«Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur» – Warum das Lernen von Eltern und Vorfahren lebenswichtig ist
28. Dezember 2021 ∙ Moritz Nestor
«Nicht der Glückliche ist dankbar,
sondern der Dankbare ist glücklich.»
(Roger Bacon)
Dass Kinder von den Erfahrungen der Elterngeneration und der Vorfahren lernen ist nicht nur für das einzelne Kind lebensnotwendig. Es wirkt sich letztlich auf alle Bereiche einer Kultur aus. Denn die heranwachsende Generation wird einmal als tragende Säule der Kultur Verantwortung übernehmen müssen, und ihre sozialen Kompetenzen sind dann dringend gefragt. Eliane Perret hat dieses Problem in ihrem Artikel («Weisst du, wenn du es so machst, wird es gut gehen …» Warum wir unsere Erfahrung an die nächste Generation weitergeben müssen. Zeit-Fragen Nr. 27, 30. November 2021) aus der Sicht von Psychologie und Pädagogik beleuchtet. Hier soll es darum gehen, welche Bedeutung die Erziehung für die Kulturtradition hat.
Als Folge eines sich ausbreitenden verwöhnenden Erziehungsstils nehmen seit Jahrzehnten schon Störungen im kindlichen Spracherwerb sowie in der motorischen und sozialen Entwicklung zu. Am deutlichsten tritt das bei der zunehmend mangelhaften Aussprache vieler zutage. Bedenkt man, dass das Kind Denken und Sprechen im ständigen Dialog mit den Eltern erwirbt, eingebunden in und emotional getragen von der vertrauten Beziehung zu ihnen, stellt sich die Frage: Warum fehlt in unserer Kultur dieser Dialog oder ist doch bedenklich reduziert? Eine aktuelle wissenschaftliche Studie weist darauf hin, dass sich viele Kinder heute nicht mehr vertieft auf ein Spiel einlassen können. Das bedeutet ebenfalls, dass oft sehr grundlegende Entwicklungsvorgänge gestört sind, die Voraussetzung sind für die Ausbildung der Lernfähigkeit in einer gesunden kindlichen Persönlichkeit. Eliane Perret bringt in ihrem Artikel die Folgen auf den Punkt: «Es wächst eine Generation von Prinzen und Prinzessinnen heran, die sich wenig um die Belange der Gemeinschaft kümmern, sondern auf ihrem exklusiven Status bestehen.» Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn ihre Kinder immer weniger von den Erfahrungen der Elterngeneration lernen wollen?
Nur weil die Kultur sie trägt, werden die Menschen lebensfähig
Das typische Verhalten jeder Tierart «bricht in jedem Individuum von selbst auf Grund ererbter Instinktanlagen durch». Doch die Gleise, in denen sich das menschliche Leben vollzieht, sind unser eigenes Werk. «Die Natur des Menschen ist Kultur», sagt der Anthropologe Adolf Portmann. Er kann die ganze Welt forschend zu seiner Umwelt machen und formt im Zusammenleben mit den Mitmenschen die Natur zur «zweiten Natur» um, zur Kultur. Die Umwelt des Menschen ist immer die jeweilige von ihm umgestaltete Natur: die «Gemeinschaftssphäre» (Portmann). Eben deshalb aber «ist der Einzelne, dessen Schaffenskräfte ja begrenzt sind, notwendig darauf angewiesen, dass andere ihm schon vorgearbeitet haben und dass er von dem von ihnen Geleisteten mit profitieren darf», wie der Kulturanthropologe Michael Landmann1961 in seinem lesenswerten Buch «Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur» schreibt. «Als Kulturwesen ist er notwendigerweise Traditionswesen.» (Landmann, S. 19) Der Mensch ist «in seinem gesamten Bau auf das umhüllende Medium der Kultur hingeordnet, er ist in sie gewissermassen ähnlich eingebettet wie der Fisch ins Wasser und der Vogel in die Atmosphäre. Nur dank der Gehaltenheit durch sie steht er aufrecht, nur weil sie ihn trägt, wird er lebensfähig». (Landmann, S. 22)
Der Mensch ist zunächst Geschöpf seiner Kultur
Der Mensch ist aber nicht für eine einzige Kulturform bestimmt. Der Mensch ist «eine unvollendete offene Frage, auf die er sich selbst in den Kulturen ebenso viele Antworten erteilt». (Landmann, S. 27) Die gesellschaftliche Ordnung und die sozialen Einrichtungen, Sitten und Gebräuche, Menschenbild, Religion, Kunst, Literatur, Technik und Wissenschaften – die gesamten Verhaltens- und Verlaufsformen des Lebens und die weltanschaulichen Haltungen in einer Kultur sind «geronnenes Schöpfertum unserer Ahnen. Worauf das Leben des Spätlings basiert, das wurde von ihnen seinerzeit hervorgebracht und hat sich dann institutionalisiert». (Landmann, S. 23)
Die ganze Vielfalt der jeweiligen Kultur, in die ein Kind hineingeboren wird, wird zunächst in und durch die Familie an es weitergegeben, später dann durch Kindergarten, Schule, Ausbildung, Vereine und Gemeindeleben. Es lernt nicht die Sprache, sondern immer die Sprache seiner Kultur, eben seine Muttersprache. Und auch nicht das Denken, sondern das Denken und Fühlen seiner Kultur usw. Und das ist in jeder Kultur wieder anders. Immer aber ist das werdende Kind zunächst ganz Geschöpf seiner Kultur und lernt alles durch Identifikation mit seinen Eltern und Lehrern. Es muss ja alles lernen, kann «gar nicht alles selbst hervorbringen, denn jeder Mensch […] wird nicht nur mit der menschlichen Begabung des Hervorbringens geboren, sondern er wird immer bereits in die getreulich festgehaltenen und den Folgegeschlechtern weitergegebenen Hervorbringungen früherer Geschlechter hineingeboren, die sich ihm hilfreich zur Verfügung stellen. Immer sind wir bereits Erben einer Vorwelt, die ihrerseits schon Kenntnisse erworben und lebenserleichternde Einrichtungen geschaffen und sie in einem langwährenden kumulativen Prozess angehäuft hat». (Landmann, S. 18f.)
Die grosse Abhängigkeit des Kindes ist ein Vorteil
Diese «kulturelle Vererbung» durch Tradition ist im Gegensatz zur genetischen Vererbung unvergleichlich formbarer. «Unser gesamtes Denken und Handeln, und selbst das Aller-intimste, selbst unser Beten und unser Lieben, alles gewinnt […] erst durch sie seine Gestalt.» (Landmann, S. 20) Auch der gesellschaftlich vorherrschende Erziehungsstil ist «geronnenes Schöpfertum» der Vorfahren. Der Aufbau und die Weitergabe aller Kulturgüter geschehen in und durch Sprache. Sie selbst ist eine Schöpfung über Jahrtausende hinweg von den aufeinanderfolgenden Generationen. Ohne sie versiegt die Weitergabe einer Kultur.
Was von Menschen an Kultur geschaffen und tradiert wird, unterliegt keinem irgendwie gearteten Geschichts- und Naturprozess, der automatisch zu immer gerechteren Institutionen und Werthaltungen führen muss. Es entspricht aber genauso dem menschlichen Wesen und liegt grundsätzlich immer in unserer Macht, Tradiertes zu überdenken, zu verbessern, weiterzuentwickeln und neue Wege einzuschlagen.
Ehe der Mensch aber in den späteren Jahren eigenständig denken lernt, ist er während einer langen Kindheitsperiode vollkommen Geschöpf seiner Kultur in Person seiner Eltern und Lehrer, die es in den Lebensstil und die geistigen Haltungen seiner Kultur und deren Reichtum einführen. Das Kind ist vollkommen abhängig von den sozialen und erzieherischen Kompetenzen seiner in die Kultur eingebetteten Familie. Aber dies ist ein eigentlicher Vorteil. Denn der Nachgeborene findet nun die «gesammelte Fülle dieses Reichtums der Generationen, wie der Einzelne ihn in seinem kurzen Leben niemals erarbeiten könnte» vor, er ist «Nutzniesser dieses Reichtums, er braucht bloss in die ihm schon seit alters vorbereiteten Ordnungen und Bahnungen hineinzuwachsen, in denen dann auch sein Leben verlaufen wird. Und nur weil er dies darf, nur weil er ausgetretene Pfade benützen darf, die ihn von sich auch lenken und ihn wie von selbst seinem Ziel zuführen, nur deshalb, und nicht aus seinen nur eigenen Kräften und Fähigkeiten heraus, vermag er sich einmal überhaupt am Leben zu erhalten und sodann sein Leben auf eine immer höhere Stufe zu steigern». (Landmann, S. 18f.)
Vom autoritären zum verwöhnenden Erziehungsstil – und die Folgen
Auch die Eltern waren einmal Geschöpfe ihrer Kultur und der Erziehungstradition ihrer Vorfahren. Unter dem Einfluss des Zeitgeistes formen sie diesen eigenschöpferisch um, wenn sie einmal selbst Kinder haben. So ist aus manch einem der autoritär Erzogenen der fünfziger und sechziger Jahre unter dem Einfluss gesamtgesellschaftlicher Verschiebungen und Brüche in den kulturellen Werten und Normen ein «antiautoritärer» Erzieher oder gar «Antipädagoge» geworden, der seine Kindern «freier» erziehen wollte – und das auch getan hat. Doch aus jenen Tagen, als er noch «Geschöpf» der Erziehungstraditionen seiner Eltern war, lebten in ihm immer noch unerkannte verinnerlichte Reste aus der Erziehungstradition der alten Kultur, die immer auch in sein Erziehungsverhalten einflossen. Oft führte das zu typischen Abläufen: Im wohlmeinenden, von Liebe getragenen Bemühen, nicht streng oder unterdrückend sein zu wollen, worunter man bald schon jeden normalen Anspruch auf Autorität als Lebenserfahrener verstand, wollten immer weniger Eltern gegen Ende des Jahrhunderts jene Haltung einnehmen, welche die Tiermutter instinktgeleitet einnimmt: Rudelführerin. Sie wollen nicht «streng» sein, sind besorgt, ob die Kleinen mit ihnen «zufrieden» sind, wollen das Kind frei gedeihen lassen und halten Verhaltenskorrekturen schnell für «autoritär». Ein verwöhnender Erziehungsstil setzte sich langsam durch.
Gerade weil wir Menschen alles lernen müssen, um eigenständig leben zu können, muss man die Folgen abschätzen, was es bedeutet, wenn auf Grund eines kulturellen Wertewandels die Tradierung von Erfahrung an die nächste Generation abnimmt oder versiegt. Denn eine Kultur kann nur durch Erziehung und Bildung von Generation zu Generation weitergegeben und unterhalten werden. Am deutlichsten zeigt sich das bei der Sprache. Alles, was eine menschliche Kultur im Laufe ihrer Geschichte geschaffen hat, das lebensnotwendige dichte Netz von Werten, Werthaltungen, menschengemachten Regeln und Gesetzmässigkeiten, wurde durch Sprache geschaffen und kann nur durch Sprache gelernt werden. Nimmt das Lernen der Erfahrungen ab, vor allem auch durch das Verkümmern der Sprache, dann wird das alle umfassende Band der Kultur schwächer. Letztlich ein irreversibler Prozess mit tragischen Folgen für den sozialen Zusammenhalt in allen Bereichen des Gemeinschaftslebens, letztlich auch für den Staat als Mittel der Kultur zur Sicherung eines sicheren gerechten Friedenszustandes.
Die menschliche Kulturbildung ist einmalig in der Natur
Der Mensch ist frei zu tun und zu lernen, was er will. Doch nur innerhalb der Grenzen der Natur. Die menschliche Natur als Kultur- und Traditionswesen ist eine naturgegebene Tatsache. Je sozialer die Lebensweise von Tieren ist, desto weniger lebt eine Art nicht rein trieb- und instinktgesteuert, sondern ist auch aus einer Innerlichkeit heraus fähig, als Subjekt selbst wahrzunehmen, zu erleben und zu handeln. Vor allem bei den höheren Säugetieren beobachtet man daher soziales Lernen. Soziale Bindungen sind für die gesunde Entwicklung der Neugeborenen in allen Primatenarten lebensnotwendig. Unterschiedliche Affenhorden entwickeln sogar unterschiedliche Verhaltensformen, die über Generationen weitergegeben werden. Man spricht daher von Affen-«Kulturen». Die menschliche Kulturbildung ist aber einmalig in der Natur.
Wir sind nicht genetisch an eine Umwelt angepasst, sondern können uns an alle Lebensbedingungen der Erde anpassen, indem wir alles, was uns am Leben erhält, durch Kooperation mit unseren Artgenossen erschaffen. Das geschieht immer in Kulturen, die auch die Sprachen entwickeln, die den Kulturaufbau erst ermöglicht. Jede kulturelle Einheit gestaltet so Bereiche in der Welt, die wir «bewohnen», die wir verstehen und die uns vertraut sind und in denen das Leben der Art geschützt ist – und alles in und durch eine individuelle Sprache. Das Menschenkind wird «weltoffen» geboren mit starken bild- und erziehbaren sozialen Anlagen und einem nahezu unbegrenzten Lernvermögen. Es ist von Anfang an mit wachen Sinnen darauf ausgerichtet, von den Eltern zu lernen, wie Menschen sind und wie sie sich verhalten und wie die Erwachsenen das Leben in dieser unbekannten Welt bewältigen und wie beschaffen diese Welt ist. So wächst es in seine Kultur hinein.
Kulturen als je individuelle Antworten auf die Lebensaufgaben
Es lernt alle Lösungen, die seine Kultur entwickelt hat, um das Leben zu sichern, als wären es natürliche Mittel. Erst später, wenn es andere Lebensformen kennenlernt, beginnt es zu begreifen, dass alles gelernt ist, was es bis anhin für natürlich hielt. Die Lösungen seiner Kultur für die Grundfragen des Lebenserhalts und des Zusammenlebens sind anders als andere Lebensformen in anderen Kulturen.
Doch alle Kulturen stehen unter dem gleichen Druck, den die Natur setzt: das Leben schützen und erhalten, der Schutz der Alten, Kranken und Schwachen, Ernährung, Kleidung, Schutz vor Witterung, das Leben weitergeben durch die Familie, das Lernen der Liebe, die Sorge um die sichere und gerechte Form des Gemeinschaftslebens, der Aufbau von Freundschaften und das Lernen, in kleinen Gruppen zu kooperieren usw. Alfred Adler hat es einmal zusammengefasst in die drei Bereiche: Liebe, Arbeit und Gemeinschaft. Und die höchsten zivilisatorischen Leistungen, die besten kulturellen Lösungen haben die Kulturen geschaffen, die bei ihren Lösungen das Ziel der Humanität, der Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe in allen ihren Kulturschöpfungen anstrebten und verwirklichten.
Kulturelles Wachstum durch die Lehren aus der Erfahrung der Vorfahren
Diese humanen Werte einer friedlicheren Kultur, ihr Lebensstil und ihr Menschenbild werden von einer Generation zur nächsten durch Tradition vererbt. Im jeweiligen Stand der kulturellen Entwicklung zeigt sich die aufbauende Zusammenarbeit von vielen Generationen in der Geschichte. Diese Art und Weise des kulturellen Wachstums ist art-typisch für den Menschen und findet sich bei keiner anderen Art. Den Lehrer im weitesten Sinn des Wortes kennt nur der Mensch. Nicht jede Generation muss wieder von vorne anfangen, alles zu erlernen. Die Lehrer, zu denen natürlich vor allem auch die Eltern als die ersten Lehrer gehören, können anderen vielmehr die Erfahrungen und das Können von Generationen in der Geschichte in Form von Wissen vermitteln. Und die neuen Mitglieder einer menschlichen Gemeinschaft bringen das Beobachtungslernen durch Identifikation bereits mit auf die Welt und sind so von der Natur bestens ausgerüstet, um von der Eltern- und Grosselterngeneration die in dem kulturellen Reichtum enthaltenen Erfahrungen der Vorfahren zu lernen.
Der natürliche Generationenvertrag und der Wert der Erfahrung …
Dabei bindet ein natürlicher «Vertrag» die aufeinanderfolgenden Generationen: Ohne den Menschen kann der Mensch nicht Mensch werden. Alles Gemeinschaftsleben des Menschen ist immer, aber gerade auch in der ersten und letzten Lebensphase zerbrechlich und in hohem Masse auf Beistand und Hilfe angewiesen. Der grosse Wohlstand und ein auf Lust und Genuss ausgerichteter Lebensstil verdecken aber immer mehr den Blick auf die reichen Lebenserfahrungen der alten Menschen. Sie haben, aktiv im Leben stehend, durchlebt, was es heisst, eine ganze Lebensspanne gelebt zu haben. Der am Lebensanfang stehende junge Mensch ist dazu noch nicht imstande. Die alten Menschen, die seine Lehrer sein können, sind noch lebende Zeitzeugen der Vergangenheit. Gerade sie tragen dazu bei, dass die kulturelle Entwicklung nicht abbricht, wenn sie ihre Erfahrungen und die ihrer Vorfahren der nachfolgenden Generation vermitteln. Aus der grösseren Ruhe, zu welcher der alte Mensch fähig ist, weil er einen Überblick über das Leben gewonnen hat, stammt das, was wir die Weisheit des Alters nennen können. Gerade die jüngere Generation kann von ihnen lernen, um die eigenen kleinen und grossen Sorgen des Einstiegs ins Leben durch den lebenserfahreneren realistischeren Blick des alten Menschen ruhiger und sicherer zu gewichten.
… und der Schock, wenn er zerbricht!
Wir Menschen verdanken der Generation unserer Eltern und Grosseltern unser Leben, das sie uns geschenkt haben. Durch ihre Hilfe und Sorge konnten wir Mensch werden. Jeder fühlt daher in sich eine tiefe Verpflichtung aus Dankbarkeit, ihnen heute das zurückgeben zu wollen, was uns einst von ihnen gegeben worden ist – gegeben aus Liebe, ohne dass wir darum gebeten hätten. Dieser unsichtbare Vertrag bindet die Generationen natürlicherweise aneinander. Er bildet den Kern unserer Sozialnatur. Wie uns damals als Kindern, so steht der alten Generation heute der gleiche volle Einsatz und die gleiche liebevolle Sorge zu, wie wir sie einst von ihr gerne empfangen haben. Das ist das natürliche Recht der alt gewordenen Elterngeneration. Dieser Generationenvertrag ist unkündbar. Wir können gegen ihn verstossen, aber die «irrige Meinung eines Menschen über sich und über die Aufgaben des Lebens stösst früher oder später auf den geharnischten Einspruch der Realität, die Lösungen im Sinne des Gemeinschaftsgefühls verlangt», da ohne gegenseitige Hilfe das menschliche Zusammenleben unmöglich wird. «Was bei diesem Zusammenstoss geschieht, kann mit einer Schockwirkung verglichen werden», bemerkt Alfred Adler: Der mitmenschliche Schaden ist anklagender Ausdruck des verweigerten Rechts auf Hilfe.
Dankbar sein gegenüber den Vorfahren, denn ohne sie wären wir nicht
Wenn man sich bewusst wird, dass alles, was wir zum Leben haben, ein Gemeinschaftswerk ungezählter Generationen über viele Jahrhunderte hinweg ist, ein Aufbau, den keine Generation und schon gar nicht ein Mensch alleine bewältigen kann, dann rückt etwas ins Zentrum, was heute unterzugehen droht: Ich habe als Mensch allen Grund, dankbar zu sein gegenüber meinen Vorfahren, denn ohne sie wäre ich nicht. Und ich will das, was mir geschenkt wurde, als ich in diese Welt hineinwuchs, der nächsten Generation verbessert weitergeben. Nur so können wir als Menschen leben und nicht als Robinsone, die verzweifeln. Otto Friedrich Bolnow hat das die «Tugend der Dankbarkeit» genannt.
«Wenn dich ein Lehrer einen Satz lehrt, dann musst du ihm dein Leben lang dankbar sein»
Ich habe viele Jahre Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. In einer meiner Klassen sass einmal ein etwa vierzigjähriger Familienvater aus Ägypten. Neben ihm ein vielleicht 18jähriger Italiener mit ausgeprägtem männlichem Prestige, der nicht lernen konnte, weil er sich nichts sagen lassen wollte. Einer jener verwöhnten «Prinzen», wie sie damals noch nicht so häufig anzutreffen waren. Der Ägypter schaute nicht lange zu. Er komme aus der arabischen Kultur, sagte er vor der Klasse, er verstehe nicht, wieso man nicht von anderen lernen wolle. Sein Vater habe ihn gelehrt: «Wenn dich ein Lehrer einen Satz lehrt, dann musst du ihm dein Leben lang dankbar sein.» Ich sehe noch heute sein lachendes Gesicht vor mir: Er war so sicher. Stolz war er auf seinen Vater und auf seine Kultur, die ihm das auf den Lebensweg mitgegeben hat. «Wir verehren den Lehrer! Der Lehrer, das ist das wichtigste!», strahlte er uns alle an. Dieser Mann war dankbar! – und: so sicher wie die Hundemutter, die ihre Welpen instinktiv richtig führt. Das meinte Landmann, wenn er schrieb: Der Mensch ist seiner Natur nach «auf das umhüllende Medium der Kultur hingeordnet, er ist in sie gewissermassen ähnlich eingebettet wie der Fisch ins Wasser und der Vogel in die Atmosphäre. Nur dank der Gehaltenheit durch sie steht er aufrecht, nur weil sie ihn trägt, wird er lebensfähig». (Landmann, S. 22)
Dem Verwöhnten fehlt das Training zur gegenseitigen Unterstützung
Dieser grosse Zusammenhang geht dem verwöhnten Kind nie auf. Hier ahnt man die schweren Folgen, die es hat, wenn durch einen um sich greifenden verwöhnenden Erziehungsstil eine Generation von Prinzessinnen und Prinzen heranwächst, die sich um die Belange der Gemeinschaften nicht mehr kümmern können, weil ihnen jeder Dienst am Nächsten eine Zumutung erscheint. Der Verwöhnte nimmt das ihm von der Kultur Geschenkte selbstverständlich hin, fordert es, «geniesst» es, aber fühlt sich den Wohltätern, die ihm alles gerne und aus Liebe gegeben und überliefert haben, nicht mehr liebend verpflichtet. Er kann nicht dankbar sein für das Geschenkte und wird kaum das Bedürfnis entwickeln, den Nachkommen auch etwas zu schenken. «Der Dankbare fühlt sich seinem Wohltäter weiterhin verpflichtet; der Undankbare vergisst sogleich das Gute, das er empfangen hat» und «ist nicht gesonnen, daraus Folgen für sein späteres Verhalten entstehen zu lassen. Damit stellt er sich aber ausserhalb der natürlichen Gemeinschaft. […] Die Dankbarkeit ist in dieser Weise eine Tugend, die das menschliche Zusammenleben glatt und reibungsfrei macht.» (Bollnow, S. 130) Dem Verwöhnten aber fehlt das Training zur gegenseitigen Unterstützung. «Es ist eine eigentümliche Wärme des menschlichen Bezugs, die aus dem Bewusstsein des Verpflichtetseins entspringt und die sich leicht mit dem Gefühl einer verehrenden Zuwendung verbindet.» (Bollnow, S. 130) Die Errungenschaften der Kultur sind nämlich ein Geschenk der Vorwelt an die kommenden Generationen, in die Zukunft hinein geschaffen, ohne die Früchte selbst ernten zu können, damit Kommende als Menschen mehr Halt im Leben sowie in und durch Verbundenheit mit ihrer Kultur eine sichere Identität gewinnen. Das natürliche Gefühl aber, zu dem eigentlich jeder Mensch fähig ist und zu dem der Verwöhnte wieder Zugang finden müsste, ist die Dankbarkeit dafür, dass mein Leben nicht allein mein Werk ist. Das aber setzt immer schon die menschliche Reife voraus, zu verstehen, dass der Mensch nie aus eigener Kraft leben kann, sondern dass uns «das Beste immer geschenkt werden muss», nämlich die Liebe der Eltern und die Zusammenarbeit einer ganzen Kultur über Jahrhunderte hinweg, die das Leben schenken und hegen und weitergeben: die guten Lehrer im weitesten Sinne, die neben den Eltern die schützende Kultur weitergeben.
Helfen kann nur in Freiheit und Liebe gedeihen
Die Wechselseitigkeit zwischen den Generationen ist ein unsichtbarer Vertrag, bei dem aber nicht wirtschaftlich Leistung gegen Leistung getauscht wird. Dieser Vertrag ist das natürliche Band menschlicher Solidarität und beruht auf einer nicht voraussehbaren und ohne Anspruch auf eine Gegenleistung gegebenen «Leistung», die «im anderen Menschen die Bereitschaft erzeugt, bei in der Zukunft eintretenden Fällen mit einer freiwilligen und durch keinerlei vertraglichen Zwang zu erwirkenden Leistung zu antworten». (Bollnow, S. 130) Echte Dankbarkeit geschieht in Freiheit und Liebe und ist gerade kein sklavisches Abhängigkeitsverhältnis. Wie aber könnte man sie einer Generation von Prinzessinnen und Prinzen vermitteln? Diese Frage stellt sich uns angesichts einer Realität im Erziehungswesen, die wir selbst geschaffen haben und die nur wir auch wieder ändern können.
Das natürliche Helfenwollen kann zum Wesensmerkmal gebildet werden
Der Mensch ist das einzige Wesen in der Natur, das soziale Institutionen erschaffen kann, ja, muss, um zu überleben: Alles, was eine Kultur an Einrichtungen der öffentlichen Ordnung, der Gerechtigkeit geschaffen hat – von den einfachsten Benimmregeln in der Familie bis hinauf zu staatlichen Institutionen – alles stammt nie von alleine Denkenden, Fühlenden und Handelnden. Hilfsbereitschaft und Kooperation reifen beim Menschenkind im Laufe des ersten Lebensjahres heran, treten dann als inneres Bedürfnis hervor. Das ist der Kern der menschlichen Sozialnatur und muss nicht anerzogen werden. Er kann zum hervorstechenden Wesensmerkmal eines Menschen gebildet werden. So können Menschenkinder lernen, in einer von Menschen geschaffenen kulturellen Welt eine sichere Identität und Gemeinschaftsdenken und -fühlen zu entwickeln. Das sagen uns die Menschheitswissenschaften.
Ein grosses Kulturgut, ein schöner Gedanke. Zum Leben erwecken kann diesen Schatz nur unsere von Einsicht und Mitgefühl getragene Tat.
Verwendete Literatur:
Christophe Boesch. Wild cultures: a comparison between chimpanzee and human cultures. Cambridge University Press 2012
Otto Friedrich Bollnow. Neue Geborgenheit. Stuttgart/Berlin/Köln 1973
Daniel Haun. Primatenkultur? Kulturelle Unterschiede im Sozialverhalten von Schimpansen. Vortrag im Rahmen des Collegium generale. Bern 2016
Michael Landmann. Der Mensch als Schöpfer und Geschöpf der Kultur. München 1961
Adolf Portmann. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. Basel 1951
Evelyn Schmidt und Hans Dieter Richter. Entwicklungswunder Mensch. Leipzig 1986
Michael Tomasello. Warum wir kooperieren. Berlin 2010