Vom «besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik»

9. Oktober 2024

von Moritz Nestor

Am 16. April 2024 veröffentlichte «Tichys Einblicke» den Artikel von Marco Gallina: «Das Bundesverfassungsgericht watscht Faeser und Haldenwang ab». Die beiden Ampel-Politiker hatten den ehemaligen Bild-Chefredakteur Julian Reichelt vor das Berliner Kammergericht gezerrt und ihm mit einer einstweiligen Verfügung verboten, die Entwicklungshilfe der Ampel-Regierung zu kritisieren. Reichelt legte dagegen beim Verfassungsgericht Beschwerde ein – und bekam Recht!

Der Geist dieses Urteils lasse sich auf die kurze Formel bringen, so Gallina: Das Recht der Meinungsfreiheit ist vom Grundgesetz so stark geschützt, «weil es aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist.» Und: «Dem Staat kommt kein grundrechtlich fundierter Ehrenschutz zu.» [Gallina, 2024] Eine Watsche für den Präsidenten des Verfassungsschutzes Haldenwang, der immer wieder gesagt hatte, es gebe «Grenzen der Meinungsfreiheit». Meinungen könnten «unbeschadet ihrer Legalität […] verfassungsschutzrechtlich von Belang sein».

Die Begründung des Verfassungsgerichts ist lesenswert, eine Lektion in Staatskunde:

«Der Staat hat grundsätzlich auch scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Zwar dürfen grundsätzlich auch staatliche Einrichtungen vor verbalen Angriffen geschützt werden, da sie ohne ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Akzeptanz ihre Funktion nicht zu erfüllen vermögen. Ihr Schutz darf indessen nicht dazu führen, staatliche Einrichtungen gegen öffentliche Kritik – unter Umständen auch in scharfer Form – abzuschirmen, die von dem Grundrecht der Meinungsfreiheit in besonderer Weise gewährleistet werden soll, und der zudem das Recht des Staates gegenübersteht, fehlerhafte Sachdarstellungen oder diskriminierende Werturteile klar und unmissverständlich zurückzuweisen. Das Gewicht des für die freiheitlich-demokratische Ordnung schlechthin konstituierenden Grundrechts der Meinungsfreiheit ist dann besonders hoch zu veranschlagen, da es gerade aus dem besonderen Schutzbedürfnis der Machtkritik erwachsen ist und darin unverändert seine Bedeutung findet.» [Gallina, 2024]

Die Botschaft ist nicht neu. Gallina erinnert an ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2011, das ebenfalls feststellte, Meinungen seien geschützt,

«ohne dass es dabei darauf ankäme, ob sie sich als wahr oder unwahr erweisen, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind, oder ob sie als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und überzogen geäußert werden. Der Meinungsäußernde ist insbesondere auch nicht gehalten, die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen, da das Grundgesetz zwar auf die Werteloyalität baut, diese aber nicht erzwingt.» [Ebd.]

Das höchste Gericht hat damit den Bürger Reichelt stellvertretend für alle deutschen Bürger vor dem übermächtigen Staat BRD in Person des Verfassungsschutzpräsidenten und der Ministerin geschützt und ihm im Namen des Grundgesetzes «erlaubt», er dürfe auch mit «wertlosen», «unwahren», «unbegründeten», «emotionalen», «scharfen», «überzogenen» Meinungen Kritik am Staat äussern. Ja: Er habe auch nicht «die der Verfassung zugrunde liegenden Wertsetzungen zu teilen»!

Die Rehabilitation von Julian Reichelt bedeutet, dass den staatlichen Funktionären Haldenwang und Faeser höchstrichterlich verboten wird, das ihnen zur Verfügung stehenden Machtinstrumenten dahingehend zu missbrauchen, dass sie damit Andersdenkende verfolgen («beobachten»), weil diese der Regierung Unliebsamen die «Grenzen der Meinungsfreiheit», wie sie Haldenwang und Faeser herbeireden, überschreiten – obwohl sie nichts strafrechtlich Relevantes sagen.

Der deutsche Verfassungsschutz hatte einmal den Auftrag, extremistische Bestrebungen und Spionage von Gruppen (!) abzuwehren, die mit Gewalt den Staat umstürzen wollen. Heute «beobachtet» er Einzelne, die Dinge sagen, die zwar gegen kein Gesetz verstossen, aber der Regierung nicht gefallen. Diese Änderung seines Auftrags in Richtung Gesinnungsschnüffelei wurde 2022 in einem Verfassungsschutzbericht vollzogen. Darin heisst es: Die «Delegitimierungen des Staates» und die «Verächtlichmachung» von Politikern, sei eine «neue Demokratiebedrohung», die ab nun in die Kompetenz des Verfassungsschutzes falle. Der Verfassungsschutz erklärte ab da Meinungsäusserungen, Einstellungen, Gesinnungen und «unliebsame» Kritik an Staat und Regierung für staatsgefährdend «beobachtete» die ihnen unliebsamen Bürger, heisst: verfolgen.

Die Definition von «Delegitimierung des Staates» im Bericht des Verfassungsschutzes von 2022 ist mehr als skandalös: Die «Delegitimierung des Staates»

«erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden.» [Wendt, 2022]

Doch damit nicht genug: Wie schon 2022 Alexander Wendt in einem bemerkenswerten Artikel schrieb, übernahm der Verfassungsschutz, als er sich diesen neuen Zweck gab, nichts Geringeres als das Gesinnungsstrafrecht der untergegangenen DDR. Was nämlich bei Faeser und Haldenwang «Delegitimierung des Staates» heisst, ist nichts anderes als das, was Paragraph 220 des DDR-Strafgesetzbuchs «Staatsverleumdung» nannte:

«Wer in der Öffentlichkeit 1. die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen; 2. einen Bürger wegen seiner staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit, wegen seiner Zugehörigkeit zu einem staatlichen oder gesellschaftlichen Organ oder einer gesellschaftlichen Organisation verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe, Geldstrafe oder mit öffentlichem Tadel bestraft.» [Ebd]

Ab 1979 bestrafte die DDR wegen «Staatsverleumdung» – auf Ampel-Deutsch: «Delegitimierung des Staates» –, wer

«in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt». Ebenso «wer Schriften, Gegenstände oder Symbole, die geeignet sind, die staatliche oder öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen, das sozialistische Zusammenleben zu stören oder die staatliche oder gesellschaftliche Ordnung verächtlich zu machen, verbreitet oder in sonstiger Weise anderen zugänglich macht.» Ebenso «wer in der Öffentlichkeit Äußerungen faschistischen, rassistischen, militaristischen oder revanchistischen Charakters kundtut, oder Symbole dieses Charakters verwendet, verbreitet oder anbringt.» [Ebd.]

Ein solches Gesinnungsstrafrecht behandelt den Bürger als Untertanen, der wie einst am Hofe der absoluten Potentaten «dem Mandatsträger Achtung (schuldet), nicht umgekehrt. Er darf ihn nicht verächtlich machen, auch wenn er [der Mandatsträger, MN] sich noch so verachtenswert verhält». [Ebd.] Der Bürger allein trägt die Schuld, «wenn das Vertrauen in die staatlichen Institutionen schwindet, und nicht etwa an denjenigen, die diese Institutionen leiten.»[Ebd.] Wendt schreibt sich im Kommentarteil seines Artikels seinen Ärger von der Seele: In «keiner anderen Epoche gaben sich derart viele Repräsentanten wirklich jede erdenkliche Mühe, auch noch die letzten Reste von Amtswürde abzustreifen oder gar nicht erst anzunehmen. Die sozialen Medien […] können öffentliche Figuren heute so schnell verächtlich machen wie in keiner Generation vorher.»[Ebd.]

Warum solle man eine Politikerin nicht verachten dürfen, so Wendt, die «in einem ‘Deutschland du mieses Stück Scheiße’-Aufmarsch» mitwackelt? Man dürfe es «auch in Ordnung finden, dass diese ausgepichte Menschenwürdedröhnerin und Gefühlsbewirtschafterin sich an der antisemitischen Propaganda bei der Documenta in Kassel offenbar nicht stört. Aber keine, wirklich keine Macht der Welt kann einen Bürger dazu zwingen, diese Politikerin zu achten.»[Ebd.]

Eigentlich sei es für Politiker ganz einfach, der Verachtung zu entgehen.

«Seien Sie nicht korrupt. Treten Sie bei Erhebung einer Anklage zurück. Ziehen Sie sich ordentlich an. Reden Sie nur nüchtern in eine Kamera. Verachten Sie das Land und seine Bürger nicht, die Ihre Diäten zahlen. Bezeichnen Sie Bürger nicht als […] Demokratiegefährder, nur weil sie anders meinen und reden, als es Ihnen und Ihrer Partei gerade gefällt. […] Sagen Sie nicht wissentlich die Unwahrheit. […] denken Sie immer daran, dass Sie den Bürgern dienen, nicht umgekehrt […] In aller Kürze: Benehmen Sie sich. Dann klappt es wahrscheinlich auch mit der Achtung.» [Ebd.]

Oder mit Karl Valentin gesagt: «Es ist schon alles gesagt, nur noch nicht von allen.»

 

Quellen

Gallina, Marco. Das Bundesverfassungsgericht watscht Faeser und Haldenwang ab. In: Tichys Einblicke vom 16. April 2024
Wendt, Alexander. Vergebung und Unverzeihlichkeit im Zeitalter Angela Merkels. In: Publico vom 14. Februar 2020
Wendt, Alexander. Wie ein DDR-Paragraph neu auflebt … In: Tichys Einblicke vom 14. Juni 2022

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