Zur Populismus-Keule: Zitate aus drei Texten von Herbert Marcuse

Moritz Nestor


1.) Text: „Eine >biologische< Grundlage des Sozialismus?“ (1969) In: Herbert Marcuse „Versuch über die Befreiung“ Ffm1969 

2.) Text: „Ethik und Revolution“ Aufsatz, entstanden zwischen 1934 und 1938 im exilierten Institut für Sozialforschung in New York in Zusammenarbeit mit Max Horkheimer

3.) Text: „Repressive Toleranz“ (1965)


Text 1
Herbert Marcuse (1969): Eine >biologische< Grundlage des Sozialismus? In: Herbert Marcuse (1969): Versuch über die Befreiung. Frankfurt/Main

 

 

Revolutionäres Subjekt / Neues Proletariat

Marcuse: „Die Opposition, welche der Unterdrückung durch Polizei, die Gerichte, die Volksvertreter und das Volk selbst (!) entgeht, manifestiert sich in der diffusen Rebellion unter den Jugendlichen und der Intelligenz sowie im tägliche Kampf verfolgter Minoritäten. … Der bewaffnete Klassenkampf wird draußen geführt: von den Verdammten dieser Erde, die gegen das üppige Ungetüm antreten. … Die kritische Analyse dieser Gesellschaft bedarf neuer Kategorien: moralischer, politischer und ästhetischer.

 

Kommentar
Einfaches Weltbild
Die Bösen: Der Staat und Volk als Repressionsinstrument
Die Guten: Jugend, „Intelligenz“, Randgruppen
Lösung: Kampf des Bösen gegen das Gute

 

 

 

„Linguistische Therapie“

Marcuse: „Diese Gesellschaft ist insofern obszön, als sie einen erstickenden Überfluß an Waren produziert und schamlos zur Schau stellt, während sie draußen ihre Opfer der Lebenschancen beraubt;“ „Obszönität ist ein moralischer Begriff im Wortschatz des Establishments … Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals in vollem Wichs … Linguistische Therapie – das heißt die Anstrengung, Wörter (und damit Begriffe) von der nahezu totalen Entstellung ihres Sinnes zu befreien – erheischt die Überführung moralischer Maßstäbe (und ihrer Inkraftsetzung) vom Establishment zur Revolte gegen es. Gleichermaßen muß das soziologische und politische Vokabular umgeformt werden. es muß seiner falschen Neutralität entkleidet werden; es muß methodisch und provokatorisch im Sinne der Weigerung »moralisiert« werden.“

 

Kommentar
Die „linguistische Therapie“ folgt den Regeln des NLP (Neurolinguistisches Programmieren)
1. Phase, Auftauen: Der übliche Gebrauch von „obszön“ (in das Schamgefühl verletzender Weise auf den Sexual-, Fäkalbereich bezogen; unanständig, schlüpfrig) wird als Wortgebrauch der Herrschenden und damit als falsche Sprache entlarvt. Diese bürgerliche Sprache entstelle den von Marcuse behaupteten „eigentlichen Sinn des Wortes obszön.
2. Phase, Umdeuten: Der Neben-Gebrauch von „obszön“ im unüblichen bildhaften Jargon (=Entrüstung hervorrufend) wird von Marcuse als die eigentlich richtige Bedeutung hingestellt: sie müsse wiedergewonnen werden.
3. Phase, Einfrieren des neuen Sprachgebrauchs: Der fortschrittlich denkende Mensch übt die von Marcuse zur eigentliche richtigen erklärten Bedeutung ein. Es ist jetzt eine wahre (proletarisch revolutionäre) Sprache: Der General des Klassenfeindes ist jetzt obszön, nicht die Perversion, das Fäkale, das Schlüpfrige, das Schamgefühl.

 

 

 

(Sexual-)Moral zur Waffe machen

Moralität ist … angesichts einer unmoralischen Gesellschaft … eine politische Waffe …“

„Die triebmäßige Revolte verwandelt sich in eine politische Rebellion … „

„Moral (ist) eine »Anlage« des Organismus, die wohl im erotischen Trieb ihren Ursprung hat, …»immer größere Einheiten« des Lebens zu schaffen und zu erhalten. … ein triebpsychologisches Fundament für Solidarität, die gemäß den Erfordernissen des Klassenkampfes wirksam unterdrückt wurde, nunmehr aber als Vorbedingung von Befreiung erscheint.“

Die „Bildsamkeit des »menschlichen Natur« (reicht) bis in die Tiefe der Triebstruktur des Menschen … „

„Veränderungen der Moral (können) in »biologische« Dimensionen »herabsinken« und das organische Verhalten modifizieren.“

„Die sogenannte Konsumentenökonomie und die Politik des korporativen Kapitalismus haben eine zweite Natur des Menschen erzeugt, die sie libidinös und aggressiv an die Warenform bindet.“

„Die zweite Natur widersetzt sich jeder Veränderung, welche diese Abhängigkeit der Menschen von einem … gefüllten Markt … vielleicht abschaffte … die Konterrevolution ist in der Triebstruktur verankert.“

Daß die Arbeiter im heutigen Kapitalismus mit der Waffe in der Hand gegen die Kapitalisten erheben, „wird durch die Integration der organisierten ( und nicht nur der organisierten) Arbeiterklasse in das System des fortschrittlichen Kapitalismus vereitelt.“

 

 

 

Freudomarxismus

Marcuse: „In den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern wird einer Radikalisierung der arbeitenden Klassen durch eine sozial gesteuerte Lähmung des Bewußtseins entgegengewirkt … wird in der Triebstruktur des Ausgebeuteten ein handfestes Interesse am System befördert … Hieraus ergibt sich, dass der radikale Wandel, der die bestehende Gesellschaft in eine freie transformieren soll, … hineinreichen muß … in die »biologische« Dimension …“.

Kommentar:
Das Proletariat hätte nach Marx die Revolution machen sollen, weil es seine Verelendung nicht mehr aushalte (= „Verelendungstheorie“). Dazu komme es aber nun nicht, weil das Proletariat durch eine falsche gelernte Triebstruktur an der Revolution gehemmt wird. Nicht das Proletariat wie bei Marx ist die Konterrevolution, sondern bei Marcuse gilt: „Konterrevolution ist in der Triebstruktur“, sprich Hemmung des Aggressionstriebes, so dass die Aggressionen nicht gegen das unterdrückende „System“ gerichtet werden. Triebbefreiung heisse also: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Oder: Ein Stein in die Kommandozentrale des Kapitalismus.

 

 

„Umsturz gegen den Willen … der großen Mehrheit des Volkes“

Marcuse: „Wir müssen daraus schließen, daß Befreiung Umsturz gegen den Willen und gegen die vorherrschenden Interessen der großen Mehrheit des Volkes bedeutet.“

Kommentar
Marx nannte diesen Putsch gegen das Volk die „Diktatur des Proletariats“. Lenin nannte die Regierung Kerenski „Demokratismus“. Den bolschewistischen Putsch und die anschliessende Diktatur nannte er „Demokratie“.

 

 


2.) Herbert Marcuse: „Ethik und Revolution“ (Aufsatz, entstanden zwischen 1934 und 1938 im exilierten Institut für Sozialforschung in New York in Zusammenarbeit mit Max Horkheimer)

 

„Läßt sich revolutionäre Gewaltanwendung als ein Mittel zur Herstellung von menschlicher Freiheit und menschlichen Glücks rechtfertigen?“

 

Historischer Nihilismus

„Postuliert man, daß rationale Maßstäbe zum Beurteilen der gegebenen Möglichkeiten menschlicher Freiheit und menschlichen Glücks zur Verfügung stehen, so nimmt man damit an, daß die ethischen, moralischen Maßstäbe historische Maßstäbe sind. … Angewandt auf unsere Frage, heißt das, daß eine revolutionäre Bewegung, um ein ethisches und moralisches Recht zu beanspruchen, imstande sein muß, für ihre Chancen, reale Möglichkeiten menschlicher Freiheit und menschlichen Glücks zu erfassen, rationale Gründe anzugeben. Und sie muß imstande sein zu begründen, daß ihre Mittel angemessen sind, diesen Zweck zu erreichen.“

Wer revolutionäre Gewalt als Mittel, Freiheit und Glück herbeizuführen, gänzlich ablehnt, verstoße „gegen historische Tatsachen. Es ist zum Beispiel sinnlos zu sagen, daß die moderne Gesellschaft ohne die englische, Amerikanische und Französische Revolution hätte entstehen können.“

Bolschewismus = „Revolution“

Nationalsozialismus/Faschismus = „Konterrevolution“

 

Geschichtsfälschung

„Robespierre verlangt nach dem ´Despotismus der Freiheit´ gegen der Despotismus der Tyrannei: im Kampf um Freiheit, im Interesse des Ganzen gegen partikuläre Interessen der Unterdrückung kann Terror zur Notwendigkeit und Verpflichtung werden. Hier erscheint Gewalt, revolutionäre Gewalt, nicht nur als politisches Mittel, sondern als moralische Pflicht. Der Terror wird definiert als Gegengewalt. … In ähnlicher Weise ist der Marxsche Begriff der proletarischen Diktatur einer vorübergehenden, sich selbst aufhebenden Diktatur … weil sie nur so lange währen soll, als die Macht der alten herrschenden Klassen noch den Aufbau der sozialistische n Gesellschaft behindert. … auch hier wird die Gewalt als Gegengewalt definiert.“

 

Erziehungsdiktatur

„Wie können Sklaven, die nicht einmal wissen, daß sie Sklaven sind, sich befreien? … Sie müssen gelehrt und gelenkt werden, frei zu sein, und das um so mehr, je nachdrücklicher die Gesellschaft, in der sie leben, alle verfügbaren Mittel anwendet, ihr Bewußtsein zu modeln und zu präformieren und sie gegen mögliche Alternativen immun zu machen. Diese Idee einer erzieherischen, vorbereitenden Diktatur ist heute zu einem inneren Bestandteil der Revolution und der Rechtfertigung revolutionärer Unterdrückung geworden.“

 

Historisch-dialektischer Materialismus

„… wenn Freiheit stets Befreiung von unfreien repressiven Verhältnissen voraussetzt, dann heißt das, daß diese Befreiung stets gegen etablierte und geheiligte Institutionen und Interessen verstößt und diese letztlich unterhöhlt. … aus diesem Grunde ist revolutionäre Gewalt … notwendig, um höhere Formen der Freiheit gegen den Widerstand der etablierten Formen zu sichern.“

„Die Ethik der Revolution … wird sich im Einklang … mit historischen Maßstäben befinden.“ Diese Maßstäbe „laufen auf einen »historischen Kalkül« hinaus, nämlich auf die Berechnung der Chancen einer künftigen Gesellschaft gegenüber der bestehenden … “

„Wenn ein solcher historischer Kalkül eine rationale Grundlage haben soll, muß er die Opfer berücksichtigen … all jene Opfer von Gesetz und Ordnung, welche die Verteidigung dieser Gesellschaft in Krieg und Frieden kostet, im Kampf ums Dasein (!!!)… auf der anderen Seite … die Chancen der revolutionären Bewegung aufzeigen, … ob das revolutionäre Programm die … Kraft hat, die Versagungen und die Zahl der Opfer zu veringern.“

Diese Rechnung habe einen „ … unmenschlichen, quantifizierenden Charakter … Aber seine Unmenschlichkeit ist die der Geschichte selbst …“ (!!!)

„Keine Heuchelei … dieser brutale Kalkül ist keineswegs leere intellektuelle Abstraktion; in der Tat wurde die Geschichte an ihren entscheidenden Wendepunkten ein solch berechnetes Experiment.“

„Im Sinne absoluter Sittlichkeit … gibt es keinerlei Rechtfertigung für Unterdrückung und Aufopferung um künftiger Freiheit und künftigen Glücks willen … aber historisch stehen wir vor eine Unterscheidung und Entscheidung … Sin zehntausend Opfer sittlicher als zwanzigtausend? So sieht in der Tat die unmenschliche Arithmetik der Geschichte aus … „

„Kann der revolutionäre Zweck alle Mittel rechtfertigen? … In gewissem Sinne rechtfertigt der Zweck die Mittel, dann nämlich, wenn sie nachweislich den menschlichen Fortschritt in Freiheit fördern.“

 

 


 

 

3.) Herbert Marcuse: „Repressive Toleranz“ (1965)

Wenn:

„ …was heute als Toleranz verkündet und praktiziert wird, (dient) den Interessen der Unterdrückung. … Wenn Toleranz in erster Linie dem Schutz und der Erhaltung einer repressiven Gesellschaft dient, wenn sie dazu herhält, die Opposition zu neutralisieren und die Menschen gegen andere und bessere Lebensformen immun zu machen, dann ist Toleranz pervertiert worden.“

Dann:

„ … die Verwirklichung der Toleranz (würde) Intoleranz gegenüber den herrschenden politischen Praktiken, Gesinnungen und Meinungen erheischen …“

„Befreiende Toleranz würde mithin Intoleranz gegenüber Bewegungen von rechts bedeuten und Duldung von Bewegungen von links. Was die Reichweite dieser Toleranz und Intoleranz angeht, so müßte sie sich ebenso auf die Ebene des Handelns erstrecken wie auf die der Diskussion und Propaganda … Hätte man die demokratische Toleranz aufgehoben, als die künftigen Führer mit ihrer Kampagne anfingen, so hätte die Menschheit eine Chance gehabt, Auschwitz und einen Weltkrieg zu vermeiden.

Die gesamte nachfaschistische Periode ist eine Periode eindeutiger und gegenwärtiger Gefahr. Folglich erfordert wahre Befriedung, daß die Toleranz vor der Tat entzogen werde: auf der Stufe der Kommunikation in Wort, Druck und Bild. Allerdings ist eine derart extreme Aufhebung des Rechts der freien Rede und freien Versammlung nur dann gerechtfertigt, wenn die Gesamtgesellschaft in äußerster Gefahr ist. Ich behaupte, daß unsere Gesellschaft sich in einer solchen Notsituation befindet und daß diese zum Normalzustand geworden ist. … In dieser Gesellschaft … ist das falsche Bewußtsein zum allgemeinen Bewußtsein geworden ‑ von der Regierung bis hinunter zu ihren letzten Objekten. …

Daß rückschrittlichen Bewegungen die Toleranz entzogen wird, ehe sie aktive werden können, daß Intoleranz auch gegenüber dem Denken, der Meinung und dem Wort geübt wird (Intoleranz vor allem gegenüber den Konservativen und der politischen Rechten) ‑ diese antidemokratischen Vorstellungen entsprechen der tatsächlichen Entwicklung der demokratischen Gesellschaft, welche die Basis für allseitige Toleranz zerstört hat.“

„Den kleinen und ohnmächtigen Gruppen, die gegen das falsche Bewußtsein kämpfen, muß geholfen werden: ihr Fortbestehen ist wichtiger als die Erhaltung mißbrauchter Rechte und Freiheiten.„

„Gesetz und Ordnung sind überall und immer Gesetz und Ordnung derjenigen, welche die etablierte Hierarchie schützen; es ist unsinnig, an die absolute Autorität dieses Gesetzes und dieser Ordnung denen gegenüber zu appellieren, die unter ihr leiden und gegen sie kämpfen . … Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat keine Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen.“

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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