Zur naturrechtlichen Tradition des Hippokratischen Eides

23. November 1993, Arbeitstagung des Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis Moritz Nestor

Zur naturrechtlichen Tradition des Hippokratischen Eides

 


 

 

Der aus dem Jahre 400 v. Chr. stammende Hippokratische Eid verlangt die unbedingte und vorurteilsfreie Behandlung jedes Patienten. Bei Hippokrates lesen wir: «Ich werde die Grundsätze der Lebensweise nach bestem Wissen und Können zum Heil der Kranken anwenden, dagegen nie zu ihrem Verderben und Schaden. Ich werde auch niemandem eine Arznei geben, die den Tod herbeiführt, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, auch nie einen Rat in dieser Richtung erteilen

Der Hippokratische Eid versteht den Schutz des Lebens als einen Wert für alle Menschen. Dies war im antiken Griechenland einmalig und erklärt auch die ungeheure historische Wirkung dieser ersten ärztlichen Ethik, die uns schriftlich überliefert ist. Im politischen Denken der griechischen Antike findet sich noch kein solch universeller Naturrechtsgedanke. Die Spartaner töteten schwache Kinder. Frauen und Sklaven wurden nicht als Bürger und damit als Menschen angesehen. Das hippokratische Tötungsverbot für den Mediziner fordert die Achtung des Lebens aller Menschen, ob Sklaven, Kriegsgegner oder sonstiger. Damit leitete Hippokrates seine Forderung der Achtung vor dem Leben aus der universellen Anschauung ab, dass allen Menschen aufgrund ihres Menschseins Achtung zukommt. Das nannte man später, eine natürliche Würde zu haben. Bis heute baut die ärztliche Ethik hierauf auf.

Angesichts dieser Erkenntnis und der Beteiligung von Ärzten an den Massenmorden während des Zweiten Weltkrieges übersetzte die World Medical Association im Jahre 1948 den Hippokratischen Eid in eine moderne Sprache. So entstand das Genfer Gelöbnis.[1] Die Vollversammlung der Vereinten Nationen proklamierte ebenfalls im Jahre 1948 die Universal Declaration on Human Rights [Allgemeine Erklärung der Menschenrechte], die zur Basis der Europäischen Menschenrechtskonvention wurde. Angesichts des Schreckens zweier Weltkriege, von Nazismus und Bolschewismus hatte man damit versucht, weltweit das natürliche Recht auf Freiheit und Leben als unveräusserliches natürliches Recht für alle Menschen modern zu formulieren, wieder festzuschreiben und die Völkergemeinschaft für alle Zeiten darauf zu verpflichten. Alle diese Konventionen erklären die auf dem Leben basierende eingeborene Würde des Menschen und die Grundrechte aller Mitglieder der «human family» als unveräusserlich und unaufgebbar.

[1]     British Medical Association. War Crimes and Medicine, June 1947.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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