«Verteidigung des Menschen» – Teil 2: Wider die Vermenschlichung des Computers
8. Mai 2024 ∙ Moritz Nestor
In Güstrow, der Heimatstadt Ernst Barlachs, befindet sich im dortigen Museum die Plastik der «lesenden Mönche» aus dem Jahr 1932. Barlach war Kriegsgegner, galt den Nazis als «entartet». Er gestaltet 1932 zwei Mönche, die miteinander lesen, eine gemeinsame geistige Welt teilend und dabei das Geistige des Menschen symbolisierend, das in Gemeinschaft seinen Sinn findet. Barlach schuf damit ein Bild tiefer Menschlichkeit, das den Betrachter daran erinnert, wer wir Menschen sind. Die beiden gemeinsam Lesenden erinnern auch an das Zurückdrängen der Bildung durch den 1932 sich Bahn brechenden Kahlschlag im Menschenbild durch die Nazis, den Barlach drückend erlebte.
Wer den geistigen Kahlschlag in den Humanwissenschaften seit den sechziger- und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts miterlebt hat und wer dabei mit Entsetzen hat zusehen müssen, wie in manchen Bereichen unserer humanwissenschaftlichen Disziplinen der Mensch völlig verschwunden (gemacht worden) ist, der ist sehr dankbar über das 2020 erschienene Buch «Verteidigung des Menschen» aus der Feder des Philosophen und Psychiaters Thomas Fuchs, der als Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg lehrt. Ein Gebildeter aus den Zeiten vor den Bildungs«reformen» redet da.
Es fällt einem vieles wieder schmerzlich ein, wenn man bei der Lektüre dieses ausgezeichneten Buches immer wieder einmal an seine eigene Studienzeit in den frühen Siebzigerjahren zurückdenken muss: Das humanistische Menschenbild, das zu meiner Studienzeit noch Teil des Bildungskanons war, verschwand nach und nach, und es traten Ideologen mit flachen nihilistischen Theorien auf – wie der von Fuchs zitierte Historiker Yuval Noah Harari, dessen 2017 erschienenes Buch «Homo Deus» heute von globalen Machteliten als «Posthumanismus» gefeiert wird. Darin wird das frei und gleich an Würde und Rechten geborene Wesen Mensch durch Biologie, Kybernetik und «Künstliche Intelligenz» ersetzt – sag’ da einer noch, es stimme nicht, dass die herrschende Wissenschaft die Wissenschaft der Herrschenden sei! Wir Menschen werden mit Hararis nihilistischer Theorie entmenschlicht zu einer «Ansammlung biochemischer Mechanismen, die von einem Netzwerk elektronischer Algorithmen ständig überwacht und gelenkt werden.» Die «Idee eines autonomen Selbst» und das «Ich» des Menschen, das untrennbar zu unserer Würde gehört, wird von Harari zynisch ins «Reich des Osterhasen» geschickt. Der Mensch sei «ein obsoleter Algorithmus», sagt er. Delete.
Da überrascht es den politisch Denkenden wenig, dass Harari 2018 Redner am World Economic Forum war, nachdem sein Buch «Homo deus» 2017 vom «Bild der Wissenschaft» zu «Wissensbuch des Jahres» gekürt worden war und Harari den deutschen Wirtschaftsbuchpreis erhalten hatte – ein Preis, der vom Handelsblatt, von Goldman Sachs und der Frankfurter Buchmesse vergeben wird! Und schliesslich überrascht es auch kaum, dass Harari 2018 die Eröffnungsrede zur Jahrestagung des Deutschen Ethikrats in Berlin hielt. Kurt Marti ärgerte sich auf Info Sperber vom 30. Januar 2018 nur gewaltig über das Harari-Buch: «Die Massenmörder Hitler und Stalin waren laut Harari ‘Humanisten’, die den ‘Menschen anbeten’ und die der Überzeugung sind, dass der «Homo sapiens über einen einzigartigen und heiligen Wesenskern verfügt’».[1] Fuchs betont, dass Hararis nihilistisches Menschenbild die Herrschaftsgelüste globaler Machteliten widerspiegle: Weltweit werden mit Künstlicher Intelligenz digitale Überwachungssysteme geschaffen, die den Menschen mit Sozialtechnologie beherrschen.
Wenn Harari den Menschen derart zynisch zum Mittel für seine Zwecke denaturiert und uns damit unsere Menschenwürde abspricht, dann gibt’s nur eins: Der Mensch ist «ein Zweck-an-sich», sagt Kant stellvertretend für die jahrhundertealte Tradition des europäischen Humanismus: Der Mensch hat keinen Preis, wie Hararis neoliberale Geldgeber suggerieren, sondern der Mensch hat eine Würde und jeder ist von unendlichem Wert. Jeder. Kant fordert daher als ethische Maxime: «Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.»
Eine seltsame Kampagne verbarg von Anfang die realen Gefahren des Computermissbrauchs hinter einem schönklingenden Märchen: Schon der erste noch mit Röhren (!) betriebene elektronische Rechner wurde 1946 der US-Öffentlichkeit präsentiert, als handelte es sich um eine Maschine mit menschlichen Eigenschaften. In dem Film Eine Maschine verändert die Welt (BBC 1946, Buch und Regie Fiona Holmes) schwärmte ein begeisterter US-amerikanischer Beamter vor der Kamera, das
«gigantische Elektronengehirn habe zu denken begonnen. Mit Röhren wie in jedem Radio. Der welterste Elektronenrechner könne meterlange Zahlenkolonnen in der Sekunde addieren. Gerade denke er über mathematische Probleme der Armee nach. Aber eines Tages womöglich auch über unsere Steuererklärung.»[2]
1950 schwärmte zum Beispiel das deutsche Leitmedium der SPIEGEL noch hemmungsloser als der erwähnte US-Amerikaner, der Computer sei ein «Maschinengehirn». Ja, er sei mehr als eine Maschine. Es sei ein «Denkmonster», dessen Können «der menschlichen Urteilskraft ähnelt».[3] Wie ein Mensch habe er einen «Gehirnkasten», in dessen «Mitte» sich ein «Willenszentrum» befinde: «eine Zentrale, von der aus die Zahlen in die Maschinen gehen. Zusammen mit den Befehlen, was damit geschehen soll.»[4]
In diesem Stil wurden dem Rechner in den folgenden Jahrzehnten menschliche Eigenschaften angedichtet, was heute weithin unsere falschen Vorstellungen vom «Elektronengehirn» prägen: Der Maschine dichtete man die menschliche Eigenschaft an, denken zu können. Und dem Menschen dichtete man umgekehrt Eigenschaften der Maschine an, nämlich: unser Gehirn arbeite «digital» wie ein Computer – blanker biologischer Unsinn!
Doch der Vergleich verfing: Die Maschine wurde im Bewusstsein breiter Bevölkerungsschichten zum Lebewesen aufgewertet. und der Mensch und sein Gehirn wurden zur Maschine abgewertet. Dabei wusste zum Beispiel der US-amerikanische Atombomben- und Computerentwickler John von Neumann genau, was ein Computer kann, als er 1955 der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen den Computer als «neuere mathematische Maschine» mit den Worten anpries: «Wenn man sagt, dass die Maschinen denken, lernen usw., so ist das symbolisch zu verstehen. Sie tun natürlich nur das, was man ihnen vorher ganz genau vorgekaut hat.»[5]
Doch konsequent wurde in der breiten Öffentlichkeit der Mythos populär, elektronische Rechner seien «Elektronengehirne», die «denken» könnten. Als ich in den Sechzigerjahren zur Schule ging, wurde in Deutschland bereits drüber diskutiert, ob man den Lehrer nicht durch ein solches «Elektronengehirn» ersetzen könne. Damals protestierte die CDU noch, und damals wussten die Christdemokraten noch, dass man Menschen nicht durch Maschinen ersetzen kann …
Dass der Computer wie ein «Abbild» des Menschen rechne und denke, das sei allerdings nur das erste Kapitel des Märchens gewesen, das man der Öffentlichkeit aufgetischt habe, schreibt Erhard Tietel 1995 in seinem Buch «Das Zwischending. Die Anthropomorphisierung und Vermenschlichung des Computers.» Der zweite Schritt sei gewesen, dass man das Verhältnis Computer-Mensch in den Darstellungen und im Bewusstsein der Öffentlichkeit allmählich ins Gegenteils verkehrt habe: Dem zum «Abbild» des Menschen verklärten Computer wurde auch noch zusätzlich angedichtet, diese Maschine sei «über sein Vorbild», den Menschen, hinausgewachsen und sei nun selbst zum «Vor-Bild» geworden, «demgegenüber der Mensch bloß als schwacher Abglanz, als müder Widerschein übrig zu bleiben droht.» [6] Nun sah es so aus, als hätten die Rechenmaschinen begonnen, «die Massstäbe vorzugeben», und als seien «die ‚Knechte‘ [die Computer] potentiell zu Herren des Geschehens» geworden, «denen nun der Mensch versuchen muss, gerecht zu werden, ja, es recht zu machen.»[7]
In den Massenproduktionen von Science-Fiction-Romanen und -Heftchen, von TV-Raumfahrtserien und vielem mehr kam dieses Denken Jahr für Jahr breit «unters Volk», es prägt mittlerweile das Menschenbild weiter Bereiche unserer Gesellschaften und wird unablässig aufgefrischt: In der schwedischen TV-Serie «Echte Menschen» zum Beispiel leben Roboter-Menschen («Humbots»), die von echten Menschen nicht zu unterscheiden sind, unter echten Menschen und kämpfen schliesslich darum, heiraten und Kinder haben zu dürfen. Ein populärwissenschaftlich sich gebendes Romangenre ist entstanden, das sich immer phantastischer mit der Machtergreifung der Maschinen und Computer beschäftigt. Intellektuelle spekulierten über «Das Bewusstsein der Maschinen».[8] Und heute reden wir von «Künstlicher Intelligenz», als wäre es Denken.
Doch nach der Lektüre des Buches von Thomas Fuchs ist der Leser buchstäblich wieder in der Realität zurück: Rechner sind dumm, sind zum Kadavergehorsam verdammte Maschinen, die immer nur das machen, was andere ihnen befehlen, auch wenn es falsch ist: Unsinn rein, Unsinn raus – aber nur so lange, wie es dem Menschen passt, der ihn geschaffen hat und auch wieder abschalten kann. Der Computer kann weder Fehler korrigieren noch über sich nachdenken. Er hat keine Religion, kann sich nicht umbringen oder in andere Menschen einfühlen. Er kann sich nicht vorstellen, was ein Mensch über ihn, den Computer denkt. Intelligenz heisst doch auch: Moritz kann sich vorstellen, was Max über Moritz denkt. Und Moritz kann sich auch vorstellen, was Max denkt, was Moritz über Max denkt, was Max tun will – es geht noch beliebig höher! Die Maschine kann das alles nicht. Sie kann sich nicht dagegen wehren, dass der Mensch sie zerstört, aufrüstet oder reparieret oder gar entsorgt. Wie wollte man übrigens einen Computer erziehen? Wie könnte jemals ein Computer zum Computer werden durch einen Computer? Unser von der Kybernetik begeisterter Psychologie-Professor wollte in den Achtzigerjahren einen «Neurosencomputer» bauen. Er sagte: Wenn man diese Maschine mit allen Symptomen eines neurotischen Menschen «füttere», dann spucke die smarte Maschine die richtige Therapieform aus. Nota bene: ein studierter Intellektueller, Schüler von Konrad Lorenz! Auf meine Frage: Wie der Computer Liebe berechnen könne, sagte er: Das könne er noch nicht …
«Das schleckt keine Geis‘ weg», wie der Schweizer sagt: Die Intelligenz des Menschen ist «an ein Selbstbewusstsein gebunden». Künstliche Intelligenz hat kein Bewusstsein. Ist also nicht intelligent. Die Intelligenz des Menschen ist bei allen Entscheidungen immer auch eine «Stellungnahme zu sich selbst; die Fähigkeit, eine komplexe Situation von einem übergeordneten Gesichtspunkt aus betrachten zu können, sodass neue und andere Lösungen überhaupt in den Blick kommen können.»[9] Und: Fuchs mahnt an, nicht zu vergessen, dass Intelligenz immer «situiert» ist, heisst: Ich denke nie isoliert, sondern
«immer im sozialen Zusammenhang mit anderen Menschen und einer vertrauten Umgebung und betrachte die Welt aus einer spezifischen Situation heraus. Diese Situation ist immer auch eine gefühlte, eine gespürte, eine, die Werte vorgibt, die ich brauche, um in einer komplexen Welt, in der es um Leben, auch um Überleben, und um gemeinsames Leben geht, überhaupt zu Entscheidungen zu kommen. Entscheidungen treffen kann ich nur auf einer Wertebasis. […] Es gibt keine rein rationalen Entscheidungen.»[10]
Der Computer kann also höchstens menschliche Intelligenz simulieren, das aber nur, nachdem ihn Menschen dazu programmiert haben. Der Mensch aber kann «ohne fremde Hilfe» seinen Verstand gebrauchen. Es ist eigentlich sehr einfach: Ein Geschöpf kann nicht gescheiter sein als sein Schöpfer, so kommentierte der berühmte Basler Zoologe Adolf Portmann einst kurz und bündig die Frage nach dem Denken des Computers.
Was ist mit uns Heutigen passiert, dass wir das kaum noch zu denken imstande sind? Mangel an Bildung? Dabei-sein-wollen? Gelten-wollen? Grössenwahn? Technikbegeisterung?
Warum ertönt angesichts dieser einfach einzusehenden Tatsachen des Lebens kein allgemeiner Aufschrei, wenn von der Macht gedungene dürftige Intellektuelle «in dürftiger Zeit» wie Harari uns Menschen durch Computer ersetzen will – und uns dadurch als Mittel zum Zweck degradiert und unserer Menschenwürde schändet?
Trotz alledem: Der Mensch ist «ein Zweck an sich». Kant und der europäische Humanismus’ haben recht: Wir Menschen haben keinen Preis, sondern eine Würde. Daher gilt für alle Menschen: «Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.»
Das gilt, vorstaatlich und überzeitlich, und einzig und allein, weil wir Menschen sind. Und daran lassen sich alle Theorien auf ihre Güte hin beurteilen. Basta. Um Thomas Fuchs abschliessend noch einmal zu Wort kommen zu lassen:
«Maschinen haben keine Werte. Wir können sie ihnen nur vorgeben und so tun, als hätten sie welche. Wir vergessen dabei, dass die Präferenzen bereits von uns selbst gewählt wurden. Das können wir zum Beispiel an den Fragen sehen, die Ethikkommissionen im Zusammenhang mit Elektroautos diskutieren. Soll man elektronische Autos so programmieren, dass sie, wenn zwei Verkehrsteilnehmer gefährdet sind, eher einen älteren Menschen totfahren oder ein Kind? Daran können Sie sofort sehen, dass ein elektronisches Auto niemals eine Entscheidung trifft. Es wird einfach dem Algorithmus folgen, nach dem es programmiert worden ist. Und über diesen Algorithmus entscheiden Menschen. Wenn wir also so tun, als würden wir einer künstlichen Intelligenz Entscheidungen überlassen, dann lügen wir uns in die Tasche und verbergen uns, dass wir oder mächtige Gruppen in der Gesellschaft es sind, die tatsächlich die Entscheidungen treffen.»[11]
[1] Kurt Marti. «Homo Deus»: «Humanisten» Hitler und Stalin. In: Info Sperber vom 30. Januar 2018
[2] Vgl. Holmes, Fiona (Buch und Regie). «Eine Maschine verändert die Welt» BBC 1946
[3] DER SPIEGEL, Nr. 28, 1950, S. 37
[4] DER SPIEGEL, Nr. 28, 1950, S. 38
[5] Neumann, John von. Entwicklung und Ausnutzung neuerer mathematischer Maschinen. Herausgegeben. von der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen. Köln und Opladen 1955, S. 8
[6] Tietel, Erhard. Das Zwischending. Die Anthropomorphisierung und Vermenschlichung des Computers. Regensburg 1995, S. 7
[7] Tietel, 1995, S. 7
[8] Günther, Gotthard. Das Bewusstsein der Maschinen. Krefeld & Baden-Baden 1963
[9] Fuchs, Thomas. Die Verteidigung des Menschen, Frankfurt/Main 2020, S. 72
[10] Fuchs, 2020, S. 73
[11] Hegglin, Magdalene. Verteidigung des Menschen. Ein Gespräch mit dem Philosophen und Psychiater Thomas Fuchs über Menschheitsträume, den Humbug digitaler Unsterblichkeit und die Bedeutung der Leiblichkeit. In: Tier, Mensch, Maschine, S. 68-73