Hoffnung geben können in schweren Zeiten, helfen können, wo man lebt und gefragt ist – aber wie? «Wie wichtig es ist, auch noch etwas anderes wahrzunehmen als Kanonengedonner.»

Vortrag, gehalten am 24. März 2017 im Begegnungshaus «Brücke» der St. Lukasgemeinde zu Leipzig Moritz Nestor


Hoffnung geben können in schweren Zeiten, helfen können, wo man lebt und gefragt ist – aber wie? «Wie wichtig es ist, auch noch etwas anderes wahrzunehmen als Kanonengedonner.»


 

Wir haben uns letztes Jahr, als wir hier waren, anhand der Forschungen der Entwicklungspsychologin Emmy Werner Gedanken darüber gemacht, dass nicht alle Menschen mit schlechter Kindheit und/oder Jugend notwendigerweise auch ein weiteres schlechtes Lebensschicksal haben müssen. Menschen sind keine Marionetten eines wie auch immer gearteten Schicksals. Viele Kinder entwickeln trotz oder gerade wegen schlechter Umstände ungeahnte Kräfte zum Leben, wenn sie aus wertvollen Vertrauens-Beziehungen Kraft zur Überwindung von Schwierigkeiten ziehen können. Darüber hinaus kann es für sie ungemein stärkend sein und ihnen Hoffnung für ganze Leben geben, wenn sie möglichst früh lernen, etwas zu leisten und Verantwortung zu übernehmen. Das kann die Sorge für kleinere oder grössere Geschwister sein, das kann ein Amt in Jugendgruppen sein, ein Amt in der Schule, oder in der Gemeinde. Überhaupt rücken damit die Bedeutung von Vereinen und die Mitarbeit in der politischen Selbstverwaltung in den Gemeinden in den Mittelpunkt. Gerade sie können zu einer Art «Nacherziehung» beitragen, welche den Mängeln des bisherigen Erziehungsganges entgegenwirken können. Solche widerstandsfähigen Kinder, das ist interessant, sind in einem gewissen Sinn ruhiger. Sie lassen sich weniger schnell aus dem seelischen Gleichgewicht bringen, können offener auf andere zugehen und können sich schneller Unterstützung holen. Und oft bekommen sie gerade dafür von Gleichaltrigen wiederum Anerkennung.

Sie haben uns, lieber Herr Gevers, als wir Sie fragten, was wir dieses Jahr machen sollten, berichtet, in welchem bedrückenden Zustand junge Menschen sind, denen Sie helfen möchten. Nur schon die Sprache: Gewalt, Sexismus, Verrohung … Die Sprache des Zeitgeistes unserer Gesellschaft. Das soziale Elend Ihres Viertels ist ein Spiegel unserer Welt, die Krieg führt. In unseren Gesellschaften ist Krieg: sozialer, medialer Krieg. Krieg für manche ums Überleben – in einem der reichsten Länder der Erde!

Also: Was sollen wir ganz konkret tun, wenn Kinder sich schon früh asozial, sexistisch und vieles mehr verhalten, dass man fast verzweifeln möchte. Wenn sie ausleben, was ihnen unsere Zeit an kranken Vorbildern für ihr sowieso geschwächtes Selbstwertgefühl anbietet? Was brauchen Helfer da? Reichen Mut, Entschlossenheit und Empörung über „die Gesellschaft“? Wie kann man Liebe und Hoffnung gerade in unserer Zeit vermitteln? Wie kann man „Schicksalsgefährte sein in dürftiger Zeit“?

Ich habe in den letzten Monaten immer wieder Anläufe zu einem Vortrag für heute Abend gemacht. Immer blieb ich unzufrieden. Dann brachte mich meine Frau auf ein Idee.

In ihrem wunderbaren Buch mit dem Titel «Lass von dir hören, deine Anna» beschreibt die 1932 geborene kanadische Schriftstellerin Jean Little das Schicksal eines deutschen Mädchens namens Anna, deren Familie einige Jahre vor dem drohenden Zweiten Weltkrieg nach Kanada ausgewandert ist. An einem Tag im November 1939 wird an der Schule, wie jedes Jahr, des Waffenstillstands am Ende des Ersten Weltkrieges gedacht. Aber dieser Tag ist etwas Besonderes, denn nun ist wieder Krieg. Eine Schülerin trägt das Gedicht «In Flanders Fields» vor, das Anna wie jedes kanadische Kind auswendig kann. Der kanadische Sanitätsoffizier John Alexander McCrae hat es geschrieben, nachdem am zweiten Mai 1915 bei Ypern an der Westfront sein bester Freund gefallen ist. Unter anderem hört er darin durch den Kanonendonner hindurch den Gesang von Lerchen. Nach dem Gedichtvortrag werden die Namen der  im Weltkrieg gefallenen Schüler verlesen und jemand bläst eine bewegende Melodie auf dem Horn. Die kleine Deutsche Anna kennt keinen der kanadischen Toten, aber ihr tut es in der Seele weh, dass die jungen Männer sterben mussten. Bestimmt hätten sie genauso gerne weitergelebt wie Anna jetzt, denkt sie. Und nun hält der Schulleiter eine bewegende Rede. Über diese Rede des Schulleiters möchte ich heute mit Ihnen nachdenken.

«“Wem von euch ist aufgefallen, dass der Dichter inmitten einer blutigen, schrecklichen Schlacht den Gesang der Lerchen hören konnte? Nur schwach, aber sie haben dennoch tapfer gesungen. In gewisser Weise ist das genau der Punkt, über den ich mit euch sprechen will, nämlich wie wichtig es ist, auch noch etwas anderes wahrzunehmen als Kanonengedonner. Der Krieg ist eine Zeit der Verzweiflung und der Angst, der Einsamkeit und des Verlustes. Bisher sind noch nicht viele von uns damit konfrontiert worden, aber bis dieser Krieg zuende geht, werden viele von uns mit tragischen Ereignissen in Berührung gekommen sein. Es ist durchaus möglich, dass einige von euch zum Waffendienst gerufen werden. Und ihr alle werdet von Hass, Gewalt und Morden hören. Einige stehen vielleicht jetzt schon unter einer besonderen Anspannung – diejenigen unter euch, die in Grossbritannien oder auf dem europäischen Festland Verwandte haben. …

Ihr werdet schneller erwachsen werden müssen als alle Schüler, die ich bisher an dieser Schule gehabt habe. Uns stehen schwere Zeiten bevor, und ihr seid keine  Kinder mehr, die vom Schmerz verschont bleiben, vom Kummer abgeschirmt werden.“ … Er spricht mit uns, als ob es wirklich auf uns ankäme, dachte Anna.

„Aber ihr habt [fährt der Schulleiter fort] uns anderen in dieser Zeit der Not etwas Besonderes zu geben. Ihr habt euch euren Glauben bewahrt, euer Vertrauen. Bei einem Erweckungsgottesdienst habe ich einmal einen Prediger gehört, der sagte: ‚Glauben heisst, den Vogel singen zu hören, bevor das Ei ausgebrütet ist.’ Das ist eine so vollkommene Definition, dass ich sie nie vergessen habe.

Ein solches Vertrauen setzen Lehrer in ihre Schüler, sonst können sie nicht unterrichten. Sie sehen ein viel versprechendes Talent – manchmal auch dann, wenn sonst niemand es sehen kann – und im Vertrauen darauf strengen sie sich immer wieder von neuem an, um das erahnte Talent ans Licht zu bringen.  Es gibt viele Menschen, die an etwas glauben.

Aber ich meine, dass ihr zur ganzen Welt Vertrauen haben müsst. In den kommenden Monaten wird sie uns hart und grausam erscheinen und viele von uns werden die Hoffnung aufgeben. Ihr aber, mit euren jungen Augen und dem klaren Blick, müsst tiefer sehen. Ihr müsst an dem Glauben festhalten, dass es irgendwo das Gute gibt, Schönheit, Freude, Liebe. Wenn ihr darauf stösst, gebt uns etwas davon ab.

Für mich ist die Welt das unausgebrütete Ei. Ältere Menschen, die vom Leid verbittert sind, werden euch sagen, dass die Welt durch und durch schlecht ist und dass es sich nicht lohnt, sie retten zu wollen. Aber ihr müsst die Welt wärmen, wie die Vogelmutter ihre Eier wärmt. Wärmt sie zum Leben und zur Liebe zurück. Es ist äusserst wichtig, dass ihr jungen Menschen die Vögel singen hört.

Denn wenn diese Welt auseinanderbricht, wird die neue Welt euch gehören. Und euer Glaube an sie und das Vertrauen in euch selbst werden die Zukunft gestalten und darüber entscheiden, ob es den Gesang noch gibt. Ich kann das nur schlecht in Worte fassen, aber denkt an … den Satz … ‚Glauben heisst, den Vogel singen zu hören, bevor das Ei ausgebrütet ist.’ Es liegt an euch, das Vertrauen zu bewahren … und dem Gesang zu lauschen.“ …

Zusammen mit den anderen ging Anna hinaus. Ihr war zu Mute, als hätte sie gerade eine gewaltige Entdeckung gemacht, als könnte sie endlich verstehen, warum sie gerade jetzt lebte, heute, in diesem Augenblick.»

Ist es nicht ein nachdenklich machender Satz: „den Vogel singen hören, bevor das Ei ausgebrütet ist.“ Für uns als Helfer darf der Mensch nie nur so sein, wie wir ihn sehen im ersten Augenblick, mit dem zufälligen, zeitgebundenen Blick. Wir müssen, um ihn wirklich zu sehen – bevor der Vogel ausgebrütet ist – , auf den Menschen zugehen und müssen lernen, mit dem „Herzen zu sehen“, nicht nur mit dem zufälligen Blick. Jeder Mensch hat das Recht, dass man sich an seinem Leben beteiligt. Diese geteilte Welt, auf die hat er ein Recht. Menschliches Leben ist immer ein geteiltes Leben. Die menschliche Welt ist immer eine geteilte Welt. Wenn ich diese Welt mit den anderen teile, dann sehe ich den anderen auch anders.

Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, erwähnt irgendwo folgendes Beispiel: Wenn Sie in eine Schulklasse kommen und Sie sehen den Lehrer auf der Wandtafel sitzen, halten Sie ihn für verrückt. Wenn Sie aber die Klapperschlange am Boden sehen, dann sind Sie selbst auch sehr schnell auf der Wandtafel. Der Blick auf die Situation ändert das Verständnis und dadurch Gefühl. Und so ändert sich auch unser Gefühl, wenn ich den anderen, den Hilfesuchenden nicht nur mit dem zufälligen Blick, dem ersten Blick begegne, sondern den Vogel eben singen höre, bevor er ausgebrütet ist, die Möglichkeiten, die Chancen, die auch er hat, sehen.

Wenn der Rektor die Lehrer in seiner Rede erwähnt – ein solches Vertrauen, sagt er ja, setzten Lehrer in ihre Schüler, sonst könnten sie nicht unterrichten -, dann meint er damit eigentlich jeden, jeden der mit Menschen arbeitet, der fördern will, der erziehen und der bilden will. Ein beeindruckendes Beispiel dazu hat der Philosoph Karl Jaspers geschildert. Er war zeitlebens krank und hatte einen wunderbaren Arzt namens Fraenkel. Ihn beschreibt er folgendermassen:

«In Fraenkel habe ich nicht nur den für mein Leben wohltätigen Arzt gefunden. Sein Dasein wurde mir zur Grunderfahrung des Arztseins überhaupt … . Es scheint mir, als ob er bei seinem Eingehen auf den einzelnen Patienten eine unerhörte Verwandlungsfähigkeit besass. Mit seiner Seele … lebte er im anderen, als ob er es selbst sei, jedoch mit dem Plus [also Vorteil im Gegensatz zum Patienten, MN] eines klaren, realistischen Verstandes, der weiter blickte als der Kranke, dem er helfen wollte. Er vermochte in der dem jeweiligen Patienten eigentümlichen Welt mit deren Bedürfnissen, Wertschätzungen und Zielen zu leben, als ob er einen Augenblick ganz damit identisch würde. Jedem einzelnen konnte er sich geben … Er hatte einen grossen Stil, wie er … eintauchte in die Mannigfaltigkeit der Welt, überall mit seiner lebendigen Anteilnahme folgte und sich die Weite unbefangener Wertungsmöglichkeiten offenhielt. … Seine Verwandlungsfähigkeit hatte ihren Antrieb in einer verschwendeten Güte des Herzens.»[1]

Diese «verschwendete Güte des Herzens» ist gemeint, wenn wir dem anderen Menschen nicht nur mit dem zufälligen Alltagsblick begegnen, sondern ihn auch mit dem Herzen erkennen und: das Herz auch in ihm erkennen.

Der Rektor hat den Kindern in seiner Ansprache eine Urszene vor Augen gestellt: Wenn ich den Vogel im Ei singen hören will, dann ist ja damit gemeint, dass wir Menschen, wenn wir auf die Welt kommen, erst Menschen werden müssen, dass wir Menschen gerade das nicht „festgestellte“ Wesen sind. Am antiken Tempel des Apoll zu Delphi war der Spruch zu lesen: «Gnothi Seautón» – «Erkenne dich selbst». Selbsterkenntnis soll Basis sein für alles sinnvolle Denken über Gott und die Welt. Das heisst, wir Menschen werden erst zu dem, der wir sind. «Kein Mensch ist, er wird.» Für uns ist das Leben eine Aufgabe. Und die Grundaufgabe darin ist, dass wir Mensch werden und nicht Unmensch.

Ich trage bei meiner Geburt diese Möglichkeit, Mensch zu werden, in mir. Die Aufgabe unserer Gesellschaft, meiner Eltern, von uns als Eltern, von jedem von uns, ist es, diese in uns  angelegten Möglichkeiten zum Blühen zu bringen. In diesem Sinn ist das Leben für uns Menschen immer eine Aufgabe, diese Möglichkeit zum Leben zu erwecken, zu bilden.

Dieses Ziel kann der Mensch nicht alleine erreichen. Weder als Angehöriger der Familie, noch als Gemeinde, noch als Kultur. Immer ist es eine gemeinsame Arbeit. Schon das Kind tastet sich in dieses unbekannte Leben hinein, nach vorwärts, in der Beziehung zu seinen Eltern. Es macht seine Erfahrungen, und jede Erfahrung ist wieder ein Schritt, ein Schluss für den nächsten Schritt, ein Grund für die nächste Erfahrung. So bildet sich allmählich, in der Beziehung zwischen den Eltern und ihrem Kind ein ganz charakteristischer individueller Lebensstil, ein charakteristischer Lebensstil wie ich dieses Leben meistern kann. Er ist Ausdruck der Gemeinschaft zwischen Kind und Eltern. Daran ist das Kind selbst mit einer eigenständigen schöpferischen Kraft, „Künstler an sich selber“, hat einmal jemand gesagt. Es ist immer ausgerichtet auf die menschliche Beziehung und seine Menschwerdung ist ein Teil dieser Beziehung. Da drin liegt etwas, was ein Vorbild ist für uns Helfer.

Dieses Kind verzweifelt nie. Dieses Kind fängt an zu laufen, dieses Kind fängt an zu sprechen. Es geht auf seine Eltern zu, nimmt Beziehung zu ihnen auf, identifiziert isch mit ihnen. Man muss es ihm nicht ankommandieren. Man muss es ihm nicht anerziehen, es macht es von alleine, denn das ist in seiner Sozialnatur angelegt, und es will leben. Es ist nie immer glücklich, sondern es scheitert und lernt dazu, es scheitert und lernt dazu. Es verzweifelt an seinem Scheitern nicht.

Eigentlich ist das ein gutes Bild dafür, wer wir sein sollten als Helfer: Wir müssen lernen mit dem Scheitern zu leben. Das Scheitern darf uns nicht erschrecken. Nur Verrückte oder Berauschte, hat jemand einmal bemerkt, seien immer glücklich. Aber es liegt eine tiefe Wahrheit darin: Niemand hat uns in diesem Leben einen Rosengarten versprochen von ewigem Wohlbehütet-sein, Wohlstand, kultureller Ferne. Niemand hat uns ein unpolitisches Leben geschenkt. Es gehört ja gerade zu der geistigen Krankheit unserer Zeit, dass viele Menschen ihr Leben verschwenden an diese Ziele von ewiger Jugend, Sorglosigkeit, von Endlich-keine-Schwierigkeiten mehr haben. Viele Menschen leiden heute unter der Sehnsucht, das Leben möge sie doch einmal grenzenlos verwöhnen, einen Zustand bereithalten, wo alles Leiden verschwindet, ewige Jugend und Schönheit herrschen etc.

«Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.» hat Albert Camus gesagt.

Wir Menschen schreiten, das macht das gesunde kraftvolle Leben aus, von Scheitern zu Scheitern weiter. Und nur so kommen wir vorwärts. Wehe, wir vermeiden das Scheitern. Wenn uns das Scheitern schreckt, dann haben wir uns als Menschen zu wenig begriffen. Albert Camus sagt in seinem Sisyphos: «Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen.» Und dann sagt er erstaunlicherweise: Wir sollten uns diesen Menschen Sisyphos – der den Stein immer wieder auf den Berggipfel rollt, und der Stein rollt wieder hinunter, und er rollt ihn wieder nach oben, und der Stein rollt wieder zurück, das ist Sisyphus aus der griechischen Sage – wir sollten uns diesen Menschen als einen glücklichen Menschen vorstellen. Denn er repräsentiert unser Leben, das uns ganz gehört, wenn wir den Stein wieder und wieder wälzen. Es wird nie eine Welt eintreten ohne Probleme. Es wäre eine Welt ohne Hoffnung.

Hoffen heisst also nicht, Optimist zu sein oder «seine Träume zu leben», sondern Hoffen heisst: einen begründeten Realismus zu verfolgen. Eine «gelehrte Hoffnung», wie sie daher Ernst Bloch nennt. Ich habe wissenschaftliche, realistische und daher gute Gründe, warum ich den Vogel im Ei schon singen höre. Denn ich kenne das Ei und ich kenne den Vogel – kenne ihre Natur. Und ich weiss daher, was möglich ist. Die Natur des Volgel, die ich erforscht habe, die ich kenne, sie enthält ja diese Möglichkeiten des Vogels zu singen. Und daher kann ich ihn singen hörten, ob wohl er es noch gar nicht kann. Das ist ein Bild für uns Menschen auch: Ich weiss, was möglich ist in dem kleinen Kind, denn ich weiss, was ein Menschenkind ist, was seine Natur ist, was es für Möglichkeiten mit zur Welt bringt. Im Kleinkind, das sich tastend in der unbekannten Welt einen Weg durchs Leben sucht, sehe ich, was möglich ist, wohin es gelangen kann: Ein Liebender, auf der Seite des Lebens stehend. Und wenn das Kind Fehler macht, die dieses Ziel, – eben das Singen des Vogels im Ei – zu verhindern drohen, dann korrigiere ich diese Kinderfehler, weil ich es sein Ziel erreichen lassen will. Darum setze ich meine ganze Kraft hinein es zu erziehen. Sonst wird aus dem Kind nichts.

Das führt mich zu dem nächsten Gedanken: Dass ich diese Aufgabe habe, das Leben zu lernen, dass wir lernen müssen, Mensch zu sein, das geht nur durch den Menschen. Wir können nur Mensch werden durch unsere Mitmenschen. Dieses vereinzelte Leben, was in unserer Gesellschaft als Ideal hochgehalten wird, ist eigentlich der menschliche Notfall. Es ist ein Kennzeichen von Irrsinn, dass die Menschen isoliert leben. Die Formen schwerer psychischer Erkrankung sind Formen von isoliertem Leben. Es gehört existentiell zur seelischen Gesundheit, dass der Mensch in Frieden mit seinen Mitmenschen und auch mit sich selbst leben kann. Robinson war ein Unglück, und auch er war sehr angewiesen auf seinen Freitag, hat einmal jemand bemerkt. Ohne die Bruchstücke der Kultur, die Robinson ans Land gerettet hat, hätte er nicht überleben können.

Das Natürlichste, – das gilt auch für unsere Zeit und gerade für unsere Zeit – das Natürlichste dieses Lebens als Mensch ist der Lehrer. Der Lehrer im weitesten Sinn des Wortes. Wissen, können, erfahren, Werte, Weisheit, Lehren usw. den anderen weiterzugeben, das ist das Menschlichste, was man sich denken kann. Ohne das gibt es kein menschliches Leben. Das fängt an mit den ersten Lehrern, den Eltern, mit den ersten Menschen, mit denen wir uns identifizieren und die wir als Lehrer lieben und durch deren Liebe wir ins Leben eingeführt werden. Sie sind die ersten Menschen, denen wir begegnen, mit denen wir so innig zusammenkleben, wie mit niemandem sonst später. Sie sind die ersten Vertreter der Gattung Mensch, die diese Aufgabe, Mensch zu werden, so hoffen wir als Kinder, uns gut und richtig vorleben. Sie ermöglichen eben das Allermenschlichste: Beobachtungslernen durch Identifikation von den anderen. Der grosse humanistische Pädagoge Comenius wusste schon: Das Vertrauen und das Grundwohlwollen des Lehrers in den Schüler ist der erste Schritt zum Lernen.

Das ganze Leben ist ein Sinnbild für diesen Vorgang, nämlich das Vertrauen. Dazu gehört das Grund-Wohlwollen des Lehrers, und dass ich durch dieses Vertrauen lerne, dass Lernen mit dem Vertrauen zum Mitmenschen beginnt. Das muss ich dem Kind nicht anerziehen. Das bringt das Kind mit auf die Welt. Wir müssen es nicht sozial machen, sondern wir müssen seine „weltoffenen“ sozialen Anlagen in die richtige Richtung, in die soziale Richtung eben, lenken.

Für uns Helfer heisst das, dass wir wahrscheinlich immer die Wirkung unserer Persönlichkeit, unserer Person auf den Mitmenschen zu wenig einschätzen. Dass wir diese nicht hoch genug, um es anders zu formulieren, nicht hoch genug einschätzen können. Was den anderen, dem ich helfen möchte, das Kind, den Jugendlichen, den Schüler usw. seelisch „hält“, das ist meine ungeteilte Aufmerksamkeit, meine bedingungslose Zuwendung. Nicht: „Ich liebe Dich, wenn Du das und das machst“, sondern auf den anderen zugehen können mit einer Offenheit als Mitmensch die keine Bedingung stellt, die sehr wohl Gewalt abwehrt, die sehr wohl führt, aber nicht in dem Sinne, dass sie das Menschsein unter Bedingungen stellt. Nicht der Vater, der Lehrer, der das Kind für seine Anerkennung missbraucht, sondern der das Kind, den Nächsten zu seinem Menschsein führen kann. Das ist eine Hilfe zur Selbsthilfe.

Das heisst, ich muss mir als Helfer bewusst werden, wodurch wir Menschen überhaupt leben. Das ist durch unsere Lehrer. Durch unsere Lehrer bekommt unser Leben eine Geschichte und ist nicht nur einfach ein Punkt in der Zeit, der wieder verschwindet. Durch unsere Lehrer ist unser Leben etwas, was Teil eines grossen Stromes der Menschheitsgeschichte ist. Das sind wir, in diesem Strom. Das ist meine Identität. Jeder Mensch und jedes Kulturgut, jedes Volk hat diese Geschichte und damit seine eigene Identität. Die Kultur, in der ich aufwachse als Kind, ist nicht aus dem Nichts gekommen. Ihre Sprache, ihre Schrift, ihre Sitten und Traditionen, haben eine Geschichte. Aus irgendeinem unbekannten Dunkel sind sie zu dem heutigen Zustand geworden. Erfunden hat das alle die kulturelle Gemeinschaft. Es gibt keinen Erfinder der Sprache. Die Frage würde uns komisch erscheinen, wenn wir sie stellen würden. Im Zusammenleben über Hunderte oder Tausende von Jahren hinweg hat der Mensch nicht nur Häuser, Kleidung, Nahrung, Lebensstile, sondern alles geschaffen, womit er sich identifizieren kann. Damit auch die Sprache. Durch die Sprache hindurch schafft er alles, lebt er.

So hat mein eigenes Leben, das Leben des Kindes, das ich war, das Leben von uns allen eine Geschichte. Es ist eine Art Brückenbau in Unbekanntes hin. Aber nicht ziellos, sondern immer getragen von Hoffnung. Diese Hoffnung konzentriert sich immer darauf, dass wir es doch schaffen Unzulänglichkeiten zu überwinden, Leiden zu überwinden, Missstände zu überwinden. Das gehört zutiefst zu uns Menschen, dass wir uns unfertig fühlen und überwinden wollen. Mensch sein heisst überhaupt, sich in dem Sinn minderwertig zu fühlen und nach Überwindung zu streben. Das Leben selbst ist diese Kraft, die nach Überwindung sucht. Erst wenn das aufhört, erleiden wir den Tod.

Das heisst, in jedem unserer auch noch so verwahrlosten Kinder, an denen wir die Sünden unserer verwahrlosten Gesellschaft mit Schrecken erkennen, lebt irgendwo dieses Überwindenwollen, lebt der Vogel, den wir schon im Ei singen hören können. Das müssen wir suchen. Das ist nicht einfach.

Aber in der Aktivität des Kindes, auch in der negativen Aktivität des Kindes, in seinem Ehrgeiz und in seinem falsch gelenkten Ehrgeiz, in seinem Kampf um Geltung, in seinem Kampf um Grösser-sein-wollen steckt irgendwo etwas wo es noch nach vorne greifen will, noch nicht resigniert hat. In ihm ist immer noch ein Kampf um den eignen Wert. Im prahlerischen Ehrgeiz „Ich bin der Grösste“, steckt immer noch etwas von „Ich möchte leben, ich möchte anders leben.“ An dem kommen wir nicht vorbei, denn wir haben diese Gesellschaft und damit diese Kinder verwahrlosen lassen. Wir, jetzt nicht persönlich, aber wir sind Teil dieses Prozesses. Wir haben zugeschaut. Ich muss mich auch mit dem identifizieren. Ich kann mich nicht distanzieren von meiner Kultur und sagen: „Die Anderen waren es. Die Väter haben Hitler gemacht, und ich habe damit nichts zu tun.“

Wir können nicht verfluchen, was die Geschichte gemacht hat, sondern immer muss, das ist Teil dieser Hoffnung, immer muss die nächste Generation die Fehler der Vorfahren übernehmen und es versuchen, doch besser zu machen. Das ist das Gesetz der Wirklichkeit, und wir haben nur diese eine Wirklichkeit.

Darin steckt im Grunde das, was die menschliche Kultur und die menschliche Geschichte, was unser ganzes Leben immer nach vorne treibt. Der arbeitende Mensch, der schaffende Mensch, der hoffende und liebende Mensch, der das Gegebene doch umbilden will, der doch das Jetzt überwinden will. Am Anfang ist es dieses kleine Kind, das mehr sein will und das sich mit dem Gegebenen, dem Unfertigen seines kleinen Zustandes nicht zufrieden gibt, diese kleine Person, die dadurch Mitgestalter seiner eigenen Erziehung wird. Herder hat den Menschen daher eine «Kunst an sich» genannt.

Der Mensch ist eben nicht allein der arbeitende, schaffende, gestaltende Mensch, sondern auch der Mensch, der neu- und umbauen will, der revidieren will, was unfertig, leidend, dürftig ihm erscheint. Der sich nicht zufrieden gibt mit dem bisher Erreichten. Der auch revoltiert gegen das Unmenschliche, weil er den unfertigen Menschen darin erkennt – eben gerade weil er weiss, weil er Blochs «gelehrte Hoffnung» hat, dass der Vogel singen könnte, wenn er denn endlich aus dem Ei käme.

Dieses seine Unfertigkeiten und sein Noch-nicht-Können überwindende Kind sucht nach seinem Ziel, bis es dieser Erwachsene ist, der Mitgestalter werden und sein will am immer unfertigen Leben. Zur Hoffnung gehört auch, dass der Mensch Fehler bemerkt und aus ihnen lernt, indem er korrigiert, was er und/oder andere zuvor getan. Kann man sich als Gleichnis dafür etwas Besseres vorstellen als ein Kind, das einen Ball zu hüfen bringen will: Nach unzähligen Versuchen, während es immer wieder seine Handhaltung und die Heftigkeit und Frequenz seiner Schläge dem Hüpfen des Balls anpasst, klappt es allmählich – und es strahlt, und es probiert das über unzählige Fehlschläge doch Gelernte pausenlos weiter aus. Freudig erregt lebt es seine neu gewonnene Kraft ganz. Seine Hoffnung hat es nicht getrogen. Das gilt für das ganze Leben: Indem der Mensch korrigiert, will das Bild sagen, «überholt» er immer die Gegebenheiten, die er zuvor selbst geschaffen hat. Diese Verantwortung dafür, ob er überholt passiv wird, ist immer gegeben. Es steckt auch in jedem passiven Hinnehmen des Elends ein Stück Aktivität.

 

In Friedrich Schillers Gedicht „Hoffnung“ heisst es:

Es reden und träumen die Menschen viel
Von bessern künftigen Tagen,
Nach einem glücklichen goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen.
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung!

Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling begeistert ihr Zauberschein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben,
Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf,
Noch am Grabe pflanzt er – die Hoffnung auf.

Es ist kein leerer schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Toren;
Im Herzen kündet es laut sich an,
Zu was Besserm sind wir geboren!
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.

 

Alles Leben will leben. Leben trägt in sich den Willen zum Leben – auch und gerade in Zeiten, die einen manchmal durchaus verzweifeln lassen können – und auch über den Tod hinaus auf einen fernen Punkt einer besseren Menschheit hin. „Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das Leben will“, schrieb Albert Schweitzer.

 

Sub spezie aeternitatis

Wir müssen als Menschen, und das gilt für den Helfer insbesondere, wissen, dass wir das Leben, dass wir das was ein Mensch sein kann, was die Menschheit überhaupt sein kann, nicht alleine verwirklichen können. Ohne liebende Eltern kann das Kind nicht Mensch werden, am Du rankt sich das Ich zum Erwachsenen empor. Ohne gegenseitige Hilft und Solidarität können weder der Einzelne, noch die Familie, noch der Staat, noch die schützende Kultur, noch die ganze Menschheit nicht in Frieden und Gerechtigkeit irgendwo leben.

Es ist so etwas wie eine Utopie, die sich mit diesen Gedanken entfaltet. Nämlich, wenn ich mir die Menschheit denke, als ob sie ewig wäre, dann weiss ich, dass ich Teil dieses grossen Geschichtsstroms bin, von dem aus der Vergangenheit in die Zukunft hinein gearbeitet wird, und die unendlich vielen Leistungen meiner Vorfahren haben mich empfangen als ich zur Welt kam. Sie haben mir ins Leben geholfen und ohne sie wäre ich nicht der, der ich jetzt bin. Das habe ich entgegen genommen und habe es mir sehr gern gefallen lassen, zu Recht. Also, sehe und fühle ich, ich muss es fast fühlen, eine grosse Dankbarkeit und zu der ist jeder Mensch von Natur aus fähig. Dass ich etwas zurückgeben will, dass ich es tun will wie meine Vorfahren für mich etwas taten. Dass ich nämlich meinen Teil dazu beitrage, dass kommende Generationen, als ob die Menschheit ewig wäre, einmal besser haben sollen. Auch, wenn ich es nicht erleben werde, habe ich nicht auch die Früchte der Samenkörner ernten können und dürfen, die meine Vorfahren gelegt haben. In Ehrfurcht vor der Zeit die es dafür gebraucht hat, weiss ich dann aber auch, dass wir uns nicht einbilden können das schwerste Problem der Menschen in einer Generation lösen zu können, nämlich, dass wir uns besser verstehen.

Das heisst aber, wir müssen lernen, – und ist das Wichtigste und nur dann können wir begründet hoffen, wenn wir uns mit der Unzulänglichkeit des Lebens mit unserer Verletzlichkeit, mit der Zerbrechlichkeit des Lebens versöhnen. Der Kampf um Gipfel verleiht nur dem ungeahnte Kräfte, um in Camus Bild zu bleiben, der damit versöhnt ist, dass der Stein wieder hinunterrollt, sodass er ihn wieder nach oben rollen muss, und zwar gerne. Denn er weiss, dass das Leben eine nie endende Aufgabe ist und noch viele Steine dem bereit hält, der im Vollbesitz des Lebens ist, seines einmaligen, unwiederbringlichen Lebens.

Wenn ich dem Kind, dem anderen, diese Kraft einflössen will, dann muss ich sie bewusst vorleben können. Dann lebe ich etwas, was das schönste Vorbild und die grösste Kraft für den anderen ist: Dass ich mich vom Scheitern nicht abschrecken lasse und immer nach Möglichkeiten suche, obwohl ich scheitere, obwohl die Unzulänglichkeit unser Leben prägt, denn ich kann die Unzulänglichkeit und Zerbrechlichkeit des Lebens aushalten und suche trotzdem nach neuen Lösungen: Der nächste Stein wird wieder nach oben gewälzt. Ich sage trotzdem Ja zum Leben.

Nun mag jemand einwenden: «Das ist ja alles schön und gut, was Du da redest, aber unsere Welt sieht anders aus.» Dabei erkennt er aber nicht, dass er jetzt etwas tut, was die Propaganda will, nämlich, dass er Ohnmacht ausströmt. Mit diesem Pessimismus bin ich Teil der Macht geworden, denn Macht ist beides: Die da oben und wir da unten. Dieses Zusammenspiel, indem ich es erkenne, bin ich schon nicht mehr pessimistisch, sondern ich staune plötzlich: „Wie kommt das? Ich leide unter diesen Verhältnissen, ich leide, wenn ich diese Kinder erlebe, weil ich mit dem Herzen erkenne, was der Vogel im Ei sein kann, wenn er aus dem Ei schlüpft. Und plötzlich lebe ich selbst, was diese Kinder ausstrahlen, diese gleiche Ohnmacht. Das kann doch nicht sein.“

Das ist die erste befreiende Tat in mir. Ich erkenne, dass die Ohnmacht nicht meine Ohnmacht ist, dass das auch nicht die Ohnmacht dieser Kinder ist; sondern, dass die Ohnmacht diese Kinder und mich in Bann hält. Dann entsteht die innere Freiheit, nämlich, dass der Mensch es in der Hand hat, ob er diese Ohnmacht zulässt, oder ob er die reale Welt sucht, sie anstrebt, ob er Krieg führt. Daher kommt die feste Überzeugung: Dieses Kind muss nicht so sein.

Der pessimistische Hinweis darauf, dass unsere Welt „halt so ist“, ist allein ein Hinweis auf uns selbst, auf unseren Zustand. Denn diesen haben wir zustande gebracht. Es liegt vor uns als Aufgabe: Korrigieren wir, was wir können. Was wirklich möglich ist, das wird erst in späteren Generationen dann wirklich zum Blühen kommen.

Das heisst, wir Helfer, wir müssen ins Zentrum unserer Tätigkeit, das An-uns-Arbeiten stellen. Wer andere leben lehren will, muss leben können: Aber man kann nicht leben, sondern muss leben lernen. Das muss er vor«machen» können. Versöhnt mit aller Unzulänglichkeit und Schwäche, aber er muss es vormachen, und zwar mit dem sicheren Gefühl: So geht’s, wenn du auf Widerstand stösst, suchen wir Lösungen. In unserem Planen und in unserem Hoffen ist immer etwas Ungewisses und nicht mathematisch Berechenbares. Zukunft ist immer ungewiss. Und diese Ungewissheit ist kein Problem, sondern Herausforderung

Kennzeichen des Lebens ist die Zielgerichtetheit, Finalität. Sie unterscheidet uns vom Stein. Wir irren, werden schwach, sind eitel und leichtgläubig, wankelmütig und betrügen uns gerne selbst. Unser Seelenleben ist oft nicht in Ordnung. Wir müssen es immer in Ordnung bringen. Wir müssen lernen, Beziehungen zu gestalten.

Wir können nur leben, wenn wir ein Ziel haben. Wir dürfen aber das Rätsel von uns Menschen und die Lösung für unsere Gegenwart nicht in der Ferne suchen: Was soll kommen? Wir müssen in der Gegenwart suchen. Im Hier und Jetzt haben wir blinde Flecken. In ihnen liegt die Zukunft. In ihnen, hat Bloch gesagt, da «gärt es», da «ist etwas los». Wir müssen sehen, dort in diesem gärenden blinden Fleck, den wir nicht sehen, den wir aber sehen lernen können, darin liegt die Zukunft. Denn dort ist etwas, was nicht sein soll.

Dieses Kind vor mir, das so zappelig, gewalttätig und unruhig ist, das kann doch nicht das Ende des Lebens sein. Es «gärt» doch dort in diesem Kind etwas anderes noch – ich höre den Vogel im Ei singen. Es kann es nicht lösen. Ich muss mit ihm zusammen ihm helfen, es zu lösen. Mit dieser Hoffnung setze ich den Prozess in Gang, um den es dem Hoffenden geht: Dieser «blinde Fleck» muss gelöst werden. Und dann erkenne ich mit dem Herzen und will mit dem Herzen und fühle mit dem Herzen: Dieses Leben ist nicht verloren. Aber es ist auch noch nicht gewonnen. Wir treten dann aber in einen Prozess, in eine Entwicklung ein, wo wir Helfer immer der letzte Akt sind, denn wir stehen unmittelbar an seiner vordersten Front: Es gilt dieses Leben zu retten. Alles Helfen von uns, dreht sich immer darum, zu suchen, was fehlt, was noch nicht ist, aber was möglich ist. Das ist Himmel und Hölle zugleich, Versagen, Scheitern, alles ist darin möglich.

Und zu dieser Hoffnung gehört, dass sie enttäuscht werden kann. Ja, sie muss sogar enttäuscht werden. Hoffnung ist kein schaler Optimismus. Hoffnung ist immer überlagert und umlagert von der Gefahr, dass es auch anders kommen kann. Denn die Zukunft ist nicht sicher berechenbar, sie ist immer in der Schwebe. Damit müssen wir zufrieden sein. Wäre sie es, brauchten und könnten wir nicht hoffen. Wir brauchten kaum Zuversicht. Dann wäre die Menschheit aber langweilig.

Da die Zukunft immer in der Schwebe ist, drängt uns die Hoffnung, die schlechten Möglichkeiten zu «verriegeln», hat es Bloch genannt, und die guten zu befördern. Das ist aber nie zuende. Solange es Menschen gibt, sind wir immer Schiffer, die in ein unbekanntes Land fahren, das noch nicht besteht. Im Ozean der Möglichkeiten kommt dieses Land erst am Horizont herauf, indem der Schiffer zu ihm hin fährt. «Er ist Fahrer, Kompass und fernes Land zugleich!» Das Land ist das mitmenschliche Leben.

Wir Seefahrer können enttäuscht werden. Zur Hoffnung aber gehört, berichtigt zu werden und: dass wir uns berichtigen lassen wollen, und nicht davonlaufen von dem Berichtigtwerden. Sich berichtigen lassen kann nur, wer stark ist. Nur das «Narrenparadies», hat Bloch gesagt, lässt sich nicht berichtigen. Wir müssen erforschen, wohin es gehen soll. Das ergibt die sachlich begründete Hoffnung: Ich weiss, ich höre, wie der Vogel tönt im Ei, ich kenne ihn, denn ich kenne seine Natur. Die Illusion, das Narrenparadies kann nicht berichtigt werden. Die sachlich begründete Hoffnung kann immer berichtigt werden, denn die Fakten können überholt werden.

 

 

«Die Gesellschaft» ist schuld

 

Von «ausserhalb» der Verhältnisse, als Unbeteiligter kann man nichts wirklich kritisieren. Ich muss Mitbeteiligter sein am Leben, wenn ich helfen will. Sonst hat man es nur «sowieso schon gewusst»! Denn kritisieren kann ich das Abirren von einem Ziel nur, indem ich das Ziel erforsche: Was ist der Mensch? Und: Was könnte also dieser junge Kerl da vor mir sein? Was für Möglichkeiten liegen in ihm verborgen? Dieses Ziel muss ich suchen. Er soll auch Mensch werden können. Sein Leben hat auch mit der Hoffnung begonnen, dass er Mitmensch werde. Wo ich kein Ziel sehe, da finde ich keinen Weg. Ich muss das Ziel in mir vorwegnehmen können, dann kann ich auch eine Abirrung wahrnehmen. Und ich weiss dann, was der kleine Kerl eigentlich wollte und was er eigentlich hätte werden können. Und dann beginnt die Arbeit des hoffenden Helfers. Dieses Vorwegnehmen-können ist eine natürliche Kraft von uns Menschen. Sie ist Verbündeter des Helfers: So könnte es gehen. Diese Kraft in mir als Helfer ist wie ein Baum, an den sich der andere anlehnen und daran wachsen kann.

Das Leben verlangt von uns, dass wir uns täglich ins werdende Leben «hineinwerfen» wie der Rettungsschwimmer in die nächste Welle. Wir selbst gehören ja zu diesem werdenden Leben selbst und ertragen es nicht, und damit gerade strahlen wir Hoffnung aus, dass diese Mädchen und Buben, deren Verhalten uns so erschrecken, passiv im Meer des Lebens treiben müssen, es nicht verstehen und jämmerlich ihr nicht durchschaute Schicksal hinnehmen müssen. Hoffnung erträgt kein «Hundeleben».

Wissen, was der Mensch sein kann, das ist eine wissenschaftliche Hoffnung, eine «gelehrte Hoffnung» sagt Bloch zu recht. Diese Hoffnung überschreitet die blosse Unzufriedenheit und gibt dem Suchenden einen realen Boden: Es gibt etwas Besseres, und darum bin ich unzufrieden.

Was hat der Rektor von Annas Schule, von dem ich zu Beginn erzählte, seinen Kindern mit auf den Weg gegeben? «Lernt sehen, wie wichtig es ist, auch noch etwas anderes wahr zu nehmen als Kanonendonner.» Dieser Tagtraum ist es, den ich als Helfer durch den Kanonendonner unserer dürftigen Zeit hindurch hören muss, damit ich, obwohl ich Teil dieser dürftigen Zeit bin, «Schicksalsgefährte» unserer Kinder sein kann. Denn dann kann ich Retter und Kompass, und Weg und Ziel in einem sein. Das ist das Samenkorn für übermorgen. So, wie wir die Früchte sind der Samenkörner unserer Vorfahren und davon, was wir daraus gemacht haben. Mit dem gelehrten Tagtraum fängt es an, es folgt das Erkennen, auf dem der Entschluss folgt und dieser dängt zu Tat.

Das ist das Bewundernswerte am Menschen. Der Zeitgeist diffamiert diese Kraft, er muss es. Die Macht muss diese Kraft versuchen zu vernichten oder zu bannen, indem sie sie in Ohnmachtsgefühlen ertränkt. Der Zeitgeist diffamiert diese Kraft, schimpft sie «Helfersyndrom» und verlangt «professionelle Distanz». Aber wir Menschen sind anders. Gerade in der mitmenschlichen Nähe liegt die Kraft aller Veränderung. Mitzufühlen mit dem Herzen des anderen, mitzusehen mit seinen Augen, mitzuhören mit seinen Ohren, wenn man so will, durch den Kanonendonner unserer dürftigen Zeit hindurch.

 


[1]      Karl Jaspers (1967): Schicksal und Wille. Autobiographische Schriften. München, S. 129f. Zitiert nach: Ders.: Was ist Erziehung? Ein Lesebuch. Textauswahl und Zusammenstellung von Hermann Horn. München/Zürich: Piper 1977, Seite 374.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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