sehr dankbar, weil ich mit ihm das letzte Wegstücklein gehen konnte, nein – ihn begleiten, nein, auch nicht, welches Wort passt denn da? Hm, ja: weil er mich teilhaben liess an seinem Persönlichsten, an dem Geheimnis, wenn ein Menschenleben aufhört – sich ein anderes «Leben» auftut. Keiner kann daran zweifeln (glaube ich), der die Gesichter und vielleicht noch Äusserungen gesehen oder gehört hat. – Manchmal musste ich mich richtig lösen von meinem Angewurzeltsein. Ich wusste, dass, wenn ich das Zimmer verlasse, dann «die Zeit wieder lief»! Die Zeit des Handelns .…
Es hat mich heute auch sehr berührt, als ich Dir von meiner Grossmutter erzählte. Im Erzählen habe ich gemerkt, wie mich mein Grossmutti damals beschenkt hat. Sie hat mir viel auf den Weg mitgegeben. Zu Hause war das nie ein Thema, aber bei ihr konnte ich sehen, wie sie sich vorbereitete, wie sie buchstäblich aufräumte, um Abschied zu nehmen. Ich sah den Frieden, den sie hatte. Es war wohl zirka in der letzten Woche, da kam ich zu ihr. Als ich ein paar Sätze gesprochen hatte, sagte sie plötzlich: «Ach, du bisch jo d’Irene!» Ich war sehr erstaunt. Sie sagte: «Weisch, i gseh nüt meh.» (Sie hatte Ableger im Gehirn.) Sie sagte dies so . . . so selbstverständlich, so in Ruhe. Ich denke, sie war es, die in mir bewirkte, dass ich keine Angst vor Sterbenden habe, dass ich es natürlich aber auch immer bei jedem einzelnen als ein Geheimnis anschauen kann. So meine ich es, dass sie mir viel auf den Weg mitgegeben hat, indem sie mich teilhaben liess an ihrem Abschiednehmen.
Du fragst dich sicher schon lange, wieso ich schreibe wie wild? Ich hing hier so eine Zeitlang noch meinen Gedanken nach. Und weil ich noch so «knallwach» war, entschloss ich mich, mir das «DOK» über die Euthanasie anzusehen.
Vielleicht musste ich so viel schreiben, um das Thema in mir wieder zurechtzurücken. Das ist doch grauenhaft – eigentlich bin ich entsetzt darüber! Zuerst nur mal das Ganze: Was soll der Film eigentlich? Eine Werbung für die aktive Euthanasie? Dem wurde ja nichts entgegengesetzt! Das, was ich vorhin geschrieben habe, vom letzten Wegstück, das «kam» wohl deshalb, weil der Patient im Film sich darum betrog. Er betrügt sich (alle, die diesen Weg gehen) um die letzte Zeit des Abschiednehmens, des Abschliessens. Er betrügt sich um den Frieden, den er wie meine Grossmutter haben könnte, «ich habe mein Leben zu Ende gelebt». – Er betrügt nicht nur sich, er betrügt seine Frau. Sie kann den Weg mit ihm nicht bis zum natürlichen Ende gehen! Beide sagen, er soll nicht unnötig leiden! Da wird es mir schlecht! Also ist jeder ein Tropf, der das Leiden erduldet. Und was heisst schon unnötig, vielleicht stimmt es nicht, aber ich wage es jetzt trotzdem zu schreiben: Wenn man das «un» streicht, könnte das Leiden nicht auch nötig sein, um reifer zu werden? Im Falle des Sterbens, um in Frieden gehen zu können?
Das Ehepaar betrügt sich noch um etwas – ich denke, um wesentliche Gespräche. Das Hauptthema ist doch immer wieder: Wann ist der Tag, der ausgewählte Tag, zum Sterben! Einmal sagt sie, ihr Mann habe noch gute Momente, aber die schlechten nähmen überhand . . . sie haben sich auch hier um all die guten Momente betrogen, die er bis zu seinem Tod gehabt hätte.
Der Arzt: Eigentlich fehlen mir die Worte! Er setzt sich überhaupt nicht für das Leben ein, mit keinem Wort. Er bricht doch seinen hippokratischen Eid! Vielleicht erträgt er den Anblick des Leidens nicht! Die Überheblichkeit, die Selbstverständlichkeit machen mich so wütend! Es ist ein Schlag ins Gesicht von jedem, der sein Leid erduldet! Ich konnte fast nicht hinsehen, wie er sein Gift aufzog! Es machte mich rasend! Wer meint er denn zu sein, dass er als «Dienstleistung» ein anderes Leben auslöscht? Aber er tat es ja zu einem so guten Zweck, in intimer Atmosphäre, schaute auch ein wenig zu der Frau. Wo liegt da noch der Wert des Menschen? So lange der Körper funktioniert, ist alles recht und gut. Wenn aber die Krankheit beginnt, das Leiden, dann ist alles wertlos.
Wenn man es noch aus religiöser Sicht betrachtet, dann verstösst der Arzt sicher auch gegen das Gebot: «Du sollst nicht töten.» Gott wir ihm wohl kaum etwas zulassen, damit er sein Leben vorzeitig fortwirft.
Das Schlimmste an diesem Film finde ich, dass es einfach so stehengelassen wird. Nicht eine Stellungnahme, nicht ein kritisches Wort. Nur, schon fast lächerlich, der Hinweis, dass zehn Tage später eine Diskussionsrunde stattfindet, die den Film von theologischer Seite beleuchten soll.
Das ganze erschreckt mich. Wie weit sind wir schon? Tritt man den Wert des Menschen mit Füssen? . . . l
Quelle: Zeit-Fragen Nr. 15, März 1995, Seite 12