Vorbemerkung
Der Nationalstaat steht von allen Seiten unter heftigem Beschuss.
Der trotzkistischen Internationalen schwebt schon seit dem Ersten Weltkrieg kein nationaler Sozialismus als Ziel der historischen Entwicklung vor, sondern so etwas wie die „Vereinigten Staaten Europas als Fundament der Vereinigten Staaten der Welt“ (Trotzki) [1]. Der Rest der Marxisten hielt mit Marx immer schon das europäische Modell des gewaltenteilenden Rechtstaats für das Herrschaftsinstrument der Kapitalistenklasse und versuchte, in den Nationalstaaten zu putschen und „proletarische“ Diktaturen zu errichten. Lenin nannte den Nationalstaat „Demokratismus“ und putschte ihn weg. Seine bolschewistische Diktatur nannte er die „wahre Demokratie“.
Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs schloss sich die europäische Sozialdemokratie mit ihrem „Dritten Weg“ (Giddens) den trotzkistischen Internationalisten an. So verriet die Sozialistische Internationale ihre eigene Parteibasis, beendete den Klassenkampf gegen den ehemaligen Klassenfeind und verkündete die Parole: „die Globalisierung gestalten“. Kapitalismus und Sozialistische Internationale, einst politische Feinde, waren zu strategischen Partnern geworden. Joschka Fischer erklärte damals gut marxistisch, mit der Globalisierung habe der Monopolkapitalismus die Endphase seiner Geschichte erreicht. Diese Phase ende, so die Marxsche Geschichtstheorie, mit dem Zusammenbruch des Monopolkapitalismus’, der an seinen inneren Widersprüchen mit „historischer Notwendigkeit“ zugrunde gehen müsse. In dieser historischen Phase sei es für Sozialisten daher objektive historische Notwendigkeit, im globalen Monopolkapitalismus mitzuarbeiten, um dessen Zusammenbruch dadurch noch zu beschleunigen.
Die Geld- und Machteliten der USA und der EU meinen die europäischen Staaten, wenn sie verkünden: Der Nationalstaat sei die tiefere Ursache der Kriege des Neunzehnten und des Zwanzigsten Jahrhunderts. Die Auflösung des Nationalstaats in und durch supranationale, zentral verwaltete Grossgebilde sei ein ‚Friedensmodell’. Heisst: Etwa 50 000 Beamte „lenken“ 400 bis 500 Millionen Europäer. Nota bene (1) ohne Gewaltenteilung, (2) ohne Demokratie, also Mitspracherecht der Millionen Verwalteter und (3) ohne Menschenrechte, denn die EU garantiert in ihrer „Verfassung“ nur Grundrechte des Wirtschaftens, aber keinen Grundrechteschutz der Personen gegen die Willkür Brüssels. Damit propagieren sie einen zentralistischen Machtstaat, der sich an den blutig gescheiterten Modellen von Caesar über Karl V., Napoleon, Hitler und Stalin orientiert.
Nicht zu wenige Reste des alten Adels und einige Teile der katholischen Kirche träumen von alten „heiligen Reichen“.
Breite Kreise der herrschenden europäischen Eliten haben die Wurzeln ihrer eigenen Geschichte verloren, ja verachten sie zu einem grossen Teil – darin ganz Lehrern wie Adorno folgend. In ihren Weltbildern reden sie von ‚Postdemokratie’ und ‚Transhumanismus’. Als wären die Menschennatur und der Nationalstaat (als die ihm angepasste Friedens-Ordnung) von der Geschichte überholt.
Grosse Teile der Bevölkerung unserer mitteleuropäischen Staaten haben ebenfalls, aber aus anderen Gründen wie ihre intellektuellen Eliten, oft die Wurzeln ihrer eigenen Geschichte verloren, indem sie unter den Folgen eines halben Jahrhunderts Kulturkrieg und Kulturimperialismus leiden.
Diese grassierende Geschichtslosigkeit lässt die Kenntnisse wie Eis an der Sonne schmelzen, was für eine wertvolle Errungenschaft das europäische Staatmodell ist und war. Und dass es nichts Besseres gibt, um das Leben zu schützen. Dass es ein Modell ist, dessen Verwirklichung von den Menschen abhängt, die es mit Leben füllen müssen, ist klar.
Der Kampf um das Gegenmodell im Zeitalter permanenter (Bürger)Kriege im 16. und 17. Jahrhundert
Erstens Gewaltmonopol mit Gewaltenteilung, zweitens Demokratie mit genossenschaftlicher Selbstverwaltung und drittens Menschenrechte sind die drei Pfeiler des Nationalstaats. Ohne sie verkommen Machtgebilde zu Despotien. Der in der frühen Neuzeit entstehende Nationalstaat trat an, die Despotie und die damit verbundenen (Bürger)Kriege zu überwinden. Der Kampf um dieses Gegenmodell zum Bürgerkrieg hat begonnen in einem Zeitalter permanenter Kriege im 16. und 17 Jahrhundert. Zwei gesellschaftliche Machtgruppen lebten in ständiger Rivalität miteinander: Adel und Klerus.
Klerus, das hiess in Europa damals – anders als heute – Religion an der Macht, scharfe Intoleranz: Glaube, was ich glaube, oder ich zwinge dich. Ein Papst, der die Erde in zwei Interessensphären teilt: spanische und portugiesische.
Adel hiess: Blaues Blut, feudaler Ständestaat, Kriege um Macht und Einfluss.
Es ist ja kaum zum Aufzählen: Völkermord in Mittel- und Südamerika, der Dreissigjähriger Krieg, der katastrophalste Krieg Europas, in dem ein Drittel des Bevölkerungen starb, der Achtzigjähriger Krieg – um nur die schlimmsten zu nennen. Die Vereinigten Niederlande kämpften achtzig Jahre lang gegen die Intervention der katholischen Habsburger, die ihnen mit Waffengewalt wieder die katholische Konfession aufzwingen und sie heim ins Reich holen wollte, in dem die Sonne nicht unterging. Zurück in den Schoss der alleinseligmachenden Kirche.
Die Kirche an der Macht verkündete den „wahren Glauben“ mit dem Schwert und sah im Ungläubigen keinen Menschen. Diese bewaffnete religiöse Unduldsamkeit im Namen des duldsamen Jesus, dieser Missbrauch der Nächstenliebe arbeitete zusammen mit den vom Papst gesalbten Auserwählten mit dem blauen Blut, die sich für gottgesandt hielten. Beide lieferten sich jahrhundertlang Bürgerkriege. Mittelamerika wurde entvölkert. Länder wurden erobert und wieder verloren an den Stärkeren. Adel und Kirche an der Macht kamen nicht zur Ruhe. Ihre Rivalität, geboren aus ihren konkurrierenden Auserwähltheits- und Alleinvertretungsansprüchen, liess die Bürgerkriege nicht enden. Bald ein halbes Jahrtausend währte diese Periode: Kreuzzüge (1100 bis ins 15. Jh.), Hexen- (1450-1650) und Ketzerverfolgung (1200 – 1900), Religions- und Bürgerkriege (15.-17. Jh.). Was da Recht war, das war das Recht des Schwertes, der absoluten Macht und der religiösen Intoleranz. Und was Frieden war, das war das Schwert. Das war die Gleichsetzung von Macht und Recht. Wer genug Macht hatte, diktierte den sogenannten Frieden – Friedhofsruhe. Seine Logik: Das Schwert und der alleinseligmachende Glaube allein sollte Recht schaffen.
Das positive Recht muss gemessen werden an einem vorstaatlichen Massstab
Das aber hatte das Naturrecht in der griechischen Antike bereits einmal angefangen zu überwinden: Frieden durch das Schwert allein sichert keinen Frieden. Es braucht einen gerechten Frieden. Das geschriebene positive Recht muss gemessen werden an einem vorstaatlichen Massstab: an der Natur des Menschen, am vorstaatlichen Sittengesetz. Das war die neue historische Epoche, die mit dem antiken hellenischen Naturrecht begann.
Der Widerstand gegen die real historische Erfahrung von Leid und Unterdrückung führte in den letzten 2500 Jahren europäischer Geschichte zur Geburt des modernen Nationalstaates aus dem Schoss des Naturrechts – und diese Geburt ist noch nicht vorbei. Das historische Fundament, auf dem er zunächst aufbaute, war der souveräne Staat mit Gewaltmonopol. Und das geschah mehr als 200 Jahre, bevor es einen Nationalismus gab, der die Menschen in Kriege riss.
Die Alternative zum Nationalstaat ist der Kampf aller gegen alle
Der moderne Staat, das was heute Nationalstaat nennen, entwickelte sich in der frühen Neuzeit in Europa aus den realen gesellschaftlichen Erfahrungen und aus der daraus gewonnenen Einsicht, dass in menschlichen Gesellschaften ohne staatliches Machtmonopol das Faustrecht, also das Geltungs- und Machtstreben die natürliche Tendenz hat, sich auszubreiten und zum inneren Modell der Individuen und gesellschaftlichen Gruppen zu werden. Die Alternative zum Nationalstaat ist der Kampf aller gegen alle, die Anarchie, das Faustrecht, das Recht des Stärkeren. Das staatliche Gewaltmonopol verlangt von den rivalisierenden Machtgruppen des Adels und des Klerus, dass sie ihre Privatmacht aufgaben und in Frieden unter dem Dach des Rechts Frieden gaben.
Die Grunderfahrung des Menschen im Zustand des Krieges aller gegen alle, wie er seinen Höhepunkt mit dem Dreissgjährigen Krieg hatte, ist die Angst, von anderen getötet zu werden. Die Denker jener Zeit nannten diesen Zustand „Naturzustand“ und meinten damit primär nicht, dass der Mensch ein geborenes Raubtier sei, sondern dass er zum Raubtier wird, wenn er ohne Staat in Anarchie lebt. In der Anarchie breitet sich das Macht- und Geltungsstreben von alleine aus. Jeder Lehrer kennt das aus seiner Schulklasse, wenn er nicht gegen Gewalt aktiv vorgeht.
Der moderne Nationalstaat ist ein Modell der tiefen Hoffnung aller Menschen auf gerechten Frieden
Die von der Natur dem Menschen mitgegebene Gemeinschaft ist die Familie. Sie entspringt der Natursphäre. Der Staat, der Schutz des Lebens aller, ist keine natürliche Gemeinschaft, sahen diese Denker. Ihn muss der Menschen schaffen. Der Staat entspringt der Kultursphäre.
Der moderne Nationalstaat ist kein Kind des Neunzehnten Jahrhunderts. Er ist auch kein Kind der bürgerlichen Klasse des 18. Jahrhunderts. Er ist kein Kind der katholischen Kirche. Sie bekämpfte ihn lange und schloss erst im Zwanzigsten Jahrhundert mit ihm Frieden. Er ist kein Kind des Liberalismus. Und kein Kind des Proletariats.
Der moderne Nationalstaat ist ein Modell der tiefen Hoffnung aller Menschen auf gerechten sicheren Frieden, ins Hoffnung, die nicht nur die bürgerliche Klasse erfüllte. Der „bürgerliche Zustand“, den der Nationalstaat schuf, war das Modell der Rechtsgleichheit, welche die Klassenspaltung des 19. Jahrhunderts genauso überwindet wie die Religionsspaltung früherer Jahrhunderte und die Feudalordnung.
Der moderne Nationalstaat ist ein Kind des Naturrechts seit der griechischen Antike
Der moderne Nationalstaat ist ein Kind des Naturrechts seit der griechischen Antike, als Aristoteles in seiner Politeia bereits die Grundstruktur der drei Pfeiler des späteren Nationalstaates entwickelte: (1) Demokratie, (2) Gewaltenteilung und (3) Menschenrechte. Es waren unvollkommene Ansätze. Aber die Grundstruktur des modernen Nationalstaates waren bereits vor 2500 Jahren von ihm umrissen worden und diese Grundstruktur hat sich bis heute nicht verändert.
Aristoteles entwickelte sie übrigens schon zum Teil in einer Klarheit, die manchem heute gut stände. Um nur eines zu nennen: Der Sinn des Geldes, sagt er, ergibt sich aus dessen Natur: Geld könne nämlich „keine Kinder bekommen“. Denn es ist die Arbeit des Menschen, welche die Güter produziert. Das Geld aber ist nur Tauschmittel. Mittel zum Zweck. Wenn man aber Geld arbeiten lasse, werde es zum Machtmittel und Menschen könnten ohne Arbeit reich werden, was ungerecht sei.
Erstes und wichtigstes Fundament des Nationalstaates: die Westfälische Ordnung
Der Nationalstaat ist die konkrete Institution, welche die ständigen Religions- beziehungsweise Bürgerkriege überwand. Sein erstes und wichtigstes Fundament war die Westfälische Ordnung, die aus dem Frieden von Münster und Osnarbrück 1648 erwuchs. Die Westfälische Ordnung hat nicht die Staatenwelt geschaffen, die 1648 Frieden schloss. Die realen Staaten des Westfälischen Friedens waren feudale Staatsgebiete, die aus unendlichen Machtkämpfen hervorgegangen waren. Das Mittel, welches das Naturrecht entdeckte, um den Bürgerkrieg und das Faustrecht aufzuheben und damit die Todesfurcht, war das Monopol aller Macht in den Händen des Staates,
„dessen Macht jedweder anderen Macht überlegen ist und der deshalb befähig ist, die Gewalt, die Private gegeneinander anwenden, in Schach zu halten, die Schrecknisse, die sie sich zufügen, zu bändigen durch den Über-Schrecken, der von ihm ausgeht.“[2]
Der Kerngedanke der Westfälischen Ordnung ist das Festschreiben der bestehenden Staatenwelt und ihrer Grenzen, denen fortan die Intervention eines Staates in das Gebiet des anderen verboten sein sollte.
Das Gewaltmonopol
Das Gewaltmonopol fusste auf dem Grundgedanken: Die Feinde des Krieges aller gegen alle, die Feinde der Anarchie also, „einigen sich, ihre Waffen dem Staat auszuhändigen, um die gegenseitige Bedrohung aufzuheben, ihn als Garanten ihrer Sicherheit voreinander einzusetzen und sich ihm zu unterwerfen. Der Staat, und allein er, hat von nun an noch das Recht, physische Gewalt auszuüben. … (die) Menschen (können und wollen) ihre Konflikte nicht mehr mit der Faust austragen. Gewaltverzicht und Gehorsam machen den Bürger.“[3]
Damit waren damals vor allem auch Adel und Klerus gemeint, die wie alle Bürger in diesem Modell unter das Gewaltmonopol gestellt wurden. Dass das nicht reibungslos ging, steht auf einem anderen Blatt. Dieses Modell des Staates, das europäische Staatsmodell, „spiegelt geschichtliche Realität [der frühen europäischen Neuzeit]: die Geburt des modernen Staates aus den Leiden der Bürgerkriege des 16. und 17. Jahrhunderts. Der Staat in seiner modernen Form … ist die institutionelle Überwindung des Bürgerkrieges. Er stellt den Bürgerfrieden her dadurch, dass er das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit aufrichtet und den Bürgern das Recht wie die Macht nimmt, Richter und Gerichtsvollzieher in eigener Sache zu sein.“[4]
Oberster Staatszweck: der Schutz des Lebens
Diese staatliche Friedensordnung kennt kein ärgeres Übel als den Tod. Ihr Staatszweck ist der Schutz des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit. „Er vermag nicht, persönliche Ehre und vaterländischen Ruhm als Ausgleich für die Hingabe des Lebens anzubieten. Er kann auch nicht auf den Himmel als Lohn des irdischen Leidens verweisen. Transzendente Heilwahrheiten und religiöse Heilsziele haben ihre Legitimationskraft eingebüsst, die ihnen in der politischen Ordnung des Mittelalters eigen war.“[5]
Der moderne Nationalstaat entsteht also nicht nur hunderte von Jahren vor dem Aufkommen des tödlichen Nationalismus. Die Grundidee und der Zweck des modernen Staates ist gerade die Bannung von Nationalismus und Gottesstaat.
Im Grunde steht die gesamte wechselvolle geschichtliche Erfahrung Europas aus 2500 Jahren an der Wiege dieses Staatsmodells.
Der Schutz des Bürgers vor dem Staat
Der Staat mit seinem Gewaltmonopol hebt die Furcht der Bürger voreinander auf. Damit wird er aber zum Gegenstand der Furcht der Bürger. „Und doch hat das politische Denken bis heute keinen Weg gefunden, der hinter ihn zurückführt, ohne ins Chaos abzugleiten.“[6] Die aus dem Naturrecht stammenden Grund- und Menschenrechte und die darauf ruhende positive Rechtsordnung bilden den Schutz des Bürgers vor dem Entgleisen des staatlichen Gewaltmonopols und machen aus dem Frieden einen gerechten Frieden. Die Gewaltenteilung reduziert die Verführung des Amtsträgers durch die Macht, die ihm sein Amt gibt. Die Teilung der stattlichen Gewalten führt das Prinzip der Kontrolle als Sicherheit gegen die Verführungen der Macht ein. Und das Demokratieprinzip mit der genossenschaftlichen Selbstverwaltung. Das war der bürgerliche Zustand.
Dieses Staatsmodell verneint alle anderen Staatszwecke, ausser dem Schutz des Lebens und der Freiheit. Partikuläre Interessen von Rassen, Klassen, Religionen, Konfessionen, Nationen, Ethnien, Sprachen, Ideologien, etc. sind keine Zweck des modernen Staates.
Emer de Vattel
Der Neuenburger Emer de Vattel formuliert das 1760 so:

Emer(ich) de Vattel (1714-1767)
„Nationen oder Staaten sind politische Körper, Gesellschaften von Menschen, die sich zusammengeschlossen haben, um ihre Wohlfahrt und ihren Nutzen mit vereinten Kräften zu fördern.“[7] „Eine solche Gesellschaft hat ihre Angelegenheiten und Interessen. Sie überlegt und beschliesst gemeinschaftlich und wird dadurch eine moralische Person, die ihren eigenen Verstand und Willen hat und zu Rechten und Verbindlichkeiten fähig ist.“[8] „Da die Nationen aus Menschen bestehen, die von her Natur frei und unabhängig sind und vor Errichtung bürgerlicher Gesellschaften in einem natürlichen Zustand lebten, so müssen auch die Nationen oder souveränen Staaten für ebenso freie Personen angesehen werden, die unter sich in einem natürlichen Zustand leben.“[9] „Wenn die Menschen sich nun zu einer bürgerlichen Gesellschaft vereinigen, um einen Staat oder eine eigene Nation zu bilden, so könne sie zwar mit den Menschen, mit denen sie sich zusammenschliessen, eine besondere Verbindung eingehen, aber sie gehören dem Menschengeschlecht immer noch an und es obliegen ihnen die dementsprechenden Pflichten. Der Unterschied besteht nur darin: Da sie sich vereinigt haben, um gemeinschaftlich zu handeln, und ihre Rechte und ihren Willen in Bezug auf das allgemeine Wohl gemeinsam der ganzen Gesellschaft übertragen und sich ihr unterworfen haben, kommt es nun dieser Gesellschaft, dem Staat und dessen Vorstehern zu, die Liebespflichten gegen Auswärtige, insbesondere aber gegen andere Staaten – sofern diese nicht mehr von der Willkür der Privatpersonen abhängen –, zu erfüllen und zu beachten.“[10] „Jede Nation muss in den ungestörten Genuss dieser von der Natur erhaltenen Freiheit gelassen werden.“[11] „Aus dieser Freiheit und Unabhängigkeit folgt, dass eine jede Nation selbst beurteilen muss, was ihr Gewissen von ihr fordert zu tun oder zu lassen, was ihr zuträglich oder was ihr nachteilig ist, und dass es nur ihr zusteht, zu untersuchen und zu entscheiden, womit sie einer anderen Nation dienen könnte, ohne das, was sie sich selbst schuldig ist, zu übergehen.“[12] „Die Vollkommenheit einer Nation besteht in dem, was sie fähig macht, den Zweck der bürgerlichen Gesellschaft zu erreichen.“[13] „Der Endzweck oder die Absicht einer bürgerlichen Gesellschaft ist es, den Bürgern alle Dinge zu verschaffen, die zu ihrer Notdurft, Bequemlichkeit, ihrem angenehmen Leben, mit einem Wort: zu ihrem Glück erforderlich sind, so dass ein jeder das Seine ruhig geniessen und die Gerechtigkeit ungestört erhalten möge, um mit vereinigten Kräften der äusserliche Gewalt zu widerstehen.“[14]
Man könnte noch vieles ergänzen …
Das Volk bildet eine bürgerliche Gesellschaft, die sich eine Rechtsordnung gibt
Eigentlich ist das Wort Nationalstaat ein weisser Schimmel. Bevor der Nationalismus im 19. Jahrhundert auftrat, ist eine Nation dieses Volk gewesen, das eine bürgerliche Gesellschaft bildet, die sich eine Rechtsordnung gibt. Und in dieser bürgerlichen Gesellschaft haben alle ethnischen Gruppen Platz. Alle Bürger einigt der Wille zu Freiheit, Recht und Ordnung und dazu, sich als Menschen so zu vervollkommnen, und das heisst immer so, wie es ihrer kulturellen Tradition entspricht. Will eine kulturelle Einheit den Staat verlassen und einen neuen Staat bilden, soll sie es. Die einzige Grenzen für alle Menschen und Staaten ist der Zweck, warum es den Staat gibt: das Verbot des Faustrechts, die Bannung des Macht- und Geltungsstrebens, das Tötungsverbot und die Menschenrechtsordnung, die darauf aufbaut und die Grundlage für das positive Recht ist. Diese Rechtsordnung, das ist das Entscheidende, kommt und fusst auf dem Naturrecht und damit auf dem, was alle Menschen anstreben und was kein Sonderinteresse ist: Freiheit, gerechter Frieden, Glück und Vollkommenheit – eben nicht auf Sonderrechten oder -interessen oder auf den correcten Ideen der „richtigen“ oder „auserwählten“ Gruppen. Er fusst nicht auf den Interessen des Adels, des Klerus, des Proletariats, des Nationalen, des Rasse, des Geldes, des Volks- oder Weltgeistes. Jedes staatliche Gebilde, jede Nation steht vor der gleichen Aufgabe: In seinen Grenzen dieses allgemein Menschliche zu entwickeln. Wie die Nation das tut, ist ihre ureigene Sache, macht jede Nation auf ihre individuelle Art. In dieses personale Gestalten ihrer eigenen Geschichte darf ihr niemand reinreden. Alle Nationen zusammen bilden eine Völkergemeinschaft, in der jeder Staat – egal wie gross – gleichberechtigt ist. Das ist die Kernsubstanz der Westfälischen Ordnung.
Der Kampf gegen den Nationalstaat
Im 19. Und 20. Jahrhundert traten dann vielfältige Gegenströmungen auf, die allesamt dem Nationalstaat den Kampf ansagten. Die neuen Auserwählten. Warum diese Gegenbewegung?
Es gibt eine Generalantwort, die noch nicht alles erklärt, aber die in jeder dieser Staatstheorien steckt, die gegen den Nationalstaat auftraten und -treten: Sie wollen die Macht wieder, die ihnen der Nationalstaat verweigerte und entriss. Sie, nicht das Volk! Dem Volk fehle „die politische Reife“, unken sie. Gegen Rousseau und den Gedanken der Volkssouveränität sind sie, weil Rousseau dem Volk die Staatsgewalt gegeben hat. Oder, wie das deutsche Grundgesetz es formuliert: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ Dann geht sie von jedem Bürger aus, dann sind die Bürger der Staat. So ist das gemeint mit dem Nationalstaat.
Dieses Streben, dem Volk die Staatsgewalt zu entreissen, ist ein Zurück in den ständigen Machtkampf rivalisierenden Machtgruppen, den wir vor der Geburt des Nationalstaats hatten. Aber das verschweigen die Propagandisten. Und machen den Nationalstaat zum Schuldigen an den Kriegen ihres eigenen Imperialismus’ und Nationalismus’. Die Propagandahülse, der Nationalstaat sei die Ursache der Kriege, verschleiert, dass die politische Macht alleine haben wollen.
Nationalismus: Hegel und andere: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“[15] Der Staat baut nicht mehr auf Vernunft und ethischen Normen auf. Er ist „die fortschreitende Selbstverwirklichung der göttlichen Vernunft, und ihre List ist es, … selbst das Böse für sich arbeiten zu lassen.“[16] Diesen Prozess nennt er Dialektik. Der Krieg wird zum Vater aller Dinge. Nicht mehr der geeinte Wille des Volkes in der bürgerlichen Gesellschaft bildet den Staat, sondern die Macht des Staates eint das Volk. Der Machtstaat als Ausdruck der Selbstbehauptung. Das war die Rückkehr in die Staatsauffassung des 16. und 17. Jahrhunderts. Alles staatliche Denken und Handeln entspringt dem „Volksgeist“. Der hegelsche Weltgeist lenkt des einzelnen Volksgeister durch die Weltgeschichte. Und das Gemeinwohl eines jeden Volksgeistes steht in Gegensatz zum Gemeinwohl des anderen. Nun eint die so gedachte Staatenwelt nicht mehr das, was im europäischen Staatsmodell der allen Staat zugrundeliegende Staatszweck war: Freiheit, gerechter Frieden, Glück und Vollkommenheit – nicht Sonderrechten oder –interessen. Der Keim des nationalistischen Staates war geboren. Was daraus wurde, vor allem im Imperialismus und als völkischer Staat, ist bekannt.
Autoritärer Marxismus: Marx lehnt den gewaltenteilenden Rechtststaat als Herrschaftsinstrument der Kapitalisten ab. Er hebelt mit der Gleichheit die Freiheit aus: den Staatszweck Nummer ein des europäischen Statsmodells. Im Namen der (ökonomischen) Gleichheit (Kommunismus, Kollektivismus) wurden Despotien errichtet und grauenhafte Völkermorde begangen.
„Gelenkte Demokratie“: Die Geld- und Machteliten der Vereinigten Staaten hielten sich für Mitglieder des von Gott auserwählten Volkes. Im 18. Jahrhundert aus den Ideen des europäischen Staatsmodells hervorgegangen, wurde durch sie aus dem amerikanischen Staat nach dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert, ein expandierender imperialer Staat, der mehr als ein Krieg pro Jahr führte, damit seine aufklärerischen nationalstaatlichen Wurzeln verriet und dann vor allem nach dem Ersten Weltkrieg das Modell der „gelenkten Demokratie“ entwickelte. Amerikanische Staatstheoretiker und die Propagandisten der gelenkten Demokratie sehen im Volk eine vernunftlose Masse, die nach dem Freudschen Modell von Sex und Aggression getrieben und zur Herrschaft nicht fähig ist. Nur wer seine Triebe beherrschen könne, dürfe herrschen, sagte Walter Lippmann im Sinne Freuds. Das Modell der Volkssouveränität habe in den Terror des Französischen Revolution geführt.[17] „Das grosse Problem in unseren modernen Demokratie“, sagt 1928 Edward Bernays, , der amerikanische Neffe Sigmund Freuds, der zusammen mit Walter Lippmann zu Wilsons Geheimdient „Inquiry“ gehörte, aus dem der CFR entstand, „besteht darin, unsere Politiker zum Führen zu bewegen. Durch das Dogma, dass die Stimme des Volkes die Stimme Gottes sei, neigen unsere gewählten Volksvertreter dazu, sich wie willenlose Diener ihrer Wählerschaft zu benehmen.“[18] Das politisch unreife Volk müsse daher beherrscht werden und es dürfe nur Zuschauer im politischen Theater sein. Auf der Bühne der Weltpolitik handeln die alle paar Jahre mit Spektakel gewählten Herrschenden. Eine Despotie auf Zeit. Sowohl das Volk als auch die Herrschenden werden von „Experten“ beraten, sprich manipuliert, damit alles so läuft, wie es laufen soll. „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen“, schrieb Edward Bernays 1928, „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften. Organisationen, die im Verborgenen arbeiten, lenken die gesellschaftlichen Abläufe. Sie sind eigentlichen Regierungen in unserem Land. … Wenn viele Menschen möglichst reibungslos in einer Gesellschaft zusammenleben sollen, sind Steuerungsprozesse dieser Art unumgänglich.“[19] Die Stimme des Volkes sei „Ausdruck des Volksempfindens, welches wiederum von Anführern gesteuert wird, an die die Menschen glauben, sowie von denjenigen, deren Geschäft die Manipulation der öffentlichen Meinung ist.“[20] Ein Staatsmodell, das mit Demokratie nur das Wort gemeinsam hat. Hinter ihm steht ein aggressiver Raubtierkapitalismus und das Sendungsbewusstsein von Gottes auserwähltem Volk der Vereinigten Staaten.
Fazit
Was sich nach dem 18. Jahrhundert an Staatsdenken entwickelte und den Nationalstaat angriff oder zu „überwinden“ vorgab, griff zurück auf Modelle des despotischen Machtstaates des 16. und 17. Jahrhunderts und des römischen Imperiums. Es gibt ein Grundgesetz, das aus der Anthropologie und Psychologie stammt, unter das die Geschichte immer gestellt ist. Ilias Iliopoulos hat hier an diesem Tisch vor einigen Wochen darauf hingewiesen: Wenn die Menschen und Völker nicht das Geltungs- und Machtstreben in ihren Reihen bannen – es gar gewähren lassen oder sogar bewundern –, dann haben Macht und Gewalt zu allen Zeiten und überall die Tendenz, sich immer weiter auszubreiten. Das war die Grunderfahrung, aus welcher der Nationalstaat entstand. Und es waren immer in der europäischen Geschichte dagegen Revolten entstanden, die dem frei flottierenden Machtstreben entgegen setzen, was Schiller in seinem Wilhelm Tell verewigte: „Unser ist durch tausendjährigen Besitz der Boden – und der fremde Herrenknecht soll kommen dürfen und uns Ketten schmieden und uns Schmach antun auf unsrer eigenen Erde? … eine Grenze hat Tyrannenmacht, wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, wenn unerträglich wird die Last – greift er hinauf getrosten Muts in den Himmel und holt herunter seine ew’gen Rechte, die doben hangen unveräusserlich und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – der alte Urstand der Natur kehrt wieder, wo Mensch dem Menschen gegenübersteht“.[21]
Der Mensch ist ein geschichtliches Wesen. Aus seinen Erfahrungen aus der Vergangenheit ziehen die Völker in der Gegenwart Schlüsse für die Zukunft und gestalten ihre Geschichte, und so entstehen aus dem spontanen selbstverwalteten Zusammenleben der Menschen „von unten“ und der Herrschaft von Machtgebilden „von oben“, die sich dem freien Leben entgegenstemmen, gesetzmässige historische Abläufe. Wir erkennen in den heutigen Machtballungen die bewunderten geschichtlichen Vorbilder: Caesar, Napoleon usw. Und doch ist jede historische Bewegung individuell und früheren nur ähnlich in ähnlichen Grundabläufen. Was ziehen wir also auf diesem Hintergrund für Schlüsse für heute, und welche Forderungen ergeben sich?
1. Die Staaten müssen ihre Brückenköpfe in andere Staaten aufgeben und zurück in ihre Grenzen. Das Völkerrecht weist den Weg dazu. Jeder Staat bleibt in seinem Gebiet.
2. Die Intervention ist verboten.
3. Zurück zum Ausgangspunkt: Westfälische Ordnung.
4. Die UNO-Charta muss renoviert werden: der Sonderstatus der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges darin muss aufgehoben werden.
Literatur
Bernays Edward (1928): Propaganda – Die Kunst der Public Relations. orange press 2011.
Hegel, Gottfried Wilhelm (1821): Philosophie des Rechts.
Isensee, Josef (1982): Die Friedenspflicht der Bürger und das Gewaltmonopol des Staates. In: Festschrift für Eichernberger 1982, S. 23-40.
Isensee, Josef (1983): Das Grundrecht auf Sicherheit. Berlin/New York: Walter de Gruyter.
Lippmann, Walter (1957): Philosophia publica. Vom Geist des guten Staatswesens. München. [Essays in the Public Philosophy. Boston/Toronto 1955]
Meinecke, Friedrich (1960): Die Idee der Staatsräson.
Schiller, Friedrich: Wilhelm Tell.
Trotzki, Leo (1914): Der Krieg und die Internationale.
Vattel, Emer de (1760): Völkerrecht. Frankfurt/Leipzig 1760. Übersetzung von Johann Philip Schulin. [Übertragung aus dem Frühneuhochdeutschen von Moritz Nestor.]
Anmerkungen
[1] Trotzki 1914, 77.
[2] Isensee, 1983, 3.
[3] Isensee, 1983, 3.
[4] Isensee, 1983, 4. Vgl. auch: Isensee, 1982.
[5] Isensee, 1983, 5.
[6] Isensee, 1983, 5.
[7] Vattel, Buch 1, Vorbereitung, §.1.
[8] Vattel, Buch 1, Vorbereitung, §.2.
[9] Vattel, Buch 1, Vorbereitung, §.4.
[10] Vattel, Buch 1, Vorbereitung, §.11.
[11] Vattel, Buch 1, Vorbereitung, §.15.
[12] Vattel, Buch 1, Vorbereitung, §.16.
[13] Vattel, Buch 1, II. Kapitel, §.14.
[14] Vattel, Buch 1, II. Kapitel, §.15.
[15] Hegel 1821, XIX.
[16] Meinecke, 410.
[17] Vgl. Lippmann, 125, 164, 169, 183, 202
[18] Bernays, 83.
[19] Bernays, 19
[20] Bernays, 83
[21] Schiller, II, 2