Ein «schwieriger Patient» wird zum Mitspieler

17. April 2017 Moritz Nestor

vom Umgang mit Widerständen

 

Jede helfende Beziehung kann früher oder später an einen Punkt kommen, wo der Hilfesuchende sich gegendie Hilfe, die ihm eigentlich gut täte, zu wehren beginnt. Er verhält sich unbewusst – das heisst, ohne dass er wirklich emotional versteht, was er selbst tut – so,als obder Helfende eine wichtige Beziehungsperson aus seiner Lebensgeschichte wäre. Die therapeutische Beziehung scheitert nicht selten an solchen Komplikationen. Der Hilfesuchende wendet sich dann an den nächsten Therapeuten und manch einem eilt bald einmal der Ruf voraus, er sei «eben schwierig». Oft ist man der (vorläufig) letzte einer ganzen Reihe von Kollegen, die sich bisher an dem Widerstand eines Menschen schon die «Zähne ausgebissen haben». An einem typischen Beispiel soll diskutiert werden, dass und wie aus solch einem «schwierigen Patienten» ein Mitpieler werden kann.
Dr. H, ein Allgemeinpraktiker, überweist Herrn Z zur Psychotherapie. Herr Z ist ein wohlhabender Geschäftsmann, 54 Jahrealt, seit 25 Jahren verheiratet, drei erwachsene Kinder. Herr Z leide, so der Bericht von Dr. H, seit Jahrzehnten an Herzproblemen und habe vor einem Jahr eine grosse Herzoperation knapp überlebt. Er sollte dringend seinen risikobehafteten Lebensstil umstellen, rauche aber weiterhin stark, esse ungesund und zuviel und lebe bewegungsarm. Dr. H habe vergeblich Herrn Z zu überredenversucht, gesünder zu leben, und gehofft, die Abwehr von Herrn Z durch freundliches Erklären und Apelle an Logik und Vernunft überwinden zu können. Aber Herr Z wehre alle vernünftigen medizinischen Ratschläge ab. Trotzig und rechthaberisch lasse er sich nichts sagen. Wenn man ihm zu direkt komme, «belle» er einen an: «Lassen Sie mich in Ruhe! Ich bin, wie ich bin.»

Man hört aus dem Bericht des Arztes heraus, dass dessen Bemühtheit Herrn Z signalisiert hat: Den kann ich in Schach halten. Dr. H überblickte den Vorgang nicht psychologisch und konnte mit dem Trotz von Herrn Z nicht umgehen. Herr Z. bestätigte später, alle seine bisherigen Hausärzte hätten versucht, ihn zu überreden. Die netten, bemühten hätten resigniert oder seien wütend geworden. Die strengen hätten versucht, Herrn Z «zu stellen» und ihn zu zwingen, das zu tun, was vernünftig sei. Dann habe er jeweils den Arzt gewechselt.

Die Herzoperation war ein Warnschuss. Trotzdem blockte Herr Z alle Versuche ab, ihn zu einer Psychotherapie zu bewegen. Ein Verhaltenstraining liess er zögernd zu. Es verpuffte aber wirkungslos, weil die unbewussten Charakterhaltungen, die seiner lebensgefährlichen Lebensführung zugrundelagen, nicht bearbeitet wurden.

Schon vor fünfzehn Jahren hatte ihm seine Frau nach mehreren schweren Herzattacken mit Zusammenbrüchen, schweren Herzens, gedroht, sie lasse sich scheiden, wenn er nichts tue. Obwohl sie eigentlich keine Trennung wollte. Er ging damals ihr zuliebe mit in eine Eheberatung, wollte die Familie nicht verlieren – und seinen eigenen Eltern «keine Schande» bereiten! Es kam zu einer Besserung. Dann aber brach er ab und fiel bald wieder in sein altes Verhalten zurück.

Seine Frau ertrug seither alles geduldig, da die Kinder noch zu klein waren. Nach einem erneuten schweren Zusammenbruch vor zwei Wochen aber hatte sie ihm nun, kompromisslos wie noch nie, gedroht: «Mach’ eine Therapie, oder ich gehe. Die Kinder sind erwachsen!»

So sass nun Herr Z im Erstgespäch stocksteif da, auf Abwehr oder gar Kampf eingestellt. Immerhin, er war gekommen, wollte seine Frau nicht verlieren. Zwei unruhige Augen beobachteten mich aus einer emotionalen Deckung heraus scharf. Seine Abwehr drohte, den Aufbau einer Vertrauensbeziehung zu verhindern. Man musste sie allerdings, was ein gewisser Vorteil war, nicht erahnen. Bei ihm wusste man immer sofort, was einen erwartete. Vom ersten Augenblick an sah man, wie er mit seiner kämpferischen Haltung einen seelischen Konflikt auslebte, der irgenwo seine Wurzeln in seiner Lebensgeschichte haben musste und der sich nun, in abgeschwächter Form, in der therapeutischen Beziehung wiederholte. Er versuchte einen in die Rolle einer emotional wichtigen Bezugsperson aus der Lebensgeschichte hineinzudrängen und so zur Geltung zu kommen, wie er sich das vorstellt. Man erahnte seinen «Lebensstil»[1]: «Ich will bestimmen, will die Zügel in den Händen behalten, will oben sein. Nur so und nicht anders können wir miteinander. Verstanden!»

Solange ich in den ersten Phase der Gespräche etwas von ihm wissen will, tue ich das daher freundlich, unaufdringlich, eher nebenbei und ohne den leisesten Anschein von Druck, vor allem: emotional völlig unbeeindruckt von seiner kämpferischen Attitüde. Er antwortet lange Zeit knapp mit «vielleicht», «ich weiss nicht». Ab und zu kommt ein Häppchen Information. Dialogversuche über Gefühle, gar Konflikte wehrt er ab, hält mich auf Distanz. Diese Übertragungen lasse ich bis zu einem gewissen Grad zu, gehe aber, wenn sie zu stark werden, auf andere Themen über. Interessanterweise etabliert sich so allmählich eine gewisse herzliche Beziehung zwischen uns. Solange man nichts von ihm wollte, liess er Vertrauen und Beziehung zu.
Währenddessen denke und fühle ich mich in seine seelischen Bewegungen ein und verstehe allmählich die Logik seiner Gefühlsübertragungen: Er erwartet, dass ichso reagiere, als ob ich eine bedeutende Bezugsperson aus seiner Lebensgeschichte wäre, und wehrt sich dagegen: Man darf nichts tun, was er als Belehren oder Besserwissen auch nur erahnen könnte – sonst kämpft er sofort heftig um seine «verlorene Ehre», seine Dominanz. In der sich entfaltenden therapeutischen Beziehung entsteht eine gewisse «Übertragungsneurose».[2]Noch ist deren Genese unklar. Auf vorsichtige Fragen danach geht er elegant nicht ein.
Ohne die trotz Widerstand entstehende Beziehung zu Herrn Z. wäre es später nie dazu gekommen, dass er schliesslich den Widerstand fallen liess, sich öffnete und in einen Gefühlsdialog trat, was erst eine Bearbeitung des störenden Konflikts ermöglichte. Dies war keine Technik, sondern ein bewusstes Gestaltender therapeutischen Beziehung als echte Begegnung zweier Menschen, die sich respektieren: Auf keinen Fall durfte ich ihm gegenüber so reagieren, wie er es in seiner kämpferischen und leicht kränkbaren Privatlogik erwartete. Und: Ich musste den Respekt von ihm erwirken, dass ichdas Gespräch führte, aber nicht so, wie eres emotional erwartete.

Nach vier Gesprächen schien  mir das Vertrauen tragfähiger geworden zu sein, und ich war für das nächste Gespräch entschlossen, ihn zu einer Auseinandersetzung über sein Verhalten herauszufordern.

Wir haben die erste Phase hinter uns. Ich brauche nun mehr Ihre aktive Mitarbeit. Sie müssen etwas von mir erfahren wollen.[3]

Er schweigt.

Sie lassen mich in einem gewissen Sinn auflaufen, fordere ich ihn ruhig heraus, lächle ihn dabei aber absichtlich sehr freundlich an, um seinen kämpferischen Erwartungen auszuweichen, denn ich weiss, wie schnell er sich angegriffen fühlt.

Er schweigt – und wird plötzlich doch aktiv: Es hat Spannungen gegeben mit meiner Frau.

Welcher Art?

Ich weiss nicht so recht. Ich bin eben so empfindlich.

Empfindlich? (Er hat sich geöffnet! Noch nie hat er zugelassen, über seine Schwächen zu reden, dass er zum Beispiel empfindlich ist.) Was war denn?

Meine Frau hat verlangt, ich solle mit dem Rauchen aufhören. Und dann hatten wir Spannungen.

Spannungen?

Na, so in mir und zwischen uns. Ich kann das nicht näher beschreiben. Ein Gefühl so. Da! (Er zeigt auf die Herzgegend.)Wir haben nicht viel miteinander geredet.

Er redet von «Spannungen» und meint sowohl seelischeSpannung, wenn er sagt, sie seien «in mir» und «zwischen uns». Und er meint körperlicheSpannungen, wenn er auf das Organ zeigt, das von diesen seelischen Spannungen über Vegetativum, Hormon- und Immunsystem in Anspannung versetzt wird: das Herz.[4]

Da es gut geht, komme ich ihm frontaler: Rauchen ist ja in Ihrem Fall mit der Herzoperation ein Risikofaktor.

Ja aber ich rauche gerne.

Gerne?

Ja, es entspannt.

Da ist er, der Trotz, das ist die Übertragung, das Verhalten aus der Vergangenheit, neu aktualisiert, bei seiner Frau und bei mir. So reagiert er gegenüber allen, die etwas von ihm wollen. Ich beginne also wieder, bewusst ruhig, eher beiläufig: Der Lungenkrebs und Herz-Kreislauf-Schäden! Ihre Frau wird sich eben Sorgen gemacht haben, weil sie ihre Lage kennt. Sie sind operiert. Man sollte mehr auf die Gesundheit achten, um Rückfälle zu vermeiden.

Hm. Vielleicht.

Es spricht doch nichts für das Rauchen.

Ich bin sowieso süchtig. Ich hatte einmal sieben Jahre aufgehört und dann habe ich wieder angefangen. Es ist wie beim Alkohol: Einmal Raucher immer Raucher.

Ich habe auch geraucht, wie Sie. Drei Jahre habe ich gebraucht, bis ich wirklich aufgehört habe. Es geht schon.

Hm. Vielleicht.

Er bringt noch mehrere rationalisierende Schein-Rechtfertigungen, alle nach dem Motto ‚Es ist eben, wie es ist.’
Ich lächle ihn an, das Vertrauen trägt:Irgend etwas ist da doch – denken Sie nicht auch? – warum man nicht wirklich Schluss machen kann oder will. Das Schädliche erscheint einem angenehm: Nach dem Essen, die Zigarette, ein angenehmes Gefühl. Aber das ist in Wirklichkeit doch nur eine Gewöhnung.

Kann sein! Er schaut mich von hinter seiner Gefühls-Barrikade wütend an und «bellt», aber so, dass ich weiss, ich kann ihn ruhig noch mehr herausfordern, sich mit seiner Lebenslüge auseinanderzusetzen.

Wenn man Stress hat, das kennen Sie doch vielleicht, dann sagt man sich plötzlich: Jetzt brauche ich eine. Wo es mir doch so schlecht geht!

Ja, vielleicht …

Viele sagen: «Morgen höre ich auf». Mit solchen Selbstbetrügereien versperren wir uns den Weg.

Vielleicht.

Er bellt schon nicht mehr so heftig. Jetzt in ich mir sicher, ihm seine Übetragung deuten zu können, ohne dass er abbricht und sage: Lassen Sie mich Ihnen ein offenes Wort sagen: Sie kommen mir in Ihrem Verhalten gegenüber der Zigarette vor wie ein Jugendlicher, dem man das Rauchen verbieten will und der sich dagegen wehrt. Aber es ist ein innererKampf gegen einegeglaubteBevormundung. Denn es ist natürlich keine Bevormundung, nicht mehr zu rauchen, sondern ein Befreiung. Aber wir Menschen können dann plötzlich den gut gemeinten Rat wieder so empfinden, als würde der Arzt oder die Ehefrau uns bevormunden. Dann trotzt man gegen den vernünftigen Rat und gegen seine eigenen Interessen. Denn Sie wollen doch auch leben!

Da bricht es heftig aus ihm heraus: Sehen Sie, ich war ein jähzorniges Kind. Mein Vater hat wenig geredet, ab und zu hat er mich verhauen. Ich habe meine drei Jahre ältere Schwester zusammengeschlagen, wenn mir etwas nicht passte, und meinen sieben Jahre älteren Bruder ebenfalls. Der war brav, hat sich nicht gewehrt. Ich habe ihn schlecht behandelt, habe ihm nichts gegönnt, habe ihm die Freundin ausgespannt. In allen Gruppen war ich der Anführer, und wenn es einen Kampf gab, und ich drohte zu unterliegen, habe nur noch rot gesehen, habe dem Gegner in den Arm oder ins Bein gebissen. Immer wenn ich drohte zu unterliegen, habe ich alle Kräfte mobilisiert und wurde besinnungslos wütend.

Und nun, schauen Sie, das ist wichtig: Heute spielt sich in Ihnen ein ähnlicher Kampf ab, als ob Sie ihn von früher auf heute übertragen. Sie sind nicht fertig mit dieser alten Kampf-Geschichte.

Er schaut wieder grimmiger: Vielleicht.

Das kann sich auch beim Rauchen abspielen. Wenn man aber frei ist von diesen inneren Kämpfen, von der Abwehr und von den Selbstrechtfertigungen. Wenn man den alten Kampf erkennt und ehrlich gegen sich selbst ist, dann geht es schon: Dann will man wirklich und: hört auf.

Er wird plötzlich noch heftiger, alle Gehemmtheit und Steifheit sind weg, das Reden ist flüssig wie noch nie. Er ist hinter seiner seelischen Barrikade hervorgekommen: Sehen Sie: Mit meinem Hausarzt habe ich früher auf dem Balkon eine Zigarette zusammen geraucht. Dann hat der aufgehört zu rauchen. Und jetzt, nach einem Jahr! Jetzt raucht er wieder! Er schaut mich feindlich triumphierend an.

Ich freue mich, was er aber nicht weiss. Denn jetzt spielt sich gerade in diesem Augeblick die Trotzreaktion als Übertragung live innerhalb der therapeutischen Beziehung ab. Wenn wir jetzt über das reden, was sich emotional zwischen uns abspielt, dann entwickelt sich ein Gefühlsdialog. Das was allen Überzeugungsversuchen bisher gefehlt hat!

Mh, was passiert eigentlich gerade zwischen uns?

Eigentlich habe ich Sie gemeint.

Wie meinen Sie das?

Sie haben mich doch angegriffen!

Bitte?

«Wenn man will, dann kann man», das haben Sie doch gemeint! Und das hat mich geärgert! Da habe ich innerlich zu Ihnen gesagt: «Du hast einen Bauch, nimm erst einmal ab, und dann komm und predige mir, das Rauchen aufzuhören!» Sie sind freundlich. Ich bin anständig. Also habe ich Ihnen das, in das Beispiel von meinem Hausarzt verpackt, erzählt. Das war aber gegen Sie gerichtet.

Danke, Ihre Offenheit habe ich immer für unsere Gespräche gewünscht. Man spürte ja die Wut in Ihnen. Sie sind oft wie ein Auto, bei dem man gleichzeitig Vollgas gibt und bremst.

Mh.

Haben Sie diesen Jähzorn einmal zu zähmen versucht?

Ja, als ich dann anfing uf dem Beruf zu arbeiten. So kann man sich ja nicht bei Kunden benehmen.

Aber die Wutanfälle hat man trotzdem immer noch.

Genau.

Und dann sind Sie «anständig» geblieben, obwohl Sie innerlich schon «unanständig», also wütend, geworden sind.

Ja, genau!

Merken Sie die Logik?

Wie?

Sie haben mir ja meinen Bauch vorgeworfen, haben mich abgewertet.

Klar, Sie haben mich doch angegriffen!

Eben, und jetzt müssen Sie das gut verstehen lernen: Ich habe Sie nämlich gar nicht angegriffen.

Sicher doch!

Lassen wir uns Zeit, das zu verstehen. Ich bin froh, dass das Gespräch jetzt so verläuft. Das habe ich mir schon lange gewünscht. Jetzt werden wir einen Ausweg finden. Die Sache ist doch: Wir können uns angegriffen fühlen, obwohl der andere es gut meint. Wie bei ihrer Frau: Sie ist in grosser Sorge und will, dass Sie aufhören: Sie fühlen sich doch auch von ihr angegriffen!

Kann sein.

Und dann wird der gleiche Ablauf eintreten.

Stimmt: Ich rede nicht, weil ich wütend bin, die Wut aber nicht voll herauslassen will, denn ich will ein Netter sein.

Aber das tiefere Problem ist: Man empfindet Wut auf etwa, was nicht existiert, nämlich auf einen, vermeintlichen, Angriff. Sie haben die Fürsorge Ihrer Frau, die gerne noch ein Leben mit Ihnen leben will, die Sie liebt, sie ist ja gerne mit Ihnen zusammen, die haben Sie falsch interpretiert, im Gefühl. Im Herzen haben Sie als Angriff empfunden, was Fürsorge war.

Er schaut gross. Mh.

Bei mir auch: Ich habe nur gesagt, dass es einen Weg heraus gibt: Aber nur wenn man sich auf die Schliche kommt und dadurch frei wird, dann geht es.

Aber Ihr Satz! «Wenn man will, dann kann man.» haben Sie gesagt!

Dem Satz «Man kann, wenn man will», fehlt ein Gedanke. Ich habe doch gesagt: Man muss erst einmal den Willen befreien von dem inneren Kampf, von der Wut, von dem Sich-angegriffen-fühlen. Sie leben, als wären sie im Krieg.

Ja, das stimmt.

Solange Sie sich immer in Feindesland fühlen, schalten Sie logischerweise auf Wut und Trotz, wenn Sie meinen, dass man Sie erniedrigen will. In dem Zustand, können Sie nicht frei wollen, sondern reagieren reflexartig. Wenn dieser Kampf und dieser Trotz aufhören, dann geht es schon. Dann kann man, wenn man will, zu rauchen aufhören.

Mh.

Sehen Sie, da ist auch die Verbindung zwischen Gefühl und Körper. Wenn man so, wie Sie es tun, immer Angriffe erlebt, wo keine sind, und dann mit Wut und Ärger auf diesen vermeintlichen Angriff reagiert, dann lebt man immer in einer seelischen Anspannung. Diese überträgt sich auf den Körper,  unter anderem auf Ihr Herz. Egal, ob eine Gefahr eingebildet oder real ist: Wir reagieren darauf mit Angst oder Wut oder beidem. Wir nennen das «Bereitstellungsreaktion».[5] Sie kommt in Gang, wenn Gefahr droht. Das dient der Lebenserhaltung. Das haben alle Tiere auch. Ohne diese wäre das Leben nicht möglich. Also: Sie haben das in der Hand, ob Sie weiterhin, freundliche Ratschläge als Angriff erleben wollen. Oder ob Sie, wenn Sie wieder eine Wut bekommen, sich an unser heutiges Gespräch erinnern und ihren Verstand einschalten und sich fragen: He, was tust Du? Wo ist der Angriff?

Im nächsten Gespräch sitzt ein «neuer Mensch» vor mir. Er tritt spontan in einen Dialog ein. Er habe, berichtet er, nach dem letzten Gespräch angefangen zu lernen, mit seiner Frau zu reden, ohne empfindlich zu reagieren. Es gehe nicht schlecht. Wenn er sich ärgere, dann verstecke er es nicht mehr, weil er ein «Netter» sein müsse, sondern sage es ihr einfach – versteht sich anständig, dass ihn etwas geärgert habe. Er ärgere sich vor allem nicht mehr so über sich und lehne sich dafür ab, wenn er schlechte Gefühle habe, und schweige dann nicht mehr, sondern rede. Es sei ein neues Gefühl, dass er sich nicht zurückzuziehen brauche und dadurch die Beziehung nicht breche, wenn er sich ärgere und das auch noch sage! Es falle ihm nun auf, wenn er sich selbst ablehne, und dann könne er sich wieder schneller beruhigen.

Er habe ja gewusst, dass «alle» recht gehabt hätten mit dem Rauchen und dem Essen und seiner Lebensführung. Aber das zuzugeben habe sein Stolz nicht zugelassen. Deshalb sein Kampf. Nun könne er sich zum erstenmal mit seinen Gefühlen auseinandersetzen. Natürlich wolle er leben undseine Frau behalten. Das mit dem Stolz und dem Alles-besser-wissen, sei irgendwie nicht mehr so wichtig …

Der jahrelange Widerstandwar gefallen, und der Weg wurde frei für die vertieftere therapeutische Arbeit. Herr Z hatte sich nach diesem Gespräch zum Mitspielen entschlossen, sowohl mit mir als auch mit den behandelnden Ärzten. Vor allem liess er sich auch auf eine Korrektur seines risikohaften Lebensstils ein. Sehr zur Erleichterung seiner Frau und seiner Kinder. Die Ehe war gerettet.

Was war geschehen? Um trotzder Abwehr eine Vertrauensbeziehung aufbauen zu können, ohne die keine Überwindung des Widerstands möglich war, galt es, die Beziehungsgestaltung von Herrn Z mit freischwebender Aufmerksamkeitzu beobachten, um die Dynamik seiner kämpferischen Übertragung zu verstehen. Dazu war eine wohlwollende, gleichwertige Haltung nötig, die verstehen will, ohne auf den neurotischen Kampfversuchen von Herrn Z einzugehen.

Dieses Vorgehen, wo es gelingt, führt im allgemeinen dazu, dass die (alten) konflikthaften Verhaltensweisen, die der Ratsuchende auf die Beziehung zum Therapeuten überträgt, nicht zu der Beziehung passen, die der Therapeut anbietet und die der Ratsuchende nicht erwartet und die ihm ungewohnt ist. Der Therapeut reagiert emotional nicht so, wie der Ratsuchende dies erwartet, ja fürchtet und worauf er, wie im Falle von Herrn Z, nicht zuletzt schon vorher ängstlich kämpferisch eingestellt ist. Die emotionale Haltung des Ratsuchenden läuft nun sozusagen ins Leere, hat ihren Sinn verloren, vergleichbar einer Art einseitigem Schattenboxen. Der nicht zu überschätzende Wert dieses Vorgangs besteht darin, dass der Ratsuchende, meist zum ersten Mal in seinem Leben, gefühlsmässig erlebt, dass andere Menschen anders mit ihm umgehen, als er erwartet, und dass er auch mit Menschen anders als gewohnt umgehen kann.

Es nützt also nichts, solchen Menschen Ratschläge zu erteilen, sie zu belehren, sich zu bemühen oder, wenn sie nicht tun, was sie nach Lehrbuch tun sollten, zu streiten oder zu zwingen. «Der Patient muss fühlen, was er versteht, sonst könnte man ihn auch durch ein Lehrbuch heilen»,[6] hat Franz Alexander dazu einmal gesagt.

Das therapeutische Ziel besteht nicht in rationalen Überzeugungsversuchen, sondern darin, dass der Ratsuchende einen alten Gefühlskonflikt, den er für unlösbar gehalten hat, durch die Beziehung zu seinem Therapeuten überwindet, dass sein Ich durch diese korrigierende emotionale Erfahrung stärker wird und er mit mehr Selbstsicherheit Lebensaufgaben, denen er zuvor ausgewichen ist, erfolgreich(er) lösen lernt. Die korrigierende emotionale Erfahrung imHier und Jetztmuss zwingend stattfinden, damit der Ratsuchende wirklich tiefgreifend einsieht, dass er heute nicht mehr so fühlen und handeln musswie als abhängiges Kind gegenüber früherenBeziehungsspersonen.[7] Dieser Faktor ist der bedeutendste heilende Faktor einer psychodynamisch orientierten Therapie.[8]

 

Anmerkungen

 

[1]     Adler 2015
[2]     Vgl. Alexander 1950
[3]     Es handelt sich um die wörtliche Abschrift einer Tonaufnahme, die mit Erlaubnise von Herrn Z erstellt wurde. Die Unenbenheiten der gesprochenen Sprache, wie zum Beispiel Wiederholungen, wurden sanft geglättet.
[4]     Vgl. Uexküll und Cannon 1975
[5]     Vgl. Cannon 1975
[6]     Alexander, 1950, 411
[7]     Vgl.Alexander & French 1946
[8]     Kaiser 1974, S. 100-105, vor allem S. 106; vgl. auch: Alexander 1946; Heigl, & Triebel 1977; Kächele 2005

 

Literatur

 

Adler, Alfred. Sinn des Lebens. In: Witte, Karl Heinz (Hg.). Alfred Adler Studienausgabe, Band 6. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, S. 23-176 [EA 1933]

Alexander, Franz Gabriel. Analyse der therapeutischen Faktoren in der Psychoanalytischen Behandlung. In: Psyche, 1950, Band 4, S. 401-416

Alexander, Franz Gabriel & French, Thomas M. et al.Psychoanalytic Therapy: Principles and Application. New York: Ronald Press 1946

Cannon, Walter B. Wut, Hunger, Angst und Schmerz: eine Physiologie der Emotionen. München/Berlin/Wien: Urban und Schwarzenberg 1975

Heigl, F. S. & Triebel, A. Lernvorgänge in psychoanalytischer Therapie. Die Technik der Bestätigung. Eine empirische Untersuchung. Bern/Stuttgart: Huber 1977

Kächele, Horst. Korrigierende emotionale Erfahrungen – ein Lehr- und Lernprozess. Plenarvortrag am 13. April 2005 im Rahmen der 55. Lindauer Psychotherapiewochen2005 (URL: www.Lptw.de)

Kaiser, Annemarie. Das Gemeinschaftsgefühl. Entstehung und Bedeutung für die menschliche Entwicklung. Eine Darstellung wichtiger Befunde aus der modernen Psychologie. Dissertation Universität Zürich 1974

Leising, Daniel. Veränderungen interpersonal-affektiver Schemata im Verlauf psychoanalytischer Langzeitbehandlungen. Dissertation Ruprecht-Karls-Universi­tät Heidelberg 2002

Uexküll, Thure von. Einleitung. In: Cannon, Walter B. Wut, Hunger, Angst und Schmerz: eine Physiologie der Emotionen. München/Berlin/Wien: Urban und Schwarzenberg 1975

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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