Zur naturrechtlichen Grundlegung der öffentlichen Bildung

11. September 2016


Überarbeitete Fassung eines 1995 an der Pädagogischen Schulungswoche des Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM gehaltenen Vortrages
PDF-Version


 

 


Einleitung


 

Muss ich lernen?

Einem Lehrer des Jahres 1996 wird von einem seiner Schüler die Frage gestellt: „Können Sie uns einmal sagen, wozu wir Grammatik lernen müssen?“ Der Fragende, ist kein Kind, sondern ein Erwachsener von 30 Jahren, im Beruf stehend, der lernen soll, was ein Subjekt und was ein Objekt ist! „Warum muss ich?“ Welcher Lehrer von heute kennt diese Frage nach dem „Muss“ nicht!

 

Jeder darf lernen!

Die Gründerväter unseres öffentlichen Bildungssystems dachten gerade umgekehrt: Wenn es unwürdig ist, dass der absolute Potentat bei Strafe, bestimmt, was seine Landeskinder glauben, denken und tun müssen, wenn es vielmehr würdig ist, dass möglichst viele aus der ganzen Gemeinschaft eines Volkes mitarbeiten an den gemeinsamen Aufgaben, wenn also das Volk Souverän ist, dann – kann das nur gelingen, wenn die, die Souverän sein wollen und sollen, genügend gebildet sind, wenn sie etwas wissen, etwas können, wenn sie Ihre Vernunft gebrauchen lernen, wenn sie klug und wissenschaftlich denken und handeln können: Volkssouveränität braucht Bildung, denn alle Sittlichkeit hat die Klugheit als Fundament.

 

Recht auf Bildung

Wenn also jeder Mensch einer Gemeinschaft ein Recht darauf hat, dass auch er entsprechend seinen Kräften und Fähigkeiten an den gemeinsamen Aufgaben mitarbeiten darf, dann hat jeder auch ein Recht darauf, dass man ihm nicht die Bildung vorenthält, die ihn zur Mitarbeit befähigen. Es ist also ein angeborenes Recht des Menschen, dass er etwas wissen dürfe, dass er gebildet werde, dass er auch wissenschaftlich denken lerne.

 

Antoine de Condorcet

Die Frage des Schülers aus dem Jahre 1996 hätte vor zweihundert Jahren etwa bei Antoine de Condorcet, der im Jahr 1792 das für die Einrichtung öffentlicher Volksschulen in ganz Europa richtungsweisende Modell entwarf, ungläubiges Staunen hervorgerufen. Das nationale Unterrichtswesen soll „allen Angehörigen des Menschengeschlechts die Mittel zugänglich zu machen, dass sie für ihre Bedürfnisse sorgen, ihr Wohlergehen sichern, ihre Rechte erkenne und ausüben, ihre Pflichten begreifen und erfüllen können“. So sah es Condorcet. Was dem Schüler des Jahres 1996 ein „muss“ ist, war den Gründervätern der öffentlichen Bildung ein „dürfen“, ein Recht, ein Menschenrecht, unverzichtbar, weil angeboren!

 

Bildung und Naturrecht

Hinter den Gedanken der Gründerväter der allgemeinen öffentlichen Bildung standen nicht nur Tagespolitik, sondern grundsätzliche Überlegungen, die aus dem Naturrecht stammen und zu allen Zeiten für alle Kulturen universelle Gültigkeit haben. Pestalozzi und Rousseau – um nur zwei der wichtigsten zu zitieren – haben als erste formuliert, dass eine gute Erziehungslehre nichts anderes tue, als den Gang der Natur nachzuzeichnen. Die Erziehung habe dem Gang der natürlichen Entwicklung des Kindes zu folgen. Dahinter steht die Grundeinsicht des Naturrechts oder der Naturrechtsidee, wenn wir es mal so bezeichnen wollen: Der Mensch lebt glücklicher, wenn er sein Werden und Leben in Übereinstimmung mit den Gesetzen seiner Natur ordnet.

Was man kurz als Naturrecht bezeichnet, ist ein breite geistige Auseinandersetzung, die sich durch die letzten zweieinhalbtausend Jahre zieht, in der die unterschiedlichsten Positionen zu finden sind. Doch gibt es eine grundsätzliche Idee, die sich wie ein roter Faden durch die lange Diskussion zieht und auf die wollen wir hier eingehen.

Was Naturrecht ist, lässt sich besser verstehen, wenn man sich vor Augen hält, was Recht für den Menschen überhaupt bedeutet. Was für einen Sinn hat es überhaupt, dass wir Menschen in unseren Gesellschaften Recht haben. Was ist eigentlich der Sinn dessen, was wir mit Recht bezeichnen? Recht hat von Anfang an und zu allen Zeiten vor allem den einen grossen Sinn gehabt: unter den Menschen Frieden zu stiften. Und Naturrecht beschreibt die Rechte und Pflichten in den zwischenmenschlichen Beziehungen, die direkt aus der sozialen Natur des Menschen abgeleitet werden können.

 

 


Was ist Recht?


Warum an Regeln halten?

Warum halten sich Menschen überhaupt an Regeln? Aus Angst vor der Strafe? Oder ist es nicht eigentlich ein tief empfundenes Gefühl, dass die Regel, so wie sie ist, richtig ist? Hat der Mensch nicht auch ein Gefühl dafür, was recht und was unrecht ist? Warum stehlen wir uns nicht einfach zusammen, was wir haben möchten? Warum zwingen wir den anderen nicht einfach, dass er uns das gibt, was wir wollen?

 

Strafe allein garantiert nichts

Wenn wir uns nur darum an Regeln und Gesetze halten würden, weil uns sonst eine Strafe droht, wenn also die Regeln unseres Zusammenlebens allesamt nur Zwangsmassnahmen wären, wären wir dann nicht allesamt in dem Augenblick Verbrecher, wo wir eine Chance hätten, den Gesetzeshüter überlisten zu können? Unsere Ordnung würde sich dann nicht von einer Diktatur unterscheiden, die ebensoviele Aufpasser wie Bürger hat. Und wer passt dann auf die Aufpasser auf? Kurz so ein System funktionierte nicht.

 

Freiheit ist schwer

Frieden in Freiheit stellt höhere Ansprüche an jeden. Freiheit ist schwer, denn sie verlangt, dass wir Gesetzen und Regeln aus freien Stücken ohne äusseren Zwang folgen, und zwar, weil einsehen, dass dadurch erst das Zusammenleben der Menschen überhaupt ermöglicht und sinnvoll zum Wohle aller geregelt werden kann. Solch ein Leben nennen wir ein Leben unter der Herrschaft der Vernunft. „Vernunft kann zu verläßlicher Herrschaft nur kommen, wenn nicht wenige Einzelnen, abseits in ihrer Einsamkeit, sondern wenn die Völker mit ihrern Führern durch sie bestimmt werden. Das ist nur möglich, wenn jeder Einzelne die Chance hat, mitzudenken und mitzuwirken.“[1] Und wenn er dazu gebildet und erzogen ist, mitzudenken und mitzuarbeiten.

 

Recht als Verhalten

Spricht man von „Recht“, so meint man zum Beispiel das Römische Recht, das Strafrecht, Zivilrecht und ähnliches. Recht ist aber auch ein Verhalten. Der Mensch kann sich vielfältig verhalten. Wenn er ißt verhält er sich anders, als wenn er arbeitet. Aus allen möglichen Verhaltensweisen des Menschen lässt sich ein ganz bestimmtes Verhalten herausschälen, das man Recht nennt.

 

Recht als allseitig erwartetes Verhalten

Recht ist, wenn man etwas fordert, und weil es eine Regel gibt, die jemand verletzt hat. Wessen Ehre verletzt wurde, der fordert die Wiederherstellung seines guten Rufes und Wiedergutmachung des Schadens. Der Beleidiger schuldet dies. Der Geschädigte fordert aber Wiedergutmachung mit gleichem Recht, wie es jeder fordern kann, dem das gleiche geschieht und der unter der gleichen Regel lebt. Recht ist also etwas, was ich fordere und zugleich etwas, was von allen erwartet wird. Recht ist also meinem Guttdünken und meiner Willkür entzogen. Es wendet sich an den Einzelnen, wie es sich an jeden wendet.

 

Recht braucht Konsequenzen

Damit aber Recht tatsächlich geschieht und sich der Schuldner nicht einfach davonschleichen kann, damit also Recht nicht eine blosse verbale Forderung bleibt, muss Recht erzwingbar sein. Falsches Verhalten soll Sanktionen auslösen. Ein Recht ohne Konsequenzen wäre eine blosse Versprechung, das dem Schädigenden einen Vorteil verschafft, und damit ungerecht ist.

 

Recht braucht Redlichkeit

Das erfordert, dass sich jeder redlich verhält. Das heisst, dass er so denkt und fühlt, wie er sich auch äusserlich verhält. Dass er also nicht einfach seine Strafe zahlt, aber innerlich schon den nächsten Bankraub plant. Die Konsequenzen für Verletzung der Regel sollen also sowohl die Wiedergutmachung des Schadens zum Ziel haben als auch die Einstellung des Übeltäters beeinflussen. Er soll nämlich wiedergutmachen, aber auch Einsicht erlangen und von künftigem Schädigen ablassen.

 

Gemeinschaft als erstes Prinzip des Rechts

Von dem, was wir bisher gesagt haben, darf nichts fehlen, will man nicht, dass Recht unmöglich wird. Das wichtigste Kriterium haben wir aber noch nicht genannt. Es umfasst alle genannten und ist das erste Prinzip des Rechts: Recht ist immer ein soziales Verhalten von Menschen, die eine Gemeinschaften gestalten. Robinson bräuchte kein Recht. Und deshalb ist Unrechtsverhalten immer mit Störungen der Beziehung des Individuums zur Gemeinschaft verbunden. „Verbrecher“, sagt Alfred Adler, können „Freunde haben, aber sie sind immer vom gleichen Schlag. Sie können Banden bilden und gegenseitig Loyalität an den Tag legen. Aber sie können keine Freundschaft mit der Gesellschaft ganz allgemein schließen , das heißt mit gewöhnlichen Menschen. Verbrecher behandeln sich selbst wie eine Gruppe von Verbannten und verstehen es nicht, sich bei ihren Mitmenschen heimisch zu fühlen.“[2] Nur ein soziales Lebewesen wie der Mensch braucht Recht. Ein Recht unter Tieren ist undenkbar. Ihnen fehlt die besondere Lebensweise des Menschen. Was bedeutet dies für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen?

 

 


Der dreifache Sinn des Rechts: Frieden, Gerechtigkeit, Sicherheit


Frieden

Was ist nun Recht? Das Jahrtausende alte Ringen um die Regelung des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist nichts anderes als die Geschichte der Versuche, ein friedliches Zusammenleben zu gestalten. Der innere und äussere Friede ist das wichtigste Ziel des Rechts zu allen Zeiten gewesen. Wer Recht schaffen will, muss aber auch die Machtmittel zu Verfügung haben, um es durchzusetzen. Um Recht durchsetzen zu können, muss es mit Macht und Autorität versehen werden. Recht bleibt dadurch nicht toter Buchstabe, sondern wird zur Friedensmacht. Die historisch ältesten Rechtssysteme berufen sich meist auf die Autorität einer göttlichen Macht, die dem Herrscher Gesetze offenbart hat. Man denke nur an Moses, der von Gott die Tafeln mit den 10 Geboten erhielt. Durch sie sollte der Friede unter dem Volk gestiftet werden. Der Herrscher war dadurch berechtigt (legitimiert) und verpflichtet, das von Gott gegebene Gesetz mit weltlicher Macht durchzusetzen. So war das Recht von Anfang an verbunden mit der Macht, den Rechtszustand herzustellen und so den Frieden zu sichern und zu erhalten.

 

Gerechtigkeit

Nun kann Friede auf Dauer nur existieren unter den Bedingungen der Gerechtigkeit. Man sieht leicht ein, dass in einer Gesellschaft, in der die einen rechtlos und in Not und Elend darben, während die anderen, in blanker Willkür und mit allen Privilegien ausgestattet, auf deren Kosten ein Leben in Luxus führen, ein friedliches Zusammenleben nicht möglich ist. Er kann zwar rein äusserlich mit brachialer Gewalt erzwungen werden. Aber auf Dauer scheitert das an der berechtigten Unzufriedenheit der Gedemütigten und Entrechteten, wie dies die Geschichte der sozialen Erhebungen zu allen Zeiten zeigt. Frieden ohne Gerechtigkeit ist nicht dauerhaft. Friede muss daher gerechter Friede sein. Mit anderen Worten: Das Recht zu leben, gut zu leben und glücklich zu sein, soll allen Menschen gleichermassen zukommen.

 

Sicherheit

Gerechtigkeit in diesem Sinne bleibt aber solange ein kraftloses Wort, als sie nicht durch eine gesellschaftliche Macht beziehungsweise gesellschaftliche Institutionen durchsetzbar ist, und dadurch Sicherheit, sogenannte Rechtssicherheit hergestellt wird. D. h., die Institutionen, die über die Einhaltung von Recht und Gesetz wachen, müssen jedem einzelnen garantieren, dass seine Rechte gesichert sind, dass sie – sofern dem einzelnen Unrecht geschehen und Schaden zugefügt wurde – das Unrecht verfolgen, den Übeltäter verurteilen und dafür sorgen, dass der Schaden wiedergutgemacht wird. Nur so kann der einzelne sicher sein, dass er vor Unrecht geschützt wird. Und nur dadurch wird Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Zusammenleben verwirklicht.

 

Schutz vor der Gewalt

Recht braucht Autorität und Macht, um verwirklicht zu werden. Wie aber verhindert man, dass die Macht, die gerechten Frieden sichern soll, selbst wiederum in Willkür und Tyrannei ausartet? Die Geschichte hat doch gezeigt, dass Menschen, denen man Macht verleiht, geneigt sind, diese zu missbrauchen. Der Mensch ist – dies lehren uns psychologische Erkenntnisse – gerade für die Macht so anfällig. Gerade Adler hat gezeigt, dass das Machtstreben nicht in der Menschennatur liegt, sondern das Ergebnis einer verfehlten Persönlichkeitsentwicklung darstellt und aus einem gesteigerten Minderwertigkeitskomplex entsteht. Das grundsätzliche Anliegen Adlers war es ja, wie er es nach den schrecklichen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges formulierte, „voranzugehen bei dem Abbau des Strebens nach persönlicher Macht und bei der Erziehung zur Gemeinschaft.“[3]

 

Staatsprinzipien und Naturrecht

Angesichts dieser Tatsache musste die Gefahr des Machtmissbrauchs durch immer bessere Instrumente eingedämmt und verhindert werden. Die bislang reifste Form, die Gefahr des Machtmissbrauchs in einer Gesellschaft zu bannen, stellen die heutigen freiheitlich, demokratischen Rechtsstaaten mit ihren Verfassungen dar. Sie ruhen – wie der bekannte Staatsrechtler Martin Kriele schreibt – auf drei Säulen: den Menschenrechten, dem Prinzip der Demokratie und der Gewaltenteilung. Alle drei Säulen haben ihre Wurzeln in der Geschichte des Naturrechts.

 

 


Drei Pfeiler des Nationalstaats: Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte


Demokratie: Mitarbeit aller

Das Prinzip der Demokratie fordert, dass die Macht nicht von einem absoluten Herrscher, sondern vom Volke ausgehe. Dies geschieht zum Beispiel durch allgemeine Wahlen von Repräsentanten, die begrenzte Macht bekommen, um den gerechten und sicheren Frieden durchzusetzen und zu erhalten. Dahinter stehen das Ideal der Freiheit des Individuums und die Vorstellung, dass es die freie Mitarbeit aller braucht, um die gemeinsamen Aufgaben des gesellschaftichen Lebens zu lösen. Wenn der Staat das Instrument der Gesellschaft ist, um die Entfaltung des Menschen zum Menschen und Mitmenschen in Freiheit und Verantwortung zu sichern, dann ist es grundsätzlich das Recht eines jeden, an der Gestaltung dieser gemeinsamen Aufgabe teilzunehmen. Ja, es ist sogar seine Bürgerpflicht! Denn schlussendlich kann die Regelung der vielfältigsten Aufgabe des Zusammenlebens nur im freien Wechselspiel und getragen vom spontanen Engagement vieler genügend sorgfältig gelingen.

 

Gewaltenteilung: Trennung von Amt und Person

Das allein sichert aber noch nicht davor, dass der gewählte Machthaber nicht innerhalb einer Amtsperiode seine geliehene Macht in Willkür verwandelt und nicht mehr im Sinne des Gemeinwohles, nicht mehr im Sinne des Rechts und der Verfassung handelt, sondern gemäss seinen eigenen Interessen. Deshalb muss er bei der Ausübung der Macht kontrolliert werden. Dies nennen wir Gewaltenteilung. Ihr Grundgedanke ist es, die Macht im Staate zu teilen, zu kontrollieren und dort zu bremsen, wo sie gegen Recht und Gesetz verstösst. Der Amtsinhaber ist nicht das Amt, sondern soll immer zwischen dem ihm übertragenen Amt und der eigenen Person trennen können. Gewaltenteilung ist damit mehr als Arbeitsteilung. Sie ist vielmehr die Grundvoraussetzung dafür, dass die Gesellschaft vor Machtmissbrauch und Willkür geschützt ist, und die Macht der gewählten Amtsträger nur zum Wohle des einzelnen und der Allgemeinheit eingesetzt wird.

 

Menschenrechte

Die Menschenrechte, wie sie heute Grundbestandteil der Verfassungen der modernen Demokratien sind, stellen ein gewaltiges Werk dar, hervorgegangen aus vernünftigem Denken, das den einzelnen wie die Gesellschaft vor dem Verfall in Unrecht, Willkür und Tyrannei zu schützen vermag. Die Menschenrechte bilden in Form der Grundrechte den Grundbestand an Werten in einer Verfassung, die das friedliche, freie, gerechte und sichere Zusammenleben erst möglich machen. Sie sind unantastbar, d.h., diese Werte existieren, auch wenn sie vom Staat oder Einzelnen missachtet werden. Gerade die Missachtung der Grundwerte lässt sie in ihrer universellen Gültigkeit noch schärfer hervortreten.

 

Naturrecht ist der Grund

Unsere modernen Verfassungsstaaten gehen von grundsätzlichen Ueberlegungen über die Menschennatur aus. Der moderne, freiheitlich demokratische, gewaltenteilende Verfassungsstaat, der in den naturrechtlich begründeten Menschenrechten seinen ethischen Grundkonsens hat, ist ein Instrument der Gesellschaft, das der menschlichen Natur angepasst ist. Das Bindeglied zwischen dem, was der Mensch ist, und der freien, sittlichen Organisationsform, die er sich schafft, ist das Naturrecht. Es beschreibt, wie wir aus der Natur des Menschen grundsätzliche Regeln des sozialen Zusammenlebens ableiten können und daraus die drei Pfeiler des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates entstehen: Demokratie, Gewaltenteilung und Menschenrechte.

 

Souveränität braucht Bildung

Sie hätten als Prinzipien aber noch nicht die nötige Kraft, um den gerechten, sicheren Frieden zu gewährleisten. Dass verliehene Macht wirklich nicht missbraucht wird, dass der Amtsträger sein Amt als Amt versteht und nicht als sein Privatvergnügen, das kann letztenendlich nur gesichert werden durch die (sittliche) Bildung eines jeden einzelnen Individuums. Dass Demokratie herrscht, braucht die Bildung eines Jeden, eines jeden Amtsträgers, eines jeden Bürgers, denn seine Mitarbeit ist gefragt und darauf beruht die Volkssouveränität. Volkssouveränität ohne Bildung ist ein wackliges Gebilde.

Wenn man sich jetzt überlegt, was das für den Gesamtaufbau des Staates bedeutet, dann heisst das im Grunde nichts anderes, als dass uns das Naturrecht in zweierlei Richtungen einen Ansatz gibt:

 

Zusammenleben im grossen und kleinen

Wir leiten zum einen aus dem Naturrecht Regeln des sozialen Zusammenlebens im grossen ab. Diese verwenden wir dazu, um einen Staat zu konstruieren, um Institutionen einzurichten, um Prinzipien der staatlichen Organisation zu formulieren. Hier sind wir im Bereich des Staatsrechts, der Rechtswissenschaft. Wir leiten zweitens aus dem Naturrecht Regeln des sozialen Zusammenlebens im kleinen ab. Das heisst, wir leiten aus dem Naturrecht Prinzipien der Pädagogik ab.

 

Gemeinsames Ziel: Entfaltung der Person in der Gemeinschaft

Es führen also von dem gemeinsamen Ausgangspunkt der menschlichen Natur und den daraus ableitbaren Grundregeln zwei Wege in zwei Richtungen, die aber das gleiche Ziel haben: das Gemeinwohl der Gesellschaft, das aus nichts anderem besteht als aus der freien Entfaltung der Person in der Gemeinschaft. Wir bauen innerhalb des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates eine Schule, die das verwirklicht, was der Staat schützt und fördert: die Bildung des Menschen als Menschen. Und das ist das Thema des Naturrechts.

Wir haben also gesehen, dass die Frage der Rechtsstaatlichkeit nur die eine Seite der Frage darstellt, wie der gerechte Frieden in Freiheit unter den Menschen gesichert werden kann. Die Rückseite des Problems ist die sittliche Erziehung und Bildung. Öffentliche Pädagogik und Politik müssen zugleich den Bedingungen der sozialen Menschennatur entsprechen, und sie brauchen sich gegenseitig. Wer die Gesellschaft vor dem Missbrauch der Macht schützen will, braucht nicht nur Institutionen, sondern er muss auch genügend Menschen dazu erziehen, dass sie der Macht entsagen können. Der braucht gebildete, verantwortungsbewusste Bürger, die „für ihre Bedürfnisse sorgen, ihr Wohlergehen sichern, ihre Rechte erkenne und ausüben, ihre Pflichten begreifen und erfüllen können“ – um noch einmal Condorcets Anliegen in Erinnerung zu rufen.

 

Was ist der Mensch?

Sowohl die Prinzipien von Recht und Gesetz, als auch die Ziele der Erziehung müssen also der menschlichen Sozialnatur entsprechen. Daher gehen Recht, Staatslehre und Pädagogik von der gleichen Grundfrage aus: Was ist der Mensch und wie muss er sein Gemeinschaftsleben gestalten, damit jeder in freier Kooperation mit seinem Mitmenschen eigenständige, verantwortliche und gemeinschaftsfähige sittliche Persönlichkeit werden und auch bleiben kann. Das ist die Frage nach dem Gemeinwohl, dem Pädagogik und Staatlehre verpflichtet sind: die Entwicklung der individuellen Person mit ihrem geistig-seelischen Eigenleben und mit ihrer persönlichen Entscheidungsfreiheit in der Gemeinschaft mit den Mitmenschen. Totalitäre Staaten unterdrücken das seelisch-geistige Eigenleben, die persönliche Entscheidungsfreiheit und die Gemeinschaft. Das Individuum erscheint dann nicht mehr als eigenständige Person in ihren natürlichen sozialen Beziehungen, sondern wird den Zwecken eines übergeordneten Herrschafts- beziehungsweise Staatsapparates unterworfen.

 

Staatsaufgabe: Schutz des Gemeinwohls

Aufgabe des freien Staates ist es, die individuelle Person in ihren natürlichen Beziehungen (Familie, Ehe, Freundeskreis, Vereine, freie Verbände u.ä.) zu schützen und zu fördern. Dadurch ist der Staat in erster Linie eine „Gemeinschaft von Bürgern, und er lebt aus dem ständigen Prozess der Gemeinschaftsbildung“[4] freier Individuen. „Das Besondere an diesem Verband ist, daß er befugt ist, die Gesellschaft verbindlich zu ordnen […] und zur Durchsetzung und Sicherung dieser Ordnung ist er mit Zwangsgewalt ausgestattet […].“,[5] wie wir bereits gezeigt haben.

 

Sicherung des Gemeinwohls muss sich geschichtlich entfalten

Wenn wir gesagt haben, dass der Staat ein Instrument der Gesellschaft ist, das der Menschennatur angepasst ist, dann bedeutet das nicht, dass er nicht von Natur aus gegeben ist, wie zum Beispiel der Ameisen- oder Bienen“staat“. In seiner geschichtlich gewordenen Form ist er nicht Natur, sondern Kultur. Das heisst: Er ist nach naturrechtlichem Verständnis „in der Menschennatur begründet, muß aber, weil die Menschen sich geschichtlich-kulturell entfalten, in eigenen Bemühungen um politische Ordnungen gestaltet werden.“[6]

 

 



Was ist Naturrecht?



Das richtige soziale Handeln

Nachdem wir nun untersucht haben, welchen Sinn Recht und Gesetz haben, wollen wir nun fragen, wie man aus der Natur des Menschen das ableiten kann, was der Mensch tun soll und was nicht, was richtig und was falsch, was recht und was unrecht ist.

Von der Antike über die römische Zeit, das Mittelalter entwirft man bis in die Neuzeit die verschiedensten Naturrechtslehren. Auf die eine oder andere werden wir im folgenden noch genauer eingehen. Wir wollen hier nicht die gesamte Geschichte des Naturrechts aufrollen. Wir werden das Naturrecht von seinen Grundgedanken her als eine breite geistesgeschichtliche Strömung beleuchten, die sich als roter Faden durch die europäische Geschichte zieht.

 

Naturrecht: Beispiel historischer Zusammenarbeit

Bei aller Zerrissenheit, die die Geistesgeschichte ansonsten oft auszeichnet, ist die Geschichte des Naturrechts „alles andere als eine verwirrende Vielfalt einander widersprechender und übertönender Stimmen, sondern entwickelt in sachgebundener Auseinandersetzung die vom Thema nahegelegten Lösungsmöglichkeiten. Gerade die Geschichte des Naturrechts bietet ein bemerkenswertes Beispiel für die Einheit des geschichtlichen Geistes, wenn er an einer sachlichen Aufgabe orientiert ist. Sie [die Geschichte des Naturrechts, M.N.] bildet, […] eine innerlich zusammenhängende Gedankenfolge, bei der jede spätere Generation die von der früheren geschaffene Problemlage als sachliche Aufgabe übernimmt und weiterführt.“[7] Die Geschichte des Naturrechts ist ein „zweieinhalb Jahrtausende währendes Gespräch“[8] über die richtige Lehre vom sozialen Zusammenleben.

 

Ausstrahlung in die Gesellschaft

Weil das Bemühen des naturrechtlichen Gesprächs immer das gerechte soziale Handeln war, hatte es auch immer gewaltige Ausstrahlungen auf die Gestaltung der Gesellschaft. Mit der ersten Verfassung von Virginia im 18. Jahrhundert erlebte die Menschheit etwas noch nie dagewesenes: Nicht nur Teilbereiche, sondern alle Bereiche einer Gesellschaft wurden unter ein gemeinsames System von Regeln gestellt, von denen man behauptete, sie seien sowohl im Interesse eines jeden Individuums als auch im Interesse der Gesamtgesellschaft. Dies waren die Menschenrechte. Sie waren nichts anderes als eine Umsetzung der Bemühungen im Naturrecht, die Regeln des sozialen Zusammenlebens aus der Natur des Menschen abzuleiten. Oder, anders ausgedrückt, eine Moralwissenschaft zur Grundlage des politischen Zusammenlebens zu machen. Dies war eine alte Forderung von Aristoteles gewesen. Schon er hatte gefordert, dass die Prinzipien des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf Moral gründen müssen. In Griechenland war sie bruchstückhaft geblieben. Die zweihundert Jahre, die seit der ersten Verfassung von Virginia vergangen sind, haben uns eine immer weitere Vervollkommnung der Naturrechtsidee gebracht.

 

Naturrecht: Wissenschaft vom richtigen Handeln in Gemeinschaft

Im Mittelpunkt des bis heute andauernden geistigen und politischen Ringens um ein friedliches Zusammenleben stand und steht das Naturrecht. „Das Naturrecht lehrt“, schrieb einer der bedeutendsten Begründer des modernen Naturrechts, Samuel Pufendorf, im Jahre 1673, „die Menschen, wie sie dieses Leben in rechter Gemeinschaft mit anderen Menschen zu verbringen haben.“[9] Die rechte Gemeinschaft ist nach Pufendorf die, welche die menschliche Natur am besten zum Klingen bringt. „Im Naturrecht wird behauptet, daß etwas zu tun sei, weil der rechte Gebrauch der Vernunft zu der Einsicht führt, daß es für den Fortbestand der menschlichen Gesellschaft notwendig sei.“[10] Das Naturrecht entstand also nicht in erster Linie aus der Frage nach dem Grund und der Rechtfertigung des staatlichen Rechts, sondern aus der Frage nach der Eigenart des menschlichen Handelns in Gemeinschaften. Deshalb ist die Grundfrage des Naturrechts: Was ist menschliches Handeln? Und: Wie ist das Handeln des Menschen in seiner Natur begründet? Damit ist die Grundlage des Naturrechts die Wissenschaft vom sozialen Zusammenleben des Menschen.[11] Damit ist das Naturrecht nichts anderes als die „Grundwissenschaft des sozialen Lebens“.[12] Kern des Naturrecht ist also die Anthropologie.

 

Kern des Naturrechts: „Sorge um die Gemeinschaft“

Das soziale Wesen

Alle bedeutenden Naturrechtslehren – so verschieden sie im einzelnen auch sein mögen – von Aristoteles über die Stoa, Thomas von Aquin, Hugo Grotius, Samuel Pufendorf, John Locke und viele andere mehr, gehen von der anthropologischen Grundtatsache aus, dass der Mensch ein soziales Lebewesen ist. Im Gegensatz zum Tier ist das Sozialleben des Menschen nicht durch Triebe oder Instinkte geregelt. An die Stelle des trieb- oder instinktgeregelten Verhaltens tritt beim Menschen die Fähigkeit, sein Handeln durch vernünftiges Denken in Gemeinschaft selbst zu bestimmen; er steht deshalb immer vor der Aufgabe, die natur-notwendigen Bedingungen des Soziallebens zu erkennen und dieses zu regeln. Das heisst: Der Mensch muss das Sozialleben seiner Natur gemäss einrichten und regeln, wenn er nicht in seiner leib-seelischen Entwicklung Schaden leiden will.

Der Mensch orientiert sich durch Recht

Das Recht nun ist die spezifisch menschliche Form der Orientierung in der sozialen Welt im Gegensatz zum Tier, das kein Recht kennt. Das Recht ist deshalb „eine Grundbefindlichkeit menschlicher Existenz“.[13] Und alle Naturrechtslehren gingen davon aus, dass es dem Menschen von Natur her angemessen und dass es notwendig für ihn ist, in Rechtszuständen zu leben.

Gegenseitige Angewiesenheit der Menschen ist Ausgangspunkt

Das Naturrecht geht in seinem Kern immer von der Sozialnatur des Menschen aus. Der Mensch kann ohne Hilfe des Mitmenschen gar nicht überleben. Er ist natürlicherweise auf den Mitmenschen angewiesen. Besonders wird dies deutlich, wenn wir uns die Situation des neugeborenen Kindes vor Augen halten. Es braucht, um selbständig zu werden, die Pflege, Hilfe und Zuwendung der anderen. Es gelangt zum vollen Menschsein nur durch die Hilfe seiner Mitmenschen.

 

Die natürliche Angewiesenheit des Menschen auf den Mitmenschen

Verlust der Liebe schädigt objektiv

Lassen Sie uns diesen Zusammenhang an einem Beispiel erleutern. Wenn etwa ein Neugeborenes ausgesetzt und sich völlig selbst überlassen wird, empfinden wir dies unwillkürlich als Unrecht. Warum? Weil wir wissen, dass ein Neugeborenes ohne Nahrung, Pflege, Beziehung und Liebe elend zugrunde gehen müsste – und zwar überall und zu allen Zeiten.

Das Sollen ist ein Aspekt der Menschennatur

Wir erinnern uns an die erschütternden Filmdokumente von Rene Spitz. Sie zeigten uns, wie Kleinkinder, die körperlich und hygienisch ausreichend versorgt wurden, unweigerlich zugrunde gingen, weil ihnen die Mutterliebe gefehlt hatte. Der Anblick der depressiven Kinder mit ihren grossen, traurigen Augen berührte uns zutiefst, denn wir fühlen natürlicherweise einen Wunsch, ihnen jene Liebe und Zuwendung zu geben, die ihnen fehlt. So wirkt ihr Anblick auf uns als Appell zur Hilfe und Fürsorge.

Das ist die ethische Grundforderung, die zutiefst in der menschlichen Sozialnatur verankert ist: dem Kleinen, Schwachen, Kranken, Alten Hilfe zu leisten und umgekehrt auch zu empfangen. Wir fühlen uns angesichts menschlicher Hilflosigkeit, Not und Leidens spontan verpflichtet zu helfen. Das kann soweit gehen, das jemand sein eigenes Leben riskiert, um einen anderen zu retten. Wer aber hat uns diese Pflicht auferlegt? Die Hilflosigkeit des Kindes, dessen Leben in usneren Händen liegt. Letztlich also die Natur selbst. Denn die Pflicht zu helfen entsteht aus der naturnotwendigen Fürsorge, ohne die das Kind sterben würde.

Gegenseitige Hilfe als lebensnotwendiges Prinzip

Nicht nur die engere Beziehung zwischen Eltern und Kind folgt dieser Pflicht. Jede menschliche Gemeinschaft als ganzes unterliegt dem naturnotwendigen Prinzip der gegenseitigen Hilfe. Würde man den Menschen die Fürsorge und Verantwortung für den Nächsten nehmen, würde man ihn buchstäblich aller Reichtümer und des Lebenssinns berauben. Das Leben selbst wäre ihnen genommen. Gegenseitige Hilfe, Fürsorge für das Wohl des anderen ist eine von der Menschennatur gesetzte Notwendigkeit, ohne die der Mensch nicht überleben kann. Es ist daher die natürliche Pflicht eines jeden einzelnen – weil er Mensch ist und von anderen abhängig ist und mit anderen zusammenleben will -, diese von der Natur auferlegte Notwendigkeit zu erfüllen. Tut er das, ist das zu seinem eigenen und aller Nutzen. Jedem – und gerade dem Schwachen, Alten, Kranken, Kleinen erwächst daraus umgekehrt das Recht, den Schutz der Gemeinschaft für sein Leben in Anspruch zu nehmen und im Notfall auch fordern zu können.

Der Mensch ist von Natur her zum Leben im Rechtszustand befähigt

Diese Rechte/Pflichten treten dem Menschen aber nicht als lästige Forderungen von aussen entgegen. Nächstenliebe, Fürsorge und gegenseitige Hilfe entsprechen zutiefst dem sozialen Mitgefühl, zu dem der Mensch von Natur her angelegt ist. Schon beim Säugling tritt diese soziale Anlage in Erscheinung (wie wir dies an den vielfältigen Beispielen aus der entwicklungspsychologischen Forschung kennen). Im Wechselspiel zwischen Eltern und Kind entsteht das tiefe Empfinden, dass das Leben aus Gegenseitigkeit, Fürsorge, Freude am anderen, Kooperation besteht.

Die Liebe ist der Ausgangspunkt der Ethik

Die Vertrauensbeziehungen innerhalb der Familie leben aus dem Prinzip heraus, dass sich alle als Mitmenschen gerne annehmen und lieben. Es wird etwas Gemeinsames zwischen ihnen gestiftet, das selbstlos und doch mit „Gewinn“ von allen gepflegt und unterhalten wird. Keiner gehört dem anderen, und dennoch sind alle füreinander da. Die Basis jeglicher Menschwerdung ist diese Beziehung zwischen Eltern und Kind. Hier lernt das Kind im täglichen Lebensvollzug, wie man lebt und was es bedeutet wenn man den Menschen achtet, liebt und anerkennt, weil er Mensch ist. Hier macht das Kind im aktuellen Vollzug jeder Lebenssekunde die echte Erfahrung, von einem Menschen um seiner selbst willen angenommen und geliebt zu werden. So bildet sich aus den Erfahrungen der ersten mitmenschlichen Beziehungen im Kind die Erfahrung, wertvoll zu sein für einen Menschen, wertvoll zu sein, einfach weil man als Mensch existiert. Hier lernt das Kind emotional die Grundlagen der Sittlichkeit. Im Grunde ist dies nichts anderes als das, was Kant in der praktischen Fassung seines kategorischen Imperativs als Sittengesetz formulierte, dass jeder den anderen als „Zweck an sich selbst“ und nicht als Mittel zum Zweck achtet.

Die Logik des menschlichen Zusammenlebens

Dies ist die Grundstruktur oder, wie es Adler formulierte, die „Logik des menschlichen Zusammenlebens“: Dass jeder den anderen um seiner selbst willen liebt, annimmt, achtet, vertraut, schützt, sein Wohl fördert, Rücksicht nimmt. In dieser sozialen Beitragsleistung erlebt der Mensch das Gefühl der eigenen Bedeutung und die Genugtuung. Er wächst daran in seiner Selbstachtung. Und so vollzieht er, was seiner sozialen Naturanlage entspricht. Wenn er diesen Zusammenhang fühlt und erkennt, dann tut er es gerne. Er tut es nicht als lästige Pflicht, sondern weil es ihm Genugtuung und Lebenssinn gibt.

Sein und Sollen

Das zeigt die Eigentümlichkeit des menschlichen Lebens. Was wir tun sollen, damit wir glücklich leben können – das also , was wir weiter oben als natürliche „Pflicht“ beschrieben haben, das ist etwas, was in der Menschennatur angelegt ist. Diese soziale Anlage „schreibt uns (sozusagen) vor“, dass wir nur glücklich werden können, wenn wir ein Leben in Frieden und Mitmenschlichkeit führen. Diese Vorschrift der Natur macht sich jedoch als Zwang nur dann bemerkbar, wenn wir vom Ziele der Mitmenschlichkeit abweichen. Richten wir unser Leben im Einklang mit diesem Naturgesetz ein, dann werden wir frei und empfinden Glück.

Grundgesetz des Naturrechts

Aus diesen Grundüberlegungen über die Sozialnatur des Menschen folgt dann die erste Grundregel des Naturrechts. Wir formulieren das mit Pufendorf einem modernen Naturrechtslehrer. „Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in der Gemeinschaft notwendig und nützlich ist [und zwar zum Wohle des einzelnen wie zum Wohle aller]; was stört und schadet ist verboten.“[14] Alle übrigen Regeln des Naturrechts „sind nur Folgesätze dieses obersten Grundsatzes.“ [15]

 

Grundpflichten und Grundrechte des sozialen Zusammenlebens gemäss dem Naturrecht

Lebensschutz

Die erste Grundregel ist die körperliche Unversehrtheit, die sich aus der Sorge für die Gemeinschaft ergibt. Sie ist das Gebot, dass jeder sein eigenes Leben und das des anderen erhalte und nicht schädige. Jeder hat ein angeborenes Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit; er darf deshalb weder getötet noch gefoltert, weder geschlagen noch eingesperrt oder in Leibeigenschaft versklavt werden.

Gleichwertigkeit

Die zweite Grundregel ist die Gleichwertigkeit: Daß jeder jeden anderen Menschen als jemanden achtet und behandelt, der ihm von Natur aus gleich und in gleicher Weise Mensch ist. Alle Menschen haben die gleichen angeborenen Rechte, denn ihnen kommt – bei allen individuellen Unterschieden, bei allen Unterschieden der Hautfarbe, der Herkunft usw. – die gleiche unveränderliche Natur zu.

Würde und Freiheit

Die dritte Regel ist die Achtung vor der Würde und Freiheit: Weil alle Menschen die gleiche unveränderliche Natur haben, muss jeder Mensch in seiner Menschenwürde geachtet werden. Denn der Mensch hat insofern eine besondere Würde, als er sein Leben in freier geistiger Selbstbestimmung und in persönlicher Entscheidung führen kann und will. Er ist aber nur dann wirklich frei, wenn er die Grundbestimmungen seiner Natur und die natürlichen Rechte und Pflichten des sozialen Zusammenlebens erkennt und danach handelt. Verstösst er dagegen, nimmt er selbst Schaden und schädigt andere. Hier drin liegt auch die personale Auffassung vom Menschen begründet und wir nennen den Menschen eine Person (gerade deswegen hat er Würde), weil er sein Leben aufgrund vernünftiger Einsicht und persönlicher Entscheidung führt und sein Handeln in Übereinstimmung mit den Grundbedingungen seiner Sozialnatur bringen kann und muss, wenn er nicht Schaden nehmen will. Den Menschen in seiner Menschenwürde zu verletzen trifft ihn nicht weniger tief als wenn er an Leib und Leben Schaden nimmt.

Fürsorge

Die vierte Regel ist: Nicht nur das Leben und die Würde des anderen zu achten, sondern auch aktiv das Wohl des anderen zu fördern. Um das soziale Zusammenleben friedlich zum allgemeinen Wohl zu regeln, soll jeder darüber hinaus angehalten sein, den Vorteil der anderen auch aktiv zu fördern (soweit es in seiner Macht liegt und er es ohne eigenen Schaden kann). Niemand soll dem anderen etwas vorenthalten, was der andere dringend braucht. Er soll im Geiste der Brüderlichkeit und Solidarität den anderen annehmen, um so das allgemeine Vertrauen in die Mitmenschlichkeit und gegenseitige Hilfe zu fördern und zu pflegen. Im ersten Artikel der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ aus dem Jahre 1948 finden diese Gedanken in folgender Formulierung ihren Ausdruck: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“[16]

Erziehung

Die nächste Regel, die sich auch aus der menschlichen Natur ergibt, aus den Beispielen von René Spitz hervorgeht, also die Abhängigkeit, die Hilflosigkeit des Kindes und die Tatsache, dass der Mensch nur Mensch werden kann mit dem Mitmenschen, das ist das Recht auf Erziehung. Und umgekehrt erwächst daraus auch die Pflicht der Eltern, das Kind zu erziehen. Da stossen wir auf einen wichtigen Zusammenhang. Je sicherer und geborgener sich das Individuum in der Gemeinschaft fühlt, desto besser kann es seine Individualität entwickelt. Je besser die Individualität in jedem ausgebildet ist, desto hochstehender ist das Sozialleben der Gruppe und umgekehrt. Die Familie ist also die erste und für diesen naturnotwendigen Zusammenhang die wichtigste natürliche Gemeinschaft. Und sie sind die natürliche Autorität in der Erziehung des Kindes. Sie haben ein Recht das Kind zu erziehen und die Pflicht natürlich.

Meinungs-, Versammlungs- und Vereinsfreiheit sowie Gewissens- und Religionsfreiheit

Die nächste Grundregel entsteht auch aus der menschlichen Sozialnatur. Es entspricht der menschlichen Sozialnatur, friedliche, sittliche Gemeinschaften zu bilden. Keiner darf sie schädigen. Daraus ergibt sich das Recht der Person auf freien sozialen Verkehr in natürlichen Gemeinschaften: also die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und die Vereinsfreiheit. Dazu gehört auch die Gewissens- und Religionsfreiheit.

Um diese Grundregeln kreiste das Naturrechtsdenken immer. Und zwar immer ausgehend von der sozialen Natur des Menschen.

 

Das Leben führen, nicht nur fristen

Aus der Erkenntnis, welche Kräfte im Menschen wirken, wie er sich verhält und wie er überhaupt zum Menschen wird, gewinnen wir das Wissen um die menschliche Natur. Die Eigenschaften eines verantwortungsvollen, eigenständigen, vernünftigen und wie wir es auch immer benennen wollen, Erwachsenen Menschen, sind uns ja nichts anderes als die Erziehungsziele, mit denen wir das Kind behandeln und leiten. Dabei sprechen wir nicht von zufälligem Verhalten oder zufälligen Kräften. Wir suchen die Kräfte und das Verhalten, die der Mensch schon bei Geburt zeigt, ohne dass er etwas gelernt hätte. Was also allen Menschen, zu allen Zeiten, in allen Kulturen zukommt.

Leben unter dem Diktat der Bedürfnisse

Der Unterschied zu den Tieren springt dabei sofort ins Auge. Das Tier lebt sein Leben unter dem Diktat seiner Bedürfnisse. Das Tier kann und muß zum Beispiel nie wissen, warum es Hunger hat, und es muß und kann auch nie erkennen, warum und wozu es Hunger hat. Das heißt, das Tier kann das, was es bewegt, bzw. motiviert, nicht erkennen, und kann auch nicht erkennen, welche Ziele diesen Kräften innewohnen. Sein richtiges Verhalten ist durch mehr oder minder offene, angeborene Verhaltenskoordinationen gesteuert. In freier Wildbahn werden wir daher nie eine Fettleibigkeit bei einem Reh entdecken, wenn es auch vielleicht Nahrung in Hülle und Fülle zur Verfügung hat und Zeit erst recht. Es muß nicht richtig fressen lernen, es frißt.

Erkennen und Handeln

Der Unterschied zwischen Tier und Mensch liegt darin, daß der Mensch sowohl die ihn bewegenden Kräfte erkennen kann, als auch die Ziele, die ihnen innewohnen. Er kann erkennen, daß er Hunger hat, warum er Hunger hat. Und er kann erkennen, daß im Hunger das Ziel der Lebenserhaltung und der Gesundheit liegt. Das ist ein natürliches Sollen, denn der Mensch legt das nicht in den Hunger hinein. Der Hunger sagt dem Menschen, dass er essen soll, und dessen kann sich der Mensch bewußt werden. Und wenn er weiterforscht, erkennt er, daß das Hungergefühl Gesundheit und Lebenserhaltung bezweckt. Hier liegt also ein Zweck in der Natur, weshalb man durchaus berechtigt ist, solche Zwecke „natürlich“ oder auch „existentiell“ zu nennen. Wir lehnen uns darin an den Sozialphilosophen Johannes Messner an, der hierfür den Begriff der „existentiellen Zwecke“ geprägt hat. Wir sprachen also eben beispielhaft vom Ziel der Gesundheit und der Lebenserhaltung, das als existentieller Zweck dem Hunger innewohnt.

Weltoffenheit

Nun ist es die Eigentümlichkeit der Menschennatur, dass der Mensch in hohem Masse instinktreduziert ist. Der Mensch handelt nicht, weil Instinkte oder Triebe ihm dies vorschreiben wür­den. Der Mensch wird weltoffen geboren, d.h. seine Anlagen sind Dispositionen, die im Wechselspiel mit der Sozialumgebung ausgebildet werden. Menschliches Handeln ist also nicht determiniert, sondern erworben und basiert auf natürlichen Dispositionen. Das menschliche Handeln ist also von Natur aus frei. Der Mensch ist nicht determiniert.

Selbstbestimmung

Der Mensch kann nun neben den ihn bewegenden Kräften und den ihnen innewohnenden Zwecken und Zielen noch ein Drittes erkennen: Und zwar kann er erkennen, daß es in seiner Selbstbestimmung liegt, inwiefern sein Handeln mit den natürlichen Zielen übereinstimmt. Der Mensch kann also erkennen, ob sein Essverhalten, das er zufällig oder nicht gewählt hat, den natürlichen Zwecken des Hungers entspricht oder ihnen zuwiderläuft. So kann er dazu kommen, das vermeiden zu lernen, was gegen Lebenserhaltung und Gesundheit gerichtet ist. Das gilt übrigens auch für unbewusste Handlungen.

Das rechte Mass

Der Mensch kann also mit anderen Worten das rechte Mass erkennen, das für sein Handeln nötig ist. Hat er das rechte Mass, dann tut er das Richtige bezogen auf unser Beispiel um gesund zu leben. Der Mensch kann und muss, denn kein Instinkt sagt ihm die richtige Lösung, sodann vergleichen, ob sein tatsächliches Verhalten mit dem rechten Mass übereinstimmt. Dadurch hat er die Möglichkeit gewonnen, zum Beispiel tagtägliche Völlerei als falsches Verhalten zu erkennen und ein Verhalten einzuüben, das dem (natürlichen) Ziel der Gesundheit entspricht.

Das „arteigene Verhalten“ als vernünftiges Wesen

So kommt der Mensch zur Erkenntnis, welches Verhalten richtig ist und welches falsch. Wenn das Verhalten eines Menschen gegen die Ziele verstößt, die seiner Natur innewohnen, dann nennen wir dies unvernünftig. Es gehört zu den grundlegendsten Bestimmungen der Menschennatur, dies zu können. In eben dieser Fähigkeit, die wir auch Vernunft nennen, liegt auch die Möglichkeit, Fehler machen zu können. Das stellt für den Menschen ein allgemeines Naturgesetz dar, eine Lebensaufgabe: Das rechte Mass durch Vernunfttätigkeit erkennen und anwenden lernen zu müssen. Diesem kann sich keiner entziehen, ohne an sich Schaden zu nehmen oder anderen Schaden zuzufügen. Das charakterisiert seine Natur als Mensch. Das ist sein „arteigenes Verhalten“ als vernünftiges Wesen.

Der Mensch ist also, wenn wir zusammenfassen, nicht instinktgesteuert, sondern muss sein richtiges Verhalten erwerben. Richtig zu Handeln ist beim Menschen eine Frage der Selbstbe­stimmung, im Gegensatz zum Tier, das instinktdeterminiert handelt. Und Selbstbestimmung heißt, sein Handeln in Einklang mit den natürlichen Zielen bringen zu lernen. Das bedeutet, wahre menschliche Selbstbestimmung kann nicht schrankenlos sein: Sie ist frei, aber innerhalb der Grenzen der Naturgesetzlichkeit.

Ethik muss die Natur anerkennen

Wenn wir als zu Recht verlangen, dass Ethik von der Natur (des Menschen) auszugehen habe, dann setzen wir die Menschennatur als objektive Tatsache voraus, die Gesetzen gehorcht, über die wir nicht frei verfügen können. Wir sind zwar frei, zu tun, was wir wollen, aber unsere Freiheit ist erst dann wirkliche Freiheit, wenn sie nicht den Naturgesetzen widerspricht. Nehmen wir uns die „Freiheit“ heraus und handeln gegen die Naturgesetze, so verwandelt sich unsere Freiheit unerbittlich und immer in eine mehr oder minder große Unfreiheit. Verstößt also die Selbstbestimmung gegen die Menschennatur, ist Unfreiheit das Resultat.

Selbstschädigung ist keine Freiheit

Diese Logik hat für den Menschen die Kraft eines Naturgesetzes. Wer sich die sogenannte „Freiheit“ nimmt, sich durch Gift in Raten das Leben zu nehmen, vernichtet damit sofort auch die Freiheit selbst. Es liegt also gar keine Freiheit vor. Hier haben wir den Boden einer naturrechtlich begründeten Ethik betreten. Da der Mensch diese Eigentümlichkeit seiner Natur erkennen kann, kann er auch verstehen, dass er Verantwortung dafür übernehmen muss, wie er handelt. Das natürliche Verhältnis der Menschen gegeneinander ist also das der Verantwortung. Verantwortungslosigkeit wäre eine pervertierte Selbstbestimmung, die nicht mit dem Mitmenschen rechnet. Der Mensch erkennt aber im Nächsten sofort den Mitmensch mit der gleichen Vernunftbegabung, und darum fordert man auch von anderen gegenüber sich selbst die gleichen Verhaltensweisen, die man von sich selbst gegen andere fordert.

So liegen also in der Menschennatur Ziele, die sich aber nicht automatisch durchsetzen. Es ge­hört zur Eigentümlichkeit des Wesens Menschen, daß er diese Ziele richtig erkennen und be­antworten muß, um gut zu leben. Dieses Naturgesetz des menschlichen Verhaltens ist in allen Kulturen gleich.

Innere und äussere Ordnung

Wir ordnen mit diesem Verhalten das äusserliche Leben, wir ordnen das staatliche Leben, unser Leben in Gemeinschaften, wir ordnen damit auch die unbelebte Natur, wir erkennen damit die Gesetze, die die Welt überhaupt bewegen. Aber wir ordnen damit auch unser eigenes Inneres. Wir erkennen, dass aus diesen Grundtatsachen auch Forderungen an meine eigene Lebensführung gestellt werden, d.h. dass ich nicht nur die Welt ordne, sondern auch mein inneres Seelenleben. Das ist der rote Faden, der sich durch die Geschichte des Naturrechts zieht.

Die innere Ordnung: Tugenden

Will der Mensch diesem Naturgesetz Rechnung tragen, dann erfordert dies von ihm eine ganz bestimmte Grundhaltung gegenüber dem Leben. Er muß lernen, klug zu handeln: Der kluge Mensch mißt „seine Entscheidungen Tag für Tag an der ganzen Wirklichkeit …, ganz gleich ob das angenehm ist oder nicht.“[17] Er „läßt sich den Blick für die Wirklichkeit nicht trüben durch das Ja und Nein des Willens, sondern er macht das Ja und Nein des Willens abhängig von der Wahrheit der wirklichen Dinge.“[18] Ein mittelalterliches Wortspiel hat es einmal treffend so ausgedrückt: „Klug ist, … , wem alle Dinge so schmecken, wie sie sind.“

Die äussere Ordnung: Grundrechte, Staatsform, Staatsprinzipien

Aus dem Grundgesetz des menschlichen Handelns leiten sich für die Rechte im Staat und den Aufbau des Staates bestimmte Regeln und Prizielien ab.

Naturrecht ist sogenannt vorstaatliches oder überpositives Recht, d.h. es gilt vor und über (.d.h. unabhängig von …) dem von Menschen und Staaten gesetzten Recht.

Das ist der rote Faden, den wir am Anfang andeuteten, der sich durch die Naturrechtsdebatte bis heute zieht. Im 18. Jahrhundert haben die Menschen dann aus dieser Grundfrage heraus den Rechtsstaat als die der Sozialnatur des Menschen angepasste Lebensform im Grossen entwickelt.

 

 



Zur Geschichte des Naturrechts



 

Wenn wir die Geschichte des Naturrechts betrachten, so zeigt sich, dass es eine kontinuierliche Entwickelung gibt, dass es aber auch immer eine Reaktion auf Zeiten des Unrechts, der Willkür, von Krieg und Gewalt war. „Die Geschichte Europas und Amerikas ist“,schreibt der Staatsrechtler Martin Kriele, „eine Geschichte des Unrechts und der Gewalt, aber auch eine Geschichte ihrer Überwindung aus eigener moralischer Einsicht und politischer Kraft.“[19]

Die Geschichte des Naturrechts hat ihre Wurzeln im klassischen Griechenland, und es ist kein Zufall, dass wir in dieser Zeit, im 4. und 5. Jahrhundert v.Chr., auch auf die ersten Demokratien stossen.

Die Entwicklung vollzieht sich in drei grossen Etappen. 1. Antike (Protagoras, Platon, Aristoteles, Stoa), 2. Scholastik, Spätscholastik (Thomas, Spanisches Naturrecht) 3. Neuzeit (Grotius, Pufendorf, Locke). Wir wollen einige Schlaglichter auf die Entwicklung werfen.

 

 

Antike: Entwicklung der ersten Grundbegriffe der Naturrechtsidee und unseres heutigen Denkens überhaupt

Kosmologie

In den frühen griechischen Dichtungen und Epen, bei Homer oder den jonischen Naturphilosophen, war die Menschenordnung noch ganz in den allumfassenden Kosmos eingebunden. So befassten sich die ersten Philosophen mit den Erscheinungen des Kosmos, mit Erd- und Himmelskunde. Thales von Milet gilt als der älteste Denker der Geschichte der abendländischen Menschheit. Er stellte sich die Erde als eine flache Scheibe, die auf dem Wasser schwimmt, vor. Der Begriff der Natur kam bei ihm aber noch nicht bewusst vor. Die ionischen Naturphilosophen bemühten sich zum ersten Mal um natürliche Erklärungen für die Phänomene der Natur, während zuvor mythische Ursprungslegenden und Dämonenfurcht das Denken beherrschten. Die ganze Natur war im Volksglauben personifiziert gewesen. Ein Erdbeben kam zum Beispiel immer dann zustande, wenn Gott Poseidon seinen Dreizack gewaltvoll in die Erde gestossen hatte.

 

Vom Mythos zum Logos

So war es ein grosser Denkfortschritt vom Mythos zum Logos, das heisst zu rationalen Erklärungsversuchen der Phänomene. Der griechische Mensch hatte nämlich entdeckt, dass er eine Vernunft  hat. Daher können die Anfänge der Philosophie im antiken Griechenland als die ersten Bemühungen um begriffliche Argumentation und um allgemein kontrollierbare Begründungen gesehen werden.

 

Natur und Gesetz

Voraussetzung für die Entstehung eines Naturrechts war zuerst einmal, den Begriff von der Natur zu entwickeln. Zweitens muss der Begriff der Natur oder der natürlichen Ordnung von der von Menschen gesetzten Ordnung unterschieden werden. Die Griechen hatten dafür die Begriffe Natur und Gesetz, Physis und Nomos. Wie gesagt, war anfänglich alles eine Einheit, das göttliche Eine, der Kosmos oder die Weltordnung. Die Menschen waren darin eingegliedert und davon geprägt, gewissermassen vom göttlichen Weltgesetz bis in ihre Seele durchdrungen.

 

Heraklit

So sagte Heraklit, einer der frühesten griechischen Naturphilosophen: „Alle menschlichen Gesetze nähren sich aus dem göttlichen Einen.“[20] Man hat teilweise den Gedanken des Naturrechts bis auf ihn zurückgeführt, weil ein Aspekt seines Gedankens ist, dass es etwas Ewiges, Unwandelbares gibt, ein Ordnungsprinzip, das allen gemeinsam ist. Heraklit hat den gleichen Begriff verwendet für das universale Gesetz in der Natur, für die menschliche Vernunft, die dieses erfassen kann, auch für das Denken und die Erkenntnis oder die erklärende Rede: der Logos. Dieser Logos, ist also allen gemeinsam – ein Ansatzpunkt des Naturrechts – und Heraklit meint dazu, dass obwohl dieses Gesetz oder die Vernunft allen gemeinsam ist, doch die vielen Menschen so leben, als ob sie nur eine eigene Einsicht hätten. Hier klingt schon der Begriff eines Allgemeingültigen, Allgemeinverbindlichen durch im Unterschied zu den verschiedenen subjektiven Meinungen.

Das Aufkommen des Naturrechts wird mit zwei Entwicklungen in Verbindung gebracht, wovon die eine politisch-sozial ist und die andere mit einem entscheidenden Wandel im Natur-Begriff zusammenhängt.

 

Soziale Umwälzung

Im 8. Jh. v. Chr. begann eine grosse Krise im antiken Griechenland: Die alten Aristokratien brachen zusammen und die Städte gewannen durch Handel und Seefahrt an Bedeutung. So kam ein Gefühl der Gleichwertigkeit bei den Einwohnern der Städte gegenüber den Adligen auf. Das Rechtswesen lag aber in den Händen des grundbesitzenden Adels, darüber fanden Auseinandersetzungen statt. Im Laufe der Zeit entwickelte sich dann Athen zu einer Demokratie. Bis anhin waren die Rechtsregeln das Berufsgeheimnis der herrschenden Stände gewesen, nun erhob man den Anspruch, die Gesetze durch Verkündung öffentlich zu machen. Man wünschte klar gefasste Normen als Grundlage für die Gleichheit vor dem Gesetz.

 

Das gerechte Zusammenleben

Die überlieferte wesensmässige Einheit des gesamten Kosmos brach auf und machte einer Unterscheidung von Menschensatzung und Naturordnung Platz. Im griechischen Stadtstaat wurde der einzelne freie Bürger als aktiver Teilnehmer betrachtet und seine Beteiligung an den Belangen der Gemeinschaft war zugleich natürliches Recht und natürliche Pflicht. Das moralisch ‚gute‘ Leben war die aktive Beteiligung an den öffentlichen Angelegenheiten. Dieses Ideal der Gemeinschaft und des guten Lebens finden wir auch in den Schriften von Platon und Aristoteles. Dementsprechend wichtig wurde die Frage der Gestaltung eines gerechten, menschlichen Zusammenlebens und damit die Frage des Rechts. Die Gesetze spielten bei den Griechen eine grosse Rolle, was auch aus verschiedenen Aussprüchen hervorgeht, z.B. „das Recht ist König“. Die Griechen unterschieden kaum zwischen rechtlichen, politischen und moralischen Problemen, und es ist heute interessant und wichtig zu wissen, dass sie die Aufgabe des Staates in der Sicherung eines gerechten und friedlichen Zusammenlebens sahen. Politik und Ethik gehörten von der theoretischen Grundlegung her zusammen. So besteht die grosse Hinterlassenschaft der griechischen Rechtswissenschaft an die spätere abendländische Zivilisation in der philosophischen Analyse der Grundlagen von Recht und Gerechtigkeit.

 

Der Mensch hat eine Natur

Die zweite Voraussetzung für die Entstehung des Naturrechts war eine Veränderung im Begriff von der Natur. Wir haben gesehen, dass ursprünglich im antiken Weltbild alles eine Einheit war: Kosmos, Naturordnung, göttliches Gesetz und darin eingegliederte Lebewesen, einschliesslich des Menschen. In der griechischen Medizin des 5. Jh. v. Chr. bahnte sich nun eine neue, bahnbrechende Entwicklung an: Der Begriff der Natur wurde auf den Menschen übertragen. Jeder Mensch besitzt eine bestimmte „Natur“, seine  Konstitution. Diese fordert ein bestimmtes Verhalten von ihm, wenn er gesund oder krank ist. Die Medizin hatte nämlich Beobachtungen angestellt, und aus der individuellen menschlichen Natur Normen  für eine gesunde Lebensweise abgeleitet. Da liegt es dann nahe, eine Parallele zu ziehen zu einer zuträglichen Lebensweise für den Menschen auch im ethisch-sozialen Bereich: Dass es hier auch objektive Kriterien dafür gibt. Platon arbeitet später in seinen Dialogen etliche solcher Parallelen zwischen Medizin und Ethik aus; er spricht von körperlicher und sittlicher Gesundheit und Krankheit.

 

 

 

Die Sophisten

Zugang zum Naturrecht

Die Sophisten sind von diesem medizinischen Begriff der Natur als der körperlichen Konstitution des Menschen ausgegangen und haben den Schritt zu einem umfassenderen Begriff der menschlichen Natur gemacht: die menschliche Natur als ein Ganzes von Leib und Seele einschliesslich  ihrer sittlichen und sozialen Beschaffenheit. Hiermit war der Zugang zum Naturrecht eröffnet. Von nun an konnte das Recht und die Ethik aus der Natur des Menschen hergeleitet werden.

Der Mensch ist das Mass aller Dinge

Die Sophisten traten erstmals in der Zeit der Demokratisierung Athens auf. Damals war der überlieferte Götterglaube erschüttert und die sich differenzierende Kultur löste sich von der Religion. Die Sophisten bildeten die demokratische Führerschicht aus und lehrten sie die politische Kunst und Tüchtigkeit. Damit wendete sich das philosophische Interesse vom Sein allgemein dem Menschen zu. Man spricht daher von einer Ablösung der kosmologischen Epoche in der griechischen Antike durch die anthropologische. Für das Naturrecht bedeutet dies, dass der wichtige Schritt von der Allnatur zur speziellen Natur des Menschen getan wurde.

Protagoras

Er verkündete: „Der Mensch ist das Mass aller Dinge“, was als Motto für die gesamte Naturrechtslehre gelten kann. Protagoras gab die ersten anthropologischen Grundlagen für eine Demokratie: Die Tiere hätten alles für ihre Existenz Nötige von der Natur mitbekommen. Der Mensch aber sei ein ‚Mängelwesen’. Prometheus habe den Menschen Feuer und Technik zur leiblichen Wohlfahrt geschenkt. Zeus habe allen Menschen die natürliche Anlage zu Scheu und Recht gegeben, damit sie soziale Verbände gründeten und so überleben könnten. Diese Anlage müsse aber durch Erziehung und das Studium der Gesetze ausgebildet werden. Alle  freien Bürger müssten soviel sittliche  und soziale  Einsicht besitzen, dass sie im Staate selbständig  mitbestimmen können. Die Mehrheit müsse zur vernünftigen Überlegung fähig sein. Diese Rechtfertigung der athenischen Demokratie ist zugleich die anthropologische Grundlegung jeder  Demokratie. Hier wird zum ersten Mal der innere Zusammenhang zwischen Natur und Gesetz thematisiert: Das Gesetz ist die Vollendung der Natur. Gesetze sollen die natürliche Anlage zu Scheu und Recht ausbilden und vollenden.

„darum herrschen Gesetz und Recht königlich über die Menschen“

Ein unbekannter Sophist hat dies noch deutlicher formuliert: „Da die Menschen nicht imstande sind, für sich allein zu leben, sondern der Not gehorchend sich zusammengeschlossen haben – denn alle ihre Lebenseinrichtungen und technischen Erfindungen sind unter dem Druck der Not entstanden; zusammenzuleben und doch ohne Gesetz zu sein, erwies sich aber als unmöglich – … darum herrschen Gesetz und Recht königlich über die Menschen und werden niemals besiegt werden, denn sie sind in der Natur fest begründet.“[21]

 

 

 

Sokrates

 

 

Während die Sophisten aber eine objektive Wahrheit leugneten und politisch auf die Mehrheitsmeinung abstellten, suchte Sokrates demgegenüber nach den Grundlagen einer alle verpflichtenden Ordnung. Er glaubte an die Möglichkeit einer objektiven, wahren Erkenntnis des Guten, die durch die allgemeine Vernunft zu gewinnen sei. Er hatte dabei das „bonum commune“, das allgemeine Wohl im Auge. Das Gute sollte durch alle  Menschen erreicht werden können, nicht nur von einzelnen oder von einer Gruppe. Das Gute gründet aber nach Sokrates im Menschen selbst, so dass die Einsicht ins Gute gleichzeitig Wesenseinsicht in den Menschen ist: Das „Erkenne dich selbst!“ steht daher am Anfang der sokratischen Ethik.

Die Seele als das Zentrum der geistig-sittlichen Persönlichkeit des Menschen

Sokrates‘ Verdienst war die Entdeckung der Seele als das Zentrum der geistig-sittlichen Persönlichkeit des Menschen. Das Wesen der Seele lag für ihn in der Vernunft. Grundlage der Sittlichkeit sei die Selbstbeherrschung, d.h. die Herrschaft der Vernunft über die Leidenschaften. Wer sich nicht zu beherrschen vermöge, sei ein Sklave seiner Triebe. Damit hat Sokrates einen entscheidenden Schritt zur Entwicklung des sittlichen Selbstverständnisses des Menschen getan: Der Mensch verfügt über ein inneres Mass, ein eigenes Gesetz der Seele mit der Herrschaft der Vernunft über Triebe und Bedürfnisse.

Freiheit

Dieser innere sittliche Massstab verbleibt dem Menschen auch dann, wenn die Autorität des äusseren Gesetzes erschüttert sein sollte. Damit ist ein Ansatz für den Begriff der Freiheit geschaffen: Freiheit bedeutet jetzt nicht mehr nur eine bestimmte soziale Stellung des einzelnen in der Gemeinschaft, sondern ist Merkmal der sittlichen Person selber und Folge der Selbstbeherrschung. Die Stoa wird später daraus auch einen Begriff der sozialen Freiheit gewinnen und die Sklaverei zumindest geistig überwinden.

Der grundlegende Beitrag von Sokrates zum Naturrecht bestand darin, dass er zum Schluss kam, dass das ethisch Richtige der Gegenstand eines Wissens von objektiver Allgemeingültigkeit sein müsse.

 

 

Platon

 

Platon forschte weiter nach eine jedem Zweifel entzogene Wahrheitssphäre. Er suchte nach Denkinhalten, die Gegenstände des allgemeingültigen Wissens sind, die sich ewig gleich bleiben. Damit wurde er zum Schöpfer der Ideenlehre. Die Ideen sind solche allgemeingültigen, ewigen Vernunftwahrheiten. Sie sind nach Platon die Urbilder der Dinge und unvergänglich im Unterschied zu den sinnlichen Erscheinungen, die dem Wandel unterworfen sind.

Das ideelle Naturrecht

Platon war der Begründer des ideellen Naturrechts, eines Naturrechts, das auf der allgemeinen menschlichen Vernunft und der Existenz von allgemeingültigen, universellen Inhalten aufbaut. Platon sagte, dass „gut“ und „böse“, „gerecht“ und „ungerecht“ solche allgemeinen ewigen Vernunftwahrheiten seien, deren Gegebenheit auch nicht von einer Entscheidung Gottes abhängig seien. Das war bis ins Mittelalter und in die Neuzeit hinein die grundlegende These für das ideelle Naturrecht. Platons Bedeutung für die abendländische Geistesgeschichte liegt unter anderem darin, dass er erkannte, dass es objektiv wahre Sachverhalte gibt, die allgemein erkennbar und universell gültig sind.

Feste Menschennatur

Auch bezüglich des Menschen erkannte er, dass der Mensch eine feststehende Natur hat, die bei allen gleich ist. So ist nach Platon der Mensch zur Sittlichkeit fähig. Er hat die Anlage zu bestimmten Tugenden in seiner Seele und ist vernunftbegabt. Entscheidend ist, dass der Mensch seine innere Harmonie durch Vernunftherrschaft in der Seele findet.

Gerechtigkeit

Die Frage nach dem richtigen Handeln beantwortet Platon mit dem Begriff der „Gerechtigkeit“. Das Prinzip der Gerechtigkeit ist, wenn jeder „das Seine“ tut. Im Staat herrscht Gerechtigkeit, wenn jeder der drei Stände das Seine tut, analog zur Seele des Menschen mit ihren drei Schichten. Der Mensch lebt gut, wenn jeder Seelenteil das „Seinige tut“.

Tugend

Jeder Seelenteil hat nämlich seine eigene Vortrefflichkeit oder Tugend: Besonnenheit für den triebhaften Seelenteil, Tapferkeit für den willenhaften und Weisheit für den vernunfthaften Seelenteil. Gerechtigkeit herrscht in der Seele, wenn die sinnlichen und gemüthaften Seelenteile sich durch die Vernunft bestimmen lassen. Besonnenheit, Tapferkeit, Weisheit und Gerechtigkeit zählen seit Platon zu den Kardinaltugenden der klassischen Ethik.

Mit den Tugenden hat die Naturrechtslehre Inhalte zur Bestimmung des moralisch richtigen Handelns gewonnen, die nicht dem Zufall und dem ethischen Relativismus überlassen sind, sondern aus der Natur des Menschen hergeleitet werden. Die Tugenden stellen sittliche Vortrefflichkeiten dar, die in der Persönlichkeit des Menschen herangebildet werden können. Der Mensch hat es also bis zu einem gewissen Mass selbst in der Hand, ob er sich moralisch richtig verhalten will oder nicht. Selbsterziehung zum tugendhaften Handeln wird in der klassischen Ethik während des ganzen Lebens gefordert.

 

 

 

Aristoteles

 

Erste Systematik

Einen ersten Versuch, naturrechtliche Gedanken in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, finden wir dann bei dem griechischen Philosophen Aristoteles. Nach Aristoteles ist der Mensch ein Wesen der Natur, eingeordnet in den hierarchischen Aufbau des Kosmos. Die unterste Stufe bildet die unbelebte Natur, die Steine etwa. Auf der nächst höheren Stufe finden wir die Pflanzen, die Stoffwechsel und Wachstum haben. Bei den Tieren kommen, weil sie sich frei bewegen können, das Begehren und die Gefühle hinzu. Auch der Mensch verfügt über Stoffwechsel, Wachstum und Gefühle. Was ihn aber vor allen Lebewesen auszeichnet ist die Fähigkeit zur Vernunft. Durch sie kann er die Ordnung der Natur erkennen und sein Leben selber dieser natürlichen Ordnung gemäss bestimmen.

Eudaimonia: das vernunftbestimmte Leben

Das höchste Ziel der Lebensführung ist nach Aristoteles ein vernunftbestimmtes Leben, das ermöglicht, im Einklang mit der kosmischen Ordnung zu leben. Zur vernünftigen Lebensführung aber gelangt der Mensch nur, wenn er in Kindheit und Jugend lernt, Leidenschaften und Begierden zu beherrschen. Er muss lernen, das goldene Mass der Mitte zwischen extremen Gefühlen einzuhalten (Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit). Wer sich dieses Mass der Mitte nicht bereits in Kindheit und Jugend zur Lebengewonheit werden lässt, bleibt zeitlebens von extremen Affekten sozusagen geschüttelt, und er wird nie zu einer tugendhaften, ruhigen, besonnenen, vernunftbestimmten Lebensführung (Klugheit) gelangen. Das höchste Glück des Menschen aber, die eudaimonia, ist ein durch Vernunft bestimmtes Leben, weil eben durch den Gebrauch der Vernunft der Mensch sich selbst, d.i. seine Natur am besten verwirklicht.

Kardinaltugenden

Nach Aristoteles muss bereits der junge Mensch sich in der sittlichen, tugendhaften Lebensführung üben. Dabei sind die sogenannten Kardinaltugenden Leitlinien der sittlichen Lebensführung, denn sie leiten den Heranwachsenden dazu an, das rechte Mass der Mitte einzuhalten. So z.B. ist die Kardinaltugend der Besonnenheit die Mitte zwischen übertriebener Affektiertheit und emotionaler Abgestumpftheit. Die Tapferkeit ist die Mitte zwischen übertriebenem Tollkühnheit und ängstlicher Verzagtheit. Die Tugend der Gerechtigkeit ist die rechte Mitte zwischen selbstloser Freigebigkeit und egozentrischer Habgier; sie kommt in gütiger Gerechtigkeit gegenüber menschlichen Verfehlungen, aber auch im entschiedenen Einsatz für den Entrechteten zum Ausdruck. Die höchste der Kardinaltugenden ist die Klugheit; sie ist zum einen die Fähigkeit, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, denn wer nicht weiss, wie sich die Dinge wirklich verhalten, der kann auch nicht das Gute tun. „Nur der ist überhaupt fähig, gut zu sein, der Selbsttäuschung und Unsachlichkeit überwindet und immer entschiedener das tut, was ihm die Klugheit als gut für sein eigenes und der anderen Leben erkennen lässt.“[22] Wenn aber der Mensch das tut, was er als richtig erkennt, dann bestimmt die durch Vernunft gewonnenene Erkenntnis die Lebensführung und nicht Gefühl und Affekt. Und so verwirklich der Mensch das, was er von Natur aus sein soll, die ihm eigene Vernunftnatur.

Wir sehen also: Die Kardinaltugenden sind mehr als nur Regeln, wie man sich anständig benimmt, sie sind verankert in der menschlichen Natur.

Zoon politikon, der Mensch hat eine natürliche Neigung zur Gemeinschaft

Im Gegensatz zu Protagoras (und auch Platon) ist es für Aristoteles nicht die Schwäche des Menschen, die ihn zum Zusammenschluss mit seinesgleichen veranlasst; sondern er sieht im Menschen eine natürliche Neigung zur Gemeinschaft. Er nennt den Menschen deshalb ein zoon politikon, ein staatenbildendes Wesen. Aufgabe des Staates ist aber nicht oder nicht nur, das Überleben zu sichern, sondern vielmehr die Verwirklichung des guten, gerechten Lebens, wie es der menschlichen Natur entspricht.

Menschenrechte

Damit ist Aristoteles einer jener griechischen Denker, die „schon […] den Gedanken [fassten], dass dem Menschen als Menschen – und nicht nur als Bürger der polis – Rechte zustehen.“[23] Hier liegen bei allen Mängeln die ersten Wurzeln der Grund- und Menschenrechte, wie wir sie aus den Verfassungen der modernen Staaten kennen.

Demokratie: Politik als angewandte Ethik

Für Aristoteles ist die Politik angewandte Ethik insofern als die Aufgabe des Staates die sittliche Vervollkommnung des Bürgers ist. Er besteht um des glücklichen, tugendhaften und (naturgemäss) guten Lebens willen. Der Staat soll den Bürgern ermöglichen, ein durch vernüftige Einsicht selbstbestimmtes Leben zu führen. D.h. sie dürfen nicht durch Tyrannei geknechtet werden. Als gut gilt Aristoteles eine Staatsform, die dem Gemeinwohl dient, als entartet eine, die nur die Interessen der jeweils Herrschenden verfolgt. Deshalb trat Aristoteles für eine gemässigte Volksherrschaft ein – allerdingst nur im kleinen überschaubaren Rahmen eines griechischen Stadtstaates. Diese stellt den historisch ersten Versuch dar, das Prinzip der Demokratie aus der Natur des Menschen abzuleiten. Die damals entstehenden griechischen Demokratien waren unvollkommene Gebilde. Galten doch Freiheit und Selbstbestimmung noch nicht für alle. Sklaverei, der Ausschluss der Frauen, die Verachtung der Barbaren waren noch selbstverständlich.

Gewaltenteilung

Neben Menschenrechten und Demokratie hat auch der dritte Grundpfeiler des modernen Verfassungsstaates bei Aristoteles seine ersten geistigen Wurzeln: die Gewaltenteilung. Die Verfassung eines Staates zerfällt nach ihm in drei Teile: eine „über die öffentlichen Dinge beratende Instanz“ (Legislative), die Beamten (Exekutive) und die Rechtssprechung (Judikative).[24] Damit schuf Aristoteles aus dem Naturrecht heraus die „Grundzüge einer Staatstheorie, die für die […] europäische Staatslehre von grundlegender Bedeutung war.“[25]

Bedeutung dieses Ansatzes

Man muss sich beim Gedanken an die Unvollkommenheit dieses Ansatzes aber vor Augen halten, dass dies stattfand in einer Welt, die nie etwas anderes gesehen hatte als kleinerer und grösserer Königreiche und Diktaturen, in denen ein Menschenleben nicht viel galt und wo Kinder ausgesetzt, Menschen gekauft und verkauft wurden. Alexander der Grosse, Schüler des Aristoteles, hat angesichts des kulturellen Unterschieds zwischen der griechischen Kultur, die die ersten Demokratien hervorbrachte, und der sonstigen damaligen Mittelmeewelt erstaunt gefragt: „Fühlt ihr euch in der Gesellschaft dieser Makedonen nicht wie Halbgötter unter Wilden?“[26]

 

 

Stoa

 

Den ersten griechischen Naturrechtsdenkern ging es darum, dass der Einzelne in die überindividuelle kosmische Ordnung eingebunden wird. Die besondere Würde des Menschen als Individuum und freie Person hatten sie zu wenig erkannt und hat in ihren ethischen und staatsphilosophischen Überlegungen auch nicht die praktische Bedeutung, die sie dann vor allem in der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts bekommt.

Humanität

Hier bringt die Stoa, im ganzen römischen Reich verbreitete Philosophenschule, einen neuen Ansatz. Bei ihr verschwindet der Gedanke, aus dem Naturrecht Staatsprinzipien abzuleiten, dafür rückt sie einen ersten Begriff von „Humanität“ in den Mittelpunkt des Naturrechtsdenkens. Der Mensch wird nun in Ansätzen als freie Person gesehen, die durch die Erkenntnis der Natur ihr Leben in freier Selbstbestimmung lebt (die innere Haltung ist damit aber gemeint, eine Herrschaft über sich selbst). Die Stoa kennt in Ansätzen bereits den Gedanken der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Menschen auf der Welt, von Mann und Frau, des Kindes, von Herr und Sklave. Diese ethischen Prinzipien werden aber erst im Verlauf der Neuzeit verwirklicht werden.

In Übereinstimmung mit der Natur leben

Für die Stoa war der Kosmos ein freundlicher, strahlender, bejahter, optimistisch begrüsster Zusammenhang der Dinge, in den sich die Menschen vertrauensvoll einschwingen können. Um glücklich zu leben, müsse der Mensch in Übereinstimmung mit der Natur leben. Gegen die innere Versuchung lehrte die Stoa Selbstbeherrschung, um sich von den Verführungen und Betrügereien des Lebens unabhängig zu machen. Der Weise solle sich daher auch von jeder Sucht fernhalten.

Gelassenheit: Ich bleibe mit mir identisch

Aus dieser Einstellung gegenüber dem Leben entstehe die Haltung der Gelassenheit. Der gelassene Weise, der sich selbst beherrschen kann, hat einen aufrechten Gang, die Würde und der Stolz des Menschlichen ist sein höchster Wert. Hier taucht erstmalig der Begriff der Humanität auf. Der im Einklang mit der Natur lebende ist unberührt von der Eitelkeit. Er kann frei und gelassen zwischen Gütern abwägen. Den Wert seiner Menschlichkeit kennend, lässt sich der Weise nicht erschüttern und ist autonom, d.h. freie selbstbestimmende Person, die die Ordnung der Natur erkennt und ihr gemäss lebt. Diese gelassene Haltung ist eine Grundhaltung des weisen Menschen. Leben, Reichtum, Gesundheit, Schönheit usw. erachtet der Weise nur dann als wertvoll, wenn sie im Einklang stehen mit dem Ziel der Gelassenheit. Es darf die Gelassenheit nie der Preis sein, mit dem andere Güter, zum Reichtum, bezahlt werden müssen. So gingen Stoiker selbst in den Tod in dem Bewusstsein: Ich bleibe mit mir identischer, wenn ich sterbe, als wenn ich unter solchen Bedingungen weiterlebe. „Eine aufrechte Moral“, nannte es Ernst Bloch.[27]

 

 

Christliche Tradition

 

Thomas von Aquin

Aristoteles mit der christlichen Philosophie verbunden

Thomas von Aquin (1225-74), Schüler von Albertus Magnus, gilt als der bedeutendste Systematiker des Mittelalters. Er hat eine überragende Bedeutung für die Herausbildung des christlichen Naturrechts und der christlichen Philosophie, so dass sein Werk im 19. Jahrhundert von der Katholischen Kirche zur Grundlage der christlichen Philosophie erklärt wurde. Seine grosse Leistung bestand darin, die Philosophie des Aristoteles mit der (von Augustinus herkommenden) christlichen Philosophie verbunden zu haben.

Lex aeterna

Im Gegensatz zur klassisch griechischen Philosophie gilt im Christentum Gott als Schöpfer von Himmel und Erde, Pflanzen, Geschöpfen und Menschen. Weil Gott nach seinem Willen den Kosmos geschaffen hat, ist darin die gottgewollte Ordnung (als sinn- und zweckhaftes Gefüge) verewigt. Thomas spricht von der lex aeterna, d.h. vom ewigen Gesetz, das die ganze Schöpfung durchwaltet.

Lex naturalis

Der Mensch kann – weil er von Gott mit Vernunft ausgestattet worden ist – das Gesetz der kosmologischen Ordnung, d.i. das Naturgesetz, die lex naturalis erkennen. Und indem er die Gesetze der Natur erkennt, erfasst er (zwar nicht insgesamt, aber immerhin Teile) die von Gott gewollte und geschaffene Ordnung, und kann ihr gemäss ein sittlich gutes Leben führen, denn die von Gott gewollte und geschaffene Ordnung kann gar nicht anders als vollkommen „gut“ sein. Und indem der Mensch diese natürliche Ordnung durch seine Vernunft erkennt, kann er das „Gute“ vom „Bösen“ unterscheiden. Zwei Dinge sind dabei von grösster Bedeutung:

Naturrecht und Offenbarung sind keine Gegensätze

Erstens sind Naturerkenntnis und Glaube, beziehungsweise Naturrecht und Offenbarung keine Gegensätze. Der Mensch kann zur Erkenntnis des Guten kommen über den Weg der Naturerkenntnis (Naturecht) oder über den Weg der Offenbarung. Er braucht vielleicht etwas länger über die Naturerkenntnis, aber kommt auf beiden Wegen zum gleichen Punkt: zum sozialen Wesen Mensch. Daraus folgt:

Alle Menschen, Heiden wie Christen, können das Naturrichtige erkennen

Zweitens ist dabei entscheidend, alle Menschen kraft ihrer natürlichen Vernunft das von Natur aus Richtige erkennen können, und zwar Heiden wie Christen. Denn alle Menschen sind mit denselben natürlichen Neigungen und mit Vernunft begabt; und das natürliche Gesetz gilt für alle Menschen gleichermassen. Christen wie Nicht-Christen können erkennen, was naturgemäss gut und was böse ist und deshalb auch ein tugendhaftes, sittlich gutes und rechtschaffenes Leben führen.

Schule von Salamanca

Dieser Gedanke hat deshalb eine so grosse Bedeutung, weil er später von den (spätscholastischen) spanischen Naturrechtslehrern wie etwa F. de Vittoria und F. Suarez u.a. aufgegriffen wird. Erschüttert von den Grausamkeiten, Folterungen, Mord und Totschlag, mit denen die spanischen Konquistadores gegen die Eingeborenen Südamerikas vorgingen, klagten Vitoria und Suarez dieses Unrecht an, mit der Begründung, dass die (nicht-christlichen) Eingeborenen dieselben Rechte hätten wie alle Menschen, eben weil sie – obwohl keine Christen – doch Menschen mit denselben natürlichen Anlagen und mit Vernunft begabt seien und deshalb zu einem tugendhaften, edlen Leben fähig seien. Aus diesem Prinzip ziehen die Naturrechtslehrer der spanischen Schule zum Teil radikale Konsequenzen; so etwa werden der fürstliche Absolutismus und die spanische Kolonialpolitik der damaligen Zeit schwer kritisiert. Ausserdem finden sich in der Spanischen Schule erste Ansätze der völkerrechtlichen Geltung des Naturrechtsgedankens.

Die Würde des Menschen

Kommen wir zurück zu Thomas von Aquin: Was seine Auffassung von der Natur des Menschen betrifft, so lehnt er sich eng an Aristoteles an; durch seine Vernunft zeichnet sich der Mensch vor allen anderen Lebewesen aus. Denn im Unterschied zum Tier hat der Mensch aufgrund seiner Vernunft die Fähigkeit, durch Einsicht in die Gesetze sich selbst zum Handeln zu bestimmen. Das macht die besondere Würde des Menschen aus, dass er als geistiges und vernünftiges Wesen in persönlicher Entscheidung Ursache des Handelns sein kann. Darin ist der Mensch nach christlicher Auffassung Ebenbild Gottes. Die Idee der Menschenwürde, dass alle Menschen gleich sind, weil Ebenbild Gottes, Söhne desselben Vaters, hat hier eine ihrer Wurzeln. Die Menschenwürde ist auch in der Neuzeit ohne ihre christlichen Wurzeln nicht zu begreifen. In diesem Sinne besteht nach Auffassung von Thomas von Aquin die Würde des Menschen darin, dass er als leib-seelisch einheitliche Person sein Leben selbst bestimmt und in eigener Verantwortung führt.

Die höchste Tugend: das vernunftbestimmte Leben

Das höchste Ziel – und deshalb auch die höchste Tugend des Menschen – ist nach Thomas ein vernunftbestimmtes Leben. Hier knüpft er an die Tugendlehre des Aristoteles an: So muss sich der Mensch zunächst einmal in Mässigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit üben (also seine Begierden, seine Gefühle und seinen Willen beherrschen lernen), bevor er zur höchsten der Kardinaltugenden gelangt, zur Klugheit und Weisheit der Vernunft..

Antike und christliche Kardinaltugenden

Die aristotelischen Kardinaltugenden (Mässigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit und Klugheit) sind die natürlichen Tugenden, durch die der Mensch seine natürlichen Anlagen am besten ausbildet. Darüber aber stehen die christlichen Kardinaltugenden, nämlich Glaube, Hoffnung und Liebe, die dem Menschen nur durch die Gnade Gottes zugänglich sind. Die Tugenden stellen sozusagen gewohnheitsmässig und charakterlich gefestigte innere Einstellungen und Haltungen dar; die äussere Ordnung unter den Menschen muss hingegen durch Gesetze geregelt werden.

Wie für Aristoteles ist der Mensch nach Thomas ein soziales Wesen, ein zoon politikon

Wie für Aristoteles ist der Mensch nach Thomas ein soziales Wesen, ein zoon politikon. Das allein macht (naturnotwendig) eine gesetzliche und staatliche Ordnung notwendig. Der Hauptzweck der Gesetze und der Staatsordnung ist es, Schaden zu vermeiden und das Gemeinwohl zu fördern. Diese von Menschen aufgestellten Gesetze der staatlichen Ordnung (die lex humana) müssen im Naturrecht begründet sein und sie dienen der Wahrung und Förderung des Gemeinwohls.

Naturrecht und positives Recht

Alle Menschen streben nach Selbsterhaltung. Keiner soll daher den anderen töten. Der Mensch hat einen Geschlechts und Fortpflanzungstrieb: Der Mensch soll daher eine Ehe führen und Kinder zeugen. Der Mensch ist ein Vernunftwesen mit der Neigung zur Wahrheitserkenntnis. Er ist von Natur her ein geselliges und politisches Wesen und auf die Freundschaft anderer angewiesen. Da man nur im Vertrauen darauf Gemeinschaft halten kann, daß der andere sein Wort hält, soll der Mensch die Wahrheit suchen und sagen und darf den anderen nicht verletzen.

Die gute Regierung dient dem Gemeinwohl

„Wenn es nun auf diese Weise dem Menschen natürlich ist“, schreibt Thomas, „in Gemeinschaft mit vielen zu leben, dann muss es unter den Menschen etwas geben, wodurch die Vielheit regiert wird. Bei der so grossen Zahl von Menschen [jedoch] und bei dem Bestreben des einzelnen, egoistisch für sein Privatinteresse tätig zu sein, würde die Gesellschaft … aus den Fugen gehen, wenn niemand da wäre, dem die Sorge für das Gemeinwohl der Gesellschaft obliegt …“[28] Thomas bevorzugt unter den verschiedenen Staatsformen die Monarchie. Der König ist bei der Ausübung seiner Macht dem Gemeinwohl verpflichtet. Denn so wie eine gute und gerechte Machtausübung durch einen König „etwas in höchstem Grade Gutes ist, … so ist es im höchsten Grade ein Übel, wenn er sie missbraucht.“[29] Die schlimmste aller Regierungsformen ist für Thomas (wie für Aristoteles) die Tyrannis, denn sie widerspricht dem Naturrecht.

Höchster Zweck: der Glaube

Aufgabe des Staats ist es nach Thomas, die Bürger zu einem gerechten und tugendhaften Leben zu führen. Die wichtigste Voraussetzung dafür ist die Wahrung des Friedens. Die nächste Bedingung ist die Schaffung äusseren Wohlstandes. Ein tugendhaftes Leben in Frieden und Wohlstand jedoch ist nach Thomas nicht der letzte Zweck des menschlichen Lebens: höchster Zweck ist der rechte Glaube. Den Menschen dahin zu führen ist aber nicht Aufgabe der weltlichen Ordnung und Regierung, sondern der Kirche.

 

 

 



Neuzeitliches Naturrecht



 

In der bisher angerissenen Tradition sind die geistigen Wurzeln des modernen Naturrechts zu suchen. Es brauchte weitere Anstrengungen, ehe es sich voll herausgebildet hatte und und auch politisch, sozial wirksam wurde. Willkürherrschaft-, Wegelagerei, Sklaverei, grausamste Folter, widerlichste Körperstrafen, Leibeigenschaft, Absolutismus, Inquisition beherrschten die abendländische Welt bis weit ins 18. Jahrhundert hinein.

 

Die Eroberung Amerikas und ihre Folgen

Erst ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begann von Spanien her aus der Schule von Salamanca das Naturrecht in der von Thomas von Aquin her weiterentwickelten Form langsam konkrete politische Veränderungen hervorzubringen. Im 17. Jahrhundert entstanden vor dem Hintergrund des grausamen 80jährigen Krieges in den Niederlanden und des Dreissigjährigen Krieges die ersten grossen neuzeitlichen Naturrechtssysteme von Hugo Grotius und Samuel Pufendorf. In der Aufklärung des 18. Jahrhunderts entfaltete das Naturrecht (in seiner säkularisierten Form) seine volle politische Kraft. Erstmals wurden die ethischen Prinzipien des modernen Naturrechts in den amerikanischen Verfassungen und der französischen Konstitution zum Regelwerk eines ganzes Staates. Es entstanden die ersten Verfassungen und das Grundmodell des gewaltenteilenden, demokratischen Rechtsstaates. In der Debatte um die französische Konstitution wird – vor allem in der Person von Condorcet – die Forderung laut, dass das Recht auf Bildung durch öffentliche Schulen für jeden ohne Unterscheid des Standes und der Religion gesichert werde und der Heranwachsende nach den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit erzogen und zum Staatbürger gebildet werde.

 

Ein neues Lebensgefühl

Im 17. und vor allem 18. Jahrhundert entfaltete die Naturrechtsidee eine gewaltige geschichtemachende Kraft, wie sie sie in der mehr als tausendjährigen Geschichte zuvor nie hatte entfalten können. Ein neues Lebensgefühl und ein neues Weltverständnis wurden von ihr begründet. „Wie die aufblühende Naturwissenschaft die materielle Welt, die in ihr wirksamen Prozesse zu enthüllen, zu erklären unternahm, so die Naturrechtslehre die soziale Welt.“[30]

Vom Machtstaat zum gerechten Frieden
Die gewaltige Umwälzung, an der die Naturrechtslehre entscheidend Anteil hatte, war die Infragestellung der geschichtlich entstandenen und für nicht hinterfragbar angenommenen Herrschaftsansprüche der europäischen Potentaten. Die scheinbare Heiligkeit und Unantastbarkeit der Erbmonarchien und absolutistischen Staaten wurde vom Naturrechtsdenken vor den Richterstuhl der Vernunft gebracht und bloßgelegt. Die Naturrechtslehre formte massgeblich das Gefühl mit, dass die Willkürherrschaft absolutistischer Staaten ungerecht und veränderungswürdig und vor allem auch veränderbar waren. So entstand eine neue, gerechtere Ordnung des Zusammenlebens, die Tradition des freien, demokratischen Rechtsstaates: Folter, Religionskriege, Todesstrafe, Sklaverei, Judenverfolgung, Ausbeutung des Menschen durch den Menschen wurden langsam abgeschafft.

Auf Naturrecht basierende Aufzählung der Menschenrechte kodifiziert
Hier passierte historisch etwas Gewaltiges. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es vielleicht einzelne Berufsstände in einem Land, die sich ein gemeinsames Recht gegeben hatten. In Griechenland war das zum Beispiel eine bestimmte Ärztegruppe, in mittelalterlichen Städten bestimmte Zunftordnungen und so weiter. Aber dass alle Bereiche einer Gesellschaft unter ein Gesetz gestellt werden konnten, das war die Neuerung, die das Naturrecht mit den ersten Verfassungen an Neuem brachte. Das Neue an der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (12.6.1776) oder der amerikanischen Verfassung (4.7.1776) war, dass erstmals eine, auf dem Naturrecht basierende Aufzählung der Menschenrechte kodifiziert wurde.

Hugo Grotius (1583-1645)
Natürliche Vernunft und die „Grundwahrheiten des sozialen Lebens“
Einer der Begründer des modernen Naturrechts ist Hugo Grotius. Für ihn ist die Vernunft ein natürliches Vermögen. Mit ihr erforscht der Mensch die „Grundwahrheiten des sozialen Lebens“, die – nach Grotius – wie die physikalischen Gesetzmässigkeiten zu den allgemeinen Gesetzen der Natur gehören. Aus diesen Grundeinsichten in die Menschennatur leitet Grotius die naturrechtlichen Lehrsätze ab, die das Leben im Staate und unter den Völkern naturgemäss regeln.

Anlagen des Kindes
Das Kind kommt nach Grotius mit einem natürlichen Streben nach Selbsterhaltung und nach einer friedlichen und vernünftig geregelten Gemeinschaft zur Welt. In der Erziehung wird dieses Streben ausgebildet und der Mensch lernt, nach allgemeinen Vorschriften zu erkennen und zu handeln.

„Sorge um die Gemeinschaft“
Das Naturrecht hat zwei Quellen: Gemäss seinem Streben nach Selbsterhaltung und Gemeinschaft wird der Mensch von der „Sorge um die Gemeinschaft“ angetrieben. Diese natürliche Geselligkeit ist die erste Quelle des Naturrechts. „Selbst manche Tiere mässigen die Sorge für ihren Nutzen durch die Rücksicht. … Dies mag bei ihnen aus einem Instinkt herrühren. … Der reife Mensch aber … verbindet … mit einem starken geselligen Trieb, für den er vor allen Geschöpfen das besondere Mittel der Sprache besitzt, auch die Fähigkeit, allgemeine Regeln zu fassen und danach zu handeln. Dies alles hat der Mensch nicht mehr mit anderen Geschöpfen gemeinsam, sondern ist eine Eigenart der menschlichen Natur. Diese … Sorge für die Gemeinschaft ist die Quelle dessen, was man eigentlich mit der Bezeichnung Recht meint.“[31]

Vernunft
Zur Menschennatur gehört neben Selbsterhaltungs- und Gemeinschaftsstreben die Vernunft. Mit ihr kann der Mensch erkennen, was ihm bekömmlich ist und was nicht – in Gegenwart und in Zukunft. In der Erziehung lernt der Mensch, dem richtigen Vernunfturteil zu folgen. Diese natürliche Vernunftfähigkeit ist die zweite Quelle des Naturrechts: „Der Mensch hat vor den übrigen Lebewesen … auch die Urteilskraft, um das Angenehme und das Schädliche einzu­schätzen, und zwar nicht bloss das Gegenwärtige … Es entspricht deshalb der menschlichen Natur, auch hierin nach dem Mass menschlicher Einsicht dem zu folgen, was für richtig erkannt wird, und sich dabei nicht durch Leidenschaft und Vorurteil hinreissen zu lassen. Was diesen Geboten entgegengesetzt ist, ist auch gegen das Recht der menschlichen Natur.“[32]

Erste natürliche Pflicht
Mit Naturnotwendigkeit ergibt sich aus diesen beiden Quellen, dass es des Menschen erste natürliche Pflicht ist, „sich in seinem natürlichen Zustand zu erhalten und überhaupt alles Naturgemäße zu tun und alles Naturwidrige zu meiden.“[33]

Der Ungläubige ist nicht aus der natürlichen Moral entlassen
Hugo Grotius sieht Gott als den Gesetzgeber des Naturrechts, weil dieser der Schöpfer aller Dinge ist. Die Schöpfung ihrerseits hat aber ein Eigenleben. In säkularisierter Form lebt bei ihm die Lehre von der guten Schöpfung Gottes fort. Grotius hat einmal bemerkt, die Regeln des Naturrechts „würden auch gelten, selbst wenn man annähme, was freilich nicht ohne Sünde geschehen könnte, dass es keinen Gott gebe“.[34] Der Ungläubige, wollte er damit sagen, ist nicht aus der Moral entlassen. Er ist frei, nicht an Gott zu glauben. Aber aus dem Naturzu­sammenhang, auf den anderen Menschen angewiesen zu sein, und den Pflichten, die aus der natürlichen Geselligkeit des Menschen resultieren, ist er nie entlassen. Und zwar mit der gleichen eisernen Logik, wie jeder Mensch der Naturnotwendigkeit, essen zu müssen, unterworfen bleibt und höchstens zeitweise auf Speise verzichten kann.

Samuel Pufendorf (1632-1694)
Ein weiterer Vertreter des neuzeitlichen Naturrechts ist Samuel Pufendorf, der Vater des deutschen Naturrechts, der auf Grotius aufbauend, entscheidend für die gesamte neuzeitliche Naturrechtsdebatte wurde. Auf ihn baut John Locke später auf. Neben Lockes Gedanken floss das Pufendorfsche Naturrecht über Jean-Jacques Burlamaqui (1694-1748), Jean Barbeyrac (1674-1744) und Emer de Vattel (1714-1767) in die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung ein und wurden zur Vorlage der Unabhängigkeitserklärung und der „Bill of Rights“ des Staates Virginia von 1776[35] sowie später der Menschrechtsbestimmungen in der amerikanischen Verfassung. In Artikel 1 der „Bill of Rights“ von Virginia lesen wir: „Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachung berauben […] können […:] nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.“

Grundlage für die Naturrechtslehre Pufendorfs war das für ihn selbstverständliche Gebot, dass die Menschen natürliche Pflichten haben. Aus diesen fliesst das Recht. Erst wo eine Pflicht zu vernünftigem, naturgemässem Verhalten besteht, kann es nach Pufendorf ein Recht geben und Dritten gegenüber pflichtgemässes Tun.

Die „Socialitas“, das oberste Prinzip des Naturrechts
Selbsterhaltung, Schwäche und Gegenseitige Hilfe

Der Mensch will sich natürlicherweise selbst erhalten,[36] und dabei „ist er auf sich allein gestellt ganz hilflos.“[37] „Kaum ein anderes Geschöpf ist bei seiner Geburt so schwach, daß es geradezu ein Wunder wäre, wenn er ohne Hilfe von seiten anderer Menschen erwachsen würde. Neben den zahlreichen für die menschlichen Bedürfnisse erfundenen Hilfsmittel ist eine jahrelange sorgfältige Erziehung erforderlich, um zu erreichen, daß sich ein Mensch aus eigener Kraft mit Nahrung und Kleidung versorgen kann.“[38] Nur durch den Mitmenschen kann der Mensch Mensch werden. „Stellen wir uns einen Menschen vor, der ohne jede menschliche Obhut und Pflege aufgewachsen ist […] Ein armseligeres Geschöpf kann man sich kaum vorstellen. Stumm und nackt, bleibt ihm nichts anderes übrig, […] als bei jedem Geräusch und bei jeder Begegnung mit einem anderen Lebewesen zu erschrecken und schließlich durch Hunger und Kälte oder durch ein wildes Tier umzukommen. […] Neben Gott gibt es nichts auf der Welt, was dem Menschen mehr nützen kann als der Mensch selbst.“[39] Der Mensch ist nach Pufendorf auf den Mitmenschen angewiesen, um überleben zu können.

Die „natürliche Neigung zur Gesellschaft“

Dieses Angewiesensein findet seine Entsprechung in der Menschennatur. Der Mensch ist von Natur her zur gegenseitigen Hilfe und Mitmenschlichkeit disponiert. Er ist, sagt Pufendorf, „bestens geeignet zur gegenseitigen Förderung.“[40] Es gibt „eine natürliche Neigung des Menschen zur Gesellschaft“.[41] Das einsame Leben ist elend für ihn, er hat eine Neigung zum Umgang mit anderen, Sprache wäre ohne Geselligkeit sinnlos, und so weiter. Pufendorf zählt noch eine Reihe von Merkmalen der, wie er es nennt, „geselligen Natur des Menschen“ auf.[42] Diese gesellige Natur des Menschen ist aber kein Trieb, der den Menschen dazu treibt, ein nützliches Mitglied des Staates, der „Bürgerlichen Gesellschaft“ (oder, wie Pufendorf immer wieder sagt, ein „Bürgerliches-Thier“[43] zu werden). Die natürliche „Gesellschafts-Begierde“ des Menschen kann gestillt werden durch „erste Gesellschaften“,[44] das sind Ehe und Familie. Das Kind muss erst lernen, was für ein Leben in der Republik notwendig ist: Aufrichtigkeit, Treu und Glauben, Urteilsvermögen und Bildung. Kinder und Ungebildete leben in der Republik, ohne sich um sie zu kümmern. Der Staat besteht also nach Pufendorf nicht einfach aus einer Menge geselliger Individuen. Der Mensch lebt in Familien zusammen. Diese wiederum sind die Keimzellen der Republik.

Der Mensch muss das rechte Mass finden

Der Mensch ist zwar auf die gegenseitige Hilfe angelegt, er hat eine „gesellige Natur“. Die Begegnungen zwischen Menschen sind aber nicht automatisch friedlich und von Hilfsbereitschaft getragen. Der Mensch ist in seiner Lebensführung nicht triebgesteuert wie die Tiere, die meist ihrem Selbsterhaltungstrieb und dem Fortpflanzungstrieb folgen. Der Mensch muss deshalb in allem, was er tut, das rechte Mass auch finden lernen. Ehe er das gelernt hat, neigt er zu überschiessenden Reaktionen, die sich störend auf die Beziehungen auswirken.

„Abstimmung und Lenkung“ gehören zum menschlichen Leben

Darüber hinaus aber ist der Mensch auch ein sehr empfindliches Wesen, das zu Habsucht, Ruhm, Neid, Wetteifer, Geltungsstreben und Rivalität neigt. Der Mensch ist im Vergleich mit anderen Tieren zwar körperlich schwach. Seine geschickte Hand jedoch und die enorme geistige Beweglichkeit des Menschen machen es ihm leicht, einen anderen zu töten, „das größte aller in der Natur vorkommenden Übel“.[45] „Deswegen schafft jedes Zusammentreffen von zwei Menschen zunächst eine unsichere Lage und erfordert große Vorsicht, damit daraus nicht Böses statt Gutem erwächst.“[46] So sehr jeder Mensch den anderen braucht, so sieht Pufendorf doch auch, dass jede zwischenmenschliche Begegnung immer auch eine Aufgabe ist, die viel Sorgfalt verlangt. Und die Schlussfolgerung Pufendorfs ist: „Abstimmung und Lenkung“ gehören grundsätzlich zum menschlichen Leben.[47]

Jeder muss die Gemeinschaft schützen und fördern

Das bedeutet, der Mensch „muß sich mit seinen Mitmenschen zusammentun und sich ihnen gegenüber so betragen, daß sie ihrerseits nicht jeden Vorwand ergreifen, ihm zu schaden, sondern stattdessen bereit sind, auch seinen Vorteil zu wahren und zu fördern.“[48] „Die Regeln dieses Gemeinschaftslebens oder die Lehren darüber, wie sich ein jeder betragen muß, um ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein, werden als Naturrecht bezeichnet. Daraus ergibt sich folgende Grundregel des Naturrechts: Jeder muß die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern. Nach dem Grundsatz «Wer ein Ziel will, dessen Wille umfaßt notwendigerweise auch die Mittel, ohne die das Ziel nie erreicht werden kann» folgt daraus: Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in Gemeinschaft notwendig und nützlich ist; was stört und schadet, ist verboten.“[49]

Die Regeln des Zusammenlebens
Rechte fussen auf Pflichten

Die Regeln des Zusammenlebens der Menschen haben also ihren Ausgangspunkt in einem anthropologischen Sachverhalt: Pufendorf hat nämlich gesehen, dass am Anfang aller Rechte die in der sozialen Natur des Menschen begründete allgemeine Menschenpflicht steht, zum Gedeihen der universellen Gemeinschaft beizutragen. Grundlage des Rechts sind also nach Pufendorf die Sollensforderungen, die der Sozialnatur innewohnen: Sie nennt er die natürlichen Pflichten des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen. Durch sie erst wird Recht möglich, ohne sie unmöglich.

Keiner schädige den anderen

Ausgangspunkt ist nach Pufendorf die allen Menschen gleichermassen zukommende soziale Natur : „Jeder teilt mit allen die gleiche menschliche Natur. Niemand kann und will sich mit solchen zu einer Gemeinschaft zusammenschliessen, die ihnen nicht wenigstens als Mensch und Träger der gleichen Natur gelten lassen.“[50] Weil allen Menschen die gleiche Sozialnatur zukommt haben alle Menschen von Natur aus Grundpflichten, die zu allen Zeiten und an allen Orten gelten, und hieraus resultieren universelle Menschenrechte: Als die oberste und heiligste Pflicht des Menschen nennt er: „Keiner schädige den anderen“.[51] Dies ist die umfassendste aller Gemeinschaftspflichten, ohne deren Beachtung für Pufendorf kein Zusammenleben möglich ist. Das Lebensrecht, das Menschenrecht auf Freiheit und das Recht auf Eigentum fliessen später hieraus.

Gleichwertigkeit

Die zweite aller Grundpflichten des Gemeinschaftslebens ist nach Pufendorf: „Jeder beachte den anderen und behandele ihn als einen von Natur Gleichgearteten, nämlich als Menschen schlechthin.“[52] „Denn die Verpflichtung, das Gemeinschaftsleben aufrechtzuerhalten, bindet alle Menschen in gleicher Weise.“[53] Heiden wie Christen.

Gegenseitige Hilfe

Und die dritte Gemeinschaftspflicht lautet, „soviel wie möglich den anderen zu nützen“.[54]

Wahrheitsgebot

Die bisher behandelten Pflichten ergeben sich unmittelbar aus der Sozialnatur des Menschen. Um das gesellschaftliche Leben im Einzelnen zu regeln, hat die Natur dem Menschen neben der Gegenseitigen Hilfe und der Vernunft das Instrument der Sprache gegeben. Hieraus ergibt es sich, dass die Menschen natürlicherweise ihr Leben regeln, indem sie gegenseitig Verträge abschliessen. Der aus freien Stücken, mit Vernunft abgewogene und den menschlichen Kräften angemessene  Vertrag oder Vereinbarung oder Versprechen sind also das natürliche Mittel für die Menschen, das soziale Leben durch Rechte und Pflichten zu regeln, die einklagbar sind. Das bedingt, dass Menschen, die Vereinbarungen treffen, Treu und Glauben einhalten. Und das Naturrecht fordert: „Niemand darf den anderen durch den Gebrauch der Sprache oder anderer Zeichen, die dazu dienen, Gedanken auszudrücken, täuschen.“[55]

Person und Würde des Menschen
Die Natur zum Ausgangspunkt des Rechts zu machen, wie dies Pufendorf tat, war nichts Neues. Gestritten hatte man sich meist über die Frage, was denn jetzt die Menschennatur sei. Sein Begriff von der sozialen Natur hatte erstmals jene Gestalt, wie wir sie bei Alfred Adler 250 Jahre später treffen. „Die Erweisung wahrer Menschlichkeit gegen alle und jeden Menschen […] ist der tiefste Sinn der socialitas. In der Liebe zum Mitmenschen, eben weil er Mitmensch ist, liegt das echte Menschentum, die «Natur» des Menschen.“[56] Pufendorf anerkennt Gott als den Schöpfer des Naturrechts. Er sieht die Würde des Menschen nicht mehr geknüpft an die Gottesebenbildlichkeit, sondern diese ist anthropologisch begründet und prägt somit den modernen Begriff der Würde des Menschen als individuelle Person. Und in diesem Sinn bedeutet Mensch sei, sich selbst durch Gesetze zum Handeln bestimmen zu können, und das ist würdig. Die Vernunft ist das Instrument, womit der Mensch die in seiner Sozialnatur liegenden Pflichten und Normen seines Handelns erkennen kann und dadurch sein Handeln bestimmen kann.

„Socialitas“, Person und Würde: Individuum und Gemeinschaft
Diese Würde des Menschen als Person ist aber eingebunden in die Sozialnatur, denn die Person ist bei Pufendorf nicht isoliert gedacht, wie wir gesehen haben, sondern als ein geselliges Wesen: Die natürlichen Pflichten ergeben sich aus der Sozialnatur des Menschen, und sich nach ihnen zu verhalten kann der Mensch wiederum nur in Gemeinschaft. „Es ist nicht um den Menschen allein zu tun, wenn er sich um seine eigene Vollkommenheit Mühe gibt; vielmehr erstrecken sich die Früchte seiner Anstrengungen über das ganze Menschengeschlecht. Je vortrefflicher jemand für sich selbst ist, desto größer ist sein Ansehen als ein edler und pflichtgetreuer Bürger dieser Welt. Deshalb muß der Mensch, wenn er die Gesetze der Sozialität erfüllen will, notwendig zuerst um seine eigene Ausbildung besorgt sein; denn je vortrefflicher er an seiner eigenen Vervollkommnung arbeitet, um so glücklicher wird er die Pflichten gegen die Mitmenschen erfüllen.“[57] „Ist nun der Einzelne als […] Person notwendig in einen sozialen Zusammenhang eingeordnet, so kann sich der Wert sittlichen Handelns nicht auf den Wert der Gesinnung beschränken, sondern muß den Wert der Tat in sich einbeziehen: sittlich vollkommen ist nur die Handlung, die sowohl in der Gesinnung, mit der sie unternommen wurde, wie im Ziel, das sie verfolgt und vollbracht hat, wertvoll ist. So ist in der Sozialität der Wert der Gesinnung mit dem Wert der Tat als Wesenseinheit verschlungen, und so entsprechen der Nächstenliebe, der Hilfsbereitschaft, dem Gerechtigkeitssinn u.s.f. die Achtung und die humane Behandlung aller Menschen, die Hilfeleistung mit Rat und Tat, die Unterlassung von Schadenszufügung, die Erfüllung vertraglicher oder sonstiger […] Pflichten, überhaupt alle Handlungen zur Aufrechterhaltung und Förderung menschlicher Gemeinschaft.“[58]

Freiheit, Gleichheit
Allen Menschen kommt diese personale Würde gleichermassen zu. So soll jeder den anderen als Person gleich ihm achten und behandeln. Und er soll anerkennen, dass der andere wie er nur Mensch werden kann in Gemeinschaft. Daher müssen auch alle Menschen als frei von Natur aus geachtet werden. Damit sind keine Sklaven mehr möglich, Herrschaft von Menschen über Menschen – so Pufendorf – ist nur aufgrund freier Verabredung rechtens. Der geistige Weg zur Demokratie war frei geworden. Es war John Locke, der mit seinem Werk einen weiteren Baustein zur Begründung des gewaltenteilenden Rechtsstaates aus dem Naturrecht hinzufügte. Damit kommen wir zu John Locke.

John Locke
John Locke, englischer Philosoph und Staatsmann, lebte von 1632 bis 1704. Er gilt als der Ahnherr der europäischen Aufklärungsphilosophie. Seine Abhandlung über die Natur des Menschen beginnt mit den Worten: „Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten erscheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“

Naturrecht, Rechtsstaat
Locke greift den Pufendorfschen Gedanken auf, dass der Natur des Menschen jegliche Willkürherrschaft widerspricht. Der Rechtsstaat, den er im Naturrecht verankert, soll vor der Willkürherrschaft schützen. Aus der Natur der frei und gleich geborenen Menschen und ihren angeborenen, natürlichen Rechten leitet er eine dieser Natur des Menschen angepasste staatliche Organisationsform ab. Die Herrschaftsansprüche einer absoluten Monarchie konnten nicht länger aufrechterhalten werden. Lockes Gedanken flossen unter anderem in die Verfassung von Carolina ein, an deren Ausarbeitung er beteiligt war.

Pädagogik
Aus der Natur des Menschen ergeben sich die natürlichen Rechte und Pflichten des Menschen im gesellschaftlichen Zusammenleben. Ebenso ergeben sich daraus die grundle­genden Prinzipien des Rechtsstaats. Gerade bei Locke kann man gut verfolgen, wie aus dem grundsätzlichen Naturrechtszusammenhang sowohl die Regeln des Zusammenlebens im Kleinen (Pädagogik) als auch die Regeln des staatlichen Zusammenlebens ihre gemeinsame Wurzel haben.

Freiheit
Nach Locke sind alle Menschen „frei und gleich geboren“. Jeder Mensch ist Individuum und hat darum eine „natürliche Freiheit“, ist sein eigener Herr über sein Leben, seine Person und sein Eigentum. Dies war die absolute Absage an Leibeigenschaft und Absolutismus. Nicht mehr „L´Etat c´est moi“ („Der Staat, das bin ich.“) gilt, sondern: Jeder ist der absolute Herr seiner eigenen Person, wie Locke sagt, von niemandes anderen Willen abhängig, niemandem untertan.

Unveräusserliches Recht
Diese Freiheit darf dem Individuum nicht genommen werden, sie ist sein natürliches, unveräusserliches Recht. Wer es dennoch versucht, verstösst gegen das Naturrecht. Auch wenn er seine Freiheit selbst aufgibt, etwa, wenn er sich umbringt, verstösst er gegen Naturrecht. Darum sollen die Menschen sich von Natur her sich selbst achten und zum Beispiel keinen Suizid begehen.

Schutz des Staates
Die angeborene Freiheit des Menschen muss aber durch den Rechtsstaat geschützt werden (d.h. dadurch wird – und das ist der neuzeitliche Gedanke – auch die äussere Freiheit des Individuums gesichert!). Das heisst zunächst: Im Staat müssen die Regierenden genauso an das Gesetz gebunden werden wie das Volk. Im Gegensatz dazu stand der absolute Herrscher über dem Gesetz, war das Gesetz selbst, konnte Rechte nehmen und geben, wie es ihm beliebte. Nach Locke soll der Herrscher unter das Recht gestellt werden.

Die Freiheit bedeutet also keineswegs, dass man leben dürfe, wie es einem gerade beliebt, was Locke ausdrücklich betont: „Die natürliche Freiheit des Menschen liegt darin, von jeder höheren Gewalt auf Erden frei zu sein, nicht dem Willen oder der gesetzgebenden Gewalt eines Menschen unterworfen zu sein, sondern lediglich das Gesetz der Natur zu seinem Rechtsgrundsatz zu erheben.“

Gleichwertigkeit
Zweitens: Alle Menschen sind von Natur aus gleich. Deshalb sind sie ohne Unterschiede zum Genuss derselben Vorteile der Natur und zum Gebrauch derselben Fähigkeiten geboren und sollen ohne Unterwerfung und Unterordnung einander gleichgestellt leben können. Es liegt auf der Hand, dass damit die Vorrechte der adligen Geburt dahinfallen. Die natürliche Gleichheit untereinander ist die Grundlage für die Verpflichtung zur gegenseitigen Liebe unter den Menschen. Daraus ergeben sich die Pflichten, die sie einander schuldig sind. Die Gleichheit hat also eine ethische Konsequenz für die gegenseitigen Beziehungen.

 

Vernunft

Durch seine Vernunft kann der Mensch erkennen, was dem Naturgesetz entspricht. „ … die Vernunft (…) lehrt den Menschen, wenn er sie nur befragen will, dass nie­mand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll.“[59]

 

„Eigentum“

Zum Naturrecht gehört bei Locke auch das Recht auf Eigentum. Den Begriff des Eigentums fasst Locke nicht so eng: Er bedeutet bei ihm den Selbstbesitz des eigenen Lebens und der Person, wie auch den Besitz physischer Güter. Es geht ihm um einen umfassenden Schutz des Individuums gegen Leibeigenschaft und Sklaverei. Denn, so sagt er, „jeder Mensch hat ein Eigentum an seiner Person“, und „was er durch seine Arbeit der Natur abgewinnt wird ihm ebenso zu seinem Eigentum.“[60]

 

Geselliges Leben

Weil es für den Menschen, wie ihn Gott geschaffen hat, nicht gut war, allein zu sein, stellte er ihn nach Locke „… unter den starken Zwang von Bedürfnis, Zweckmässigkeit und Neigung, um ihn in die Gesellschaft zu lenken, und stattete ihn zugleich mit Verstand und Sprache aus, um in ihr zu verbleiben und sie zu geniessen. Damit kommen wir zur Staatslehre Lockes.

 

Der Rechtsstaat: Aus der Natur abgeleitet

Aus der Natur des Menschen mit ihrer Freiheit und Gleichwertigkeit, welche die Würde seiner Person ausmachen, müssen die Grundlagen für den Gesellschaftszustand abgeleitet werden. Im Zentrum steht dabei der Rechtsbegriff, der die Verhältnisse des Menschen zu Gott, zu den anderen Menschen und zu den Sachen bestimmt.

 

Naturzustand

Um die Frage nach dem Ursprung und Zweck des Staates (naturrechtlich!) zu beantworten, bedient sich Locke (wie etwa auch Hobbes und andere) der Annahme eines ursprünglichen Naturzustandes unter den Menschen. Im Naturzustand – also vor dem Zusammenschluss der Menschen zum Staat – habe vollkommene Gleichheit und Freiheit aller geherrscht. Der einzelne habe die unbeschränkte Verfügungsgewalt über sich selbst und sein Eigentum gehabt. Im Naturzustand habe nach Locke allein das Naturgesetz geherrscht, dessen oberste Regel die Erhaltung der (von Gott geschaffenen) Natur war. So hat das Naturrecht grundsätzlich verboten, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit und den Besitz anderer zu schädigen oder zu vernichten.

 

Das Gewaltmonopol

Das Leben im Naturzustand hätte also nach Lockes Vorstellung durchaus friedlich sein können, wenn es nicht – wie er meint – immer einzelne gegeben hätte, die das Naturgesetz gebrochen hätten. Um sich gegen derartige Übeltäter zu schützen und um den Frieden zu erhalten haben sich die Menschen deshalb zu einer Gemeinschaft zusammengeschlossen und einen Vertrag geschlossen, den sogenannten Gesellschaftsvertrag. So sei der Staat entstanden. Dem Staat solle die Gewalt übergeben werden, Übeltäter abzuurteilen und zu bestrafen, um so den Frieden unter den Menschen zu sichern.

 

Bannung des Streits

Das Motiv, das Locke zufolge die Menschen veranlasste, durch den sogenannten Gesellschaftsvertrag einen Staat zu gründen, war, „dass, wie angenehm das Leben im Naturzustand auch [gewesen] sein mochte, es schliesslich doch überaus gefährdet war. Wo immer Streit entstand, gab es keine festen und allgemein anerkannten Gesetze und auch keine unparteiischen Richter, um diese Streitigkeiten beizulegen. Die Notwendigkeit klar abgegrenzter und universell anerkannter Verhaltensmassstäbe sowie unparteiischer Richter sind bei Locke die einzigen Gründe dafür, dass die Menschen den Gesellschaftsvertrag abschliessen“[61]

 

Widerstandsrecht

Der Vertrag aber gilt wechselseitig, sowohl für die einzelnen Bürger wie für diejenigen, die mit der Ausführung der Gesetze betraut sind. Halten sich die entsprechenden Amtspersonen, denen per Vertrag die Ausführung bestimmter Aufgaben überantwortet wurde, nicht daran, so müssen sie nach Recht und Gesetz aus dem Amt entlassen werden. Die Ausübung eines Amtes war daher nicht an die Person gebunden. Wir sprechen hier von der Trennung von Amt und Person. Halten die Regierenden den Vertrag nicht ein, haben die Bürger das (naturrechtlich begründete) Recht auf Widerstand. Lockes klare Stellungnahme lässt nichts an Deutlichkeit übrig: „Das Volk soll Richter sein. Wer sonst nämlich sollte der Richter sein, ob sein Vertrauensmann oder Abgeordneter richtig handelt und entsprechend dem Vertrauen, das man in ihn gesetzt hat, als derjenige, der ihn abordnete und deswegen auch immer die Macht behalten muss, ihn aus seinen Aemtern zu entfernen, wenn er sich in seinem Vertrauen ge­täuscht sieht?“[62]

 

Staatszweck

Der Staat sollte weiterhin an das Naturgesetz gebunden bleiben, vor allem das Selbsterhaltungsstreben des einzelnen, seine Freiheit sowie seinen Besitz achten und schützen und das Wohl der Allgemeinheit fördern. Der Rechtsstaat ist notwendig, um Leben, Freiheit und Eigentum des Einzelnen zu sichern. Es ist Funktion des Gesellschaftsvertrags, die durch das Naturrecht gesetzte Ordnung aufrechtzuerhalten. So braucht es unparteiische Richter, um Streitigkeiten zu schlichten oder Verbrecher zu bestrafen. Es braucht auch klar abgegrenzte und universell anerkannte Verhaltensmassstäbe in der Form von allgemein anerkannten Gesetzen. Die Normen des Naturrechts liegen aber dem gesetzten Recht im Staate voraus. Sie legen die Grenzen der Staatsmacht und die Aufgaben des Staates fest. Die Gesetzgebung, als höchste Gewalt, ist also durch das Naturrecht eingeschränkt. Das heisst: Jede Gesetzgebung hat das Recht des Einzelnen auf Freiheit und Gleichheit zu respektieren. Nach Locke soll die Regierungsgewalt auf zwei, miteinander rivalisierende Gewalten, Regierung und Parlament, Exekutive und Legislative, verteilt werden. Damit wollte er die gegenseitige Kontrolle der Träger der Mandate gewährleisten und Machtkonzentration verhindern.

 

Erziehung zur Tugend

Nach Locke sind die Regeln des Zusammenlebens nicht angeboren, und so erhält der Gedanke der Erziehung grösste Bedeutung. Locke sagt, neun Zehntel aller Menschen seien das, was sie sind, durch Erziehung. In der frühkindlichen Erziehung würden die entscheidenden Fundamente gelegt. Erziehungsziel ist das Verhalten gemäss der Würde eines Vernunftwesens, wozu massgeblich die Erziehung zur Tugend (neben der Vermittlung von Wissen und Kenntnissen) beitrage.

 

Pflicht zur Erziehung

Den Eltern erwächst aus der Kenntnis der menschlichen Natur die Pflicht, ihre Kinder zu erziehen. Denn Kinder kommen schwach und hilflos, ohne Wissen und Verstand zur Welt. Sie werden sozusagen als tabula rasa, als unbeschriebenes Blatt geboren, d.h. ohne angeborene Ideen und sittliche Grundsätze.

 

Natürliche Autorität

Solange der Verstand nicht gebildet ist, können Kinder noch nicht aus vernünftiger Einsicht (sittlich richtig) handeln. Deshalb müssen sie von ihren Eltern angeleitet werden, bis zu dem Zeitpunkt, wo die Vernunft ihr Handeln regiert, d.h. „die Stelle der Eltern einnimmt und sie von dieser Mühe befreit“.[63] Den Eltern kommt deshalb die natürliche Autorität in der Anleitung und Erziehung der Kinder zu bis diese mündig sind, d.h. durch vernünftige Einsicht ihr Leben selbst führen können.

 

Achtung vor dem Kind

Die Achtung vor der Würde der Person, die im modernen Naturrecht so zentral ist, findet in der Achtung der Individualität des Kindes, seiner individuellen Besonderheiten, Anlagen und Neigungen ihre Entsprechung. Die individuelle Person soll so erzogen und gebildet werden, dass ihre individuellen Anlagen und Neigungen voll entwickelt und sozial nützlich gemacht werden. Dementsprechend hat in der Erziehung jedes Individuum ein natürliches Recht gemäss seinen individuellen Anlagen zur vollen Entfaltung gebracht zu werden.

 

Natürliche Erziehbarkeit

Die Erziehbarkeit des Kindes liegt darin begründet, dass es mit einer natürlichen Ausrichtung auf den Mitmenschen ausgestattet ist; es ist ihm nicht egal, ob die anderen Menschen seine Handlungen missbilligen oder gutheissen, ob sie gut oder schlecht über es denken. Es strebt danach in den Augen der anderen gut dazustehen und, wie Locke sich ausdrückt, seinen „guten Ruf“ zu wahren. Und hier kann der Erzieher ansetzen, und das Kind durch Lob und tadel auf die rechte Bahn lenken. Lob und Tadel sind deshalb nach Locke die psychologisch wirksamen Mittel, das Kind zur sittlichen Vollendung zu führen.

 

Frei und in Beziehung lernen

Äusseren Zwang als Erziehungsmittel lehnt Locke ab; im Gegensatz dazu hebt er die besondere Bedeutung des Spiels und des spielerischen Lernens für den Prozess der Erziehung und das geistige Werden des Kindes hervor. Das Lernen soll dem Kind nicht aufgezwungen oder in psychologisch ungeschickter Weise als Pflicht und nicht als Beschränkung seiner Freiheit aufgenötigt werden. Es soll in seinem natürlichen Freiheitsdrang nicht eingeschränkt werden, es soll freiwillig lernen und Kenntnisse erstreben. Die grundsätzliche Achtung der individuellen Eigenart und Eigenstrebungen des Kindes in der Erziehungslehre Lockes entsprechen der naturrechtlich begründeten Achtung der Person und der ihr angeborenen Freiheitsrechte.

 

Keine antiautoritäre Haltung

Was die Erziehung betrifft bedeutet Freiheit nach Locke nicht „Gewährenlassen“. Erziehung bedeutet nach Locke durch Vernunft Einsicht gewinnen ins natürliche Gesetz und sich durch Einsicht ins Gesetz selbst zum Handeln zu bestimmen. „Auch wenn es noch so oft missverstanden werden mag“, schreibt Locke, „es ist nicht das Ziel des Gesetzes, die Freiheit abzuschaffen oder einzuschränken, sondern sie zu erhalten und zu erweitern. Denn bei sämtlichen Geschöpfen, die zu einer Gesetzgebung fähig sind, gilt der Grundsatz: Wo es kein gesetz gibt, da gibt es auch keine Freiheit. Freiheit nämlich heisst aber nicht, wie uns gesagt wird, eine Freiheit für jeden, zu tun, was ihm gefällt – (denn wer könnte schon frei sein, wenn ihn die Laune jedes anderen tyrannisieren dürfte?) -; sondern eine Freiheit innerhalb der erlaubten Grenzen jener Gesetze, denen er untersteht, über seine Person, seine Handlungsweise, seinen Besitz und sein gesamtes Eigentum zu verfügen und damit zu tun, was ihm gefällt, ohne dabei dem eigenmächtigen Willen eines anderen unterworfen zu sein, sondern frei dem eigenen zu folgen.“[64])

Aus diesem Grundgedanken des Naturrechts leitet Locke die wesentlichen Erziehungsziele ab. Die ethische Dimension des Naturrechts wird in den Zielen der Erziehung deutlich, und zwar in der Erziehung zur Tugend, zur Weisheit, zu guten Manieren und dem Erwerb von Kenntnissen. Auf die wir im einzelnen hier nicht eingehen; wichtig aber ist, dass es sich hier nicht um eine allgemeine öffentliche Erziehung und Bildung handelt, sondern um die Erziehung und Bildung des Edelmanns. Es war Antoine de Condorcet und dann vor allem auch Pestalozzi vorbehalten, auf der Grundlage des modernen Naturrechts die Notwendigkeit eines öffentlichen Schulwesens für alle abgeleitet und begründet zu haben.

 


 

Antoine de Condorcet: Souveränität und Bildung

 

Begründung einer allgemeinen, öffentlichen Volksbildung aus dem Naturrecht
So grundlegend Lockes Gedanken zu Naturrecht, Staatsphilosophie und Erziehung waren, so finden wir bei ihm noch keine Erziehung und Bildung des Heranwachsenden in allgemeinen, öffentlichen Schulen. Diesen Schritt, nämlich die Begründung einer allgemeinen, öffentlichen Volksbildung aus dem Naturrecht, finden wir bei Marquis Antoine de Condorcet, der im Jahr 1792 ein Modell für ein öffentliches Unterrichtswesen entwarf. Es wurde richtungsweisend für die Einrichtung öffentlicher Volksschulen in ganz Europa.

 

Öffentliche Erziehung

Antoine de Condorcet zählt zu den französischen Enzyklopädisten und war Mitglied der Académie Francaise, er war auch Mitglied der französischen Nationalversammlung, die 1791 die Verfassung der ersten Republik schuf. Sie enthielt bereits die Forderung zu einer einheitlichen Gestaltung des Schulwesen: „Es soll eine öffentliche Erziehung geschaffen und eingerichtet werden, gemeinschaftlich für alle Bürger, kostenlos im Hinblick auf den unumgänglichen Unterricht für alle Menschen.“[65] Condorcet wurde Vorsitzender des Ausschusses für das Erziehungswesen.

 

Freiheit Gleichheit

Als Grundlage für das öffentliche Schulsystems übernimmt er die ersten beiden Artikel der „Erklärung der Rechte des Menschen und Bürgers“ vom 3. September 1791: „Die Menschen werden frei und mit gleichen Rechten geboren und bleiben es.“[66] Und: „Der Zweck jeder politischen Vereinigung ist die Bewahrung der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte“.[67] Der naturrechtliche Grundsatz von Freiheit und Gleichheit aller Bürger wird hier auf die Organisation des öffentlichen Schulwesens übertragen. Condorcet fordert deshalb den obligatorischen Besuch der Schule für alle Kinder aller Stände. Damit alle Kinder die öffentliche Schule besuchen können, müsse der Unterricht unentgeltlich sein.

 

Die Verwirklichung des Menschenrechts auf Unterricht und Bildung

Wie die Verfassung allen Menschen die gleichen Rechte garantiert, so ist es das oberste Ziel eines nationalen Unterrichtswesen, „allen Angehörigen des Menschengeschlechts die Mittel zugänglich zu machen, dass sie für ihre Bedürfnisse sorgen, ihr Wohlergehen sichern, ihre Rechte erkenne und ausüben, ihre Pflichten begreifen und erfüllen können“.[68] Die Aufgabe der öffentlichen Schule sei es, „jedem die Möglichkeit zu sichern, seine berufliche Geschicklichkeit zu vervollkommnen, sich für gesellschaftliche Funktionen vorzubereiten, zu denen berufen zu werden er berechtigt ist, den ganzen Umfang seiner Talente, die er von der Natur empfangen hat, zu entfalten und dadurch unter den Bürgern eine tatsächliche Gleichheit herzustellen, und [somit] die politische Gleichheit, die das Gesetz als berechtigt anerkannt hat, zu einer wirklichen zu machen“.[69] „Die Verwirklichung des Menschenrechts auf Unterricht und Bildung soll [aber] nicht nivellieren, sondern, «alle […] auf einen höheren Stand heben».“[70] Und die allgemeine, öffentliche Bildung soll auch das Recht auf freie Berufswahl ermöglichen und sichern.

 

Primarschule

Condorcet entwirft ein Stufenmodell der öffentlichen Schule. Unterste Stufe nach der Familienerziehung bilden die obligatorischen „Primärschulen“. Sie sollen das Menschenrecht auf Erziehung und Bildung für die Kinder aller Schichten verwirklichen.

 

Weiterführende Schulen

Hierauf bauen die verschiedenen weiterführenden Sekundarschulen und Lyceen auf. Dadurch soll jeder die Chance zu einer beruflichen Ausbildung bekommen, die seinen natürlichen Anlagen und Neigungen entspricht.

 

Erziehungziel: Prinzipien aufgeklärter Politik und Moral sowie die Grundlagen der Wissenschaften

Im Zentrum steht dabei vor allem die Ausbildung der Vernunft in jedem einzelnen Menschen. „Auf allen Schulstufen sollen die Prinzipien aufgeklärter Politik und Moral sowie die Grundlagen der Wissenschaften gelehrt, bzw. erforscht und verwirklicht werden. Übungen in klarem Denken, exakter Begriffsbildung und schlüssigem Urteilen beginnen schon in der Primarschule.“(S.166). Der Mensch hat das Vermögen der Vernunft, und das soll voll ausgebildet werden. Dadurch wird jeder befähigt, als freier Mensch zu handeln. Das ist seit den ersten Anfängen eine der Grundideen des Naturrechts gewesen.

 

Souveränität braucht Bildung

Hinter Condorcets Konzept einer öffentlichen allgemeinbildenden Staatsschule steht folgender Grundgedanke: Da in der Demokratie alle Gewalt vom Volke ausgeht, soll die staatliche Schule den Menschen sittlich bilden und ihm Grundwissen und Grundkönnen vermitteln, damit er als verantwortungsvoller und gebildeter Mitmensch zum Erhalt des Ganzen beitragen kann und seine Rechte und Pflichten wirklich wahrnehmen kann.

 

Bildung: Der vierte Pfeiler des Nationalstaats

Aristoteles hat die ersten Ansätze des gewaltenteilenden demokratischen Verfassungsstaats mit seinen drei Grundpfeilern geschaffen: Demokratie, Menschenrechte und Gewaltenteilung. Dieses Modell wurde seither nicht mehr verlassen, sondern vom Naturrecht immer weiter ausgebaut. Es dauerte immerhin mehr als 2000 Jahre, bis das Recht auf eine öffentliche, allgemeine Schulbildung aus dem Naturrecht geschaffen wurde – wie bei Condorcet. Damit wurde den drei Pfeilern des modernen (National)Staates – (1) Demokratie, (2) Menschenrechte und (3) Gewaltenteilung – die öffentliche Erziehung und Bildung als vierter unverzichtbarer Pfeiler hinzugefügt.

 


 

Anmerkungen

[1]      Jaspers, Karl. Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit. R.Piper & Co, 2. Auflage, München 1958, S. 421.
[2]      Adler, Alfred. What Life …, S. 201f. Ansbacher S. 377.
[3]      Adler, Alfred. Über den nervösen Charakter. Vorwort zur zweiten Auflage 1919. Bergmann. München 1928, S. IV.
[4]      Sutor, Bernhard. Politische Ethik. Gesamtdarstellung auf der Basis der Christlichen Gesellschaftslehre. Paderborn/München/Wien/Zürich 1992, S. 135.
[5]      ebd. S. 135.
[6]      ebd. S. 136.
[7]      Welzel, Hans. Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Vandenhoeck & Ruprecht. 4. Auflage. Göttingen 1990. S. 8.
[8]      ebd. S. 8.
[9]      Pufendorf, Samuel von. Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Herausgegeben und übersetzt von Klaus Luig. Insel Verlag. Erste Auflage. Frankfurt/Main 1994. S. 15.
[10]    ebd. S. 13.
[11]    Vgl. Denzer, Horst. Moralphilosophie und Naturrecht bei Samuel Pufendorf. Eine geistes- und wissenschaftsgeschichtliche Untersuchung zur Geburt des Naturrechts aus der Praktischen Philosophie. München 1972, S. 59.
[12]    Wolf, zit. n. Link, Christoph. Hugo Grotius als Staatsdenker. Mohr (Paul Siebeck). Tübingen 1983, S. 19.
[13]    Link, Christoph. Hugo Grotius als Staatsdenker. Mohr (Paul Siebeck). Tübingen 1983, S. 19.
[14]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 48.
[15]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 48.
[16]    Menschenrechte – Ihr internatinaler Schutz. Textausgabe mit ausführlichem Sachverzeichnis. Hg. v. Bruno Simma und Ulrich Fastenrath. Dritte Auflage. Beck. München 1992. S. 6.
[17]    Die Deutschen Bischöfe. Sekretariat der Deuitschen Bischofskonferenz. Grundwerte verlangen Grundhaltungen. Bonn 22. September 1977, S. 7.
[18]    Die Deutschen Bischöfe. Sekretariat der Deuitschen Bischofskonferenz. Grundwerte verlangen Grundhaltungen. Bonn 22. September 1977, S. 8.
[19]   Kriele, M. Befreiung und politische Aufklärung, Freiburg/Basel/Wien 1980. S. 7.
[20]    Heraklit, zitiert in Welzel, H. Naturrecht und materiale Gerechtigkeit. Göttingen 1990, S. 9.
[21]    Anonymus Jamblichi. Zitiert nach Diels. Fragmente der Vorsokratiker. Fragment Nr. 6.
[22]    Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrg.) Grundwerte verlangen Grundhaltungen. Bonn 1977, S. 8
[23]   Kriele, M. Die Demokratische Weltrevolution, S. 9.
[24]    Aristoteles. Politik. Buch IV, 1297b-1298a.
[25]    Fleiner, Fritz. Allgemeine Staatslehre. Springer. Berlin/Heidelberg/New York 1980, S. 320.
[26]    Durant, Will. Kulturgeschichte der Menschheit. Band 3. Das Klassische Griechenland. Ullstein. München 1976/77, S. 292.
[27]    Bloch, Ernst. Antike Philosophie. Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie. Band 1. Suhrkamp. Frankfurt/Main 1985, S. 385ff.
Vgl. auch: Bloch, Ernst: Naturrecht und menschliche Würde: Frankfurt/Main 1961. (=Werkausgabe, Bd. 6)
 
[28]    Thomas: Vom Fürstenregiment I,1
[29]    Thomas: Summe der Theologie I, II,2,4, ad 2
[30]   Link, Christoph. Hugo Grotius als Staatsdenker. Mohr (Paul Siebeck). Tübingen 1983, S. 12.
[31]   Grotius, Hugo. De Jure Belli ac Pacis, 1670, IIf. (Von Krieg und Frieden, 1625) Zitiert nach: Materialien zur Rechtsgeschichte 3. Schott, Clausdieter (Hrg.) Textbuch: Rechtsgeschichte. Forschungsstelle für Rechtsgeschichte. überarbeitete Auflage. Zürich 1992, S. 63. [Hervorhebung im Original]
[32]   Grotius, Hugo. De Jure Belli ac Pacis, 1670, IIf. (Von Krieg und Frieden, 1625) Zitiert nach: Materialien zur Rechtsgeschichte 3. Schott, Clausdieter (Hrg.) Textbuch: Rechtsgeschichte. Forschungsstelle für Rechtsgeschichte. überarbeitete Auflage. Zürich 1992, S. 63.
[33]    Welzel, Hans. Naturrecht und matriale Gerechtigkeit. 4. Auflage. Vandenhoek & Ruprecht. Göttingen 1990, S. 125.
[34]   Grotius, Hugo. Zit. nach: Schott, S. 65.
[35]   Vgl. Randelzhofer, Albrecht. Die Pflichtenlehre bei Samuel von Pufendorf. Berlin/New York.1983, S. 8. Vgl. auch: Voigt. Alfred. Geschichte der Grundrechte. 1948, S. 192ff.
[36]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 45.
[37]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 47.
[38]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 45.
[39]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 45f.
[40]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 47.
[41]    Pufendorf, Samuel. Vom Natur- und Völkerrecht. Band II. S. 425.
[42]    Pufendorf, Samuel. Vom Natur- und Völkerrecht. Band II. S. 421.
[43]    Pufendorf, Samuel. Vom Natur- und Völkerrecht. Band II. S. 427.
[44]    Pufendorf, Samuel. Vom Natur- und Völkerrecht. Band II. S. 425.
[45]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 47.
[46]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 46.
[47]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 47.
[48]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 49.
[49]    Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 48.
[50]   Pufendorf, Samuel. Zit. nach: Randelzhofer, S. 18.
[51]   Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 17.
[52]   Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[53]   Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[54]   Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[55]   
[56]    Welzel, Hans. Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs.Walter de Gruyter. Berlin 1958, S. 47.
[57]    Zitiert nach: Welzel, Hans. Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs.Walter de Gruyter. Berlin 1958, S. 48.
[58]    Welzel, Hans. Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs.Walter de Gruyter. Berlin 1958, S. 50.
[59]    Locke, John. Zwei Abhandlungen über die Regierung. In: Kunzmann, Peter/Burkhard, Franz-Peter/Wiedmann, Franz: dtv-Atlas zur Philosophie. Tafeln und Texte. München 1991, S. 203
[60]    Locke, John. Zwei Abhandlungen über die Regierung. In: Kunzmann, Peter/Burkhard, Franz-Peter/Wiedmann, Franz: dtv-Atlas zur Philosophie. Tafeln und Texte. München 1991, S. 121
[61]    Strömholm, Stig. Kurze Geschichte der abendländischen Philosophie. Göttingen 1991, S. 186
[62]    Locke, John. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt/M. 1992, S. 353
[63]    Locke, John. Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt/M. 1992, S. 235
[64]    ebd., S. 234
[65]    Zit. nach: Siegel, Elisabeth. Das Wesen der Revolutionspädagogik. Langensalza 1930, S. 62
[66]    Artikel I, 1. Satz
[67]    Artikel II, 1. Satz
[68]    1992, 20
[69]    1992, 20
[70]    1792, 66

#printfriendly #pf-src-url { display: none !important; } /* Use the Roboto Font */ @import url("https://fonts.googleapis.com/css2?family=Roboto:ital,wght@0,100;0,300;0,400;0,500;0,700;0,900;1,100;1,300;1,400;1,500;1,700;1,900&display=swap"); #printfriendly { font-family: 'Roboto', sans-serif !important; }