Wladimir Solowjew. Die Rechtfertigung des Guten, eine Moralphilosophie (Jena 1916)

1. Januar 2025

Excerpt [eigene Anmerkungen in eckigen Klammern]

 

«Wer den Sinn des Lebens durch eine äussere Autorität
suchen will,
der endet damit, dass er für den Sinn des Lebens
die Sinnlosigkeit seiner eigenen Willkür hält.»
Wladimir Solowjew. Die Rechtfertigung des Guten, S. XVI

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Vorwort zur zweiten Auflage, 1898

 

(S. I) Es gehe um das wahre Wesen des Guten als «den einzigen und richtigen, sich selbst treu bleibenden Weg des Lebens», aber nur für den, «der sich dazu entschliesst, ihn vor allen anderen Wegen zu wählen.» Die Moralphilosophie sei nicht der rechte Weg selbst auf den «Wanderungen durch das Leben der Menschen und Völker», sondern nur ein «systematischer Wegweiser». Der Verfasser trage die Verantwortung für die «Richtigkeit, Vollständigkeit und den Zusammenhang» des Wegweisers. Wie jeder das in seinem Leben umsetze, sei seine Sache.

«Dieses Buch wird Sie nicht überreden nach Italien oder in die Schweiz zu reisen, wenn Sie sich entschlossen haben, nach Sibirien zu fahren; auch wird es Sie nicht mit Geldmitteln für ein Ozeanreise versehen, wenn Sie mit Ihrem eigenen Geld nur bis zum Schwarzen Meer gelangen können.»

Aber eine grundsätzliche «Bedingung zur Erreichung des wahren Lebensziels» gelte: Auseinandersetzungen mit moralischen Normen haben für denjenigen keinen Sinn, «der sich mit Bewusstsein nicht dieses Ziel, sondern ein ganz anders gesetzt hat.» (S. II)

«Ich trage durchaus kein Verlangen danach, Tugend zu predigen und das Laster zu entlarven; denn ich halte diese Beschäftigung für einen gewöhnlichen Sterblichen nicht nur für überflüssig, sondern auch für unmoralisch, denn sie setzt den ungerechten und anmassenden Anspruch voraus, besser als die anderen zu sein. Für uns sind nicht die einzelnen […] Abweichungen vom rechten Wege wichtig, sondern nur die allgemeine, entschiedene und entscheidende Wahl zwischen zwei moralischen Richtungen, wenn diese Wahl sich in vollkommener und klarer Bewusstheit vollzieht.»

«Viel Seltsames und Wunderbares habe ich schon gesehen, doch zwei Dinge sind mir noch niemals begegnet in der Welt: noch niemals sah ich einen wirklich vollkommen Gerechten und noch niemals einen wirklich vollkommenen Bösewicht.»

 

 

Vorwort zur ersten Auflage

um 1900

(S. VI) Ist im Leben «überhaupt irgendein Sinn zu finden?» Hat dieser einen «moralischen Charakter»? Was ist dessen «wahre und vollständige Bestimmung»? Diese Fragen kann man nicht umgehen. Im Bewusstsein unserer Gegenwart herrscht darüber keine Einigkeit. Das Ziel – das ja auch den Titel des Buches bildet – ist, die eigene persönliche Entscheidung für das Gute «den anderen gegenüber zu rechtfertigen». Wer «für sich selbst schon eine feste und endgültige Entscheidung der Lebensfrage» errungen habe und wer «die eigenen Zweifel überwunden hat», dessen «Herz» ist gerührt, denn es versteht nun «fremde Verirrungen» besser. In der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Frage nach dem Sinn des Lebens lassen sich drei Gruppen unterscheiden:

Die «praktischen Pessimisten»
Sie sagen: das Leben habe keinen Sinn. Die Ernsthaften unter ihnen sind konsequent und besiegeln ihre Verneinung des Lebens durch die Tat, den Selbstmord.
Die Unernsthaften unter ihnen verneinen das Leben nicht durch eine Tat, sondern nur theoretisch und mit «scheinbar philosophischen Systemen». Es sind Menschen, deren Denken sich der Realität verweigert. Sie halten «ihre Auseinandersetzungen und Systeme» für etwas, was «in sich selbst ihr Genüge findet» und «zu keinerlei Handlungen im Leben, zu keiner praktischen Verwirklichung verpflichtet». Diese «Verstandesklüngeleien dürfen nicht ernst genommen werden.» (S. VIf.) Denn eine «pessimistische Wertung des Lebens» schliesst immer auch notwendigerweise «die persönliche, subjektive Beziehung zum Leben in sich ein.» (S. VII)

Die Relativisten
Er sagt: Es gebe moralische Normen für das Leben, aber es besteht keine Einigkeit über den Weg, wie man zu ihnen gelange.

Die «theoretischen Pessimisten»
Sie sagen: Lebenssinn habe nichts mit Moral zu tun, er hänge «gar nicht von unseren pflichtgemässen oder guten Beziehungen zu Gott, den Menschen und der ganzen Welt ab». Er ist der Überzeugung, das Leben sei für alle Menschen böse und Leiden, also auch für ihn. Auf die Frage, «aus welchem Grund lebt er dann und macht sich dieses böse Leben zunutze, als ob es ein Heilsgut wäre», antwortet der «theoretische Pessimist», dass der «Instinkt» den Menschen «aller vernünftigen Einsicht entgegen, dass es sich nicht lohne zu leben, doch zwingt, weiterzuleben.» Er übersieht, dass ein «Instinkt» keine äussere Kraft ist [wie etwa ein Polizist, der einen mit Gewalt zwingt]. Er «äussert sich im lebenden Wesen selbst», also  im theoretischen Pessimisten, und veranlasst auch diesen, diese «Zustände aufzusuchen, die ihm wünschenswert oder angenehm erscheinen.» [Der theoretische Pessimist selbst folgt ja seinem Instinkt und behauptet dann, er werde von ihm getrieben.] Wenn nun aber der «theoretische Pessimist» aus solch einem eigenenStreben doch «Freude am Leben findet», so untergräbt er dadurch selbst «seine scheinbar vernünftige Überzeugung, dass das Leben böse und Leiden sei». Der theoretische Pessimist weicht aus und meint, diese Freuden des Lebens seien «trügerisch». Aber woher nimmt er, der nicht an Gott glaubt und der im Leben keinen positiven Sinn erkennt, den Massstab, um zu unterscheiden, was wahr und was «trügerisch» ist? Er führt ja alles zurück «auf den Zustand der empfundenen Freude oder des empfundenen Leides», und ohne Massstab «kann keine Freude […] als Täuschung erkannt werden.» Also bleibe dem theoretischen Pessimisten als Rechtfertigung nur übrig «die Anzahl der Freuden und der Leiden im Menschenleben zusammenzuzählen», um dann zu dem «schon im Voraus aufgestellten Ergebnisse» zu gelangen, «dass der ersteren weniger sind als der letzteren, und dass es sich folglich nicht lohne zu leben.» (S. VIIf.) So laufe alles auf ein «Rechenexempel menschlichen Lebensglücks» hinaus. [Eine Kosten-Nutzen-Abwägung, ein utilitaristischer Ansatz: Wenn die Summe von Freuden und Leiden positiv ist, lohnt es sich zu leben.] Eine Summe komme aber in der Realität nicht vor, sie sei keine «wirkliche Empfindung» wie Freude oder Leid, sondern eine abstrakte Zahl. In der Realität existieren Empfindungen immer nur als «konkrete Zustände». Das Berechnen des Lebensglücks sei «wie das Beschiessen einer steinernen Festung mit papiernen Kanonen.» (S. VIII)

Dass es sich nur dann lohne zu leben, wenn die Summe der Freuden die der Leiden überwöge, sei für den weitaus grössten Teil der Menschheit eine Tatsache: Sie halten das Leben für lebenswert, weil in ihrem Leben die Freuden die Leiden überwiegen. Zu ihnen gehören auch die theoretischen Pessimisten,

«die wohl über die Vorteile des Nichtseins ihre Betrachtungen anstellen, in der Tat aber das Sein, wie es auch immer sein möge, dem Nichtsein vorziehen.»

Dies sei eine «Arithmetik der Verzweiflung» und «nur ein Spiel des Verstandes». Die theoretischen Pessimisten selbst «widerlegen, indem sie in Wirklichkeit im Leben mehr Freuden als Leiden finden und zugeben, dass es sich lohne, zu leben – bis zuletzt.» Wenn man ihre Lehre an ihren Taten misst, kann man

«nur zu dem Schluss kommen, dass das Leben einen Sinn habe, dass sie sich ihm unwillkürlich unterwerfen, dass ihr Verstand jedoch nicht stark genug ist, um diesen Sinn zu erfassen.»

Die «ernsthaften Pessimisten» der ersten Gruppe, die Selbstmörder, machen ihrem Leben ein Ende, «weil sie enttäuscht oder verzweifelt sind.» Damit beweisen sie «ihrerseits unwillkürlich den Sinn des Lebens.» Der ‘bewusste Selbstmörder’ habe einmal «angenommen, dass das Leben einen solchen Sinn habe, um dessen willen es sich wohl lohne zu leben». Doch dieser Sinn habe  sich ihm als unbeständig erwiesen. Anders als der ‘theoretische Pessimist’ will er sich nicht «einem unbekannten Lebenssinn unterordnen». Also tötet er sich. Im Gegensatz zum theoretischen Pessimisten hat er einen starken Willen.

(S. VIIIf.) Sowohl der ‘theoretische’ als auch der ‘ernsthafte Pessimist’ werden von ihren egoistischenLeidenschaften beherrscht. Bei Menschen wie Werther und Romeo sind sie persönlicher Art. Er tötet sich, weil er Julia nicht besitzen kann. Für ihn liegt der Sinn des Lebens im Besitz dieser Frau.

«Ausser Romeo könnten vierzigtausend adelige Männer den Sinn ihres Lebens im Besitz eben dieser Julia finden, so dass dieser scheinbare Sinn des Lebens sich vierzigtausendmal verneinen würde.»

(S. IX) «Dasselbe geschieht mit den Menschen des zweiten Typus». Wie zum Beispiel Kleopatra verbinden sie ihre persönliche, egoistische Leidenschaft mit einem «historischen Interesse». Dieses trennt sie jedoch «vom allgemeinen Weltensinn», von dem «Sinn des universellen Lebens, von dem auch der Sinn ihres eigenen Daseins abhängt». [Hervorhebung nicht im Original] Die «vom weltbeherrschenden Rom besiegte Königin wollte den Triumph nicht erleben und tötete sich» Dadurch dass «Kleopatra ihren eigenen Sieg als etwas, das kommen musste, erwartete», und «im Siege Roms nur den sinnlosen Triumph einer dunklen Macht erblicken konnte», so hielt sie «die Finsternis der eigenen Anschauung für einen genügenden Grund, um die universelle Wahrheit zu verneinen.» Aber Menschen wie Romeo und Kleopatra «wollen von einem universellen Sinn des Lebens nichts wissen.»

Im «Wesenskern jedes Selbstmordes» findet man immer wieder dasselbe: Es geschieht nicht das, was meiner von «egoistischen Leidenschaften» beherrschten «Ansicht nach geschehen müsste» und folglich fühle ich, es lohne sich nicht, zu leben. Dass die «willkürliche Forderung des von Leidenschaften erfüllten Menschen der Wirklichkeit nicht entspricht», ist eine Tatsache der Realität, die der Enttäuschte aber nicht akzeptiert, sondern «als Ausdruck irgendeines feindseligen Geschickes, als etwas Finster-Sinnloses» empfindet, denn er will sich dieser ihm unverrückbaren «Macht nicht unterwerfen». Also tötet er sich. Der wahre Sinn des Lebens kann gar

«nicht mit den willkürlichen und wandelbaren Forderungen jedes einzelnen aus der zahllosen Menge des Menschengeschlechts übereinstimmen. Wenn er mit allen übereinstimmen könnte [anything goes!], wäre er eine Sinnlosigkeit, d. h. er wäre gar nicht vorhanden.»

(S. IXf.) Es stellt sich also heraus, «dass der enttäuschte und verzweifelte Selbstmörder nicht am Sinn des Lebens» leidet, sondern dass er «im Gegenteil an seiner Hoffnung auf die Sinnlosigkeit des Lebens» enttäuscht wurde und daran verzweifelte, «denn er hoffte ja, dass das Leben das bringen würde, was er wünschte», dass nämlich das Leben «immer und in allen Dingen einfach nur die Erfüllung seiner blinden Leidenschaften und willkürlichen Launen» sein müsse. «Darin erlebt er eine Enttäuschung und findet nun, dass es nicht wert sei zu leben.»

«Wenn er aber in der Sinnlosigkeit der Welt eine Enttäuschung erlebt, so erkennt er eben dadurch den ihr innewohnenden Sinn an. Wenn dieser Mensch den wider Willen erkannten Sinn unerträglich findet, wenn er, anstatt zu verstehen, immer nur irgendjemand anklagt und die Wahrheit ein ‘feindliches Schicksal’ nennt, so ändert das an dem eigentlichen Tatbestand nichts. Der Sinn des Lebens wird durch die verhängnisvolle Unzulänglichkeit derer, die ihn verneinen, nur bestätigt, denn dieser Verneinung zwingt die einen – die theoretischen Pessimisten – unwürdig, im Gegensatz zu ihrer Lehre zu leben; bei den anderen aber, den praktischen Pessimisten oder Selbstmördern fällt die Verneinung des Lebenssinns mit der tatsächlichen Verneinung ihres eigenen Daseins zusammen. Es ist klar, dass das Leben einen Sinn hat, wenn diejenigen, die diesen Sinn verneinen, sich auch unwiderleglich selbst dadurch verneinen, die einen durch ihr unwürdiges Dasein, die anderen durch ihren gewaltsamen Tod.» [Hervorhebungen im Original]

 

2

(S. X) Dass der Sinn des Lebens in der Kraft und der Schönheit liege (so wie der unglückselige Nietzsche sagte und so wie im Zeitgeist der Pessimismus bis vor kurzem Mode war), widerlegt sich selbst. Der «Kultus der Ästhetik» (Kraft und Schönheit) bietet keinen Schutz

«gegen die allgemeine und unvermeidliche Tatsache, dass das Ende jeder Kraft hier auf Erden Kraftlosigkeit, dass das Ende aller Schönheit hier auf Erden Hässlichkeit ist.» Dies aber hebt die «scheinbare Göttlichkeit von Kraft und Schönheit auf».

(S. XI) Ist «eine Kraft, die vor dem Tode machtlos ist, wirklich eine Kraft? Ist ein verwesender Leichnam eine Schönheit?» Auch wer Kraft und Schönheit verkörpert, muss «sterben und verwesen, wie das schwächste und hässlichste Geschöpf». Jeder «Anbeter der Kraft und Schönheit» verwandelt «sich bei lebendigem Leibe in einen vernunftlosen Leichnam. Warum erretten Kraft und Schönheit und der Kultus der Schönheit und Kraft» nicht vor dem Sterben? «Wer wird wohl eine Gottheit anbeten, die ihre lebendigen Verkörperungen und ihre Diener nicht erretten kann?»

Es folgt eine Kritik an Nietzsche und dessen wütender Polemik gegen das Christentum. (S. XII) Was die sozialen Unterschiede betrifft: «Sterben die ‘Herren’ nicht?» Das Christentum ist nicht, wie Nitzsche sagt, eine Religion der Sklaven, sondern für alle. Nietzsche wütet gegen die Gleichheit. Das Christentum verneine nicht Kraft und Schönheit, wie Nietzsche behauptet, sondern lehrt den «unendlichen Quell alles wahrhaft Starken und Schönen». und wende sich lediglich gegen «eingebildete, falsche Kräfte und Reichtümer». (S. XIIf.) Nieztsche polemisiere zu unrecht gegen die Demut als angeblich absolutes Ideal des Christentums. Demut sei aber nur der «gerade Weg zu den Höhen, die den Stolzen unerreichbar sind». (S. XIII) Man solle nicht «Kraftlosigkeit und Hässlichkeit anbeten». Es gehe dem Christentum um «eine durch das Gute bedingte Stärke und Schönheit», die «ewig Dauer hat und die in Wirklichkeit … von der Gewalt des Todes und der Verwesung befreit.» Die andere Kraft «stirbt mit jedem Toten».

 

 

3

Aus dem Pessimismus ergibt sich unwillkürlich der Schluss, dass im Leben einen Sinn enthalten sei, und zwar in den «Gütern» des Lebens. Ein einfacher Zugang dazu sei: Wenn ein Sinn im Leben liegt, «dann hat er sich uns schon offenbart», denn wir leben ja. Das heisst, er ist da, und wir müssen ihn nicht erst definieren. Wir müssen uns «ihm nur hingeben» und «ihn in Liebe aufnehmen und ihm unser Dasein und unsere Persönlichkeit unterwerfen, um ihr dadurch ihren Sinn geben.» (S. XIIIf.) Der ‘kosmische Sinn des Lebens’ «kann nicht von uns erdacht werden, denn er ist von Ewigkeit her gegeben

«Von Ewigkeit her sind die festen Stützen und Grundpfeiler der Familie gegeben. Die Familie verbindet durch lebendige, persönliche Beziehungen unsere Gegenwart mit der Vergangenheit und der Zukunft; das Vaterland erweitert und erfüllt unsere Seele mit dem Impuls der Volksseele, ihren rumvollen Überlieferungen und ihren Zukunftshoffnungen; die Kirche endlich befreit uns endgültig von aller Beschränkung und verbindet unser persönliches und nationales Leben mit dem, was ewig und absolut ist.» [Hervorhebung nicht im Original]

(S. XIV) Für jeden Menschen heisse das zunächst: «lebe das Leben», «erweitere nach allen Seiten die Grenzen deines kleinen Ich»,

«sei ein guter Familienvater, ein eifriger Patriot, ein ergebener Sohn der Kirche, und du wirst durch die Tat den rechten Sinn des Lebens erkennen, und es wird nicht nötig sein, ihn zu suchen und seine Bestimmung erst auszuklügeln.»

Doch das alles enthalte nur einen «Keim» von Wahrheit. Denn wenn das «sinnvolle» menschliche Leben von Ewigkeit her «in eine unveränderlich-dauernde Form gegossen» wäre, dann gäbe es «keine Aufgabe für den Verstand». Es wäre nur eine «Frage des Willens» sich zu entscheiden, «ob das absolut Gegebene absolut anzunehmen oder zu verwerfen sei.» Mehr nicht. Die Gestaltung des Lebens sei nicht «fertig vom Himmel gefallen». Die Lebensgestaltungen haben erst in Laufe der Geschichte auf der Erde «Form und Gestalt angenommen», «sie wurden». Daher «haben wir keinen vernünftigen Grund, zu behaupten, dass sie endgültig und in jeder Beziehung schon sind». Das uns aus dem Lauf der Geschichte Gegebene sei kein Abgeschlossenes. Wir Menschen müssten

«arbeiten an der Fortsetzung des Werks, wie auch vor uns die höheren Lebensformen, die für uns heute heiliges Erbgut der Jahrtausende sind, sich nicht von selbst gestaltet haben, sondern durch die Menschen, durch ihr Denken, durch ihre Arbeit in den Opfertaten ihres Lebens und ihrer Verstandeskräfte.»

(S. XV) Es gehe bei der Vielfalt der historisch gewordenen Versuche, das «Ewig-Gute» zu verwirklichen, «also ohne prüfendes Denken nicht». Gott wollte,

«dass dem Menschen kein äusserer Stützpunkt, kein Ruhekissen für seinen Verstand und sein Gewissen gegeben sei: er soll in alle Ewigkeit wachen und inmitten der Welt auf seinen beiden Füssen stehen. […] Und die Ehrfurcht verbietet uns, in uns und in anderen das zu verachten, was Gott selbst ehrt, […], nämlich die innere unschätzbare und unveräusserliche Würde des Menschen in seiner Vernunft und in seinem Gewissen.»

Jene aber, die die Würde des Menschen verachten, und

 «danach streben, den inneren Massstab für die Wahrheit durch einen äusseren zu ersetzen, sie erleben die natürliche Vergeltung im verhängnisvollen Scheitern ihrer Versuche. Gerade diejenigen unter ihnen, […], deren klarer und logischer Verstand die Wirklichkeit erfasst, die vollenden ihre Bahn mit erstaunlicher Schnelligkeit in gerader Linie abwärts, vom Wahren zum Zweifelhaften, vom Zweifelhaften zum Falschen, vom Falschen zum Sinnlosen.»

Es scheine jedem klar und einfach, dass unsere wahre Kirche und die Geistlichkeit die Stimme Gottes sei und dass «alle Fragen des Glaubens und des Gewissens […] von seinem Seelsorger entschieden werden.» Es müssten doch nur alle Seelsorger das gleiche sagen, und am besten gebe es nur einen «allgegenwärtigen» und «unsterblichen» Seelsorger. Denn bei den vielen Meinungen der vielen Seelsorger könne ja auch schnell die Meinung entstehen, «dass Gottes Stimme sich widerspreche.» Hätte allerdings die Autorität des einzelnen Seelsorgers ihre «Bedeutung nur durch ihre offizielle Stellung», dann hätten alle ihm gleichen Amtsinhaber «die gleiche Autorität». (S. XVf.) Weil aber die Seelsorger ihre besondere/äussere Autorität

«durch mein Vertrauen zu ihnen erlangen, so bin ich ja selbst die Quelle und der Schöpfer dieser für mich höheren Autorität, ich beuge mich also vor meiner eigenen Willkür und sehe in ihr den Sinn des Lebens.» [Hervorhebung im Original]

Dahin führe

«das Suchen um jeden Preis nach einem äusseren Stützpunkt für die Vernunft, und die Vorstellung von einem absoluten Sinn des Lebens als etwas, das dem Menschen von aussen zukommt.»[Hervorhebung im Original]

(S. XVI)

«Wer den Sinn des Lebens durch eine äussere Autorität suchen will, der endet damit, dass er für den Sinn des Lebens die Sinnlosigkeit seiner eigenen Willkür hält.»

Eine «äussere Autorität» ist nur «notwendig als ein vorübergehendes Moment», der Mensch dürfe ihr nicht «Ewigkeitsdauer verleihen». Das Entscheidende ist, dass das Ich

«nur durch eine innere seelische Wechselbeziehung mit dem, was mehr ist als es selbst, erweitert werden» kann, nicht durch eine formale Unterordnung, die im Grunde genommen doch nichts ändert.»

 

 

4

Der «gute Sinn des Lebens» sei grösser und sei früher da als der einzelne Mensch. Er kann nicht «von aussen, im Vertrauen auf irgendeine äussere Autorität hin, als etwas Fertiges hingenommen werden.» Es ist ein «notwendige Bedingung eines moralisch-würdigen Daseins», dass es aktiv durch «Glauben, Vernunft und Erfahrung begriffen und angeeignet werden» muss.

Nun droht aber eine weitere moralische Verirrung: Der «moralische Amorphismus oder Subjektivismus», nämlich die «Verneinung aller historischen und allgemeinen Erscheinungen und Formen» aller Versuche, den guten Sinn des Lebens zu leben, und damit «die Verneinung von allem, was nicht eine innere moralische Tätigkeit und einen inneren moralischen Zustand des Menschen bedeutet.» Das ist der direkte Gegensatz zur Unterordnung unter äussere Autoritäten, die fordert, der Mensch müsse sich vor dem weisen und heilbringenden Zustand der Gegenwart beugen und in den Autoritäten das Gesetz seines persönlichen Daseins suchen. (S. XVIf.) Das Leben ist für den moralischen Subjektivisten «nur das Leben unserer Seele». Die Gesellschaft interessiert ihn nicht. Der gute Sinn des Lebens besteht für ihn «nur in den inneren Zuständen der Einzelwesen und in jenen Tätigkeiten und Beziehungen, welche sich hieraus ergeben.» (S. XVII) Der Subjektivismus versteht sich als «Wiederherstellung des echten Christentums». Er nimmt an, dass der «gute Sinn» jedem Menschen angeboren sei. Staat, Kirche und Kultur (Gerichte, Heer usw.) aber würden ihn unterdrücken und verzerren und ihn in Böses verwandeln. Die Menschen sollten sich daher von diesen verderblichen Verzerrungen ihrer Natur lossagen, die durch die Institutionen von Staat, Kirche und Kultur verursacht werden. Eine Minderheit von Menschen halte durch böswilligen Betrug und Gewalt diese Institutionen aufrecht. Entscheidend seien aber Unverstand und «Selbsttäuschung der Mehrzahl der Menschen», die sich dazu mit «Wein, Tabak usw.» Vernunft und Gewissen betäuben. Die Menschen müssten nur ihre Irrtümer einsehen, denke der Subjektivist, sich von ihnen lossagen und ihr Verhalten ändern. Dann würden «alle schlimmen Formen der menschlichen Beziehungen von selbst abfallen», und «alles Böse wird verschwinden.» So werde der gute Sinn des Lebens «durch sich selbst offenbar und verwirklicht sich inmitten der formlosen Masse ‘umherziehender’ Gerechter.» (S. XVIII) Das Christentum habe aber den Tod nicht vergessen. Die Auferstehung sei die Verwirklichung des Heilsgedankens und Ende und Ziel der Geschichte. Der moralische Amorphismus (Subjektivismus) anerkenne zwar den guten Sinn des Lebens. Er verneine aber zugleich «alle seine objektiven Formen» und sei damit «antihistorisch». Die «Weltgeschichte und die Menschheit» habe für ihn keinen Sinn, «deren ganzer Inhalt in dem schöpferischen Aufbau und der Vervollkommnung der Lebensformen besteht.» Alle Lebensformen, die im Laufe der Geschichte von Menschen geschaffen wurden, werden so absolut abgelehnt.

«worauf gründet sich dann die Erkenntnis der organischen Formen, die im Laufe des Naturgeschehens, also im Verlauf jenes Weltprozesses, dessen direkte und untrennbare Fortsetzung der historische Prozess ist, erarbeitet werden?»

Vertreter des moralischen Amorphismus entgegnen, es gebe «ebensowenig einen Volksleib» wie «eine Volksseele». Ein «sozialer Gruppenorganismus» sei «nur eine Metapher». Es gebe nur «Summen einzelner Menschen». Das ist ein «mechanischer Gesichtspunkt» für den es «weder einen individuellen Organismus noch eine individuelle Seele» gibt, sondern unterschiedliche «Zusammensetzungen elementarer, stofflicher Einheiten», also Menschen, «denen jeder qualitative Inhalt fehlt.» Also sei es nur logisch, dass der moralische Subjektivismus auch das Verstehen und Erkennen sowohl «des historischen und organischen Lebens» als «auch allen Daseins» verneint. Denn «vollkommen formenlos und absolut einfach» ist «nur das reine Nichts».

 

 

5

(S. XIX) Zwei extreme moralische Verirrungen waren bisher Thema:
1. Die «Lehre von der Selbstverneinung der menschlichen Persönlichkeit vor den historischen Formen des Lebens, die als äussere Autoritäten gelten, […] die Lehre einer passiven Unterwerfung oder eines Quietismus des Lebens ».

Und 2. die «Lehre der Selbstbehauptung der menschlichen Persönlichkeit vor allen historischen Einrichtungen und Autoritäten, die Lehre der Ordnungs- und Gesetzlosigkeit.»

Beide erfassen «das Gute nicht seinem Wesen nach». Vielmehr wird «irgendein Gutes, das aber auch ein Böses werden kann, an Stelle des Guten selbst gesetzt» [Hervorhebung nicht im Original], und das «Bedingte wird für das Absolute genommen.»

1. Beispiel: Gesagt werde, es sei gut, sich

«den Überlieferungen und Verordnungen seines Volkes und Vaterlandes unterzuordnen oder die moralische Pflicht in dem Mass zu erfüllen, in dem diese Überlieferungen und Verordnungen selbst das Gute zum Ausdruck bringen oder unserer pflichtgemässen Beziehung zu Gott, zu den Menschen und der Welt eine bestimmte Form geben. Wenn diese Bedingung aber in Vergessenheit gerät, wenn die bedingte Pflicht als unbedingte gilt oder wenn das ‘nationale Interesse’ an Stelle der göttlichen Wahrheit gesetzt wird, dann kann sich das Gute in ein Böses und die Quelle vieler Übel verwandeln. Dann ist es wahrlich leicht, zu einem so ungeheuerlichen Standpunkt zu gelangen, wie es kürzlich von einem französischen Minister vertreten wurde, der sa sagte, dass es besser sei, zwanzig Unschuldige hinzurichten, als die Autorität irgendeiner nationalen Einrichtung anzugreifen (porter atteinte).»

(S. XIXf.) 2. Beispiel
Ich ordne mich der Bischofsynode oder einer anderen kirchlichen Obrigkeit «bedingungslos unter» und anerkenne sie «schon im voraus» als eine «unveräusserliche Autorität», «ohne auf das Wesen der Sache einzugehen». Wenn sich aber nun herausstellt, dass die Bischofsynode eine Räuberbande ist, dann bin ich «plötzlich infolge meines überflüssigen, durchaus nicht Gott wohlgefälligen Gehorsams» ein «ungehorsamer Ketzer geworden. Aus dem Guten ist wiederum ein Böses entstanden.» [Hervorhebung im Original] (S. XX)

3. Beispiel:

«weil ich mich auf die Reinheit meines Gewissens und die Kräfte meiner Vernunft zu verlassen fürchte, stelle ich sowohl Vernunft als [auch] Gewissen unter die Führung einer geistlichen Autorität und verzichte auf eigenes Nachdenken und eigenen Willen. Was könnte es Besseres geben? Doch jener Seelsorger ist ein Wolf im Lammfell, er flösst mir verderbliche Gedanken und schlimme Grundsätze ein, und wiederum verwandelt sich das bedingte Gute in eine demütige Hingabe, weil sie unbedingt angenommen wurde, in ein Böses. So entsteht das Böse kraft eines Irrtums, der das Gute selbst mit diesen oder jenen Formen, durch die es zum Ausdruck kommen soll, verwechselt.» [Hervorhebung nicht im Original]

In diesen Beispielen werden alle Formen und Institutionen, also alle äusseren Autoritäten, die das Gute verwirklichen sollen, irrtümlich als «das absolute Gute» verstanden, «was der Wahrheit nicht entspricht und zum Bösen führt.» Zum gleichen Punkt kommt es durch den entgegengesetzten Irrtum, wenn man das Wesen des Guten durch die «Verneinung seiner historischen Ausdrucksform begrenzen will.» Denn dadurch werden alle Formen und Institutionen, die ja das Gute verwirklichen sollen, was ja nicht von alleine passiert, absolut verneint und als «absolutes Böses angesehen, was wiederum nicht der Wahrheit entspricht und daher zu nichts Gutem führen kann.»

Die einen sagen, Gottes Wille offenbare sich uns nur durch den Priester, dann wird an die Stelle von Gottes Willen der des Priesters gesetzt. Die anderen sagen, Gottes Wille könne nicht durch den Priester zu uns sprechen, sondern offenbare sich uns ausschliesslich in unserem Bewusstsein. Dann wird an die Stelle von Gottes Willen das «sich selbst behauptende ‘Ich’» gesetzt. In beiden Fällen geht es aber nicht mehr um den «Willen Gottes selbst». Weder wir noch die Priester dürfen Gottes Willen binden, begrenzen und erschöpfen. (S. XXI) Gottes Wille kann in uns und im Priester sein. Er kann jedoch «absolut und unbedingt» nur «in unserer Übereinstimmung mit ihm [Gottes Willen] selbst» sich ausdrücken, und «in unserer durch die Pflicht gebotenen oder guten Beziehung zu allem» Leben.

Ebenso: Die einen sagen, das praktische Gute des Lebens sei «nur in Nationalität und Staat beschlossen». Fälschlicherweise wird so die «relative Verwirklichung» des Guten mit dem absoluten Guten gleichgesetzt. Andere sagen, die «historische Organisation» des Guten in Form von Nation und Staat sei «Lüge und Übel». Jetzt wird das absolute Gute als etwas Bedingtes hingestellt.

Da es um das Leben in dieser konkreten Welt mit ihren konkreten Menschen in den historisch gegebenen Institutionen geht, sei es doch so, dass das wahrhaft Gute nur «von unserer gerechten und guten Beziehung zu Volk und Staat abhängen kann». Dazu müssen wir erkennen, «was wir ihnen schuldig sind». Wir müssen anerkennen «was in ihnen war und ist», und alles, «was ihnen fehlt». Nur so ist «ihre Bestimmung als vermittelnde Elemente für die Verwirklichung des in der Menschheit lebenden Guten zu erfüllen». Nur so verhalten wir uns «gerecht zu Kirche, Volk und Staat» und können «durch diese gerechte Beziehung sie und uns vollkommener gestalten», denn nun können wir sie erst «in einem wahren göttlichen Sinn» «begreifen und lieben».

Wenn wir den Sinn der Institutionen begriffen haben, warum sollen wir diesen  «verzerren durch eine absolute, blinde Hingabe» oder «eine absolute Verneinung?» (S. XXIf.) Es ist doch «klar wie der Tag, dass nur das absolut angenommen werden darf, was an und für sich seinem Wesen nach gut ist». Und es darf nur das verneint werden, «was an und für sich seinem Wesen nach böse ist». Alles andere aber muss man abwägen und, je «nach seiner wirklichen zu diesem inneren Wesenskern des Guten und des Bösen», annehmen oder ablehnen. (S. XXII) Das Gute hat «seine eigenen inneren Anzeichen und Bestimmungen». Diese sind unabhängig «von irgendwelchen historischen Formen und Einrichtungen, am wenigsten von der Verneinung derselben». Der «moralische Sinn des Lebens» wird daher durch «das Gute selbst» bestimmt, das «in unserem Innern durch Vernunft und Gewissen» zugänglich ist. Und zwar in dem Mass,

«als wir durch moralische Überwindung diese inneren Gesetze des Guten von der Sklaverei unserer Leidenschaften und der Begrenztheit persönlicher und allgemeiner Selbstliebe befreit haben.» [Hervorhebung im Original]

Das ist der «höchste Massstab für alle äusseren Gesetze und Erscheinungen». Der Mensch ist «seiner Bestimmung nach die absolute innere Form für das Gute als seinem absoluten Inhalte». Das Gute «ist durch nichts bedingt, aber alles ist durch es bedingt, und es verwirklicht sich in allem.» Weil es «durch nichts bedingt» ist, ist es «rein». Weil «alles durch es bedingt ist, ist es vollkommen.» Dadurch «dass es sich in allem verwirklicht, ist es Kraft oder tätiges Wirken».

Wäre es nicht möglich, in jedem praktischen Fall «das Gute absolut vom Bösen zu unterscheiden» und «‘ja’ oder ‘nein’ zu sagen» – dann wäre das Leben ganz und gar seines moralischen Charakters und seiner Würde beraubt.»

«Ohne die Vollkommenheit des Guten, ohne die Möglichkeit, mit diesem Guten alle Erscheinungen des wirklichen Lebens zu verbinden, alle durch das Gute zu rechtfertigen und alle durch das Gute zu bessern, wäre das Leben einseitig und öde. […] ohne die Kraft des Guten, ohne die Möglichkeit seines endgültigen Sieges über alles, ja auch über den ‘letzten Feind’, den Tod, wäre das Leben unfruchtbar.»

Die «inneren Eigenschaften des Guten» bestimmen die «Lebensaufgabe des Menschen». Ihr «moralischer Sinn ist in dem Dienste des reinen, allumfassenden und allmächtigen Guten beschlossen.» Es muss aber ein freiwilliges Dienen sein, «um sich seines Gegenstandes und des Menschen selbst würdig zu erweisen». Und es muss «den Weg durch das menschliche Bewusstsein nehmen.» (S. XXIII) Die Moralphilosophie hat zur Aufgabe, «dem Bewusstsein in diesem Prozess zu helfen, zum Teil das vorzubereiten, wozu es gelangen soll». «Kant ist der Begründer dieser Moralphilosophie als Wissenschaft.» Er blieb aber bei dem ersten wesentlichen Merkmale des absoluten Guten stehen: Dass die Reinheit des Guten einen «formal-absoluten Willen» verlangt, der «sich selbst Gesetz» ist, und der «von jeder empirischen Beimischung frei ist». Denn «das reine Gute will um seiner selbst willen gewählt» werden. Jede «andere Motivierung ist seiner unwürdig.»

Solovjeff geht es um das zweite wesentliche Merkmal des Guten: um dessen «alles umfassende Einheit». Aber er will dieses Merkmal nicht von den anderen Bestimmungen trennen. Wie Kant dies bei der Reinheit tat. Solowjeff hat «den vernunftgemäss-denkbaren Inhalt des einheitlichen Guten» aus den «gegebenen moralischen Tatsachen entwickelt, in denen es enthalten ist.» Es ergab sich dabei keine «abstrakte Idee» (wie Hegel), aber auch keine «empirische Kompliziertheit natürlicher Tatsachen» (Herbert Spencer). Sondern

«es ergab sich Vollkommenheit der moralischen Normen für alle grundlegenden praktischen Beziehungen sowohl des Einzel- als auch des Gesamtlebens. Nur durch eine solche Vollkommenheit findet das Gute seine Rechtfertigung in unserem Bewusstsein, und nur unter der Bedingung einer solchen Vollkommenheit kann es für uns sowohl seine Reinheit als auch seine unbesiegbare Kraft verwirklichen.»

 

 

 

 

Einleitung

Moralphilosophie als Wissenschaft

 

1

(S. 3) Gegenstand der Moralphilosophie ist der «Begriff des Guten» erstens als Wert unserer Handlungen, zweitens als das, was wünschenswert ist zu haben und damit umzugehen: das «eigene Gute». «Aufgerufen durch die Erfahrung» untersucht die Vernunft alles über das Gute, um die Frage nach dem Sinn unseres Lebens zu klären.

Bereits Tiere können zwischen Empfindungen des Angenehmen oder Erwünschten und Unangenehmen oder Unerwünschten werten und unterscheiden und haben eine gewisse Vorstellung davon. Wir können uns über die Einzelempfindung hinaus zu einem «allgemeinen und vernünftigen Begriffe oder zur Idee des Guten und Bösen» erheben. (S. 4f.) Nun gibt es «keine Schändlichkeit, die nicht irgendwo oder irgendwann für das Gute gehalten worden wäre.» Immer in der Geschichte haben die Menschen aber auch allgemeine Normen und Ideale für «jeden anständigen Menschen» geschaffen. Bei allen historischen Wandlungen schwebte dabei den Menschen immer etwas universelles Gutes vor. (S. 4f.) Die Vernunft ist dem Menschen «von Anbeginn an ebenso eigen, wie jede andere organische Funktion dem Organismus eigen ist.» Der Mensch wird aber «nicht mit fertigen Ideen geboren, sondern nur mit der Fähigkeit, sie zu erkennen.» (S. 5) Die vernünftige Erkenntnis wächst und entwickelt sichallmählich im Laufe des Lebens und erkennt allmählich den «würdigen Inhalt» des allgemein gültigen Begriffs des Guten. Es geht um die Erkenntnis dessen, was universeller und notwendiger Inhalt der Idee des Guten ist. Ab einem bestimmten Grad von Klarheit überschreiten wir dabei die Grenze zur Moralphilosophie und Ethik.

 

2

Es gibt einen engen Zusammenhang von Ethik und Religion. Aber keine «einseitige Abhängigkeit» [Hervorhebung im Original] der Ethik von der Religion oder von einer spekulativen Philosophie. Solch eine einseitige Abhängigkeit würde der Ethik «ihren eigenen Inhalt und ihre selbständige Bedeutung nehmen». Es besteht eine weit verbreitete Auffassung, laut der

«die Moral und die Moralphilosophie ganz und gar theoretischen Prinzipien von positiv religiösem oder philosophischem Charakter unterordnet» werden muss. [Hervorhebung im Original]

Diese Auffassung lehnt eine «unabhängige Moral» ab und behauptet: Der Mensch erhalte

«nur von der wahren Religion» die Kraft, «um das Gute zu tun». Der «ganze Wert des Guten liege aber darin, dass es getan werde; folglich hat eine von der Religion getrennte Ethik gar keine Bedeutung.»

(S. 6) Ohne Zweifel verleiht die wahre Religion die Kraft, das Gute zu tun. Aber wenn behauptet wird, dass «nur durch die Religion diese Kräfte übermittelt werden können», und dass es «ohne sie unmöglich ist, irgend etwas Gutes zu tun», dann schliesst das «jede andere Möglichkeit» aus. Das widerspricht «der Lehre des grössten Verteidigers religiöser Rechte, dem Apostel Paulus selbst.» Denn dieser erkannte, «dass einem natürlichen Gesetz zufolge auch die Heiden Gutes tun können.» [Hervorhebung nicht im Original] In Römer 2, 14-15 heisst es:

«Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die da beweisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen.»

Um die Kraft zu haben, das Gute zu tun, muss man «einen Begriff davon» haben, «was das Gute sei». Andernfalls «wäre seine Erfüllung nur eine mechanische Handlung.» Der «ganze Wert des Guten» besteht nicht nur aus «seiner Erfüllung», auch «die Art der Erfüllung ist wichtig».

«Eine unbewusste, automatische Ausführung guter Handlungen entspricht nicht der Würde des Menschen und ist daher auch nicht der Ausdruck für ein menschlich Gutes.»

Guten zu tun ist

«aber auch ohne wahres religiöses Empfinden möglich, wie die tägliche Erfahrung im Leben und in der Geschichte lehrt».

Sowohl die Heiden vor Christi Geburt als auch die Ungläubigen danach, taten das Gute «nach dem natürlichen Gesetze, das ihnen ‘in ihre Herzen geschrieben’ war.» (Fussnote) (S. 6f.) Zu fordern, die Kraft zur Erfüllung des Guten könne «nur von Gott kommen», wäre eine ketzerische, denn sie würde Gott Schranken auferlegte. (S. 7)

Die «Erfahrungstatsachen» (!) stimmen mit der Bibel darin überein. Die «Möglichkeiten zur Erlangung moralischer Kräfte» ist «mit der positiven Religion nicht erschöpft»; «denn es gibt Menschen, die, ohne religiös zu sein, das Gute erkennen und tun»; «diese Wahrheit gelten zu lassen» ist daher «auch vom religiösen Standpunkt geboten». Und folglich hat die Religion auch «in gewisser Weise die Unabhängigkeit der Moral von der positiven Religion und die der Moralphilosophie von der Glaubenslehre anzuerkennen». [Hervorhebung im Original]

Die «sogenannte Natur- oder Vernunftreligion» entstand aus der Moralphilosophie. Ohne Ethik fehlt ihr jeder Sinn. Das betrifft vor allem jene zeitgenössische Dogmatik, «dass das moralische Leben ganz und gar von den Dogmen und den Einrichtungen der positiven Religion zu bestimmen sei und sich diesen absolut unterzuordnen habe.» (Fussnote) Aber auch wenn wir von der Wahrheit unserer Religion vollkommen überzeugt sind, so gibt uns das

«nicht das Recht, die Augen vor der Tatsache zu verschliessen, dass es viele Religionen gibt und dass jede von ihnen sich ausschliesslich für die rechtmässige hält.»

Dem Denkenden geht es aber um die objektive Wahrheit. Er hat das Verlangen, unseren Glauben «objektiv zu rechtfertigen» und sucht daher

«solche Gründe dieses Glaubens anzuführen, die nicht nur für uns, sondern auch für andere, für alle endgültig überzeugend sind.»

(S. 8) Die Schönheit eines Gottesdienstes besteht nicht in der Ästhetik der Formen und Farben,

«sondern darin, dass ihr Schönheit so klar und vollkommen als möglich den geistigen Inhalt einer wahren Religion zum Ausdruck bringt.»

Dieser geistige Inhalt ist dogmatisch, in der Hauptsache aber ethisch:

«die Heiligkeit des Göttlichen, die Liebe Gottes zu den Menschen, die Dankbarkeit und Hingabe der Menschen an den Vater im Himmel, ihre Brüderlichkeit untereinander, das alles macht jenen idealen Wesenskern aus, der schon in Personen und Ereignissen der Heiligen Schrift verkörpert war und […] in den Ritualen, Symbolen und Kirchengesängen seine künstlerische Verkörperung erfährt.»

Die einen erfahren des Wesenskern durch die Kulthandlungen. Andere nehmen ihn bewusst als Lehre auf, und hier «überwiegt das Moralische entschieden das Dogmatische der religiösen Lahre.»

(S. 8f.) Die «metaphysischen Dogmen» des Christentums gehen «über das Mass der gewöhnlichen Verstandeskräfte hinaus». Sie können daher «nicht die ersten Werkzeuge sein», um Nichtgläubige von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen. Um Anders- oder Ungläubige «zu überzeugen, bleibt nur übrig, auf die moralische Überlegenheit unserer Religion hinzuweisen.» (S. 9) Die römisch Katholischen betonen die moralische Kraft «der päpstlichen Monarchie» als Beschützer der Gerechtigkeit und den Einfluss ihrer Geistlichkeit auf die Menschen. Sie sagen nicht, dass Herrschsucht und Macht an sich gut seien, sondern dass Macht «nur ein notwendiges Mittel» sei, «um ihre Moralischen erfüllen zu können.»

Die Protestanten pochen auf die moralische Höhe und Reinheit ihrer Lehre.

Die griechisch Katholischen werfen der römischen Kirche Herrschsucht vor, (S. 10) sie lehnen den Fanatismus, die Weltliebe und den Eigennutz Roms ab, machen die römische Kirche für Ketzer- und Heidenverfolgung verantwortlich und klagen an: die Inquisition, den Ablass und die jesuitische Moral. Die griechisch Katholischen werfen den Protestanten «Individualismus» vor, «der die Kirche als ein reales moralisches Ganzes beseitige.»

Keine der Streitenden lehnt jedoch die moralischen Prinzipien der anderen ab!

(S. 11) Die Streitenden besitzen alle «die gleichen moralischen Grundlagen» und haben «die gleichen ethischen Prinzipien und den gleichen Massstab für die ethische Wertung». Sie streiten «nicht über diese Dinge selbst, sondern nur über deren Anwendung». Diese Prinzipien gehören keinem besonderen Bekenntnis an,

«sondern sie bilden jenen allgemeinen Massstab, den alle gleichermassen in Betracht ziehen.»

Jeder sagt dem anderen eigentlich immer nur das Gleiche:

«Ich wende dieselben moralischen Prinzipien, die du auch befolgen willst, richtiger und besser an als du, darum musst du mein Recht anerkennen und dich von deinen Verirrungen lossagen.»

Die «ethischen Normen» werden von allen Konfessionen vorausgesetzt und hängen nicht von den Unterschieden der Glaubensbekenntnisse ab.

(S. 11f.)

«Die Normen also, die dem Christen und dem Heiden gemeinsam sind, und die dem Heiden ‘eingeschrieben sind in sein Herz’, sie sind von einer positiven Religion überhaupt unabhängig. […] alle positiven Religionen […] erkenne in gewisser Weise gerade dadurch, dass sie sich bei ihren gegenseitigen Streitereien ihre Rechte oder Ansprüche von den allgemeinen moralischen Normen bestätigen lassen, ihre Abhängigkeit von diesen an».

 

3

(S. 12) Die moralischen Normen sind «unabhängig […] von den politischen Religionsformen». Sie sind das ‘eigene Objekt’ der Moralphilosophie als selbständige Disziplin. Die Vernunft schafft eine Moralphilosophie. Dadurch

«entwickelt sie nur auf dem Weg der Erfahrung die ihr von Anfang an eigene Idee des Guten oder, was dasselbe ist, die primäre Tatsache eines moralischen Bewusstseins.» [Hervorhebung im Original]

Die Vernunft überschreitet ihr Gebiet dabei nicht. Sie ist dabei auch nicht durch die «Frage nach einer transzendentalen Erkenntnis der Dinge an sich bedingt.» In der Moralphilosophie erforschen wir einzig

«unsere innere Beziehung zu unseren eigenen Handlungen», «d. h etwas fraglos unserer Erkenntnis Zugängliches, da wir es ja selber ausführen. […] Die Moral wird in ihrem idealen Inhalte durch dieselbe Vernunft erkannt, die sie […] hervorbringt, und folglich fällt hier die Erkenntnis mit dem Gegenstande der Erkenntnis zusammen».

(S. 12f.)

«Der Verlauf und die Resultate dieses Gedankenprozesses sprechen für sich selbst, ohne etwas anderes als allgemein logische und psychologische Bedingungen einer jeden Verstandestätigkeit vorauszusetzen.»

(S. 13) Ohne Metaphysik in Anspruch zu nehmen,

«bleibt die Ethik […] unbeteiligt beim Streite zwischen der dogmatischen und kritischen Philosophie, von denen die erstere die Realität und […] die Möglichkeit einer solchen Erkenntnis behauptet, während die letztere […] eine solche Möglichkeit und Realität verneint.»

Zwei Fragen haben eine verhängnisvolle Bedeutung für die Moral. Erstens: Jedes Forschen beginnt mit dem

«Zweifel an der objektiven Richtigkeit unserer Erkenntnis, nämlich die Frage: sind die Dinge in der Tat so, wie wir sie erkennen? Dieser Zweifel an unserer Erkenntnis führt folgerichtig zum Zweifel am Dasein des zu Erkennenden selbst d. i der Welt […]. Diese Welt wird durch unsere Sinneswahrnehmungen geschaffen, die unsere Vernunft zu einem zusammenhängen Ganzen verbindet.»

Sind also diese Wahrnehmungen nicht «etwa nur unsere Empfindungen, und ist dieser Zusammenhang der Dinge nicht nur unser Gedanke?» Wäre «die ganze Welt nur meine Vorstellung», dann wären

«alle diese Wesen, zu denen ich in einer moralisch-praktischen Beziehung stehe, […] alle Menschen, ausgenommen ich selbst, als untrennbare Teile dieser von mir vorgestellten Welt […] nur meine Vorstellung.»

Moral bestimmt aber meine «pflichtmässige Beziehung zu anderen Menschen». Gäbe es die Menschen aber gar nicht, wären moralische Vorschriften «gegenstandslose und unerfüllbare Forderungen.» Das «Nichtsein aller Wesen» kann nicht «Gegenstand wahrer Erkenntnis sein». (S. 14) Wenn mein Gewissen mich zu moralischen Handlungen verpflichten würde, aber

«die Vernunft mir theoretisch mit der gleichen Untrüglichkeit beweisen wollte, dass diese Dinge gar nicht da seien, und dass folglich die auf sie bezüglichen Gebote sinnlos seien, wenn die praktische Überzeugung auf diese Weise durch eine gleich starke theoretische Überzeugung erschüttert werden könnte, und wenn die Untrüglichkeit des Gebotes durch die untrügliche Erkenntnis seiner Unerfüllbarkeit aufgehoben werden würde, dann wäre die Sachlage in Wahrheit trostlos.»

Aber es gibt

«einen solchen Zusammenprall gleich starker Überzeugungen nicht und kann es auch nicht geben. Der Zweifel am selbständigen Sein anderer Wesen bedingt keineswegs die Überzeugung von ihrem Nichtsein».

Angenommen, unsere Gefühle und unsere Vernunft «wären unglaubwürdige Zeugen für das Dasein anderer Wesen»,

«so folgt aus der Unglaubwürdigkeit der Zeugen logischerweise nur die Unrichtigkeit ihrer Angaben, keineswegs jedoch die Überzeugung von der Richtigkeit des Gegenteils.»

Wenn ein Zeuge

«über eine Tatsache, deren Zeuge er in Wirklichkeit gar nicht war, eine falsche Aussage gemacht hätte, wer könnte wohl daraus schliessen, dass die Tatsache selbst als solche nicht doch vorhanden sei?»

Unsere Gefühle und Vernunft sind Zeigen vom Vorhandensein anderer Menschen und der Welt. Gesetzt den Fall, eine Untersuchung bewiese, dass Gefühle und Vernunft «nur das Sein der Dinge in unserer Vorstellung, aber nicht ihr selbständiges Dasein verbürgen könne», dann würden wir sofort am Dasein der Welt zweifeln. Denn dann wäre alles,

« was nicht unzweifelhaft den Inhalt unserer Gefühle und unserer Vernunft ausmacht, überhaupt auch gar nicht vorhanden.»

Das wäre aber eine «völlig willkürliche» Behauptung. Für sie liesse sich weder eine logische «noch irgendeine vernünftige Ursache anführen».

(S. 15) Es bleibt also nur Zweifel. Dieser könne eine moralische Überzeugung nicht untergraben. Der Zweifel bezieht sich nur auf «die eine Seite der moralischen Sphäre». Denn jedes ethische Gebot «berührt doch nur mit seinem äusseren Ende» den anderen Menschen.

«Seine eigentliche Grundlage liegt immer im Innern des Handelnden selbst, des Subjekts, wohin weder die positive noch die negative Theorie der Welt Zutritt haben kann.»

Jener kleine Teil des ethischen Gebots, der den anderen Menschen berührt, «macht eigentlich nur das Rechtsgebiet und nicht die Moral im engeren Sinne aus.» Das Recht und «nicht die Moral im eigentlichen Sinne» verbindet die Handlung mit einem Objekt. Das Recht entstammt der Moral und kann nicht von ihr getrennt werden. Dennoch sind Recht und Moral zwei unterschiedliche Bereiche.

(S. 15f.) Wenn ein Kriminalist und eine Moralist einen Mord verurteilen, dann stützen beide ihr Urteil auf die gleiche «Gesamtsumme psychologischer Momente», die in die Tötungshandlung münden, und ihre Schlussfolgerungen sind die gleichen. (S. 16) Doch sind bei beiden der Ausgangspunkt und «der ganze Ablauf ihrer Gedanken […] verschieden und einander entgegengesetzt.» [Hervorhebung nicht im Text] Der Kriminalist geht von der «objektiven Tatsache» aus, also von «einer Handlung, die das Recht eines anderen verletzt.» Der Täter ist für ihn ein «unnormales Glied der Gesellschaft». Nur um diese schädliche Handlung vollkommen zu beschreiben, «bekommen auch die inneren psychologischen Momente Bedeutung», die «verbrecherische Absicht» und alle «subjektiven Bedingungen der Tat». Man könnte ein Leben lang über Wut und Mord nachsinnen, ohne einen Mord zu begehen. So bliebe diese «Seelenstimmung» immer nur ein subjektiver psychischer Zustand, und man würde nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommen. Auch wenn man, moralisch gesehen, eine böse Absicht hegt. «Vollkommen im Gegensatz» zum Kriminialisten fordert eine moralische Betrachtung bei jedem Ausbruch von Zorn und Bosheit eine Be- und Verurteilung, auch wenn keine äussere Handlung daraus entsteht. Der psychische Zustand hat seine eigene Bedeutung ohne objektive Handlung. Der Mord hat keine eigene objektive Bedeutung, er bekommt diese von dem bösen Gefühl. [Er ist eine Tötung aus «niederen» Motiven: Eifersucht, Habgier etc.]

«Für den Juristen ist der Mord eine Rechtsverletzung oder ein dem Opfer des Verbrechens und der gesellschaftlichen Ordnung gegen das Gesetz zugefügter Verlust. Vom rein moralischen Standpunkt jedoch ist die Vernichtung des Lebens an sich noch kein Verlust, sondern kann sogar für den Getöteten ein Gewinn sein.»

Der Mord sei

«nur für den Mörder ein unzweifelhafter Verlust, nicht als Tatsache, sondern als das letzte Wort jener Bosheit, die an sich schon insofern ein Verlust für den Menschen ist, als sie seiner Würde als einem vernunftbegabten Geschöpf Eintrag tut.»

(S. 16f.) Ethisch gesehen, ist der Mord schlimmer als ein Zornausbruch, aber

«nur, weil der Mord den stärksten Grad derselben bösen Leidenschaft bedingt, die auch den Zornausbruch verursacht, und durchaus nicht, weil das erstere eine schlimme Tatsache, das andre nur ein Gefühl ist.»¨

(S. 17) Wer «in der festen Absicht, seinen Feind zu töten, eine Puppe durchbohrt», der ist

«moralisch vollkommen einem Mörder gleichzuachten, trotzdem er niemanden getötet hat und niemandes persönliche Rechte verletzt hat. Gerade darum ist vom juristischen Gesichtspunkte aus durch diese verbrecherische Tat an einem für das Verbrechen untauglichen Objekte nicht, einem Mord […] Ähnliches geschehen, sondern es hat vielleicht nur eine nichtsagende Sachbeschädigung» stattgefunden.»

Es ist «die ganze moralische Bedeutung unserer Handlungen» ein «Kennzeichen geistiger Zustände». Wer von einer Leidenschaft, wie zum Beispiel Zorn, beherrscht ist, dessen Geist ist passiv, er ordnet sich innerlich «einer schattenhaften Äusserlichkeit» unter. In diesem Sinne ist die Leidenschaft des Zorns unmoralisch. Der «Grad der Unmoralität» ist «direkt proportional» zu dem «Entwicklungsgrad der gegebenen Leidenschaft» und dem Grad «unserer Passivität». Je stärker die Leidenschaft, desto grösser die «Passivität des Geistes». Zorn, der sich «bis zum vorsätzlichen Mord gesteigert hat», ist «unmoralischer als eine augenblickliche moralische Aufwallung».

Zurück zur Frage, ob die Welt ein Trugbild sei. Das wäre fatal für die «nach aussen gewandte Seite der Ethik». Nicht aber für «ihr eigens inneres Gebiet». Ich würde aber «aufhören, für die Erhaltung fremder rechte Sorge zu tragen.»

(S. 18) Ich würde aber immer noch um

«die Wahrung meiner eigenen inneren Würde besorgt sein […] wenn mir geträumt hat, dass ich jemanden ermordet habe, so werde ich mich beim Erwachen weniger über die Handlung schämen, als ich darüber froh sein werde, dass es nur ein Traum war; über jenes hasserfüllte Gefühl jedoch, das ich im Traum erlebt habe, werde ich auch im Wachen Scham empfinden.»

Die theoretische Philosophie kann nur an dem Dasein der Objekte zweifeln, kann aber nicht von ihrem Nichtsein überzeugen. Selbst wenn man davon überzeugt wäre, dass andere Wesen nicht Objekte unseres moralischen Handelns sind, so würde das eigentliche Gebiet der Ethik davon nicht berührt werden. Das beweist «die innere Selbständigkeit der Moralphilosophie».

 

 

4

(S. 19) Man sagt oft, dass moralisches Denken von der Frage der Willensfreiheit abhängt: Unser Handeln sei «entweder frei oder notwendig». Dass unser Handeln «notwendig» sei, nennt man ‘Determinismus’. Wenn alle Handlungen «mit Notwendigkeit» geschähen, wäre jede Moralphilosophie sinnlos. Hierbei wird der «mechanische Determinismus» mit dem «Determinismus überhaupt» verwechselt. Selbst Kant sei davon nicht ganz frei. Der «allgemeine Determinismus behauptet nur», dass eine menschliche Handlung

«durch zureichende Gründe bestimmt werde […], ohne welche sie nicht geschehen könne und mit welchen sie notwendig geschehen müsse.» [Hervorhebung im Original]

Es gibt aber dreierlei Hauptarten des Determinismus:

  1. a) «den mechanischen» (gäbe es nur ihn, würde er die Moral ausschliessen)
  2. b) «den psychologischen» (er lässt einige moralische Elemente zu)
  3. c) «den vernünftig-ideellen» (er wird allen moralischen Forderungen gerecht)

a) Der «mechanische» D. Alles, was ist, sei «die Summe mechanischer Bewegungen des Stoffes» (Materialismus). Um «im Menschen nur ein Rad der Weltmaschine zu sehen», muss man die Maschine anerkennen.

(S. 20) Wir finden schon «im Tierreich […] eine innere psychologische Notwendigkeit», die

«nicht auf irgendeinen Mechanismus zurückgeführt werden kann. Tiere werden nicht nur von aussen zum Handeln bestimmt, sondern aus sich selbst heraus […] durch anreizende Motive, d. i. durch eigene Vorstellungen».

Sie können durch Äusseres «hervorgerufen» werden. Sie entstehen und wirken «im Verstandesleben des Tieres seiner eigenen Natur gemäss». «Freiheit ist hier natürlich nicht vorhanden.» Zu Unrecht setzt Kant [und nicht nur er, alle, die Tiere als Maschinen auffassen] diese «psychologische Notwendigkeit» mit der «mechanischen» gleich. Kant: Die «Belebung des Stoffes» sei «nichts Besseres als die Freiheit eines Kreisels, der einmal losgelassen seine Bewegung auch selbst ausführt.»

S. 21

«Wenn wir jedoch vom Tiere sagen, dass es sich selbst bewege, so verstehen wir darunter gerade seinen eigenen, inneren Anteil an der Ausführung der Bewegung.»

Es flieht nicht, weil ihm

«von aussen der Anstoss zu solchen Bewegungen gegeben worden ist, sondern weil es in diesem Augenblicke Furcht vor dem Feind […] in sich empfindet.»

Diese «psychologischen Zustände» im Tier sind keine «freien Willensbetätigung», denn sie «bringen nur schon vorhandene, für gewisse Bewegungen zugerichtete Mechanismen in Tätigkeit.»

Was aber «nicht zulässt, dieses Leben nur auf eine mechanische Gesetzmässigkeit zurückzuführen», ist: dass die äussere Umgebung des Tiers

«im Tier selbst in Form von Motiven […] seine Bewegungen nach seinen eigenen Gefühlen von Lust und Unlust bestimmen.»

Diese «Empfindungsfähigkeit» des Tiers ist untrennbar mit dem «Wollen und dem Vorstellen verbunden», zu dem das Tier schon fähig sei. (S. 21f.) Einem mechanischen Automaten fehlt ein «eigenes inneres Leben». Beim Tier aber existiert eine «Beseeltheit».

 

5

(S. 22) Der Mensch und die Tiere sind eine Einheit von «mechanischen» [gemeint ist organischen] und «psychologischen» Notwendigkeiten. Die psychologischen werden von den organischen «nicht … aufgehoben» und können auf die mechanischen auch «nicht … zurückgeführt werden». Bei Menschen finden wir zudem die «moralische Notwendigkeit». Ihr Wesen besteht darin, dass nicht nur Lust- und Unlust

«als Motiv oder als zureichender Grund» auf das menschliche Handeln einwirkt, sondern auch «die allgemeine vernunfterfüllte des Guten, die auf den bewussten Willen als absolute Pflicht oder als kategorischer Imperativ».

(S. 23) Das heisst in einfacher Sprache:

«Der Mensch kann das Gute ungeachtet und trotz aller eigensüchtigen Gedankengängen um der Idee des Guten willen selbst tun, einzig und allein einem ehrfurchtsvollen Pflichtbewusstsein oder einem moralischen Gesetz zufolge.»

Sie «ist der Höhepunkt der Moral» und:

«dennoch vollkommen vereinbar mit dem Determinismus und fordert durchaus nicht die sogenannte Freiheit des Willens.»

Wäre «die Moral nur unter der Bedingung einer freien Wahl möglich», dann wäre die Formel «moralische Notwendigkeit», welche die Vertreter des «freien Willens» anführen, ein Widerspruch in sich.

Ein Handlung ist notwendig, wenn sie vollständig abhängig ist «von ihrer sie bestimmenden Ursache.» (eine ‘zureichende Ursache’) Ein Schlag ist eine mechanische Notwendigkeit. Ist die Ursache eine «seelische Erregung», «so ist die Notwendigkeit eine psychologische, und wenn es die Idee des Guten ist, so ist die Notwendigkeit eine moralische.» Man kann psychologische Vorgänge nicht auf Mechanik zurückführen. Man kann aber auch nicht die Moral auf psychologische Vorgänge zurückführen,

«dass die wahren Motive des menschlichen Handelns nur seelische Affekte sein können, und nicht das Bewusstsein der Pflicht, oder dass der Mensch niemals aus seinem Gewissen heraus handelt.»

Nur in «verhältnismässig seltenen Fällen» gibt

«die moralische Idee … den zureichenden Grund des Handelns ab». «Die moralische Notwendigkeit ist nur die höchste Blüte auf dem Gebiet der Psychologie der Menschheit, und darum ist ihre Bedeutung die Philosophie eine um so grössere.»

(S. 24) Die Fähigkeit des Menschen, «durch Vorstellungen oder Motive zu seinen Handlungen bestimmt zu werden», befreit ihn «von der Abhängigkeit von ausschliesslich physischen Ursachen», zum Beispiel einem Schlag. Heisst: Die «physiologische Notwendigkeit ist die Befreiung von mechanischer Notwendigkeit.» Die «moralische Notwendigkeit» befreit in dem gleichen Sinn «von der niederen physiologischen Notwendigkeit.» Ein Mensch, der

«sich in seinem Handeln von der reinen Idee des Guten oder von einer absoluten Forderung einer moralischen Pflicht»

bestimmt ist, ist

«von der überwiegenden Gewalt seelischer Affekte frei geworden und erfolgreiche selbst gegen die machtvollsten dieser Affekte kämpfen kann. Doch diese vernunfterfüllte Freiheit hat nichts gemein mit der sogenannten Freiheit des Willens, deren eigentlicher Sinn darin besteht, dass der Wille durch nichts anderes bestimmt werde, ausser durch sich selbst oder, wie es […] [bei] Duns Scotus heisst, dass ‘nichts ausser dem Willen selbst den Akt des Wollens im Willen verursacht.» [Hervorhebung im Original]

Es gibt eine «Freiheit des Willens». Aber es gibt «eine solche Freiheit in moralischen Handlungen nicht». Nur: Bei moralischen Handlungen

«ist der Wille nur das Bestimmte, das Bestimmende aber ist die Idee des Guten oder das moralische Gesetz, das allgemein und notwendig ist und das […] vom Willen abhängig ist.» [Darum nützt auch der reine Appell nichts.]

Es kann sein, dass die «Annahme oder Zurückweisung des moralischen Gesetzes […] nur vom Willen abhängig ist». Das erklärt, warum die gleiche Idee des Guten bei dem einen zum Handeln führt, bei einem anderen nicht. Zudem erscheint dieselbe moralische Idee dem einen klarer als einem anderen. Und zudem haben unterschiedliche Menschen unterschiedliche Grade an Aufnahmefähigkeit «für eine moralische Begründung.» Man muss allerdings immer auch empfänglich sein für eine Ursache oder Notwendigkeit.

(S. 25) Damit die Idee des Guten «eine genügend starke Begründung oder Motivation» erhält, die sie zu etwas «Pfichtgemässen» macht, ist zweierlei nötig: Das Bewusstsein muss erstens die Idee mit «einer ausreichenden Klarheit und Fülle» erfassen, und zweitens muss der jeweilige Mensch mit einer «ausreichenden moralischen Empfänglichkeit» ausgestattet sein. Beides muss entwickelt sein, damit das moralische Motiv «mit Notwendigkeit wie jede andere Ursache» wirkt. Abraham zum Beispiel will als Gerechter gemäss dem Gesetz seinen Sohn töten, aber «ihm fehlt der Begriff dessen, was gut und was nicht gut sein kann», was zeigt, «dass das Studium der Moralphilosophie auch für den Gerechten keine nutzlose Beschäftigung ist.» (S. 26) Wenn ich ein moralisches Gesetz aus Ehrfurchtund allein um seiner selbst willen erfüllen will», so ist diese, meine «Fähigkeit, das moralische Gesetz so hoch und selbstlos zu verehren, es allem andern vorzuziehen, eine Eigenschaft von mir und keine Willkür». Die daraus resultierende Handlung ist «eine vernunfterfüllte, freie», denn sie «unterliegt der moralischen Notwendigkeit» und ist nicht zufällig. Sie allerdings «relativ frei», nämlich

«frei von einer niederen, mechanischen und psychologischen Notwendigkeit, keineswegs aber frei von der inneren höheren Notwendigkeit des absolut Guten.»

«Die Moral und die Moralphilosophie haben durchaus als Grundlage eine vernunfterfüllte Freiheit oder eine moralische Notwendigkeit und schliessen eine irrationale, absolute Freiheit oder eine willkürliche Wahl vollständig aus.»

Damit die bewusste Wahl des Menschen «mit voller innerer Notwendigkeit von der Idee des Guten» bestimmt wird und damit diese Wahl genügend motiviert ist, muss «der Inhalt dieser Idee» entwickelt werden, damit die Vernunft sie «in ihrem vollen Umfange für den Willen zur Darstellung bringen könne». Das ist das Werk der Moralphilosophie. Dadurch

«steht die Ethik mit dem Determinismus nicht nur im Einklang, sondern sie bedingt sogar durch sich eine höhere Offenbarung der Notwendigkeit.»

Denn wenn

«ein moralisch hoch entwickelter Mensch seinen Willen mit vollem Bewusstsein der von ihm vollständig erkannten, bis zum Ende durchgedachten Idee des Guten unterwirft, dann ist es ja für jeden klar, dass in dieser Unterordnung unter ein moralisches Gesetz keine Willkür liegt, [sondern] dass sie vollkommen notwendig ist.»

Aber «auf dem Gebiet der inneren Seelenwelt» «gibt es eine absolute Freiheit der Wahl». (S. 27) Es ist keine Willkür, wenn wir das Gute wählen, sondern es ist dessen «Überlegenheit» über entgegengesetzte Prinzipien. Ich wähle das Gute, «weil es gut, weil es das Positive ist», und weil ich fähig bin, seine Bedeutung zu werden».Was aber passiert, wenn ich «das Gute abweise und das Böse wähle?»

Eine bestimmte ethische Richtung antwortet: weil wir das Böse nicht kennen und es irrtümlich für das Gute halten. Man kann unmöglich beweisen, «dass das immer so ist». Wenn wir empfänglich sind für das Gute, es genügend kennen und wollen, bleibt aber eine Frage offen: Ist eine «unzureichende Empfänglichkeit für das Gute und die Empfänglichkeit für das Böse» «notwendigerweise» eine «Naturtatsache»? Oder hängt eine «Empfänglichkeit für das Böse» nicht auch vom Willen ab? Der Wille zu Bösem, der sich auf keine rationalen Gründe berufen kann, «denn die Unterordnung unter das Böse anstatt unter das Gute ist vernunftwidrig», könne sich «als die eigentliche und endgültige Ursache seiner Selbstbestimmung offenbaren». Diese Wahl kann der Wille «nur willkürlich treffen», da die Vernunft bei klarem vollkommenen Bewusstsein (sonst ist es ein Irrtum) «keinen objektiven Grund» kennt, «das Böse als solches zu lieben». Ich wähle das Gute, weil sein «positiver Inhalt» unbegrenzt ist. Also ist seine Wahl «eine absolute» ohne Willkür. Für die Wahl des Bösen aber gibt es «keinen bestimmenden Grund, gar keine Notwendigkeit, und die Willkür ist somit eine unendliche.» Also lautet die Frage: Kann das «vernünftiges Wesen» Mensch «bei voller und klarer Erkenntnis des Guten sich in solchem Masse für dieses unempfänglich erweisen, dass es absolut und entschieden das Gute abweist und das Böse wählt?»

(S. 27) «Eine solche Unempfänglichkeit für ein vollkommen erkanntes Gutes wird zu etwas absolut Irrationellem, und nur eine solche irrationale Handlung» entspricht dem «genauen Begriff einer absoluten Freiheit des Willens oder eine willkürliche Freiheit.» Bevor man sich aber fragen kann, ob es solche Menschen geben könne, «die bei voller Erkenntnis des Guten» imstande wären, «dieses freiwillig abzuweisen und das Böse zu wählen», muss die Moralphilosophie herausfinden, «was in der Idee des Guten enthalten ist und was sich aus ihr ergibt.»

«Vor jeder metaphysischen Betrachtung» jedoch müssen wir

«erkennen, was unsere Vernunft als das Gute in der menschlichen Natur ansieht und wie sich dieses natürliche Gute entwickelt und erweitert, indem sie es zur Bedeutung einer umfassenden, moralischen Vollkommenheit hinaufführt.» [Hervorhebung nicht im Original]

 

 

ERSTER TEIL

Das Gute in der menschlichen Natur

I. Von den primären Beweisen der Moral

1

(S. 29) [Die «unteilbare Grundlage einer allgemeinen menschlichen Moral»]

Jede Morallehre wäre «kraft- und fruchtlos» ohne «einen festen Stützpunkt in der moralischen Natur des Menschen». Unabhängig von verschiedenen Denkrichtungen der Menschen zu allen Zeiten, unabhängig von «Rasse», Klima, historischer Situation gibt es dennoch «eine unteilbare Grundlage einer allgemeinen menschlichen Moral». Darauf muss Ethik aufbauen. Die Erkenntnis der Wahrheit hängt nicht von einer «metaphysischen oder wissenschaftlichen Anschauung von der Abstimmung des Menschen ab». Die Menschennatur existiert, egal ob der Mensch ein Produkt der Evolution oder der Schöpfung ist. Darwin leugnet in «Die Bestimmung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl» (3. Kapitel) die «psychische Natur des Menschen» nicht. (S. 30) Darwin schreibt dort, dass «der allerbeste Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Tieren im moralischen Gefühl liege». Es sei kein «zu Erwerbendes», sondern ein «dem Menschen Angeborenes». Er begehe aber den Fehler, der «primären Moral des Menschen einen ausschliesslich sozialen Charakter» zuzuschreiben. Damit komme er den «sozialen Instinkten» der Tiere nahe. Moral sei für Darwin «ein allerletztes Resultat der historischen Entwicklung». «Wilde» hätten nur die Tugenden, «die von den Interessen ihrer sozialen Gruppen gefordert werden».

Es gibt ein Gefühl, «das keinem allgemeinen Nutzen dient, das den höchsten Tieren vollkommen fehlt, bei den allerniedrigsten Menschen jedoch klar zutage tritt.» Selbst der wildeste Mensch schämt sich «jenes physiologischen Aktes» [er umschreibt die Sexualität] und hält ihn für etwas, «was nicht sein darf und verbirgt ihn daher». Damit steht auch die Scham, «die natürliche Nacktheit zu verbergen».

Diese «moralische Tatsache» unterscheidet den Menschen «am auffallendsten» von den anderen Tieren, die die Scham nicht kennen. (31) Naturforscher «einer gewissen Richtung», die kein Schamgefühl bei Tieren finden, verneinen es auch bei den Menschen. Da Darwin keine schamhaften Tiere fand, redet er von der «Schamlosigkeit der wilden Völker». Auch die Menschen in unserem Kulturkreis «halten in vielen Fällen das (32) für erlaubt, dessen wir uns schämen», obwohl sie auch die Scham kennen.

Darwin hielt gewisse sexuelle religiöse Gebräuche alter Völker für Beispiele «primärer Schamlosigkeit». Doch eine derartige «hochgespannte» Schamlosigkeit «setzt doch augenscheinlich das Vorhandensein der Scham voraus.» Antike Riten des Kinderopfers seien auch keine Beweise für fehlendes Mitleid. Später hat man bei Nachlassen der religiösen Gefühle das abgemildert und Ersatz geopfert. Keine Religion kann man ohne Schamgefühl oder Mitleid begründen. Eine wahre Religion setzt die moralische Menschennatur voraus. Eine falsche Religion auch, aber als «Umkehrung». Sie wird zu einer «positiven Unmoral», welche dämonische Kräfte weckt. Die alten sexuellen (z.B.Phallus)Kulte vollziehen «eine potenzierte Demoralisation» und das «Durchbrechen aller jener Grenzen, die von der Natur, der menschlichen Gesellschaft und dem Gewissen vorausgesetzt werden. Der religiöse Charakter dieser furchtbaren Raserei beweist die ungeheure Wichtigkeit der vorliegenden Sache.» (S. 33) Woraus sonst hätte sich «dieser Überspannung aller Kräfte, diese Verderbtheit und dieser Mystizismus ergeben?».

Darwin hätte nicht davon geredet, dass die menschliche Moral mit der tierischen zusammenhänge, wenn er eine «keimhafte Anlage der Schamhaftigkeit bei den Tieren nachgewiesen» hätte. Das Schamgefühl ist ein Merkmal des Menschen allein, auch vom «äusserlichen, empirischen Standpunkt aus.»

 

2

Kein Tier besitz «nur im geringsten Grade» ein Schamgefühl. Es hebt den Menschen aus der Tierwelt und aus der ganzen physischen Natur heraus. Der Mensch beweist, dadurch dass er sich «seiner natürlichen Begierden und der Funktionen seines eigenen Organismus schämt», dass er «nicht nur dieses natürliche physische Geschöpf» ist, sondern «noch etwas anderes Höheres».

«Das, was sich im psychischen Vorgang des Schamgefühls schämt» unterscheidet sich «von dem, dessen es sich schämt». Mit meiner Scham «beweise ich», «dass ich nicht dasselbe bin wie» meine physische Natur. In dem Moment, wo der Mensch «dem physischen Naturprozess unterliegt» und «sich mit ihm identifiziert», kommt mit dem Schamgefühl die Tatsache ins Spiel, dass der Mensch sich in seinem Innern selbständig «dem physischen Leben als etwas anderem, Fremden, das ihn nicht beherrschen darf, gegenüberstellt». Selbst wenn auch Fälle von geschlechtlichem Schamgefühl (S. 34) bei Tieren festgestellt würden, so wäre das nur eine «keimhafte Vorausnahme der menschlichen Natur» und zeigte, dass der Mensch nicht nur ein Tier ist.

Dem geschlechtlichen Schamgefühl wohnt ein tieferer Sinn inne. Er zitiert aus der biblischen Paradiesgeschichte:

«ich schäme mich, folglich bin ich; nicht nur physisch bin ich da, sondern auch moralisch, ich schäme mich meiner tierischen Natur, folglich bin ich als Mensch noch vorhanden.» [Hervorhebungen im Original]

«Durch eigenes Handeln Und durch die Versuchung erlangt der Mensch das moralische Selbstbewusstsein.» (S. 35) Wenn man die Scham deutete als «materiellen Nutzen für das Einzelwesen oder für die Gattung im Kampf ums Dasein», etwa als Instinkt «der allgemeinen oder sozialen Selbsterhaltung», übergeht man ihre «selbständige und ursprüngliche Bedeutung». Aber es findet sich kein Hinweis auf einen Instinkt.

Die geschlechtliche Scham kann auch vorteilhaft sein, zum Beispiel «als ein Schutzmittel gegen den Missbrauch» der Geschlechtlichkeit als einer wichtigen Tätigkeit des Organismus. Tiere kennen kein «schädliches Übermass», sie sind immer ihrem Instinkt «gehorsam», der Mensch schon. Die Scham ist «ein nützliches  Gegengewicht» gegen Missbräuche körperlicher Tätigkeiten. Es gibt aber einen «inneren Widerspruch». Beim Menschen ist der «ursprünglichste und mächtigste Instinkt der Selbsterhaltung» machtlos gegen «das verderbliche Übermass». Woher aber nimmt der «neue, erst entstandene Instinkt der Scham diese Kraft?» Die «instinktiven Antriebe» der Scham haben «keine genügende Macht über den Menschen», vom «utilitaristisch-materialistischen Standunkt aus bleibt dieses Gefühl unerklärbar», ja, statt ein Gegengewicht sein zu können gegen «Missbräuche und Verletzungen natürlicher Gesetzmässigkeit», ist es ein «unnötiges komplizierende Moment». Zudem äussere sich die Scham bis zum «Eintritt der Geschlechtsbeziehungen am stärksten». Und wenn sie am nötigsten wäre … (S. 36) Hätte also das Schamgefühl eine «praktische Bedeutung», wäre es unnütz und verderblich. Welche Wirkung kann man also von der Scham erwarten? Das Schamgefühl tritt in beim Heranwachsenden in Erscheinung, ehe von einem «Missbrauch» eine Rede sein kann. Der «normale Mensch» ist vor dem «verderblichen Übermass durch das einfache Gefühl eines befriedigten Bedürfnisses geschützt». Der «unnormale oder pervers veranlagte Mensch zeichnet sich am wenigsten durch Schamgefühl aus.» Wo – rein utilitaristisch gesehen – das Schamgefühl am nützlichsten sein könnte, ist es nicht vorhanden. Wo es vorhanden ist, ist es, utilitaristisch gesehen, unnütz.

Die Scham wird nicht durch den Missbrauch der Geschlechtlichkeit erregt, sondern die «natürliche Tatsache» der Geschlechtlichkeit selbst «wird als Beschämendes empfunden.» Darin äussert sich «der Instinkt der Selbsterhaltung» in einem «ganz besonderen Sinn», dass nämlich nicht das «physische Wohl» durch die Scham geschützt wird, sondern die «höhere, menschliche Würde», die so «im tiefsten Innern des Menschenwesens ihren Schutz gefunden» hat. Das «geistige Prinzip» reagiert auf Äusserungen des «physisch-organischen Lebens» und erinnert das Bewusstsein, dass der Mensch «nicht nur eine Tatsache der Natur sei», dass er nicht nur «als passives Werkzeug ihrer Lebensziele dienen dürfe.» Aber das ist nur eine «Mahnung». Das «moralische Gefühl» der Scham selbst hat keine «direkte reale Wirkung». Der Wille des Menschen muss sich die Mahnung «nutzbar» machen. (S. 37) Die Schamlosigkeit beweist nur, dass dieser Menschen «sich noch nicht über den tierischen Zustand erhoben hat oder wiederum zu ihm zurückgekehrt ist.» Kann diese «Tierähnlichkeit» die «Bedeutung der moralischen Menschenwürde beseitigen oder abschwächen?» Er antwortet mit einer rhetorischen Gegenfrage, ob der Säugling oder ein Stummer, die beide nicht sprechen können, schwächt.

 

 

3

Das Schamgefühl bestimmt «die ethische Beziehung des Menschen zur physischen Natur». Der Mensch «schämt sich ihrer Herrschaft über sich oder seiner Unterordnung unter sie». Damit anerkennt er «seine innere Selbständigkeit und seine höhere Würde», durch die er über die physische Natur «herrschen», aber nicht «von ihr beherrscht werden soll.»

Das andere grundlegende «moralische Gefühl» in der Menschennatur neben der Scham ist das Gefühl des Mitleids – das «allereinfachste Wort» für das, was sonst «Sympathie» oder «Mitgefühl» genannt wird. Das Mitleid ist

«die Grundlage der ethischen Beziehung […] zu anderen menschlichen Wesen und überhaupt zu allen Lebewesen».

Es besteht darin, dass der Mensch «fremdes Leiden oder fremde Bedürfnisse empfindet» und «mitfühlend äussert» und dadurch «seine Solidarität mit anderen zum (S. 38) Ausdruck bringt. «Der primäre, uns angeborene Charakter dieses moralischen Gefühls» des «Mitleids oder der Teilnahme» wird von keinem Naturforscher oder ernsthaften Denker geleugnet. Im Unterschied zum Schamgefühl ist das Mitgefühl oder die Teilnahme «in der Keimanlage vielen Tieren eigen ist». In der Zoologie wie in der Tierpsychologie wird das beschrieben. Das Mitgefühl hängt eng zusammen «mit den sozialen Instinkten bei den Menschen und den Tieren». Das Mitgefühl ist aber «in seinem tiefsten Grund ein individuell-moralischer Zustand, der weder den sozialen Beziehungen der Menschen noch der Tiere vollkommen entspricht.» [Hervorhebung nicht im Original] Wenn nur das «Bedürfnis des sozialen Organismus» einzige Grundlage des Mitgefühls wäre, hätte man Mitleid nur zu seinem sozialen Ganzen. Das ist nicht immer der Fall, vor allem bei höheren Tieren.

Liebe «im psychologischen Sinn» (ohne Sexualität oder Ästhetik) ist «Mitleid oder Mitgefühl». «Lange vor Schopenhauer hat das russische Volk in seiner Sprache diese beiden Begriffe ‘mitleiden’ und ‘lieben’ identifiziert, die ihm also ein und dasselbe bedeuten.» Die Liebe ist die Äusserung eines «moralischen Gefühls». Nicht nur Haustiere, auch wilde Tiere kennen «zärtlichste Liebe», auch zu anderen Tieren anderer Gattungen. Es sei merkwürdig, dass Darwin sagte, wilde Völker beschränkten ihr Mitgefühl nur auf ihr Gemeinwesen. In den Kulturvölkern hegt die Mehrzahl der Menschen Mitgefühl, (S. 39) «für die Familie und den engsten Kreis.» Das

«individuell-moralische Gefühl kann jedoch bei allen Völkern nicht nur diese engen Grenzen, sondern auch alle anderen empirischen Grenzen überschreiten und tut dies auch in der Tat seit den frühesten Zeiten.» [Hervorhebung nicht im Original]

Man würde «dem unkultivierten Wilden» absprechen, wenn man wie Darwin denkt, dass er

«jemals jene moralische Höhe erreichen könne, die zuweilen von Hunden und Affen, ja sogar Löwen erreicht wird. Dem Gefühl der Sympathie wohnt die Fähigkeit inne, sich unbegrenzt zu erweitern und zu entwickeln, sein Urgrund ist aber bei allen Lebewesen ein und derselbe.» [Hervorhebung nicht im Original]

Die «erste Stufe und Urgrund aller Solidarität» bildet in der Tierwelt, auch beim Menschen, die «Elternliebe, insbesondere die Mutterliebe». Aus diesem Urgrund erwächst «die ganze Mannigfaltigkeit der inneren und äusseren sozialen Beziehungen». Dies zeigt, «dass der individuelle, psychische Wesenskern des moralischen Zusammenhangs nichts anderes ist als Mitleid.» Oder

«in welchem anderen seelischen Gefühle könnte wohl die allererste Solidarität der Mutter mit ihren schwachen, hilflosen, ganz und gar von ihr abhängigen, sagen wir – erbarmungswürdigen Kindern zutage treten?»

 

 

4

Die «uns eigenen Gefühle der Scham und des Mitleides» bestimmen «unsere moralische Beziehung» zu unserer «physischen Natur» und «zu allen anderen Lebewesen». Das Ausmass an Schamhaftigkeit und Mitleid eines individuellen Menschen ist ein Gradmesser für die «moralischen Impulse sich selbst und seinem Nächsten gegenüber». Darüber hinaus besitzt der Mensch noch ein drittes «primäres» moralisches Gefühl, das nichts mit Scham oder Mitleid zu tun hat, (S. 40) die Ehrfurcht (Frömmigkeit, pietas). Sie bestimmt unsere Beziehung zu etwas Höherem. Vor ihm schämt man sich nicht und bemitleidet es auch nicht, sondern beugt sich. Das ist die moralische Grundlage der Religion. Wie Mitleid und Scham ist Ehrfurcht uns angeboren. Im Keime ist es beiden Tieren zu finden.

Im Gefühl der «religiösen Ergebung» mischen sich Liebe, Unterordnung, Abhängigkeit, Furcht, Verehrung, Dankbarkeit, Zukunfts-Hoffnung. Eine «Art Annäherung an diesen Geisteszustand» sehen wir in der «innigen Liebe eines Hundes zu seinem Herrn», aber auch eines Affen, wenn er «nach einer Abwesenheit zu seinem Herrn zurückgekehrt ist», ist «sehr weit von dem verschieden, was diese Tiere zu ihresgleichen äussern.» (S. 41) Bei Artgenossen scheint die Freude etwas weniger und «das Gefühl der Gleichheit zeigt sich» mehr (Darwin).

Der Naturforscher anerkennt in der «quasi religiösen Beziehung des Hundes» zu einem Menschen als einem «höheren Wesen» ein «moralisches Element, das sich vollkommen vom sympathischen Gefühl gegenüber Artgenossen unterscheidet. Dieses «Gefühl zu einem Höheren» nennt er Ehrfurcht, es ist das gleiche Gefühl wie der Mensch es auch besitzt. Religion baut also beim Menschen nicht nur auf «Furcht und Selbstsucht» auf. Der Kern der Religion ist die das «ganz besondere, religiös-moralische Gefühl einer ehrfürchtigen Liebe des Menschen zu dem, was vollkommener ist als er selbst.»

 

 

5

«Herrschaft über die physische Sinnlichkeit, Solidarität mit allen Lebewesen und innere freiwillige Unterordnung unter ein übermenschliches Prinzip, das sind die ewigen, unwandelbaren Grundlagen des moralischen Lebens der Menschheit.»

Als Prinzip bleiben sie immer gleich, auch wenn sie sich im historischen Werdegang von der niedrigsten Stufe vervollkommnen. Alle Tugenden sind «Umwandlungen dieser drei Grundgebiete menschlichen Fühlens» oder «Resultate der Wechselwirkung zwischen ihnen und der Vernunftssphäre». (S. 42)

 

 

III. Mitleid und Altruismus

1

(S. 67) Lange habe man geglaubt – «und viele beginnen es wieder zu glauben» –, die «höchste Tugend» bestehe in der «Askese», also in der «Abtötung des Fleisches», in der «Unterdrückung von natürlichen Trieben und Gefühlen der Sympathie, in Enthaltsamkeit und Leidenschaftslosigkeit». Darin liege insofern ein Stück Wahrheit, als die «geistige Seite im Menschen» über die «physische vorherrschen muss», aber im Sinne von ‘leiten’; nicht im Sinne von Unterdrückung, sondern als ein «geistiger Selbstschutz». Und das sei die «erste Bedingung der Moral». Dass der Geist des Menschen die physischen Teile leiten müsse, sei nicht deshalb nötig, weil das das Ziel des Lebens sei, sondern

«weil der Mensch nur dann, wenn er sich von der Sklaverei seiner blinden und bösen physisch-sinnlichen Triebe befreit hat, in richtiger Weise der Wahrheit und dem Guten dienen und seine positive Vollkommenheit erreichen kann.»

Wenn aber die Askese zum «Selbstzweck» werde,

«entsteht eine besondere Art falscher Askese, die das Fleischliche, d. i. das Sinnliche, mit dem Körperlichen identifiziert und jede Quälerei als Tugend ansieht [Hervorhebung nicht im Original]

Es könne dann auch irgendwann passieren, dass eine solche «Askese der Selbstpeinigung» – «auch wenn sie anfangs keine böse Absicht verfolgt» – «in eine Art langsamen Selbstmordes oder in eine besondere Art Wollust übergeht». Besonders starke «physisch-sinnliche» Menschen bedürfen «vielleicht solcher heroischer Mittel» der Selbstpeinigung …

(S. 68) Damit der die Sinne leitende «starke Geist eine moralische Bedeutung bekomme», also

«gut sei, dazu ist es notwendig, dass die Macht über das eigene Fleisch sich mit ihm in einer positiven, wohlwollenden Beziehung zu anderen Menschen verbinde[Hervorhebung nicht im Original]

Sonst führe die Askese

«zu schreckenerregenden Folgen, wie die Geschichte gezeigt hat. Die Diener der Kirche im Mittelalter, die Ketzer, Juden, Zauberer und Hexen folterten und verbrannten, waren grossenteils im Sinne der Askese untadelige Leute, jedoch die einseitige Kraft des Geistes bei vollständiger Abwesenheit alles Mitleides machte sie zu verkörperten Teufeln. Diese bitteren Früchte der mittelalterlichen Askese rechtfertigen in genügender Weise die gegen sie gerichtete Reaktion, welche auf dem Gebiete der philosophischen Ethik zur Herrschaft des altruistischen Moralprinzips führten.»

Das ‘altruistische Moralprinzip’ habe seinen

«tiefsten Grund in unserer Natur, eben in dem Gefühle des Mitleids, das dem Menschen mit anderen Lebewesen gemeinsam ist.» [Hervorhebung nicht im Original]

Das Schamgefühl hebt den Menschen «aus dem übrigen Naturgeschehen heraus». Das Gefühl des Mitleids aber verbindet uns «mit der Welt aller Lebewesen», und zwar in einem zweifachen Sinn. Erstens weil

«das Gefühl des Mitleids dem Menschen zugleich mit allen anderen Lebewesen eignet, und zweitens, weil alles Lebendige für den Menschen zu einem Gegenstande dieses Gefühls werden kann und soll.» [Hervorhebung im Original]

 

2

Die «natürliche Grundlage unserer moralischen Beziehung zu anderen» hat seine Wurzeln «nicht in dem Gefühl der Teilnahme oder der Solidarität», «sondern eben im Mitleide oder dem Mitgefühle». Das habe weder mit der Metaphysik (z. B. des Buddhismus’) zu tun noch mit Schopenhauers «Willensphilosophie», noch mit Pessimismus. [Es folgt eine längere Zurückweisung Schopenhauers und Hartmanns.]

(S. 69) Genuss, Freude und Lust könnten «unschuldig und direkt gut sein, und dann trägt das Mitgefühl mit ihnen einen durchaus positiven, moralischen Charakter». Oft aber hätten sie auch einen unmoralischen Charakter:

«Ein böser und rachsüchtiger Mensch hat Freude daran, seinen Nächsten zu beleidigen und zu quälen; er geniesst diese Erniedrigung und freut sich am Schaden, den er ihm zufügen konnte. Der wollüstige Mensch findet die Hauptfreuden seines Lebens im Laster, der grausame im Töten von Tieren, ja selbst von Menschen, der Trunkenbold ist glücklich, wenn er sich in den Zustand der Betäubung setzen kann.»

In diesen Fällen verbinde sich die Freude mit bösen Handlungen. Aber: Der Soldat, der im Krieg auf Befehl töte, sei allein dadurch noch nicht unmoralisch und grausam. Es sei denn, er töte mit Hochgenuss. Das Trinken des Säufers allein sei noch nicht unmoralisch. Wohl aber seine «innere Freude, sich künstlich zu betäuben.»

(S. 69f.) Das

«positive Mitfühlen an dem Genusse eines anderen in sich enthält das Gutheissen dieses Genusses; so z. B. heisse ich die Trunksucht gut, wenn ich mich mit dem Trunkenbold an seinem Lieblingsgenuss freue; wenn ich mit einem anderen die Freude an einem erfolgreichen Racheakt teile, so heisse ich dadurch die Rachsucht gut. Da aber solch eine Freude etwas Böses ist, so verfällt derjenige, der dieses Böse gutheisst, logischerweise selbst in Unmoral. Ebenso wie die Teilnahme an einem Verbrechen selbst als Verbrechen gilt, so muss auch die Mitfreude an einem lasterhaften Genusse als Laster gelten. Und in der Tat, das Mitgefühl mit einem verwerflichen Genusse setzt in demjenigen, der sich ihm hingibt, abgesehen von der Zustimmung, dieselbe schlimme Neigung voraus. Denn nur der Trunkenbold freut sich mit einem anderen Trunkenbold, und nur ein boshafter Mensch findet Genuss in der Rachsucht eines anderen. Die Teilnahme an den Genüssen oder Freunden anderer kann also gut oder böse sein, je nach ihrem Objekte, und sie ist daher an und für sich keineswegs die Grundlage moralischer Beziehungen, da sie ja auch selbst unmoralisch sein kann.»

(S. 70) Das gleiche gelte aber nicht vom «Leiden und Mitleiden»

«Seinem eigentlichen Begriffe nach ist Leiden ein solcher Zustand, an dem der Wille des Leidenden keinen direkten und positiven Anteil nimmt.» Wer freiwillig leiden will, will nicht das Leiden, sondern «das Heil, welches durch eben dieses Leiden erreicht wird. Der Märtyrer erstrebt nicht die Marter», sondern «nimmt sie hin» als notwendige Folge seines Glaubens, an dem er festhält, und als «Weg, der ihn zu höchstem Ruhme und zum Himmelreich führt.» [er «zahlt» sozusagen die «Kriegskosten»]

Leiden könne allerdings auch verdient sein, und zwar als Strafe wegen schlimmer Taten.

Immer aber müsse Leiden und Ursache des Leidens getrennt betrachtet werden. Das Leiden selbst «enthält in sich keine moralische Schuld». [Hervorhebung nicht im Original]

(S. 70f.) Daher «kann Mitgefühl oder Mitleid niemals etwas Unmoralisches bedeuten.»

«Wenn ich mit einem Leidenden Mitgefühl empfinde, so heisse ich damit keineswegs die schlimme Ursache seiner Leiden gut. Mitgefühl mit den Leiden eines Verbrechers bedeutet nicht Billigung oder Rechtfertigung des Verbrechens selbst. Im Gegenteil, je grösser das Mitleid ist, das die traurigen Folgen irgendwelcher Vergehung erwecken können, desto schärfer ist auch die Verurteilung dieser Vergehung.» [Hervorhebung im Original]

(S. 71) Die «Teilnahme an fremder Freude kann immer eigennützig sein». Doch ist

«jedes ernste Mitfühlen mit fremdem, moralischem oder physischem Leiden ist drückend für den, der dieses Gefühl hat, und widerspricht daher seinem Egoismus, was schon daraus ersichtlich ist, dass aufrichtiger Kummer über andere unsere persönliche Freude stört und unserem Frohsinn trübt, mit anderen Worten, dass es sich unvereinbar mit dem Zustand einer egoistischen Befriedigung erweist.»

«Daher kann wirkliches Mitgefühl oder Mitleid keine eigennützigen Motive haben, es ist ein reinaltruistisches Gefühl im Gegensatz zur Mitfreude oder zum Mitgenuss, welch letzterer ein Gefühl von gemischtem und in moralischem Sinne unbestimmtem Charakter ist.» [Hervorhebung im Original]

 

 

3

Die Vernunft fordert, dass nur solche Gefühle Grundlage der Moral sein können, die «jederzeit» und «in sich» die «Anreize zu einer bestimmten Handlung enthalten» und «aus deren Verallgemeinerung sich dann ein bestimmtes moralisches Gesetz oder Prinzip ergibt.» [Hervorhebung nicht im Original] Ein Prinzip also, das zu allen Zeiten, an allen Orten und für alle Menschen gelten kann. Nun sei die Freude aber das Ende einer Handlung und nicht der Anfang oder das Prinzip. Und: Weder die «Teilnahme an fremder Freude» noch die eigene Freude seien «Anregung oder Ursache zu einer weiteren Handlung.» Das Mitleid aber ruft uns «dazu auf, ein anderes Wesen von seinen Leiden zu befreien oder ihm zu helfen.» Mitleid ist also die gesuchte «Anregung oder Ursache zu einer weiteren Handlung.»

(S. 71f.) Die durch das Mitleid bewirkte Handlung «kann rein innerlich sein», und sie ist «eine Tätigkeit und kein passiver Zustand wie Freude und Genuss.» (S. 72) Ich kann zum Beispiel «eine innere Befriedigung empfinden, meinen Nächsten nicht beleidigt zu haben». Diese Befriedigung tritt aber erst dann ein, «wenn der Willensakt [auf die Beleidigung zu verzichten] sich vollzogen hat.» «Die Befriedigung oder Freude, die sowohl dem Nächsten als auch dem Helfer» aus der «Hilfeleistung einem Leidenden oder Bedürftigen gegenüber» erwächst, ist «die endgültige Folge und der Abschluss der altruistischen Handlung.»

Aber:

«Wenn ich ein leidendes Wesen sehe, das meiner Hilfe bedarf, oder wenn ich von einem solchen höre»,

dann ruft dies nicht immer, automatisch eine Hilfeleistung hervor. In dem einen Fall

«ruft dieses fremde Leid in mir ebenfalls ein mehr oder weniger stark empfundenes Leid hervor, ich fühle Mitleid, und in diesem Fall ist dieses Gefühl die direkte und genügende Ursache, um mich zu einer tatkräftigen Hilfe aufzurufen». [[Hervorhebung im Original]]

Es kann aber auch sein, dass «das fremde Leid in mir kein Mitleid erweckt» oder so wenig, «dass kein Anreiz zu einer Handlung entsteht.» Daher stellt sich dann auch keine Befriedigung oder Freude ein, weil ja die keine Handlung stattfindet. Die «konkrete Vorstellung wirklicher physischer und seelischer Zustände» sporne eher zur Hilfe an als abstrakte Vorstellungen. Die Ursache jeder altruistischen Handlung ist also «das Sichzueigenmachen oder die Vorstellung eines fremden Leids, das in der Gegenwart vorhanden ist», und «nicht der Gedanke an jene Befriedigung, die in der Zukunft als Folge der erwiesenen Wohltat empfunden werden könnte.» [also sozusagen die ‘Belohnung’]

Wenn ein Mensch Mitleid empfindet und sich entschliesst, «einem leidenden Wesen zu helfen», dann kann er sich natürlich auch gleichzeitig die Freude vorstellen, «die er durch seine Wohltaten jenem Wesen und sich verschafft hat.» Doch diese vorgestellte Freude ist nicht die Ursache für den Entschluss zu helfen. Das entspreche «der psychologischen Erfahrung». [Modern gesprochen: Helfen ist ‘intrinsisch’. Ich helfe nicht wegen eines Lohns, sondern, weil Helfen selbst befriedigend ist.]

(S. 73) «Wer mit fremdem Leiden fühlt, der nimmt natürlich auch Anteil an fremden Freuden oder Genüssen, wenn sie unschuldsvoll sind und keinen Schaden bringen.» Das ist aber noch nicht die Grundlage der Moral. Wahrhaft gut sei nur,

«was an sich selbst gut ist und daher in allen Fällen seinen guten Charakter bewahrt und das niemals böse wird.» [Hervorhebung im Original]

Grundlage der Moral könne nur etwas sein, «aus dem sich ein allgemeiner und absoluter Grundsatz» für alle menschlichen Beziehungen ergibt;

«das Mitgefühl mit allem, was da leidet, ist eine Eigenschaft, die absolut und in allen Fällen gutgeheissen werden darf, sodass sie zu einem Grundsatz werden kann».

Doch «die Teilnahme an den Freuden und Genüssen anderer» sei nur beschränkt gut. Zudem ergibt sich aus der Teilnahme an den Freuden und Genüssen anderer «keinerlei Richtschnur unseres Handelns.»

 

 

4

Der Mensch könne «über die Grenzen seiner Individualität hinaus fühlen», «dass fremdes Leid schmerzvoll in ihm widerhallt, d. h. dass er dieses Leid als sein eigenes empfindet». (S. 74f.) Nun folgt eine interessante und wichtige Auseinandersetzung mit Arthur Schopenhauers Analyse des Mitleids/Mitgefühls. Solowjeff zitiert Schopenhauer aus dessen Text «Die beiden Grundprobleme der Ethik» (1860, S. 230). Schopenhauer fragte sich dort:

«Wie ist es nun aber möglich, […], dass ein Leiden, welches nicht meines ist, nicht mich trifft, doch ebenso unmittelbar, wie sonst nur mein eigenes, Motiv für mich werden, mich zum Handeln bewegen soll?», [Hervorhebung im Original]

Schopenhauers Antwort:

«Dies aber setzt voraus, […], dass ich mich mit dem anderen gewissermassen identifiziert habe, und folglich die Schranke zwischen Ich und Nichtich für den Augenblick aufgehoben sei: nur dann wird die Angelegenheit des anderen, sein Bedürfnis, seine Not, sein Leiden unmittelbar zum meinigen: dann erblicke ich ihn nicht mehr, wie ihn doch empirische Anschauung gibt, als ein mir Fremdes, mir Gleichgültiges, von mir gänzlich Verschiedenes; sondern in ihm leide ich mit, trotzdem dass seine Haut meine Nerven nicht einschliesst. Nur darum kann sein Weh, seine Not Motiv für mich werden» [Hervorhebung nicht im Original]

Das sei ein «mysteriöser» Vorgang, sage Schopenhauer selbst,

«wovon die Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft geben kann und dessen Gründe auf dem Weg der Erfahrung nicht auszumitteln sind. Und doch ist er alltäglich. Jeder hat ihn oft an sich selbst erlebt, sogar dem Hartherzigsten und Selbstsüchtigsten ist er nicht fremd geblieben. Er tritt täglich ein vor unseren Augen, im einzelnen, im kleinen, überall, wo auf unmittelbaren Antrieb, ohne viel Überlegung ein Mensch dem anderen hilft und beispringt, ja, bisweilen selbst sein Leben für einen, den er zum ersten Mal sieht, in die augenscheinlichste Gefahr setzt, ohne mehr dabei zu denken, als eben, dass er die grosse Not des anderen sieht.» [Hervorhebung nicht im Original]

Soweit das Zitat von Schopenhauer. Zwei Aussagen Schopenhauers stören Solowjeff:

  • «dann erblicke ich ihn nicht mehr, wie ihn doch empirische Anschauung gibt, als ein mir Fremdes, mir Gleichgültiges, von mir gänzlich Verschiedenes;»
  • «dessen Gründe auf dem Weg der Erfahrung nicht auszumitteln sind»

Was Schopenhauer sagt, «tritt in umfassender Weise in Erscheinung, wenn ein ganzes Volk sein Gut und Blut für die Befreiung eines anderen geknechteten Volkes opfert.»

Als Bedingung, warum solche Handlungen moralisch absolut bejaht werden können, «ergibt sich immer dieser geheimnisvolle Vorgang des Mitgefühls oder der inneren Identifizierung mit dem anderen Wesen ohne jedes Motiv.  –» (S. 75) Zwischen Einzelmenschen im Zusammenleben sei erstens der andere Mensch kein «absolut von einem anderen getrenntes Wesen», kein «mir Fremdes, mir Gleichgültiges, von mir gänzlich Verschiedenes», wie Schopenhauer sage. Und zweitens bedeute, sich mit einem anderen Mitmenschen zu identifizieren, kein «Einswerden» mit einem bisher «Fremden». Schopenhauer sage das alles mit «übertriebener Schärfe», sagt Solowjeff. Auch Schopenhauers Annahme, die Ursachen für den Vorgang der «Identifikation» seien «mysteriös» und «auf dem Weg der Erfahrung nicht auszumitteln», widerspricht Solowjeff: Schon die Hundemutter verteidige ihre Jungen und leide, wenn sie umkommen. Ihre Jungen sind ihr nichts «Fremdes, … Gleichgültiges, … gänzlich Verschiedenes», wie Schopenhauer überspitzt sagt. Die Jungen waren vielmehr ein «realer Teil ihres mütterlichen Leibes». Zwischen ihnen und ihr bestand «von Anfang an ein realer, physischer und organischer Zusammenhang». Und «der Beginn ihres Daseins war nur eine Veränderung im Organismus der Mutter, der sofort schmerzvoll in ihrer Empfindung zum Ausdruck kam», als die Jungen litten. Das Band zwischen der Hündin und ihren Jungen «zieht sich» nach der Geburt «sozusagen auseinander» und wandelt sich um, aber nicht in ein «vollständiges Sondersein» der Kinder von ihrer Mutter. Die Anteilnahme der Hundemutter am Leiden ihrer Welpen sei also «eigentlich ebenso eine natürliche Tatsache», wie wir Menschen «unsere verwundeten Finger oder unseren verstauchten Fuss schmerzhaft empfinden».

(S. 76)

«Alles Seiende» und «alle Lebewesen sind miteinander durch die Gemeinschaft allen Seins und die Einheit ihres Ursprungs verbunden; alle sind Teile und Geschöpfe einer gemeinsamen Mutter, der Natur, und nirgends, in keinem Ding ist diese vollständige Sondersein zu finden, von dem der Philosoph redet. [gemeint ist Schopenhauer] Der natürliche, organische Zusammenhang aller Wesen als Teile eines Ganzen ist ein durch Erfahrung Gegebenes und nicht nur eine erkenntnistheoretische Idee. [Hervorhebung nicht im Original]

«Daher ist auch der psychologische Ausdruck dieses Zusammenhangs, der innere Anteil eines Geschöpfes an den Leiden des anderen, das Mitgefühl oder das Mitleid auch vom empirischen Standpunkte aus etwas durchaus Begreifliches, als Ausdruck einer natürlichen und offenbaren Solidarität alles Seienden. Dieser Anteil, den die Geschöpfe aneinander nehmen, entspricht offenbar dem Sinn des Weltalls, stimmt vollständig mit der Vernunft überein oder ist vollkommen rationell. Sinnlos oder irrationell ist im Gegensatz dazu die gegenseitige Entfremdung der Geschöpfe untereinander, ihr subjektives Sondersein, das der objektiven Untrennbarkeitwiderspricht.» [Hervorhebung nicht im Original]

Der «innere Egoismus» als Gegensatz zum «Sinn des Weltalls» sei rätselhaft. Seine Ursachen könnten «auf dem Erfahrungswege nicht gefunden werden.» Der Egoist behaupte die «vollständige Getrenntheit» der Menschen, aber er verwirkliche sie nicht. Der Zusammenhang der Menschen untereinander, «der psychologisch im Mitgefühl oder Mitleid zum Ausdruck kommt», sei nicht jene «unmittelbare Identifizierung», von der Schopenhauer schreibt. Denn wenn «ich Mitleid mit einem Freund habe, der Kopfweh hat, so geht dieses Mitgefühl gewöhnlich nicht in Kopfweh über». Unser beider innere Zustände sind nicht dieselben. Ich erkenne den Unterschied zwischen meinem gesunden Kopf und dem kranken des Freundes. (S. 77) Schopenhauers «Einswerden» sei eine rhetorische Figur, keine Tatsache. In Wirklichkeit verschmelze ich nicht mit dem anderen Menschen, wenn ich mit ihm mitfühle, und mein Mitgefühl mit ihm hebe nicht «die Grenze zwischen Ich und Nichtich» auf. Wo Mitleid «real auftritt», «werden die Grenzen zwischen dem Mitleid empfindenden Wesen und den Wesen, die es bemitleidet, keineswegs aufgehoben.» Der reale «Zusammenhang der Lebewesen untereinander in der Teilnahme (ist)» sei «die Übereinstimmung gleichartiger Wesen untereinander», vergleichbar der «Vibration zusammenklingender Saiten».

 

 

5

Mitgefühl, Mitleid kennt daher keine «äusseren Grenzen ihrer Anwendbarkeit».

«Aus dem engen Kreis mütterlicher Liebe, die bei den höheren Tieren schon so ungemein stark ist, kann dieses Gefühl beim Menschen sich immer mehr und mehr erweitern, von der Familie auf das Geschlecht und den Stamm, auf die bürgerliche Gemeinschaft, das ganze Volk und die ganze Menschheit übergehen und endlich den ganzen Umkreis alles Lebendigen im Weltall umfassen.»

Auch können wir unzweifelhaft «auch für jedes Tier tatkräftig Mitleid empfinden». (S. 78) Auf die Frage, was ein «erbarmendes Herz» sei, habe der Abt Isaak von Syrien (der Heilige Vater und frühere Bischof der christlichen Stadt Niniveh) geantwortet, es sei das

«Entbrennen des menschlichen Herzens über die ganze Schöpfung, über Menschen, Vögel, Tiere, Dämonen und alles Geschaffene. Wenn der Mensch sich erinnert und sie anschaut, so fliessen seine Augen über von Tränen. Das grosse starke Erbarmen, das sein Herz erfüllt, und das grosse Leiden presst ihm das Herz zusammen, und er kann weder einen Schaden noch einen geringen Kummer, den irgendein Geschöpf erdulden muss, ertragen, er kann solches weder hören noch sehen. Darum bittet er auch jede Stunde in Tränen für die des Wortes entbehrenden Tiere, für die Feinde der Wahrheit und für alle, die ihn schädigen, auf dass sie bewahrt bleiben und Gnade finden mögen. Ebenso betet er mit grossem Erbarmen für das Wesen von allem kriechenden Getier, und so grenzenlos ist dieses Erbarmen in seinem Herzen, dass es dem göttlichen gleicht.» [«Worte eines Einsiedlers», Moskau 1858, S. 299] [Hervorhebung im Original]

Das sei ein altruistisches Empfinden «auf seiner höchsten Stufe».

 

 

6

(S. 78f.) Auch wenn im Allgemeinen Mitleid für gut und sein Träger für ein guter Mensch gehalten werde und auch wenn ein mitleidloser Mensch als böse bezeichnet werde, so folge daraus «nicht, dass alle Moral … auf das Mitgefühl oder auf die Gefühle der Sympathie zurückgeführt werden könnte». [Hervorhebung nicht im Original] (S. 78) Das Mitleid oder Mitgefühl sei «eine der drei moralischen Grundlagen». Aber: «Das Mitleid ist die einzige wahre Grundlage des Altruismus; Altruismus ist jedoch … nur ein Teil der Moral.» [Hervorhebung nicht im Original] Wenn Schopenhauer schreibe «grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen» sei die «sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten», so sei das richtig, aber es geschehe «nicht um der moralischen Handlungsweise willen überhaupt». Sondern «nur um dieser moralischen Handlungsweise willen in bezug auf andere Lebewesen. Mit dieser Beziehung (zu anderen Lebewesen) sei «nicht die ganze Moral erschöpft.» Der Mensch habe «noch eine Beziehung zu seiner eigenen physischen Natur und zu den höheren Prinzipien alles Seins.» (S. 80) Auch auf diesem Gebiet müssten wir Gutes und Böses unterscheiden können. Wer Mitleid empfinde, werde zwar andere nicht beleidigen. Er könne «sich selbst jedoch schwer beleidigen», und zwar durch «sinnliche Leidenschaften», «die ihn in seiner Menschenwürde erniedrigen». Ein Mensch mit Mitgefühl könne Laster haben, die «keineswegs mit dem Mitgefühle [das ja auf andere bezogen ist, die er nicht beleidigt], «wohl aber mit der Moral in Widerspruch stehen.» Schopenhauer habe recht, wenn er sagt, es lässt sich nicht sagen: «Das ist ein ungerechter und böser Mensch, er ist jedoch sehr mitleidig.» Ein Wüstling, Vielfrass und Säufer könne sehr wohl «sehr mitleidig» sein. Und ein musterhafter Gläubiger könne «seinem Nächsten gegenüber doch mitleidlos» sein. Ein starkes Mitleid «schliesst grausame, andere direkt schädigende Handlungen aus». Es «verhindert aber keineswegs beschämende Taten, die jedoch auch vom altruistischen Gesichtspunkte aus nicht als indifferent gelten können in moralischer Beziehung.» Denn der genannte Wüstling, der «Mitleid empfindet» und

«niemals direkt Schaden zufügen möchte, der schadet durch sein ausschweifendes Leben nicht nur sich selbst, sondern auch seiner Familie, die er ohne jede Absicht, ihr zu schaden, ins Verderben bringen kann.»

Daher stelle sich die Frage: Wenn das Mitleid ein solches Verhalten nicht verhindern kann, was dann? Welche «andere Grundlage unserer moralischen Natur» könne dem Wüstling im obigen Beispiel «den entsprechenden inneren Widerstand bieten»? Das sei das Schamgefühl. Wie sich aus dem Mitleid «die Gesetze des Altruismus» ergeben, so ergeben aus dem Schamgefühl «die Gesetze der Askese».

 

 

7

(S. 81) Das «wahre Wesen des Mitleids» besteht

«in der Anerkennung der dem anderen als sein gutes Recht zukommenden Bedeutung, – in der Anerkennung seines Anrechts auf Dasein und jedes nur mögliche Wohlergehen.»

Wenn ich für einen anderen Menschen Mitgefühl empfinde, «so verwechsele ich mich durchaus nicht mit ihm», ich «halte weder den anderen für mich, noch mich für den anderen». Vielmehr

«sehe ich in ihm etwas Verwandtes oder mir Gleichartiges, … das ebenso wie ich Leben hat und gleich mir zu leben und die Güter des Lebens zu geniessen wünscht.»

Gestehe ich mir das Recht auf diesen Wunsch zu, dann tue ich das auch gegenüber anderen: Ich empfinde die Verletzung meines Rechts auf Leben ebenso schmerzlich, wie ich die Verletzung, die anderen zugefügt werden, schmerzlich erlebe.

Es sei ein etwas anderer Ablauf, als Schopenhauer ihn in dem Zitat oben schildert: Wenn ich Mitleid mit einem anderen empfinde, dann «versetze ich mich in der Vorstellung an seine Stelle». Ich anerkenne «seine Gleichartigkeit mit mir» und passe «seine Gefühlszustände den meinigen an», ich «versetze mich in seine Lage.» Diese «Gleichwertung» «zwischen dem anderen und mir» ist aber keine «Identifizierung», die «sich im Gefühle des Mitleides unmittelbar und unwillkürlich vollzieht». Sie wird vielmehr «durch die Vernunft zu einem klaren und scharf umrissenen Gedanken ausgebaut.» Der «Inhalt» des Mitgefühls sind «Wahrheit und Gerechtigkeit». Wahrheit: Es «ist wahr», dass andere Menschen «Geschöpfe gleicher Art mit mir sind. Gerechtigkeit: Es »ist gerecht, dass ich mich zu ihnen so verhalte, wie zu mir selbst.» (S. 81f.) Wenn ich mich aber

«erbarmungslos oder gleichgültig zu anderen Wesen verhalte … und es nicht als meine Pflicht ansehe, ihnen zu helfen, wenn ich sie nur als Mittel für meine Zwecke betrachte, so erscheinen sie mir nicht als das, was sie in Wirklichkeit sind.»

(S. 82) Vielmehr nehme ich dann die anderen nur als «Sachen» wahr, «das Lebendige als ein Totes» und «das Beseelte als ein Unbeseeltes, das mir Verwandte als ein Fremdes, das mir Gleichartige als ein absolut Verschiedenes.» Wenn ich etwas nicht als das nehme, «was es in Wirklichkeit ist», dann verneine ich die Wahrheit, und die daraus erfolgenden Handlungen «werden ungerecht sein». Die «entgegengesetzte Beziehung» zu anderen Menschen äussert «sich subjektiv durch das innere Gefühl der Teilnahme, des Mitleides oder Mitgefühls» und bringt «objektiv gesprochen die Wahrheit zum Ausdrucke». «Handlungen, die sich daraus ergeben werden, werden gerecht sein.» Ungerechtigkeit heisst vor allem: «Messen mit verschiedenen Massen». Wenn ich mit anderen Menschen «wie mit seelenlosen und rechtlosen Dingen umgehe», aber mir selbst «Seele und volle Berechtigung als Persönlichkeit zuspreche», dann «messe ich offenbar mit verschiedenen Massen und widerspreche in grober Weise den Gesetzen von Wahrheit und Gerechtigkeit.»

«Wenn ich dagegen mit anderen dasselbe Mitleid habe wie mit mir selbst, messe ich mit gleichem Masse und handle daher, wie es Wahrheit und Gerechtigkeit erfordern.»

Gemeinhin wird ein mitleidloser Mensch ein «Egoismus» genannt. Einen «reinen» Egoismus «ohne Beimischung» gebe es allerdings nicht. [Jeder Egoist verkörpert auch Mitfühlen, aber auf verdrehte Weise, meint Solowjeff und deutet damit an, ohne es genauer auszuführen, dass die egoistische Tendenz Ausdruck eines Verhaltens ist, aus irgendwelchen Gründen nur als Mittelpunkt Geltung suchen zu wollen. Aber was wäre der Mittelpunkt ohne die Menschen, mit denen er angeblich nichts zu tun haben will! Es ist eine Form von Herrschen-wollen und Nach-Geltung-im-Sinne-von-Macht-strebens.] Alle Spielarten egoistischer Tendenzen mit ihren ‘Beimischungen’ verbinde eine allen gemeinsame ‘Logik’: Zwischen mir und den anderen Menschen besteht «ein unüberbrückbarer Gegensatz»: «Ich bin alles für mich und will auch bei allen anderen als alles gelten». Die anderen sind für mich der Tendenz nach

«nichts und werden erst etwas, wenn sie als Mittel für meine Zwecke dienen. Mein Leben und mein Wohlergehen ist das absolute Ziel – das Leben und das Wohlergehen anderer ist nur zulässig als Werkzeug zu Verwirklichung meiner Ziele, als der Rahmen für meine Selbstbehauptung. Ich bin der einzige Mittelpunkt, die ganze Welt ist nur meine Umgebung.» [eigene Hervorhebung]

Absolute Egoisten gebe es aber nicht auf der Welt. Jeder Mensch empfindet mit irgendjemandem ein Stück weit Mitgefühl und «sieht in ihm seinesgleichen». (S. 83) Jedoch der «meist sehr kleinliche Egoismus», den man nicht gegen seine Hausgenossen hege, den setze man jedoch «mit desto grösserer Schonungslosigkeit … allem Fremden entgegen». Wer

«sein Ich über das ganze Volk erweitert, der bringt desto hartnäckiger für sich und sein Volk die egoistische Gesinnung in bezug auf jeden zum Ausdruck, der einem anderen Volk und einem anderen Lande angehört.»

Der «Kreis innerer Solidarität» erweitert sich von der Person auf die Familie, das Volk und den Staat». Das schränke aber die Eigenliebe ein, «menschenfreundliche, moralische Beziehungen» gewinnen «das Übergewicht über den Egoismus und «drängen» ihn «auf diesem Wege vollständig in den Hintergrund». In der Menschheit werde dadurch der Egoismus aber nicht aus der Welt geschafft. Das Prinzip, das im Egoismus steckt, dass nämlich ein «absoluter» Gegensatz «zwischen Eigenem und Fremden» bestehe, ist falsch. Als absoluten Gegensatz gibt es ihn in der Realität gar nicht.

«Sondersein, Egoismus und Mitleidlosigkeit (sind) eigentlich dasselbe wie Unwahrheit.» Vor allem der Egoismus ist «nicht real», «phantastisch», behauptet «Nichtvorhandenes und Unmögliches». Denn es sei «ebenso töricht», «sich für den Mittelpunkt des Weltalls zu halten, wie es töricht ist, sich … für das Sternbild des Grossen Bären zu halten.»

Wenn der Egoist «für seine eigennützigen Zwecke» doch Menschen brauche, so «ist er  bemüht, sie durch Überredung auf seine Seite zu bekommen» und dazu müsse er, der doch eigentlich nichts mit ihnen zu tun haben will, dennoch deren Interessen anerkennen, ein Widerspruch, also ein «falscherStandpunkt». (S. 84) Die Vernunft erkenne, dass der Egoismus die «Behauptung eines Nichtvorhandenen und nicht Möglichen» und daher sinnlos sei. Das «Prinzip des Altruismus» jedoch erweise sie als sinnvoll und richtig. Kraft des «Prinzips des Altruismus» anerkennt eine Person,

«dass auch andere Geschöpfe ebensolche relativen Zentren des Seins und lebendige Kräfte sind wie sie selbst. […] es wird anerkannt, was ist. Aus dieser Wahrheit, für die innerlich in der Seele eines jeden das Gefühl des durch andere, verwandte und wesensgleiche Geschöpfe hervorgerufene Mitleid Zeugnis ablegt, leitet die Vernunft … den Grundsatz der Beziehung zu allen anderen Wesenheiten ab, indem sie sagt: ‘Handle an anderen so, wie du wolltest, dass sie an dir handeln sollen!’» [Hervorhebung im Original]

 

 

8

Der ‘Altruismus’ (Auguste Comte) hab zwei Teile. Wer «wirklich Mitleid fühlt», der füge erstens dem anderen auch keinen Schaden oder Leid zu oder beleidige ihn. Zweitens werde er «ihm helfen». Ein Altruist könne allerdings sich mehr lieben als «andere und kann dennoch aus Prinzip fremdem Wohle so dienen, als hätte man das eigene Wohl im Auge.» Der Altruismus beinhaltet zwei Grundsätze:

«1. Füge niemandem etwas zu, was du selbst von anderen möchtest!» – das ist der Grundsatz der Gerechtigkeit.

«2. Handle am anderen so, wie du möchtest, dass, dass an dir gehandelt werde!» Das ist der Grundsatz des Mitleides.

Zusammengefasst: «Tue niemandem Unrecht und hilf allen, soviel du kannst. (Neminem laede, immo omnes, quantum potes, juva)

Allerdings liegt dem 2. Imperativ auch Gerechtigkeit zugrunde. Es ist gerecht, zu wünschen, dass andere mir in meiner Not helfen, wenn ich ihnen helfe. [Jeden das Seine.] Wenn ich niemanden beleidigen will, dann doch nur deshalb,

«weil ich in den anderen ebensolche lebende und leidende Geschöpfe sehe, wie ich eines bin».

Und ich werde den anderen vor Leid bewahren wollen.

«Mitleid setzt Gerechtigkeit voraus, Gerechtigkeit jedoch erfordert Mitleid, beide sind also nur verschiedene Seiten, verschiedenen Ausdrucksformen für ein und dasselbe.»

Zwischen Gerechtigkeit und Mitleid bestehe ein gewisser Unterschied, aber kein Gegensatz: «Einem anderen nicht helfen wollen, heisst schon, ihm ein Unrecht zufügen.» Wenn ein Mensch gerecht ist, erfüllt er auch die «Pflichten der Barmherzigkeit unweigerlich».

«Denn ein wahrhaft von Mitleid erfüllter Mensch kann nicht zur gleichen Zeit auch ein ungerechter Mensch sein. Diese Unteilbarkeit zweier altruistischer Grundsätze ist bei all ihrer Verschiedenheit sehr wichtig als Grundlage des inneren Zusammenhangs zwischen Recht und Moral, zwischen dem politischen und geistigen Leben der menschlichen Gesellschaft.»

Wenn der Altruismus fordert, den anderen gleich zu behandeln, wie ich behandelt werden möchte. Es handelt sich aber um keine «materielle oder qualitative Gleichheit». So etwas gibt es in der Natur nicht. Sondern gehe um «das gleiche Recht auf Dasein und Entwicklung der eigenen positiven Kräfte» aller. Das Recht müssen wir in allen Fällen «gleicherweise in allen Fällen ehren.» [Die Gerechtigkeits-Formel ‘Jedem das Seine’ heisst also, jedem das gleiche Recht zuteilen, es ist eine austeilende Gerechtigkeit, bei der jeder das Gleiche bekommt. Eine ausgleichende Gerechtigkeit wäre, dem Kind ein anderes Medikament z. B. zu geben als einem Erwachsenen] Immer ist bei allen Unterschieden zwischen den Menschen und den Fällen der Anwendung «etwas Absolutes und Einheitliches» grundsätzlich dabei: «die Bedeutung jedes einzelnen als Selbstzweck, d. i. etwas, was nicht nur Mittel für fremde Zwecke sein darf.» [Er meint den kategorischen Imperativ Kants]

«Die logische Forderungen des Altruismus sind umfassend, die Vernunft kennt keine Parteilichkeit und keine Einschränkung, und in dieser Beziehung fällt sie mit jenem Gefühle zusammen auf dem der Altruismus psychologisch gründet. Das Mitleid ist … ebenfalls universell und leidenschaftslos, und in diesem Gefühl gelangt der Mensch bis zur ‘Gottähnlichkeit’, weil er in ihm mit gleicher Teilnahme alles ohne Unterschied umfasst, sowohl die Guten wie die ‘Feinde der Wahrheit’, Menschen und Dämonen und sogar das am Boden dahinkriechende Gewürm.»

Im zweiten und dritten Teil dieses Buches gibt es einen besonderen Anhang, wo «in umfassender Weise» «unsere moralischen Pflichten in bezug auf die Tiere erörtert» wird.

 

Dritter Teil

Das Gute im Laufe der Menschheitsgeschichte

Die Persönlichkeit und die menschliche Gesellschaft

(S. 218) Der volle Sinn des Guten umschliesse auch das Glück und die Befriedigung als moralische Ordnung. Das ist das Reich Gottes, dessen Verwirklichung das Endziel alles Lebens und Wirkens sei. Der einzelne Mensch könne diese moralische Ordnung immer «nur gemeinsam mit allen erlangen». Die Persönlichkeit und die Gesellschaft seien keine Gegensätze, keines ist nur Mittel oder nur Zweck. Das reale Leben einer jeden Persönlichkeit sei kein abgesonderter und abgeschlossener Kreis. Jede Persönlichkeit sei Mittelpunkt unendlich vieler «Wechselbeziehungen mit anderem und anderen». Wenn sie «von diesen Beziehungen losgelöst würde, so wäre sie allen wirklichen Lebensinhalts beraubt». Wer sein persönliches Leben

«getrennt von der eigenen und allgemeinen Lebenssphäre, die ihn mit anderen Lebenszentren verbindet, vorstellen wollte, gäbe sich […] einer krankhaften Illusion seines Selbstbewusstseins hin.»

(S. 219f.) Wenn man vor einem Hahn einen Kreidestrich zieht, dann überschreitet der Hahn diesen nicht. Er sieht den Kreidestrich als ein verhängnisvolles Hindernis an, das er unmöglich überschreiten kann. Der Hahn kann nicht verstehen, dass die für ihn verhängnisvolle Bedeutung des Kreidestrichs daher kommt, dass er völlig von der von ihm unhinterfragbaren Vorstellung befangen ist, dass es hier nicht weitergeht. Daher ist er unfrei. Für den Hahn ist das ein natürlicher, für einen vernünftig denkenden Menschen jedoch ein weniger natürlicher Irrtum. Dennoch begreife auch ein Mensch oft nicht, dass die ihm gegebenen die Grenzen seiner Subjektivität nur deshalb so unüberwindlich scheinen, «weil er seine ganze Aufmerksamkeit ausschliesslich auf diese Begrenztheit richtet.» So werde auch das

«verhängnisvolle Sondersein seines ‘Ich’ nur durch die verhängnisvollen Vorstellungen hervorgerufen […], die er sich davon macht. Auch er ist das Opfer einer Autosuggestion».

Es sei eine Selbsttäuschung, durch die sich ein Mensch

«in seiner Abgetrenntheit von allem für eine Realität hält und dieses scheinbare Sondersein als wahre Grundlage, ja sogar als den einzig möglichen Ausgangspunkt aller seiner Beziehungen voraussetzt, diese Selbsttäuschung eines abstrakten Subjektivismus richtet Verheerungen an nicht nur auf dem Gebiet der Metaphysik (die von diesem Gesichtspunkt aus überhaupt überflüssig wird), sondern auch in der Sphäre des moralischen und politischen Lebens. Wie viele verworrene Theorien, unvereinbare Widersprüche und verhängnisvolle Fragen entstehen nicht daraus?
[…]
dieses Verhängnis würde von selbst verschwinden, wenn wir, ohne uns durch grosse Worte abschrecken zu lassen, die einfache Tatsache im Auge behalten wollten, dass diese Theorien und diese verhängnisvollen Fragen einzig und allein vom Standpunkte des hypnotisierten Hahns aus entstehen konnten.»

«Die menschliche Persönlichkeit, und folglich jeder einzelne Mensch ist die Möglichkeit für die Verwirklichung einer unbegrenzten Realität oder die besondere Form eines unendlichen Inhalts.»

Das menschliche Verstandesleben «enthält unendliche Möglichkeiten einer immer grösseren Erkenntnis über den Sinn aller Dinge». Ebenso enthält «sein Wille unendliche Möglichkeiten», um den Sinn des Lebens «immer vollkommener in der gegebenen Lebenssphäre zu verwirklichen.» Dass die menschliche Persönlichkeit unendlich ist, «ist ein Axiom der Moralphilosophie.» (S. 220)

«Die menschliche Persönlichkeit unterscheidet sich als unendliche Möglichkeit von allen realen Bedingungen und wirklichen Resultaten, ihrer durch die Gesellschaft zum Ausdruck gebrachten Verwirklichung, […] sie stellt sogar einen Gegensatz zu ihnen dar»: «der unlösbare Gegensatz zwischen der Persönlichkeit und der Gesellschaft». «Welches von den beiden Prinzipien muss geopfert werden?»

Die «von der Idee des Individualismus Hypnotisierten» sagen, «dass die einzelne Persönlichkeit, die alle ihre Beziehungen aus sich selbst heraus bestimmt, auch in sich selbst ihr Genüge fände». Die sozialen Verbände und die Ordnung der Allgemeinheit halten sie für eine willkürliche Beschränkung, «die auf alle Fälle beseitigt werden müsse».

Die von «der Idee des Kollektivismus Hypnotisierten» auf der anderen Seite sehen «im Leben der Menschen nur soziale Massen». Für sie ist die Persönlichkeit

«ein nichtiges und vergängliches Element der menschlichen Gesellschaft, das gar keine eigenen Rechte besitzt, und mit dem im Namen des sogenannten allgemeinen Interesses nicht gerade gerechnet werden braucht.»

Kann aber eine Gesellschaft

«aus rechtlosen, unpersönlichen Geschöpfen, aus moralischen Nullen […] eine menschliche Gesellschaft sein? Worin wird dann [bei den rechtlosen, unpersönlichen Geschöpfen] die Würde dieser Gesellschaft bestehen, und woraus wird sie ihre Würde und ihren inneren Daseinswert schöpfen, und durch welche Kraft wird sie sich erhalten? Ist nicht klar, dass das eine traurige Chimäre ist? […] und ist das entgegengesetzte Ideal einer in sich selbstzufriedenen Persönlichkeit nicht eine ebensolche Chimäre?»

«Wenn der wirklichen menschlichen Persönlichkeit alles das genommen wird, was … durch ihren Zusammenhang mit sozialen oder allgemein menschlichen Zielen bedingt ist, so entsteht ein tierisches Einzelwesen, dem einfach nur die Möglichkeit ein Mensch zu sein oder die leere menschliche Form eignet, also etwas, was es in Wirklichkeit gar nicht gibt.»

Auch in der Hölle und im Himmel gebe es keine «einzelnen Persönlichkeiten, sondern nur Gesellschaftsgruppen und Kreise». (S. 221)

«Das Gemeinwesen ist … eingeschlossen in die Bestimmung der Persönlichkeit selbst, die ihrem Wesen nach eine vernunftgemäss erkennende und moralisch handelnde Kraft ist. Das eine sowohl als das andere ist aber nur in einer gesellschaftlichen Daseinsform möglich.»

Die Vernunft erkenne das Formale durch allgemeine Begriffe. Die «objektive Einheit der Begriffe» komme durch die Sprache zum Ausdruck. Ohne Sprache wäre die vernünftige Tätigkeit ihrer Verwirklichung beraubt. Die Sprache sei die

«Realität des Vernunftlebens, sie hätte nicht von der einzelnen Persönlichkeit geschaffen werden können, und daher hätte die einzelne Persönlichkeit auch niemals ein wortbegabtes Wesen, ein Mensch sein können.»

«In bezug auf das Materielle ist die Erkenntnis der Wahrheit auf einer ererbten, allgemeinen und immer reicher werdenden Erfahrung begründet.» Ein isolierter Mensch wäre «völlig ungenügend für die Wahrheitserkenntnis.» Die «wirkliche Entwicklung der menschlichen Moral» ist «nur für eine Persönlichkeit möglich», die

«in einem Gemeinwesen lebt und in Wechselbeziehung mit diesem steht. Und in dieser wichtigen Beziehung ist die menschliche Gesellschaft nichts anderes als der objektiv sich verwirklichende Inhalt der Persönlichkeit.»

Individualismus und Kollektivismus bilden einen unlösbaren Widerspruch. (S. 221f.) «Ihrer eigentlichen Bedeutung nach ist die Gesellschaft nicht die äussere Begrenzung der Persönlichkeit, sondern ihre innere Ergänzung», also nicht die Summe der Einzelwesen,

«sondern die unteilbare Ganzheit des gemeinsamen Lebens, die einesteils schon in der Vergangenheit ihre Verwirklichung gefunden hat und sich durch fortdauernde Überlieferung in der menschlichen Gesellschaft erhält, die zum anderen Teile sich in der Gegenwart durch Dienstleistungen der Gemeinschaft verwirklicht und die endlich in der schönsten Erkenntnis des gemeinschaftlichen Ideals ihre vollkommene Verwirklichung in der Zukunft voraus verkündet.»

(S. 222) Es gebe drei Stufen der geschichtlichen Entwicklung der menschlichen Bewusstseins- und Daseinsordnung: 1. Stammesleben, 2. nationale staatliche Ordnung und 3. «eine die ganze Menschheit umfassende Gemeinschaft – als das Ideal der Zukunft». Auf allen Stufen sei «die menschliche Gesellschaft […] die moralische Ergänzung oder Verwirklichung der Persönlichkeit im gegebenen Lebenskreis.» Aber erst auf der dritten werde nach eine vollkommene menschliche Gemeinschaft verwirklicht.

Jeder Mensch verfüge «über die Möglichkeit, vollkommen oder positiv unbegrenzt zu sein», weil er alles mit der Vernunft begreifen kann, alles mit dem Herzen umfassen kann oder eine «lebendige Einheit» mit allen einzugehen.

 

 

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