«… weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird.» – Johann Gottfried Herders naturrechtliches Menschenbild

Oktober 2020 Moritz Nestor

Der Mensch ist kein «Mängelwesen» – Vernunft und Sprache

«Vernunft, «hat Sprache erfunden … Erfindung der Sprache ist ihm so natürlich, als er ein Mensch ist!» (296)

Die Menschen sind «die einzigen Sprachgeschöpfe», «die wir kennen, und sich eben durch Sprache von allen Tieren unterscheiden». (296)

Man soll nicht «Tiere zu Menschen» oder «Menschen zu Tieren» machen. (296)

«Dass der Mensch den Tieren an Stärke und Sicherheit des Instinkts weit nachstehe, ja, dass er das, was wir bei so vielen Tiergattungen angeborne Kunstfähigkeiten und Kunsttriebe nennen, gar nicht habe, ist gesichert […]. Jedes Tier hat seinen Kreis, in den es von der Geburt an gehört, gleich eintritt, in dem es lebenslang bleibt und stirbt. Nun ist es aber sonderbar: Je schärfer die Sinne der Tiere, und je wunderbarer ihre Kunstwerke sind, desto kleiner ist ihr Kreis, desto einartiger ist ihr Kunstwerk. Ich […] finde überall eine wunderbar beobachtete umgekehrte Proportion zwischen der minderen Extension ihrer Bewegungen, Nahrung, Erhaltung, Paarung, Erziehung, Gesellschaft und ihren Trieben nach Künsten. Die Biene in ihrem Korbe baut mit der Weisheit, die Egeria* ihren Numa  nicht lehren konnte; aber ausser diesen Zellen und ausser ihrem Bestimmungsgeschäft in diesen Zellen ist sie auch nichts. Die Spinne webt mit der Kunst der Minerva**; aber all ihre Kunst ist auch in diesem engen Spinnraum verwebt; das ist ihre Welt, wie wundersam ist dieses Insekt und wie eng der Kreis seine Wirkung!
Gegenteils: Je vielfacher die Verrichtungen und Bestimmungen der Tiere; je zerstreuter  ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Gegenstände; je unsteter ihre Lebensart, kurz, je grösser und vielfältiger  ihre Sphäre ist, desto  mehr sehen wir ihre Sinnlichkeit sich verteilen und schwächen.
Der Mensch hat keine so einförmige und enge Sphäre, in der nur eine Arbeit auf ihn wartet: eine Welt von Geschäften und Bestimmungen liegt um ihn.
Seine Sinne und Organisationen*** sind nicht auf eins geschärft; er hat Sinne für alles und natürlich also für jedes einzelne schwächere und stumpfere Sinne.
Seine Seelenkräfte sind über die Welt verbreitet; also keineRichtung seiner Vorstellung auf ein Eins; mithin kein Kunsttrieb, keine Kunstfertigkeit – und, das Eine gehört hier näher her, keine Tiersprache**** …
Mit dem Menschen ändert sich die Szene ganz. Was soll für seinen Wirkungskreis, auch selbst im dürftigsten Zustande, die Sprache des redendsten, am vielfachen tönenden Tieres? […] Bei jedem Tier ist […] seine Sprache eine Äusserung so starker sinnlicher Vorstellungen, dass diese zu Trieben werden; mithin ist Sprache so wie Sinne und Vorstellungen und Triebe ihm angeboren und dem Tier unmittelbar natürlich. […] wie spricht der Mensch von Natur? Gar nicht! so wie er wenig oder nichts durch völligen Instinkt als Tier tut.» (297f.)

Das menschliche Neugeborene ist mit Ausnahme des Schreiens «stumm; es äussert weder Vorstellungen noch Triebe durch Töne, wie doch jedes Tier in seiner Art tut. […] «Stumm geboren, aber – Doch ich tue keinen Sprung. Ich gebe dem Menschen nicht gleich plötzlich neue Kräfte, „keine sprachschaffende Fähigkeit“ […] Lücken und Mängel können doch nicht der Charakter seiner Gattung sein, oder die Natur war gegen ihn die härteste Stiefmutter, da sie gegen jedes Insekt die liebreichste Mutter war. […]». (298)

Was ist der Charakter der Menschennatur? Er ist «Ursache jener Mängel; und […] Keim zum Ersatze» (298f.) In diesem Ersatz für den Mangel an Instinktsicherheit liegt «die wahre Richtung der Menschheit», dass der Mensch «über den Tieren nicht an Stufen des Mehr oder Weniger stehe, sondern an Art. […] „Sprache (ist) dem Menschen so wesentlich, als – er Mensch ist.“ Man sieht, ich entwickle aus keinen willkürlichen oder gesellschaftlichen Kräften». (299)

Wenn der Mensch nicht instinktsicher ist, so bekommen seine «Sinne […] eben dadurch „Vorzug der Freiheit„.» Die menschlichen Sinne «nicht für einen Punkt», sondern «sie (sind) allgemeinere Sinne der Welt. Weil der Mensch Vorstellungskräfte hat, die nicht auf den Bau einer Honigzelle und eines Spinnengewebes bezirkt sind und als auch den Kunstfertigkeiten der Tiere in diesem Kreise nachstehen, so bekommen sie eben damit „weitere Aussicht„. […] er hat freien Raum, sich an vielem zu üben, mithin sich immer zu verbessern. Jeder Gedanke ist nicht ein unmittelbares Werk der Natur, aber eben, damit kann’s sein eigen Werk werden. Wenn also hiermit der Instinkt wegfallen muss, […]: so bekommt eben hiermit der Mensch „mehrere Helle„. […] so wird er freistehend, […], kann sich in sich bespiegeln. Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung. Man nenne diese ganze Disposition seiner Kräfte, wie  man wolle; Verstand, Vernunft, Besinnung usw. – wenn man die Namen nicht für abgesonderte Kräfte oder für blosse Stufenerhöhung der Tierkräfte annimmt, so gilt’s mir gleich. Es ist die „ganze Einrichtung aller menschlichen Kräfte; die ganze Haushaltung seiner sinnlichen und erkennenden, seiner erkennenden und wollenden Natur“; oder vielmehr: „Es ist die einzige positive Kraft des Denkens, die, mit einer gewissen Organisation des Körpers verbunden, bei den Menschen so Vernunft heisst, hier sie bei den Tieren Kunstfähigkeit wird; die ihm Freiheit heisst, und beiden Tieren Instinkt wird. Der Unterschied ist nicht in Stufen oder Zugabe von Kräften, sondern in einer ganz verschiedenartigen Richtung und Aufwickelung aller Kräfte. […] » (299f.)

«in mir ist ein doppelte Ich, mir selbst bewusst, kann und muss ich mir Objekt werden. Dieser Vorzug erhebt uns über die Tiere; er ist der Charakter unserer Art».**** (299)

Der Mensch ist das Wesen, das «abgetrennt und frei nicht bloss erkennet, will und wirkt, sondern auch weiss, dass es erkenne, wolle und wirke. Dies Geschöpf ist der Mensch; und diese ganze Disposition seiner Natur wollen wir, um den Verwirrungen mit eignen Vernunftkräften usw. zu entkommen, „Besonnenheit“ nennen … Ist nämlich die Vernunft keine abgeteilte, einzeln wirkende Kraft,***** sondern eine seiner Gattung eigne Richtung aller Kräfte, so muss der Mensch sie im ersten Zustande haben, da er Mensch ist. Im ersten Gedanken des Kindes muss sich diese Besonnenheit zeigen, wie bei dem Insekt, dass es Insekt war …» (301)

Michael Landmann: «In genialer Vorwegnahme ist hier u. a. schon gesehen, dass beim Menschen nicht einfach, wie die Philosophie sonst so gern denkt,  zum Tier nicht etwas hinzutritt, sondern dass er von Grund auf auf ein völlig anderes Organisationsprinzip gestellt ist, dass seine vermeintlichen Mängel, die sich aus dem Tiervergleich ergeben, keine solchen mehr sind, sobald man ihn aus seiner eigenen Mitte begreift, und dass er im Unterscheid zur tierischen „Umwelt“ – wie wir heute sagen würden –   als einziger eine offene Welt hat (die er sich dann durch Sprache gliedert).» (303) In Bezug auf das oben Stehende sagte Arnold Gehlen: «Die philosophische Anthropologie hat seit Herder keinen Schritt vorwärts getan.“ (303)

 


Anmerkungen

Claude Lorain: Egeria beweint Numa

* Egeria soll die Geliebte des sagenumwobenen zweiten Königs von Rom, Numa Pompilius, gewesen sein. Der Legende nach beriet sie ihn bei wichtigen Entscheidungen und wies ihm so den Weg zu weiser Herrschaft.

Minerva als Schutzpatronin der Universität von Rio de Janeiro

** Minerva war die römische Göttin der Weisheit, der taktischen Kriegsführung, der Kunst und des Schiffbaus sowie Hüterin des Wissens.

*** Gemeint ist der Organismus.

Adolf Portmann

**** Herder nimmt hier Adolf Portmanns wissenschaftlichen Befund vorweg: Menschliche Wort- und Gebärdensprache sind nach Portmann etwas völlig anderes als alle tierischen Laute. Den tierischen Lauten entspricht beim Menschen der Schrei. Vom tierischen Laut gibt es keine evolutionäre Entwicklung zur menschlichen Sprache. Sie baut auf Zeichen auf. In der menschlichen Sprache ist das Wort ein Träger einer Bedeutung, die der Mensch frei erfinden kann. Der tierische Laut ist Ausdruck der inneren Befindlichkeit des Tieres.

**** Landmann: Schon Plotin hat vom «reflexiven» Charakter unseres Bewusstseins gesprochen. Bei Herder werde es aber zu einem anthropologischen «tätig-gestaltenden Vorgang erweitert.» (300)

***** Das war der Gegensatz zu seinem Lehrer Kant, der die «reine Vernunft» als solche «abgetrennte Kraft» verstand, die der Mensch mit den Engeln gemeinsam habe.


Der Mensch, Produkt von Kosmos und Erde und Schicksalsgenosse aller lebenden Wesen, den Gesetzen der Erde unterworfen

Der Mensch hat mit den Pflanzen  vieles gemeinsam. Die Tiere sind «der Menschen ältere Brüder». Mit ihnen teilen wir «die Haus- und Muttersorge», mit vielen auch das Leben und Gemeinschaften. Der Mensch ist weder Stein noch «abgesonderte Monade». Der Mensch ist Teil der Reihe aller Organismen.(303)

Im aufsteigenden Stufenreich der Lebewesen nimmt der Mensch den Gipfel ein: «Bei ihm stand die Reihe still; wir kennen keine Geschöpf über ihm». (303)

Dieser mit allen Tieren verwandte Mensch aber hat gute und böse Eigenschaften entwickelt, die kein Tier hat:
«Kein Tier frisst seinesgleichen aus Leckerei. Kein Tier mordet sein Geschlecht auf den Befehl eine Dritten mit kaltem Blut. Kein Tier hat Sprache, wie der Mensch sie hat, noch weniger Schrift, Tradition, Religion, willkürliche Gesetze und Rechte. Kein Tier endlich hat auch nur die Bildung, die Kleidung, die Wohnung, die Künste, die unbestimmte Lebensart, die ungebundenen Triebe, die flatterhaften Meinungen, womit sich beinahe jedes Individuum der Menschen auszeichnet.» (303)

 

 

Kein Mensch ist – er wird nur durch andere Menschen ein Mensch – oder nicht

«Was ich bin, bin ich geworden; wie ein Baum bin ich gewachsen; der Keim war da; aber Luft, Erde und alle Elemente, die ich nicht um mich setzte, mussten beitragen, den Keim, die Frucht, den Baum zu bilden.» (305)

«… indem wir eigentlich Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden. Was ist’s für ein armes Geschöpf, das nichts aus sich selbst hat, das alles durch Vorbild, Lehre, Übung bekommt und wie ein Wachs darnach Gestalten annimmt.» (306)

«In welche Hände der fällt, darnach wird er gestaltet, und ich glaube nicht, dass irgendeine Form der menschlichen Sitte möglich sei, in der nicht ein Volk oder ein Individuum desselben existiert … Torheiten mussten sich vererben, wie die sparsamen Schätze der Weisheit.» (307)

«So gern der Mensch alles aus sich selbst hervorzubringen wähnt, so sehr hängt er doch in der Entwicklung seiner Fähigkeiten von andern ab … Sowenig ein Mensch seiner natürlichen Geburt nach aus sich entspringt, so wenig ist er im Gebrauch seiner geistigen Kräfte ein Selbstgeborener … Schon das Auge muss sehen, das Ohr hören lernen.» (306)

«Mit Wissenschaften und Künsten zieht sich also eine neue Tradition durchs Menschengeschlecht … wie dieser Zucker- und Mohrentrank durch manche bearbeitende Hand ging, ehe er zu mir gelangte und ich kein anderes Verdienst habe, als ihn zu trinken: so ist unsere Vernunft und Lebensweise, unsre Gelehrsamkeit und Kunsterziehung, unsre Kriegs- und Staatsweisheit ein Zusammenfluss fremder Erfindungen und Gedanken, die ohne unser Verdienst aus aller Welt zu uns kamen und in denen wir uns von Jugend auf baden oder ersäufen.» (306)

 

Kultur – die «zweite Natur» des Menschen

«Wollen wir diese zweite Genesis des Menschen … Kultur … oder … Aufklärung nennen … Die Kette der Kultur und Aufklärung reicht aber sodann bis ans Ende der Erde. … Der Unterschied zwischen aufgeklärten und unaufgeklärten, zwischen kultivierten und unkultivierten Völkern ist also nicht spezifisch; sondern nur gradweise … Bleibt der Mensch unter Menschen, so kann er dieser bildenden oder missbildenden Kultur nicht entweichen; Tradition tritt zu ihm und formt seinen Kopf und bildet seine Glieder. Wie jene ist, und wie diese sich bilden lassen; so wird der Mensch, so ist er gestaltet.» (306)

«Empfinge der Mensch alles aus sich und entwickelte es abgetrennt von äusseren Gegenständen: so wäre zwar eine Geschichte des Menschen, aber nicht der Menschen, nicht ihres ganzen Geschlechts möglich. Da nun aber unser spezifischer Charakter eben darin liegt, dass wir, beinahe ohne Instinkt geboren, nur durch eine lebenslange Übung zur Menschheit gebildet werden, und sowohl die Perfektibilität als auch die Korruptibilität unsres Geschlechts hierauf beruht, so wird eben damit auch die Geschichte der Menschheit notwendig ein Ganzes, das heisst eine Kette der Geselligkeit und bildenden Tradition vom ersten bis zum letzten Gliede. – Es gibt also eine Erziehung des Menschengeschlechts; eben weil jeder Mensch nur durch Erziehung ein Mensch wird und das ganze Geschlecht nicht anders als in dieser Kette von Individuen lebt.» (307)

«Der Mensch muss am längsten lernen, weil er am meisten zu lernen hat, da bei ihm alles auf eigen erlangte Fertigkeit, Vernunft und Kunst ankommt.» (307)

 

«Der Mensch ist also zur Gesellschaft geboren …»

«Nun war der Vater der Erzieher seines Sohnes, wie die Mutter seine Säugerin gewesen war; und so ward ein neues Glied der Humanität geknüpft. Hier lag nämlich der Grund zu einer notwendigen menschlichen Gesellschaft, ohne die kein Mensch aufwachsen, keine Mehrheit von Menschen sein könnte. Der Mensch ist also zur Gesellschaft geboren; das sagt ihm das Mitgefühl seiner Eltern, das sagen ihm die Jahre seiner langen Kindheit.» (307)

 

Die Sprache ist die «die grosse Gesellerin der Menschen»

«Nur die Sprache hat den Menschen menschlich gemacht. … keine Zauberrute hat Wüsten in Gärten verwandelt; die Sprache hat es getan, sie, die grosse Gesellerin der Menschen. Durch sie vereinigten sie sich bewillkommend  einander und schlossen den Bund der Liebe. Gesetze stiftete sie und verband Geschlechter; nur durch sie ward eine Geschichte der Menschheit in herabgeerbten Formen des Herzens und der Seele möglich. … Was je der Geist der Menschen aussann, was die Weisen der Vorzeit dachten, kommt, wenn es mir die Vorsehung gegönnt hat, allein durch Sprache zu mir. Durch sie ist meine denkende Seele an die Seele des ersten und vielleicht des letzten denkenden Menschen geknüpft.» (308)

«Alle, die eine gelernte Sprache gebrauchen, gehen wie in einem Traum der Vernunft einher; sie denken in der Vernunft anderer und sind nur nachahmend weise: denn ist der, der die Kunst fremder Künstler gebraucht, darum selbst Künstler? Aber der, in dessen Seele sich eigne Gedanken erzeugen und einen Körper sich selbst bilden, er, der  nicht mit dem Auge allein, sondern mit dem Geiste sieht und nicht mit der Zunge, sondern mit der Seele bezeichnet, er, dem es gelingt, die Natur in ihrer Schöpfungsstätte zu belauschen, neue Merkmale ihrer Wirkungen auszuspähen und sie durch künstliche Werkzeuge zu einem menschlichen Zweck anzuwenden: er ist der eigentliche Mensch …» (308)

 

Der Mensch ist «zur Freiheit organisiert» – Freiheit ist die «Achse» des Menschlichen –

«Der Mensch ist der erste Freigelassene der Schöpfung; er steht aufrecht.  Die Waage des Guten und Bösen, des Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie die Natur ihm zwei freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes Auge, seinen Gang zu leiten, so hat er auch in sich die Macht, nicht nur die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein auf der Waage. Er kann dem trüglichsten Irrtum Schein geben und ein freiwillig Betrogener werden, er kann die Ketten, die ihn, seiner Natur entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei Blumen bekränzen.
Indessen ist er auch seiner Freiheit nach, und selbst im ärgsten Missbrauch derselben, ein König. Er darf doch wählen, wenn er auch das Schlechteste wählte; Er kann über sich gebieten, wenn er sich auch zum niedrigsten aus eigner Wahl bestimmte … So ist der Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborener; wenn noch nicht vernünftig, so doch einer besseren Vernunft fähig; wenn noch nicht zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar. Der Menschenfresser in Neuseeland und Fénelon, der verworfene Pescheräh und Newton sind Geschöpfe der selben Gattung.» (309)

 

Was der Mensch erreichen soll, findet er in sich selbst – er ist nicht böse, sodass man  Menschlichkeit von aussen an ihn herantragen muss – er muss den Keim der Menschlichkeit in sich richtig erkennen und zur Reife bringen

«Der Mensch hat kein edleres Wort für seine Bestimmung als er selbst ist.» (309)

,Jeder trägt in sich geschrieben seine Bestimmung» (309)

«Mensch zu werden, dazu bringt jeder Anlagen genug mit sich.» (310)

«Nein, gütige Gottheit, dem mörderischen Ungefähr überliessest du dein Geschöpf nicht. Den Tieren gabst du Instinkt, dem Menschen grubest du dein Bild, Religion und Humanität in die Seele: der Umriss der Bildsäule liegt im dunklen, tiefen Marmor da; nur er kann sich nicht selbst aushauen, ausbilden. Tradition, Lehre, Vernunft und Erfahrung sollten dieses tun, und du liessest es ihm an Mitteln dazu nicht fehlen. Die Regeln der Gerechtigkeit, die Grundsätze des Rechts, der Gesellschaft, die Zärtlichkeit gegen Kinder, die Pietät gegen Wohltäter und Freunde, selbst die Empfindung des mächtigsten, wohltätigsten Wesens sind Züge dieses Bildes, die hie und da bald unterdrückt, bald ausgebildete sind, allenthalben aber nich die Uranlage des Menschen selbst zeigen, der sich, sobald er sie wahrnimmt, auch nicht entsagen darf.» (310)

 

Den Einheits-Menschen und die Einheits-Kultur gibt es nicht – sie nähme dem Menschen «Odem und Seele»

Humanität ist letztlich ein «unendlicher Zweck», der sich nur anstreben und verwirklichen lässt. Seine Vollkommenheit als Mensch hat der Mensch nicht wie die Tiere, sondern er ist frei und darf sie «durch eigne Bemühung» suchen und anstreben. (310)

Jeder konkrete Mensch, jede konkrete Gemeinschaft, jedes konkrete Volk, jede konkrete Kultur – alle sind einmalig und unwiederholbar. Die Idee, das Bild, den Keim, die weltoffene und bildbare Anlage zur Humanität, die alle Menschen gleichermassen als natürliche Anlage ihrer Menschennatur haben, ist eine unendlich vielfältige Möglichkeit, die der Mensch immer nur «individuell» in Wirklichkeit umsetzen, das heisst leben kann.  «Nimm dem Menschen Ort, Zeit und individuelle Bestandteil, und du hast ihm Odem und Seele genommen.» (311) Keine zwei Individuen, Völker, Nationen, Kulturen, geschichtliche Epochen, Traditionen, Sitten, Gebräuche,  sind gleich. Jede Kultur bringt ihr individuelle Musikform, Kunst und Dichtung hervor. Volkslieder sind die je individuellen «Stimmen der Völker». Andere Zeiten und Kulturen könne sie nicht  «wiederholen». «Die Menschheit ist ein so reicher Entwurf von Anlagen und Kräften, dass, weil alles in der Natur auf der bestimmtesten Individualität beruht, auch ihre grossen und vielen Anlagen nicht anders als unter Millionen verteilt auf unsrem Planeten erscheinen konnten.» (311)

«Der tiefste Grund unseres Daseins ist individuell, sowohl in Empfindungen und Gedanken» (312)

Jedes Volk soll seine individuelle Sprache, Neigung und Charakter ausbilden und leben dürfen. Herder will keine Einheitskultur, keinen «melting pot», keinen Kollektivismus, keine höhere oder niedere Kultur, und begrüsst es, dass es noch keinem Machthaber gelang, «die Bewohner des Weltalls in ein Gehege zusammenzujagen». (312)

 


 

Zusammenstellung der Herderzitate nach

Michael Landmann. De Homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens. Unter Mitarbeit von Gudrun Diem, Peter Lutz Lehmann, Peter Christian Lutz, Elfriede Tielsch u. a. Orbis-Band I/9. Freiburg/München 1962

(Die Zahlen in Klammern sind die Fundstellen bei Landmann)

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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