Worin besteht der Sinn des Alters?
Zürich 1997 ∙ Moritz Nestor
Ohne den medizinischen Fortschritt überlebten im letzten Jahrhundert von 100 Neugeborenen weniger als 50% das 60. Lebensjahr. Heute erreichen von 100 Neugeborenen mehr als 80% das 60. Lebensjahr. Welchen Sinn hat es, dass der Mensch so alt werden kann?
Adolf Portmann ist bekannt dafür, dass er den Sinn den ausgedehnten Kindheits- und Jugendphase des Menschen beschrieben hat und in Zusammenhang stellte mit der Lebensweise des Menschen: Eine ausgesprochen lange nachgeburtliche Phase der Abhängigkeit, der Erziehbarkeit und Bildbarkeit sind typische für den menschlichen Entwicklungsgang. Zur Welt kommt der körperlich hilflose Mensch aber eine wache Person, die von Anfang an auf den Mitmenschen ausgerichtet ist und am eigenen Entwicklungsgang aktiv beteiligt ist. Im innigen Wechselspiel mit den Eltern wird diese kleine Person zum Mitmenschen. Seine körperliche und seelische Entwicklung sind untrennbar miteinander verwoben, und der Mensch ist von Anfang an ein geschichtliches Wesen. Er kann ohne den Menschen nicht Mensch werden. Vertrauen, Zuwendung, Gegenseitige Hilfe und Kooperation sind die Prinzipien der Menschwerdung. In der vertrauten Beziehung zu den Eltern und später zu anderen, Lehrern und Mitmenschen erwirbt das Kind den ganzen Erfahrungsschatz durch Weitergabe und Tradition. Er muss es, denn seine Orientierung hat der Mensch nicht genetisch programmiert. Er kommt mit offenen Anlagen zur Welt und erwirbt seine Orientierung in einem langen Erziehungs- und Bildungsprozess nach der Geburt. Die ganze Kindheits- und Jugendphase des Menschen ist so geprägt von dem Prinzip, dass die Alten die Jungen schützen und pflegen, sie erziehen und bilden.
Weniger bekannt ist, dass Adolf Portmann erkannt hat, wie die ausgedehnte Kindheits- und Jugendphase des Menschen untrennbar mit ausgedehnten Altersphase des Menschen zusammenhängt. Die einstigen Kinder treten neben ihre Eltern in die Welt und arbeiten mit am Gelingen des Zusammenlebens, haben selbst wieder Kinder, denen sie ins Leben helfen, so wie ihnen einst geholfen wurde. Und die mittlerweile zu Grosseltern gewordene Generation wird älter, schwächer, kränklicher, hat aber unschätzbare Lebenserfahrungen gesammelt, wie sie sie als einstige Eltern damals noch nicht haben konnten. Neben seinem Vater und seiner Mutter erlebt so das Kind in Grossvater und Grossmutter und eventuell sogar noch einer Generation den Erfahrungsschatz von 60 bis 80 Jahren gelebtem Leben. So ist das menschliche Leben nicht ein Nebeneinander von Eltern und Kindergeneration. Vielmehr ist es im günstigen Fall ein Überlappen von mehreren Generationen, das geprägt ist von dem Prinzip, das die Alten den Jungen ins Leben helfen und die Jungen den Alten helfen. Einer für alle und alle für einen, ist das Prinzip. Allein ist das Leben zu schwer. Das Leben ist um so geschützter, je besser dieses Prinzip funktioniert. Das Kind lernt dabei, dass das Leben nicht ewige Jugend, sondern Jung und Alt beinhaltet, dass das Leben nicht ewige Freude ist, sondern Freud und Leid mit sich bringt. Es lernt verstehen, dass der Grossvater oder die Grossmutter schwächer, kränkelnd, leidend sind, dass aber es, seine Mutter und sein Vater diesen Menschen alles verdanken. So erlebt das Kind, dass der Mensch auf allen Lebensstufen geachtet ist, egal ob er jung oder alt, gesund oder schwach, gesund oder krank ist.
Die Spätjahre des Menschen werden also um so mehr Jugend und Wachheit enthalten, je mehr er bereits als Kind in dieses Prinzip der Gegenseitigen Hilfe hineingewachsen ist. Alter und Tod verlieren ihre isolierte Schärfe, wenn der Mensch seinen Sinn im Leben in der Gegenseitigen Hife gefunden hat. Das Alter wird dann nicht mehr am Ideal der Leistungs- oder Genussffähigkeit gemessen, sondern ist ein Teil der Biographie mit eigenem Wert: Überblick, Lebenserfahrung, Weisheit, Reife, Geben, Ernte, gesammelt sein, sich an den kleinen Dingen des Alltags freuen können,. Alte Menschen können berichten, wie sie schwere Lebensschicksal meisterten und trotzdem oder gerade daher eine positive Einstellung zum Leben errungen haben. Altern ist so gesehen eine psychologische „Leistung“, die ein hohes Mass an Einfallsreichtum und Erfahrung im Umgang mit Lebensanforderung braucht. Das als Vorbild für ein Kind, ist ‑ zusammen mit der Erziehung der Eltern ‑ ein menschlich beeindruckendes Beispiel, an dem sich der Heranwachsende in seiner Menschwerdung orientieren kann.
„Wenn die Gesellschaft – und wenn der einzelne – die Tendenz aufgibt, den „Wert“ des Lebens nur an der physiologischen und intellektuellen Leistungsfähigkeit festzumachen, und stattdessen auch im gelungenen Umgang des Menschen mit erfahrenen Grenzen ein bedeutendes schöpferisches Potential sieht, dann ist eine Voraussetzung dafür gegeben, dass ältere Menschen jüngeren Menschen mehr vermitteln können als in der aktuellen Situation.“[1]
[1]Kruse, Andreas. Jugend und Alter als psychosoziale Kategorien.. In:Zeitschrift für medizinsiche Ehik. 1996, Heft 3, S. 180.