Warum der kranke Mensch mehr ist als geschädigte Materie

14. April 2016 Dr. med. Karen Nestor und M.A. & lic. phil Moritz Nestor

Vortrag am Ostschweizer Palliativtag «Palliative Care gestalten»
in Appenzell am 14. April 2016

 

Dr. med. Karen Nestor

Liebe Karin Kaspers, lieber Vorstand Palliative Ostschweiz, liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren

Wir danken sehr herzlich für die Einladung, am diesjährigen Palliativtag unser Seminar «Philosophie und Medizin» vorzustellen.

Vor ungefähr einem Jahr haben wir ein Projekt ins Leben gerufen, im Geist des Palliativzentrums St. Gallen, unter dem Titel: „Philosophie und Medizin“. Die Initiative dazu ging von Daniel Büche aus; wir begannen das Seminar im Januar vor einem Jahr 2015 und haben bislang zwei Zyklen durchgeführt. Ziel dieses Seminar war von Anfang an eine praktische Ausrichtung: Das Seminar sollte kein elitärer Zirkel sein, bei dem allein schöngeistiges Wissen im «Elfenbeinturm» vermehrt wird, sondern es sollte einen praktischen Bezug zu unserer täglichen Arbeit haben und uns bei unserer Selbstreflexion und persönlichen Weiterentwicklung helfen.  Philosophie – Freundschaft zur Weisheit – als Verbündete im Alltag.

Warum Philosophie und Medizin? Beide Wissenschaften waren früh eng miteinander verbunden und haben sich mit der «Vernaturwissenschftung» der Medizin auseinander entwickelt.

Dabei spielt die Philosophie in verschiedenen wesentlichen Aspekten der Medizin eine Rolle, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht:

Jeder von uns hat – reflektiert oder nicht – ein Menschenbild, welches eine wesentliche Rolle in der Begegnung und Behandlung von Patienten spielt. Jeder von uns hat Vorstellungen vom «richtigen Handeln», dem eine Vorstellung von Moral und Ethik zugrunde liegt – ob reflektiert oder nicht.

Im Seminar «Philosophie und Medizin» erarbeiten wir uns verschiedene Auffassungen – Theorien – vom Menschen und seiner Stellung in der Natur. Damit einher geht die Reflexion jedes einzelnen, inwiefern diese Theorien sein eigenes Menschen- und Weltbild beeinflussen, er kann überprüfen, ob er es beibehalten, erweitern oder korrigieren möchte.

Mein Mann wird nachher noch inhaltlich die bisher behandelten Autoren darstellen.

Bei der Auseinandersetzung mit den Autoren gehen wir immer von der anthropologischen Grundauffassung des Autors aus, also seiner Auffassung vom Wesens des Menschen, der Natur des Menschen. Vor diesem Hintergrund wird dann herausgearbeitet, wie der Mensch  zum Mitmenschen, also einer eigenständigen, kooperationsfähigen Persönlichkeit werden kann, welche Bedingungen er dafür braucht. Es ist faszinierend zu sehen, wie sich aus diesen Grundauffassungen über die conditio humana, die Bedingung des Menschseins, Folgerungen für alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens ergeben:

«Wie gestalten wir das Zusammenleben in der Familie?» «Wie erziehen wir unsere Kinder?» «Welche Schule brauchen unsere Kinder für die Gestaltung der Demokratie?» «Wie gestalten wir unsere Gemeinde, unseren Staat?» «Welche Form der Ökonomie entspricht dieser Form des Zusammenlebens?»

Mit diesen Fragen befinden wir uns unweigerlich mitten in der abendländischen Tradition der Philosophie, wie zu Zeiten von Aristoteles begründet wurde. Wir befinden uns aber genauso in unserem Arbeitsalltag, in dem sich die Fragen «Was ist der Mensch? Was braucht der Mensch?» bei jedem einzelnen Patienten, den wir sehen, stellen.

Gerade – aber nicht nur – in der Palliative Care, sehen wir dabei, dass die heute propagierte «Checklistenmedizin», in der sich scheinbar jedes Problem durch Befolgung eines Algorithmus mühelos lösen lässt und der Arzt durch einen Computer, die Pflege durch einen Pflegeroboter kostengünstig ersetzt werden kann, am Mensch mit seiner Natur und seinen Fragen vorbeigeht.

Im Zentrum jeder Behandlung, die selbstverständlich nach allen Regeln der Kunst durchgeführt werden soll, steht ein einzigartiger Mensch, der erfasst werden will, der verstanden werden will, der sich danach sehnt, dass man ihm zuhört, dass er das bekommt, was wesentlich ist für den Heilungs- und Linderungsprozess: die ungeteilte Aufmerksamkeit eines Menschen, der einen tief im Innern erfasst und versteht – und der etwas weiss über sein Leiden und vielleicht einen Ausweg weiss.

Einen Haufen Steine kann man in zwei Haufen Steine teilen. Ein Kranker ist eine unteilbare Person, die sich gerade dann unerbittlich meinem diagnostischen Blick entzieht, wenn ich ihn auf sin Symptom reduziere und nicht das Symptom als Teil des unteilbaren ganzen Menschen sehe, der da mit mir in Beziehung tritt: Können Sie mir bitte helfen?

Cicerly Saunders hat genau dieses Problem im Konzept des total pain beispielhaft verdeutlicht.

Mein eigenes Menschenbild hat wesentliche Auswirkung darauf, ob diese Beziehungsgestaltung, die eben viel mehr ist als «Kommunikation», gelingt. Sehe ich die Trauer eines Menschen allein als chemisches Ungleichgewicht der Neurotransmitter an, werde ich versuchen, dieses Ungleichgewicht medikamentös wiederherzustellen und der erlösenden Frage – wie geht es Ihnen? nicht stellen. Und ich werde meiner mitmenschlichen Anteilnahme zu wenig Gewicht beimessen.

Wenn ich einem psychotischen oder deliranten Menschen gegenübertrete mit dem Bild, diese sei in seinem Zustand nicht beziehungs- und übertragungsfähig, werde ich weder seine Angst erkennen noch meine Möglichkeit, ihn alleine durch mein Verständnis zu beruhigen.

Wenn ich nicht verstehe, dass  die Beziehung zwischen mir und dem Patienten ein ebenso wirkungsvolles Werkzeug sein kann wie ein Medikament oder das Skalpell des Chirurgen, dann verstehe ich auch nicht, dass die lebenslange Arbeit an mir, an meiner Persönlichkeit, meine «Selbsterziehung» (als Fortsetzung der Fremderziehung vgl. Sokrates, Konfuzius) genauso zu meiner lebenslangen Weiterbildungspflicht gehört wie die fachspezifische. In den Ärztegenerationen vor uns haben viele ihr ganzes Berufsleben hindurch mit diesen Fragen gerungen, z. B. in Balintgruppen, die heutzutage nicht mehr existieren und vielen Jüngeren unbekannt sind.

Es wird erkennbar, dass die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen unmittelbar zu den ureigensten persönlichen Fragen führt und damit fliessend in psychologische Fragen übergeht.

Neben den Fragen der Beziehungsgestaltung stellen sich im Berufsalltag aber auch zahlreiche ethische Fragen, deren Lösung wir uns stellen müssen, die wir nicht an professionelle Ethiker oder Kommissionen delegieren können.

Die Auseinandersetzung mit den philosophischen Grundlagen soll auch helfen, einen eigenen inneren Massstab zu entwickeln, ein «Moralometer» wie es Ottfried Höffe, der frühere Präsident der Nationalen Ethikkommission  in seinem Artikel «Philosophische Ethik – Fels in der Brandung oder Fähnlein im Winde» genannt hat.

Die kritische Auseinandersetzung mit Menschenbildern aus den Humanwissenschaften im Seminar «Philosophie und Medizin» soll auch in diesem Sinne nicht Selbstzweck bleiben, sondern jedem einzelnen helfen, Kriterien zu entwickeln, wie Auffassungen über das Wesen des Menschen auf ihre nützlichen bzw. schädlichen Aspekte hin beurteilt werden können.

Mein Mann wird Ihnen jetzt einen inhaltlichen Überblick über die beiden bisherigen Zyklen geben:

Den nächsten, den dritten Zyklus möchten wir dem Thema «Erkennen und Handeln» widmen und dabei anhand verschiedener Beispiele erarbeiten, wie in der Philosophie Erkenntnis gewonnen werden kann als Grundlage des Handelns.

Wir möchten alle einladen, am Donnerstag, den 28.04.16 im Palliativzentrum Haus 33 KSSG, an diesem Seminar teilzunehmen. Flyer sind am Stand von palliative Ostschweiz erhältlich.

Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 


 

M.A. & lic. phil. Moritz Nestor

Geschätzte Anwesende, ich möchte mich anschliessen an das, was meine Frau zu unserem Seminar gesagt hat. Sie hat erwähnt, dass die Philosophie im Alltag von Medizin und Pflege bei genauerem Hinsehen eine entscheidende Rolle spielt. Ich würde es sogar zuspitzen, das geht eigentlich aus ihren Worten auch hervor, dass die Philosophie in der Medizin eine sehr entscheidende Rolle, wenn nicht sogar die entscheiden Rolle spielt. Denn keine naturwissenschaftliche Anwendung, keine naturwissenschaftliche Erkenntnis kann dem Arzt sagen, wie er handeln soll in der menschlichen Beziehung.

Ich erlebe, und das sage ich jetzt eben nicht nur als Philosoph, sondern vor allem auch als Psychologe, ich erlebe das in der Praxis seit Jahren immer häufiger, als es sowieso schon immer vorgekommen ist: Menschen, die von Praxis zu Praxis wandern, weil sie sich nicht verstanden fühlen. Nicht weil die Diagnose nicht stimmen würde, sondern weil irgendwo der Dialog zwischen Arzt und Patient misslingt – aus den verschiedensten Gründen. Diese Zahl nimmt leider, muss man sagen, sehr zu.

Wenn man, damit komme ich wieder auf den Philosophen zurück, nur schon von dem Begriff her denkt, dann hat das Wort Philo-sophie im Griechischen zwei Teile: Der philos ist der Freund, der Liebende, und sophia ist die Weisheit. Philosophia ist die Liebe zu Weisheit. Wenn man zum Wort Weisheit überlegt, was man dabei denkt, dann geht es vielen so wie jemandem aus unserem Seminar, der sich spontan fragte: „Verstehe ich das?“

Das griechische Wort sophia, die Weisheit, hatte aber bei den Griechen eine, andere, weitere Bedeutung. Es war ein grundsätzlicher Begriff für jede Fertigkeit und Sachkunde, also auch handwerkliche, also auch technische Sachkunde. Nicht nur das Denken im engeren Sinn, das „Gescheitsein“, wovor die vorhin zitierte Teilnehmerin Angst hatte, wenn sie fragte: Verstehe ich das?

Das erstaunt manchen heutigen Menschen schnell. In den Augen der alten Griechen wären wir Menschen in den heilenden Berufen, die jedoch schnell einmal denken, wir hätten mit Philosophie nichts zu tun, allesamt Philosophen, Liebende, Freunde der Weisheit, der Sachkunde. Jeder in seinem Bereich. Die Sophia, die Fertigkeit, die Sachkunde des Arztes ist das, was er über die Natur des Menschen weiss und was er zum Erhalt des Lebens gelernt hat. Und wenn er das mit ganzem Herzen tut, dann ist er ein Freund seiner Sachkunde, dann ist er eben „ärztlicher Philosoph“, etwas frei übersetzt, ein Freund der ärztlichen Fertigkeit und Sachkunde.

Und dazu muss immer das treten, was meine Frau jetzt ausgeführt hat: Menschenkunde. Ohne die Kunde über den Menschen ist alles naturwissenschaftliche Wissen, sind alle Techniken und Behandlungsprogramme auf Sand gebaut. Frau Kaspers hat das ja auch schon in ihren einleitenden Worten erwähnt.

Der Philosoph Immanuel Kant hat einmal die vielen Fragen der Philosophie auf vier Grundfragen zurückgeführt. (1) «Was kann ich wissen?» Das beschäftigt jeden in seinem Beruf. Was muss ich wissen. (2) «Was soll ich tun?» Die Frage der Moral, der Ethik. Was ist ein gutes Leben? (3) «Was darf ich hoffen?» Die Frage der Religion und (4) «Was ist der Mensch?» oder «Wer ist der Mensch?» Und Kant hat gesagt, diese letzte Frage, «Wer ist der Mensch?», ist die Kernfrage, die über alle anderen Fragen entscheidet.

Deswegen haben wir sehr bewusst im ersten Zyklus unseres Seminars die Frage der Anthropologie gestellt, die Frage nach dem Menschen: Anthropologie ist die Lehre vom Menschen. Was ist der Mensch? Woher kommt er? Wohin geht er?

Damit haben wir auch ein etwas vermintes Feld betreten. Denn seit den Sechzigerjahren des Zwanzigsten Jahrhunderts haben die Soziologen sehr versucht, die Anthropologie in den Hintergrund zu drängen. Das hat politische Gründe, die ich nur antippen will. Jeder kennt das vielleicht auch aus seiner Lebensgeschichte. Ich erwähne nur einige Stichworte: Frankfurter Schule, Marxismus, Freudianismus usw. Der Mainstream unter den Soziologen hat über lange Jahrzehnte versucht, das Denken über den Menschen damit zu dominieren, dass er behauptet hat, der Mensch sei rein gesellschaftlich bestimmt.

Die Haltung der Anthropologie des Zwanzigsten Jahrhunderts ist klar: Der Mensch besteht natürlich aus beidem, aus Natur und aus Gesellschaft/Kultur. Man kann ihn nicht auf Materie reduzieren oder auf Gesellschaft. Das dürfte jedem in seinem Berufsfeld sehr klar erscheinen.

Diese Dominanz der Mainstreamsoziologen bekommen wir zur Zeit zum Beispiel zu spüren in einem immer stärkeren ökonomischen Druck im Gesundheitssystem. Ich habe, um das zu veranschaulichen, ein Zitat ausgesucht aus einem Arbeitspapier der Stiftung Careum in Zürich. In diesem Arbeitspapier, das den Titel trägt «careum working paper 2» und aus dem Jahr 2009 stammt, beginnt das Kapitel «2.6 Transparenz der Performance versus Therapiefreiheit» auf Seite acht mit den beiden folgenden Sätzen:

«Zukunftsfähigkeit erfordert einen fundamentalen Wandel in der therapeutischen Beziehung. Die individuelle Arzt- bzw. Therapeutenbeziehung wird dahingehend normalisiert, dass sie, wie andere Dienstleistungen im Gesundheitswesen grundsätzlich den Gesetzmässigkeiten der Waren- und Konsumwelt folgt.»[1]

Im Umgang mit dem Menschen, der bei mir Hilfe sucht soll ich also – Ich übersetze das einmal für meinen Beruf – als Psychologe von den Gesetzen der Warenwelt ausgehen, heisst Angebot und Nachfrage. Ich soll Anbieter, nicht mehr Therapeut sein auf einem Markt, wo ich kostengünstig und damit konkurrenzfähig arbeiten soll. Gesundheit ist nun eine Ware. Könne Sie sich darunter etwas vorstellen? Und der Hilfesuchende soll Kunde, Konsument auf dem Gesundheitsmarkt sein, wo er das kostengünstigste Angebot der Ware Gesundheit suchen soll. Wenn ich einen Kranken nur als Kunden am Markt sehe, verschwindet er als Mensch. Das aber wird von den Autoren als „neue Medizin“ verstanden:

«Dies ist ein Übergang von der „alten Medizin“ zur „neuen Medizin“: im etablierten Selbstverständnis der akademischen Medizin … gibt es eine (paternalistische) Einzelbeziehung, die eine Vertrauensbasis hat, die keine weitergehende Vertrauensbildung erfordert.»[2]

Dem Menschen, der bei mir Hilfe sucht, wird durch solches Denken etwas Unmenschliches abverlangt, was ein leidender Mensch gar nicht kann: Dass er sich auf diesem Massenmarkt vollumfänglich über alle Angebote informieren kann und an alle Informationen herankommt, um möglichst den besten und kostengünstigsten Anbieter auf dem Markt zu bekommen – damit es ihm eben gut geht. Das kann ein Kranker gar nicht. Er ist der geschwächte Leidende, der sich nicht lange und breit informieren kann.

Und damit komme ich zum letzten Satz aus diesem Abschnitt:

«Die „neue Medizin“ ist dagegen ein kostenintensiver Massenmarktmit … In der hoch standardisierten Versorgung geht es nicht um Handwerk oder Kunst, sondern um nachvollziehbare Leistungsbeschreibung. Entsprechend ist eine therapeutische Beziehung obsolet, die auf einer individualistischen Konzeption und klinischem Purismus basiert.»[3]

Wenn das Wirklichkeit wird, dann verliert die Medizin ihre menschliche Dimension.

Und das ist der tiefere ethische Sinn unseres Seminars: Wenn wir die Haltung, die in diesem Papier zum Ausdruck kommt, zur Grundhaltung der im Gesundheitswesen Arbeitenden machen würden, wenn wir also statt der Arzt-Patient Beziehung nur noch Wirtschaftlichkeitskriterien gelten lassen, und kranke Menschen wie Kunden abfertigen, – effizient kostengünstig -, dann geht der Mensch unter. Dann nehmen die Fehldiagnosen zu, die Chronifizierungen werden mehr werden, die Mehrfachbehandlungen werden mehr werden.

Was das Konzept dieser «neuen Medizin» mit ihrem «kostenintensiver Massenmarkt» verspricht, dass alles nämlich billiger werde, wird in sein Gegenteil verkehrt werden: Es wird teurer werden!

Wir haben diese Untersuchungen bereits schwarz auf weiss, wo man nachgewiesen hat, dass mit mehr ökonomischer Zentralisierung alles teurer wird, statt billiger. Es liegt eine Fehlannahme in dieser Ökonomisierung-Ideologie, nämlich dass der Schwache, der Patient, der ja Hilfe sucht, angeblich ein Starker sei, der sich mit reiner Vernunft umfassend orientieren und frei entscheiden kann, was die beste und billigste Lösung für ihn sei. Er braucht nur noch einen Gatekeeper, der ihm sagt: «Das und das und das kannst Du wählen.» Es ist ein völlig irreales Modell. Das übrigens auch nicht in der Volkswirtschaft nicht funktioniert. Das sehen wir ja heute an allen Ecken und Enden.

Wir haben eben aus diesem Grund am Anfang des Seminars die Frage nach dem Menschen gestellt: Was ist der Mensch? Woher nehmen wir als Psychologen, als Pädagogen, als Ärzte, Krankenschwester, als Physiotherapeuten, usw., woher nehmen wir unser Wissen vom Menschen und was ist dieses Wesen?

Wir haben an den Anfang dieser Betrachtungen zur Anthropologie den grossen Schweizer Zoologen und Anthropologen Adolf Portmann gestellt. Portmann ist leider heute sehr in Vergessenheit geraten. Man findet in den Lehrbüchern die Hinweise, aber immer nur zu der Kleinkindentwicklung, dann hört es bald auf. Dabei gehört Adolf Portmann im 20. Jahrhundert – neben Max Scheeler, Arnold Gehlen, und Plessner, die mehr von der philosophischen Seite her kommen -, zu den bedeutendsten Anthropologen. Diese Namen begründen eigentlich die moderne personale Anthropologie.

Portmann hat etwas politisch, aber vor allem auch menschlich Entscheidendes: Er hat immer betont, dass der Forscher, wenn er über den Menschen forscht, natürlich in die Tiefen gehen muss. Dass er bis in die kleinsten Details der Zellen und der Zusammenhänge vordringen und die Zusammenhänge erforschen muss, dass er aber dann nicht stehen bleiben darf. Das Detailwissen – Sie erinnern sich an das Beispiel vom Haufen Steine, das meine Frau vorhin erwähnt hat – sind wichtig. Aber der Forscher darf nicht stehenbleiben beim Detail und denken: Jetzt hab ich’s. Portmann sagt: Er muss die «Blende wieder aufmachen». Er muss das, was er gefunden hat, in ein Gesamtbild des Menschen einbauen können.

Das erscheint den meisten von uns wahrscheinlich als selbstverständlich, wir reden von ganzheitlicher Betrachtung. Und doch ist Portmanns Hinweis, wenn man die Forschungs- und Bildungsinstitutionen anschaut, sehr in den Hintergrund getreten. Es wird heute unter Ganzheitlichkeit oft etwas verkauft, was eigentlich nicht mehr viel mit dem zu tun hat, was Portmann meinte.

Portmann meint mit dem «Gesamtbild», in das die Einzelbefunde eingeordnet werden müssen, etwas ganz anderes. Das hebt ihn ab von vielen anderen Anthropologen, Soziologen und Philosophen. Er hat nämlich gesagt: Wir müssen, wenn wir den Menschen untersuchen, immer zusammendenkend fragen: (1) Wie sind Aufbau und Funktion dieses Organismus? Das gilt für alle Tierarten, und ich reihe jetzt den Mensch einmal etwas despektierlich ein in die Natur. Das erscheint jedem Biologen sofort logisch. (2) Wir müssen dabei immer mitdenken, dass dieser Organismus mit diesem Körperbau, mit der Entwicklung dieses Gehirns, dieser Art untrennbar verbunden ist mit einem arteigenen Verhalten dieser speziellen Art. (3) Dieses arteigene Verhalten und der Körperbau ist bei jeder Gattung untrennbar verbunden mit einer jeweils arteigenen Ontogenese, mit einer je eigenen Entwicklung des einzelnen Lebewesens von der Geburt bis zum Erwachsenenalter. Und ebenso wichtig ist: (4) Alle Befunde über den arteigenen Körperbau und seine Funktionen, das arteigene Verhalten und die arteigene Ontogenese müssen zusammenpassen mit der Phylogenese, der Stammesgeschichte dieser Art in der Naturgeschichte, der Evolution des Lebens. Es muss alles zusammenpassen.

Wir erleben leider immer wieder, dass der eine nur das arteigene Verhalten betrachtet und annimmt, alles beruhe auf Erbkoordinationen. Konrad Lorenz ist ein Beispiel dafür. Andere dringen ins Gehirn hinein und sagen: Wir können dem Gehirn beim Denken zuschauen. Dabei haben sie nur Blutdruckschwankungen gemessen. Andere betrachten nur die Kindheitsphase und sagen: Damit haben wir den Menschen erfasst, sie haben wesentliche Teile erfasst, stimmt. Aber es besteht immer die Gefahr, den Teil für das Ganze zu nehmen und den grossen Zusammenhang zu vergessen: Organismus, arteigenes Verhalten, Ontogenese und Phylogenese müssen zusammenpassen.

Das ist der grosse und leider vergessen gegangene Zusammenhang, den Portmann in den Jahrzehnten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg herausgearbeitet hat. Mit dieser Haltung hat sich Portmann nie vom Rassenwahn der sozialdarwinistischen Anthropologie im Europa seiner Zeit infizieren lassen, der in Nazi-Deutschland so verheerend gewirkt hat.

Das hat dazu geführt, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Französische Besatzungsarmee in Süddeutschland Portmann eingeladen hat, bei der Reorganisation der Universitäten in Freiburg und Tübingen mitzuwirken, um die alten Einflüsse aus der rassistischen Anthropologie, Zoologie und aus dem Sozialdarwinismus aus der Universität zu entfernen. Sie haben eben gewusst: Portmann ist sicher in der Forschung und im Menschenbild.

Was man von Portmann vielleicht am ehesten heute noch kennt, ist die Rede von der «normalisierten Frühgeburt» und vom «extrauterinen Frühjahr». Portmann hat gesehen, und das ist eben so faszinierend an ihm, Portmann hat gesehen, dass das erste Lebensjahr des Menschen unter biologischen Bedingungen verläuft, wie sie eigentlich im Mutterleibe stattfinden. Alle anderen Säugetiere kommen in einem Entwicklungsstadium zur Welt, das in etwa dem Zustand entspricht, das der Mensch erreicht, wenn er ein Jahr alt ist. Dieses erste Lebensjahr verbringen die anderen Säugetiere im Mutterleib. Wenn ein kleines Fohlen auf die Welt kommt, dann hat es die Proportionen eines erwachsenen Pferdes: Es kann ein paar Stunden nach der Geburt stehen und gehen, was das Menschenkind erst nach einem Jahr, eben dem «extrauterinen Jahr» beginnt zu lernen. Das Fohlen kann wiehern, hat seine arteigenen «Kommunikationsmittel», zum Beispiel das Wiehern. Das Menschenkind beginnt erst am Ende des «extrauterinen Erstjahrs» mit dem Erlernen des Sprechens. Das kleine Fohlen folgt der Mutter nach, es braucht nicht erwachsenes Pferd in dem Sinn werden, dass es erst eine unvollkommene Form hat, und dann eine vollkommene Form entwickelt, sondern es ist eben ein kleines Pferd, das grösser wird. Es braucht nur noch die Milch und Zuwendung und Schutz der Mutter, das ist der einzige Unterschied zum erwachsenen Pferd. Und so sind alle höheren Säugetiere.

Nur das Säugetier Mensch kommt sozusagen ein Jahr «zu früh» zur Welt. Aber das ist eben gerade das einzigartige Kennzeichen seiner Art. Portmann hat diese Tatsache deswegen «normalisierte Frühgeburt» genannt. Er kommt nicht weitgehend fertig zur Welt wie das Fohlen im Beispiel, sondern «weltoffen».

Das Interessante ist ja, dass in diesem ersten Lebensjahr ein rasantes Längen-, Grössen-, und vor allem Wachstum des Gehirns stattfindet, ein Entwicklungstempo, das schon im Mutterleib stattgefunden hat und bis zum Ende des ersten Lebensjahrs anhält, um sich dann zu verlangsamen. Das Gehirn, das bei Geburt schon am weitesten entwickelt ist, – das Organ also, nur nebenbei gesagt, mit dem wir später Philosophie betreiben! – entwickelt sich nachgeburtlich bis zu einem Stadium am Ende des ersten Lebensjahres, wo es erst dann mit dem Lernen des aufrechten Ganges, des Sprechens und vor allem des einsichtigen Denkens beginnen kann –also mit all dem, was die anderen höheren Säuger mehr oder minder bei Geburt schon können.

Aber diese Gehirnentwicklung im ersten Lebensjahr unter biologischen Reifungsgesetzen wie im Mutterleib findet nicht wie bei den anderen höheren Säugern im Mutterleib unter rein biologischen Bedingungen statt, sondern im frühen Kontakt mit der sozialen Umgebung.

Das heisst, dieses wichtigste Organ, womit alles gesteuert und bewegt wird, entwickelt sich ein Jahr lang in menschlichen Beziehungen und ist völlig abhängig von der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen, die der Zoologe etwas trocken «Sozialkontakt» nennt. Das restliche Ausreifen des Gehirns bis zu seiner ersten vollen Funktionsfähigkeit ist untrennbar mit Lernen verbunden. Portmann sagt: Es ist ein «reifendes Lernen und ein lernendes Reifen».

Das zeigt die Sonderstellung des Menschen, dass seine Entwicklung nämlich nicht einfach ein Ausreifen ist, sonders dass die Entwicklung der menschlichen Anlagen wie bei keiner anderen Art unter sozialen Gesetzen verläuft und davon existentiell abhängig ist. Es ist ein fast völlig instinktreduziertes Wesen mit «offenen Anlagen», die durch Lernen in sozialen Beziehungen zu den ersten Mitmenschen in der Familie ausgebildet werden. Das Menschenkind ist ein im höchsten Masse erziehungsbedürftiges und erziehbares Wesen.

Alles kommt darauf an, wie die Beziehungsgestaltung zwischen der Kultur, den Eltern, der Familie und diesem werdenden Leben sich vollzieht. Und jeder kann sich ausmalen was mit einem Kind passiert, das ohne emotionale Beziehung aufwachsen soll. Das heute allen Ortes propagierte «selbstgesteuertes Lernen» widerspricht allen Gesetzen der Anthropologie. Wir haben die traurigen Bilder aus der Entwicklungspsychologie von Rene Spitz, die gezeigt haben: Wenn die Beziehung zu Mutter wegfällt, stirbt das Kleinkind trotz bester physikalischer und biologischer Versorgung innerhalb kürzester Zeit an Beziehungsmangel («sozialer Deprivation»).

Am Ende des ersten Lebensjahrs verlangsamt sich also das Wachstum des Kindes, es wird erst wieder in der Pubertät schneller. Und genau in diesem neuen Zustand, der am Ende dieses ersten Jahres erreicht ist, beginnt der Mensch drei Dinge zu lernen: den aufrechten Gang, das Sprechen, das einsichtige Denken. Wir haben also zu diesem Zeitpunkt das erste Mal das arteigene Verhalten des Menschen erreicht. Vorher entwickelte sich dieses kleine Wesen bereits im Sozialkontakt, in den Familienbeziehungen, wo es völlig darauf angewiesen ist, wie die Welt dieses Kind entgegen nimmt, auf es reagiert, es versteht und imstande ist, die «weltoffenen Anlagen» des Kindes in Richtung Mitmenschlichkeit zu erziehen.

Nur noch ein paar Worte zum Körperbau des Kleinkindes am Ende des ersten Lebensjahres: Die Beinchen sind proportional viel kürzer als beim Erwachsenen. Das hat seinen guten Sinn. Hätte das Einjährige die Körperproportionen wie ein Erwachsener, dann hätte es derart lange «Stelzen», dass es darauf gar nicht laufen könnte.

Was aus all dem für Schlüsse gezogen werden können, hat Portmann zusammengefasst in dem Begriff der «Weltoffenheit». Der Mensch kommt zur Welt und seine Anlagen reifen nicht einfach aus. Sein Werden ist nicht einfach biologisches Geschehen, sondern immer unter das Gesetz des Sozialen gestellt. Er ist kein «animalischer Brocken», dessen biologische Bedürfnisse und Triebe befriedigt werden müssen, wie bei einem Pflänzchen, das Wasser und Dünger braucht und dann von alleine wächst. Menschliche Beziehungen und Liebe würden dann (sekundär) durch gute Bedürfnis- bzw. Triebbefriedigung entstehen. Die «Antipädagogik» und das «selbstorganisierte Lernen» gehen von solchen (falschen) Annahmen aus.

Sondern es ist ein Wechselspiel zwischen diesen «weltoffenen», heisst bildbaren und bildungsbedürftigen sozialen Anlagen und der Kultur, in die das Kind hineinwächst. Die Anlagen zum Sprechen hat jedes Kind, aber es lernt eben in Frankreich Französisch und in China chinesisch, mit den gleichen Sprechwerkzeugen und dem gleichen Gehirn.

Das heisst, die Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen ist immer eine personale Entwicklung. Es ist von Geburt an ein kleines, höchst eigenaktives «Persönchen», das von Anfang an, lernender Mitspieler ist in diesem Prozess der Menschwerdung; in deren Verlauf aus dem Persönchen nach 15 bis 20 Jahren eine eigenständige Person wird.

Der Mensch ist darum im Vergleich zu anderen Tierarten, ich habe es schon erwähnt und wiederhole es, da es so wichtig ist, ein wie keine andere Art extrem bildbares und erziehbares Wesen.

Und noch etwas: Jede Tierart, sagt Portmann, hat eine bestimmte, relativ feste Umgebung. Der Eisbär aus Grönland könnte am Äquator nicht existieren und würde zu Grund gehen. Der Mensch kann sich an alle, selbst die extremsten Bedingungen der Natur anpassen, indem er Kultur schafft.

Er kann ohne Kultur überhaupt nicht Mensch werden. Immer in der langen Stammesgeschichte der Menschheit trat der Mensch in Gruppen auf, die Kulturen mit Traditionen schufen, um das Leben durch Weitergabe von Wissen und Erfahrung immer besser zu schützen. Eine Kultur ist für den Menschen wie eine «zweite Natur». Die erste Natur sind seine weltoffenen sozialen Anlagen. Die kann er aber nur entwickeln in der Gemeinschaft mit Menschen – eben in schützenden Kulturen. Er kann nur Mensch werden in und durch die Gemeinschaft mit Menschen. So ist die Gattung Mensch in der Evolution geworden. Aus diesem im höchsten Masse bedürftigen Naturzustand folgt bereits ein wichtiges moralisches, sozialphilosophisches Grundgesetz: nämlich das Gemeinwohlprinzip.

Das allgemeine Wohl des Menschen beginnt dort, wo der Mensch sich in Gemeinschaft und durch diese Gemeinschaften frei zum Menschen entfalten kann. Schlussendlich ist das das Entwicklungsprinzip, das dem Entstehen der freien, selbstbestimmten Gemeinden zugrunde liegt.

Von diesen anthropologischen Grundfragen sind wir ausgegangen und haben uns jeweils gefragt: Was folgt daraus – sowohl für den einzelnen Menschen, aber auch für die Familie, für die Schule und dann für das Gemeinwesen und für den Staat schlussendlich.

Noch etwas zeigt dieser anthropologische Blick auf das Wesen Mensch: Dieses kleine hilflose bedürftige Wesen, das so lange und so grundsätzlich auf die pflegende Beziehung seiner Mitmenschen angewiesen ist, könnte niemals überleben, ja die Menschheit hätte nie überlebt, hätte dieses kleine Wesen nur Triebe, wenn es anfängt in die Welt hineinzuwachsen. Schon gar nicht hätte die Menschheit überleben können, wenn dieses Kleine einen Aggressionstrieb hätte, der aus ihm periodisch ausbrechen würde, wie Lorenz das 1968 propagiert hat, das «sogenannte Böse», eine Anlage, die spontan, ohne kulturelle Einflüsse aus ihm heraus bricht und die man «herauslassen» müsse in Form von Fussball und von Krieg.

Im Gegenteil, dieses kleine Wesen ist ein höchst kooperatives Wesen, das von Anfang an auf die Beziehung zu seinem Mitmenschen angelegt ist. Es hat ein Bedürfnis nach Beziehung zu den anderen Menschen. Und das Grundlegendste und Wichtigste sind dabei Fürsorge und Liebe. An Anfang des Lebens steht nicht Triebbefriedigung, sondern Mutterliebe und Fürsorge. Und zeitlebens ist die Entwicklung des Menschen unter dieses Gesetz gestellt.

Was der Mensch an körperlichen Bedürfnissen hat, wird immer überformt von der Art und Weise der sozialen Beziehungen und den Werten der Kultur. Das ist das, was wir unter Kultur verstehen. Kultur (lat. cultus = Pflege) ist nichts anders als diese Gestaltung der Art und Weise der Bedürfnisbefriedigung. Kulturen haben zum Beispiel Esskulturen hervorgebracht, Traditionen, wie das Bedürfnis Hunger gestaltet wird. So entstehen auch die verschiedenen Sprachen usw.

Alles, was wir an kulturellen Erscheinungen kennen beruht auf der typischen Art des Menschen, das Leben zu schützen durch Gemeinschaft.

Von diesem Grundgedanken aus haben wir dann die Frage aufgeworfen: Was heisst das jetzt für die Arzt-Patient-Beziehung? Was muss der Arzt – das gilt auch für den Psychologen, eigentlich für jeden Menschen aus helfenden Berufen –, was muss ich beachten, wenn ich mit Menschen in Beziehung trete? Meine Frau hat dazu im Anfang Entscheidendes gesagt.

So sind wir dann auch zu Fragen gekommen: Was bewirken kulturelle Einflüsse in der Familie, zum Beispiel bizarre Sexualität, Gewaltdarstellungen, Killerspiele, Phantasy-Romane und vieles mehr in «sozialen Medien»? Welche Einflüsse haben Bilder aus der Kultur allgemein für das spätere Leben, nicht nur die Erziehung der Familie?

Dann kam ein zweiter Schritt: Dieses Bild vom Menschen, das wir bei Portmann durchgearbeitet haben, hat in der Philosophiegeschichte bedeutende Vorläufer in der Auffassung von der menschlichen Person, wie sie in der philosophischen Anthropologie seit Aristoteles zu finden sind.

Portmann sagt eigentlich nichts anderes, als das, was das Naturrecht schon lange herausgefunden hat: Wir Menschen sind derart aufeinander angewiesen und der gegenseitigen Hilfe, Liebe und Fürsorge bedürftig, dass wir nicht «solitär» leben können wie Robinson – und selbst der, sagte Portmann, hat einen Freitag gebraucht.

Diese relative Hilflosigkeit, Schwäche und Angewiesenheit aufeinander kann aber auch unsere grosse Stärke werden. Wir haben für das Gemeinschaftsleben, ohne das wir nicht leben können, keine angeborenen Regeln, sondern, wir müssen darüber nachdenken: Nach welchen Regeln muss das Gemeinschaftsleben verlaufen, nach welchen Regeln müssen wir es gestalten? Es ist unsere Verantwortung. Wir haben die Freiheit, es zu gestalten, aber wir müssen es gestalten. Wie also müssen diese Regeln aussehen, dass es eine friedliche Gemeinschaft wird und eine freie Gemeinschaft wird und eine gerechte – eben eine Gemeinschaft, in der und durch die der Mensch Mensch werden kann.

Die alte Frage der Rechtsphilosophie. Es muss eine gerechte, sichere Gemeinschaft sein.

So sind wir auf das Thema des Naturrechts gestossen. Ich nähere mich jetzt von der staatsrechtlichen Seite her dem Zusammenleben. Die Anfänge des gewaltenteilenden Rechtsstaats mit seinen drei Prinzipien von Gewaltenteilung, Menschenrechte und Demokratie, reichen zurück auf die Naturrechtsphilosophie, die ebendieses Menschbild, das ich oben skizziert habe, bereits zu Beginn der Neuzeit, etwa um die Entdeckung Amerikas herum und danach, entwickelte und darauf eine Lehre von den natürlichen Gesetzmässigkeiten des Zusammenlebens aufbaute – eben das Naturrecht.

Jene Naturrechtler zu Beginn der Neuzeit sahen wie Portmann, dass der Mensch ein bedürftiges Wesen ist, das ohne gegenseitige Hilfe nicht überleben kann. Das nannten sie «socialitas». Sie hatten noch nicht die hochentwickelten anthropologischen und entwicklungspsychologischen Erkenntnisse von heute. Aber, ausgehend von der Erfahrung, dass wir Menschen aufeinander angewiesen sind, müssen wir die Regeln des Zusammenlebens gestalten, und die erste aller natürlichen Regeln, denen menschliche Gemeinschaften folgen müssen, ist die Pflicht: Keiner schädige den Anderen. Diese Pflicht keinen zu schädigen, entspringt der allgemeinen Gemeinschaftspflicht, dass jeder Mensch zum Gelingen dieses friedlichen Zusammenlebens beitragen solle und müsse, – denn es ist ja auch sein Wohl –,was er kann, ohne dass er dadurch selber Schaden nimmt. Das heisst, dass jeder, das folgt dann daraus, die Pflicht hat, einen jeden als Seinesgleichen zu respektieren, das ist die Würde. Der Begriff Würde kommt hier auf: Die Respektierung des andern als mir Gleichen. Er ist nicht der Heide, der nicht getauft ist, und deswegen kein Mensch und ohne Lebensrecht. Sondern er ist mir gleich, einer von der Menschenfamilie. Er ist ein Mensch, er ist eben genauso auf den Menschen angewiesen, und nichts hilft ihm mehr als der Mensch, Mensch zu werden.

Diese Grundpflichten gegenüber der menschlichen Gemeinschaft haben dann zu den Rechten geführt: Es hat jeder einen natürlichen Anspruch. dass er nicht geschädigt werde, dass er nicht getötet werde, dass er nicht an Leib und Leben missbraucht werde, usw. Sie sehen, ich komme jetzt automatisch zu den Menschenrechten.

Was 200 Jahre später als Menschenrechte in der Französischen Revolution als Menschenrechtskatalog aufgeschrieben wird, geht zurück auf diese grundsätzliche Auseinandersetzung: Was ist der Mensch? Was brauchen menschliche Gemeinschaften für Regeln von Natur aus?

Und dieses «von Natur aus», schmeckt eben vielen Soziologen nicht. Das ist eben die Geschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Aber mit dieser Geschichte müssen wir leben und müssen uns auseinandersetzen und einen eignen Standpunkt gewinnen, einen Neuanfang machen, wo es nötig ist. Das ist der umfassende Sinn unseres Seminars.

Ich habe noch einen Augenblick Zeit, um den kommenden dritten Zyklus vorzustellen. Nachdem diese anthropologischen Grundlagen, die ich skizziert habe, gelegt wurden, gehen wir in das ganze philosophische Feld hinein. Die nächste Frage soll sein: Wie gewinnen wir sichere Erkenntnis? Wie kommt es zustande, dass wir mit unserem Wissen handeln können? Ohne gesichertes Wissen ist Handeln, hat Franz Alexander einmal gesagt, als wenn wir in einem dunklen Raum um uns schössen. Ich brauche Wissen von einer Sache, um mit ihr umgehen zu können. Jedem Handwerker ist das geläufig, das ist eigentlich natürlich. Ich muss wissen, was ich vor mir habe, dann habe ich eine Chance, auch damit umgehen zu können – wenn ich es denn lerne.

Damit wollen wir uns im dritten Zyklus auseinandersetzen. Das Thema hat natürlich auch viele Ecken und Kanten. Zeitgenössische Strömungen behaupten zum Beispiel, es gebe keine Erkenntnisse. Aber wenn man es genauer anschaut, könnte kein Arzt behandeln, wenn er nicht von der objektiven Realität ausgeht. Diejenigen, die sagen, es gebe keine objektive Realität, sind sehr schnell bereit, die objektive Realität zu akzeptieren, wenn sie selbst krank werden.

Es wird sicher eine spannende Auseinandersetzung, auf die ich mich jetzt schon freue. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

 


 

Anmerkungen

[1]    Eva Maria Panfil (FHS St.Gallen) & Beat Sottas (Careum, Zürich): Careum working paper 2. Woher kommen die Besten? Globaler Wettbewerb in der Ausbildung – wer bildet zukunftsfähige Health Professionals aus? Zürich: Careum Verlag 2009, Seite 8.
[2]    Ebd.
[3]    Ebd.

Autor

Dr. med. Karen Nestor und M.A. & lic. phil Moritz Nestor

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