Ja zur Ethik – Nein zum Nihilismus

24. September 1993 Moritz Nestor


Ja zur Ethik – Nein zum Nihilismus


15 Jahre nach «Mut zur Erziehung»

Mut zur Ethik

Kongress vom 24.-26. Sept. 1993 in Bregen


 

Thesen 1993 zur Ethik

Ja zur Ethik – Nein zum Nihilismus

 

Erste These

Menschliches Leben ist an Werterfassung und -verwirklichung geknüpft.

Der Mensch, ein Lebewesen ohne Instinktsicherung, ist mit geistigen Fähigkeiten ausgestattet und auf ein Leben in Gemeinschaft angelegt. Auf Grund seiner Fähigkeit zur Erfassung von Zusammenhängen, prospektivem Denken und zur Anteilnahme kann er erkennen, was für das Leben gut, zuträglich und wertvoll oder schlecht ist. Es ist Grundcharakteristikum des Menschen, dass er werterfassend zur Wirklichkeit und zu sich selbst Stellung nimmt und handelnd in die Welt eingreift und sich „bildet“. Der Mensch ist vor die existentielle Aufgabe gestellt, die innere Ordnung der Wirklichkeit – ihre Wertordnung – zu erkennen und, sie verwirklichend, das Leben wahrhaft menschlich zu gestalten. In diesem Sinne ist sein Leben von Natur aus durch Aufgaben geprägt, nicht nur ein Sein, sondern stets auch ein Sollen. Es gibt einen alle Zeiten und alle Kulturkreise übergreifenden Grundwertebestand, der alles politische und soziale Handeln leitet und ohne den keine sittliche Gemeinschaft denkbar ist. Dies schliesst nicht die Toleranz gegenüber verschiedenen Überzeugungen und Religionen aus, sondern begründet sie erst. Ohne Grundrechte und -werte gibt es keine Toleranz.
Wir wenden uns gegen die Propagierung eines angeblichen „Lebens ohne Werte“ und die Zersetzung bewährter Werte. Ebenso wenden wir uns gegen einen Wertrelativismus im Sinne der Leugnung des Naturrechts.

 

 

Zweite These

Ethik muss die Unwandelbarkeit der menschlichen Natur anerkennen.

Wenn auch der Mensch in unterschiedlichen historischen und kulturellen Zusammenhängen lebt und denkt, zeichnet er sich doch auch durch eine geistige und Leibnatur aus, die allen Menschen eigen ist. Über diese Tatsache kann der Mensch nicht frei verfügen, und jeder muss sie – um nicht zu scheitern – bei seinen Wertentscheidungen anerkennen. Dieses Vorgegebene fasst man unter dem Begriff der menschlichen Natur. Zu ihrer Erkenntnis tragen verschiedene Humanwissenschaften bei, vor allem die biologische und philosophische Anthropologie, sowie jene Tiefenspychoplogie, die den Menschen als personales Wesen ansieht, und die moderne Entwicklungspsychologie. Die Erkenntnis der menschlichen Natur ermöglicht ein sinnvolles Leben.
Wir wenden uns gegen alle Auffassungen, die den Menschen als beliebig formbar ansehen und seine konstanten Wesensmerkmale leugnen. Dazu gehört insbesondere die marxistische Auffassung vom Menschen als blossem Reflex „historisch-gesellschaftlicher Verhältnisse“; die Reduktion des Menschen auf ein „System“, die Reduktion der Menschen auf ein blosses Reiz-Reaktions-Schema, die postmoderne Reduktion des Menschen auf „Sprachprodukte“ oder die Foucaultsche Entwertung des Menschen zum „Entwurf“, der keine Verantwortung für sein Handeln trägt.

 

 

Dritte These

Der Mensch ist seinem Wesen nach Person.

Jeder Mensch ist wesenhaft Person und somit Subjekt und Individualität mit der Anlage zur geistigen Entfaltung und einer aktiven und individuellen Bezogenheit auf die Mitmenschen und die Welt. Er ist im Verlauf seiner Entwicklung zunehmend verantwortlicher Gestalter seiner Persönlichkeit und seines Lebens.
Wir wenden uns gegen alle den Menschen entpersonalisierenden Auffassungen, die wie der Marxismus Personalität als „bürgerliche Kategorie“ ablehnen; ebenso gegen die Auffassung, die modernen Psychotechniken zugrunde liegt, der Mensch sei ein blosses Triebwesen und müsse, um frei zu werden, nur seine Triebe ausleben.

 

 

Vierte These

Der Mensch als Person hat Würde und Freiheit.

Die Person ist einzigartiges Wesen, das denkt, entscheidet und handelt. Personsein ist die Voraussetzung dafür, eine eigenständige Persönlichkeit zu werden, Mitmenschlichkeit zu entwickeln und Verantwortung zu übernehmen. Kraft seines personalen Wesens kommt jedem Menschen – auch dem werdenden, kranken oder behinderten – das natürliche Recht auf Achtung seiner Würde durch die Mitmenschen zu. Ursprünglich frei ist die Person, weil sie in ihren Lebensäusserungen und geistigen Reaktionen auf die Welt nicht determiniert ist. Diese Freiheit birgt die Möglichkeit, durch das Hineinwachsen in eine mitmenschliche Gemeinschaft zur selbständigen Persönlichkeit zu werden, die den Menschen als Zweck an sich selbst achtet.
Wir wenden uns gegen alle Erklärungen der Würde des Menschen als blosses Produkt äusserer Verhältnisse, insbesondere gegen die marxistische Lehre, die Würde des Menschen werde erst in einer zukünftigen Gesellschaft hergestellt. Nach diesen Auffassungen wird menschliches Leben als Mittel zum Zwecke der Durchsetzung utopischer, kollektivistischer Heilslehren verfügbar. Ihnen wurden in der Geschichte schon unzählige Menschenleben geopfert.

 

 

Fünfte These

Dem menschlichen Leben kommt das Recht auf Schutz durch die menschliche Gemeinschaft zu.

Das Leben des Menschen ist Grundlage von Person und Würde. Zu keiner Zeit in seiner Entwicklung macht der Mensch eine „vormenschliche“, „tierische“ oder „unwerte“ Phase durch.
Wir wenden uns gegen den Missbrauch der personalen Auffassung des Menschen und daraus gefolgerte Ableitungen eines angeblichen Rechts auf Tötung oder auf „selbstbestimmten Tod“, insbesondere auch gegen ethische Absegnung von Menschenversuchen mit Rauschgiftabgabe.

 

 

Sechste These

Jedem Kind kommt ein Menschenrecht auf Erziehung zu.

Jedes Kind ist auf die erzieherische Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen. Ihm kommt deshalb ein Recht auf Erziehung, geistige und sittliche Bildung zu. In der natürlichen Identifikation mit den Eltern vollzieht sich auch die Tradierung kultureller Werte. Durch den Erwerb tragender Kulturwerte und seine gelebte Stel­lungnahme zu ihnen wird der Mensch zum mündigen, selbsturteilsfähigen Mitgestalter der menschlichen Gemeinschaft. Die Eltern haben die verantwortungsvolle Aufgabe, ihre Kinder in die von ihr und den früheren Generationen entwickelten Formen des sittlichen Zusammenlebens einzuführen. Die Wertvorstellungen und Errungenschaften der Kultur werden dem Kind in einer langen Bildungs- und Erziehungsphase vermittelt. Das „Erwirb es, um es zu besitzen“ setzt die Weitergabe von Generation zu Generation voraus. Durch erzieherische Lenkung der ursprünglich unselbständigen und nur bedingt eigenständigen Person des Kindes und durch wissende Förderung der wachsenden Fähigkeiten des Kindes, das Leben sinnvoll zu gestalten, wird es zur wirklich selbständigen und verantwortungsbewussten Persönlichkeit.
Wir wenden uns gegen alle Bestrebungen, im Namen einer „neuen Freiheit“ Erziehung als „repressiv“ zu diffamieren oder abzuschaffen und gegen die Abwertung der Erziehungsaufgabe, der Familie und der Elternrolle. Wir wenden uns gegen die Auffassung, das Kind sei angeblich von Geburt an „selbständig“, und man müsse es nur „sich selbst entfalten lassen“. Dadurch werden die Kinder in Wirklichkeit im Stich gelassen und die Erziehungsverantwortung im Namen einer angeblichen „Selbstverwirklichung“ abgeschoben, beziehungsweise zugunsten eines vorgeblichen „Selbstbestimmungsrechts“ des Kindes abgelehnt. Gerade in der heutigen Zeit braucht es deshalb Mut zur Erziehung.

 

 

Siebte These

Gleichwertig sind die Menschen, weil sie alle Person sind und das gleiche Menschenrecht auf Achtung ihrer natürlichen Würde haben.

Weil jeder Mensch von Natur aus Person und damit einzigartig und Selbstzweck ist, sind alle Menschen gleichwertig und verdienen alle Menschen die gleiche Achtung ihrer Würde als Ausdruck der unverzichtbaren Achtung ihres Wertes als Mensch. Weil alle Menschen in diesem Sinne gleichwertig sind, müssen auch allen die gleichen Menschenrechte zukommen.
Wir wenden uns gegen den Missbrauch des Gleichheitsgrundsatzes, insbesondere zu ideologisch-politischen Kampfzwecken, etwa in der Antipsychiatrie oder in der gegenwärtigen Drogenlegalisierungskampagne. Dem psychisch Kranken darf sachkundige Hilfe nicht versagt werden. Drogenabhängigkeit ist weder „natürlich“ noch „fortschrittlich“. Wir wenden uns auch gegen den sozialutopischen Egalitarismus, der die Gleichwertigkeit der Menschen mit Gleichheit identifiziert und behauptet, alle seien gleich begabt, weil gleichermassen beliebig formbar. Begabung kann man nicht erzwingen. Dem Schwachen sollte geholfen werden, ohne den Stärkeren zu bremsen.

 

 

Achte These

Personalität, Subsidiarität und Solidarität sind Grundprinzipien eines dem Gemeinwohl verpflichteten menschlichen Zusammenlebens.

Das Leben in Gemeinschaft ist dem Menschen als Disposition von Natur gegeben, die konkrete Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens hingegen nicht. Alle Versuche, dem zwischenmenschlichen Leben sinnvolle Regeln zu geben, haben natürlicherweise den Sinn, Gewalt und Machtstreben zu bändigen und so die menschliche Kulturgemeinschaft vor Zerfall zu bewahren. Menschliche Gemeinschaften sind Formen gestalteten Zusammenlebens. Der Mensch ist deshalb nicht blosser Reflex eines „Systems“, sondern immer eigen­verantwortliches Einzelwesen (Personalität), existentiell abhängig von leistungsfähigen Lebensgemeinschaften (Subsidiarität) in einer auf gegenseitiger Hilfe gebauten Gesellschaft, die das Gemeinwohl als allgemeines Gut zum Ziel hat (Solidarität). Mann und Frau sind ihrem Wesen nach personal aufeinander bezogen und finden in Liebe zu einer beglückenden Gemeinschaft zusammen. Mit ihren Kindern bilden sie die Keimzelle der Gesellschaft, die Familie. In der geschützten Sphäre der Familie findet die Erziehung der heranwachsenden Generation statt.
Wir wenden uns gegen die Auffassung, die Gesellschaft sei die Ursache allen Übels, und gegen die selbstgerechte Ideologie, das Individuum habe von dieser Gesellschaft nur Rechte einzufordern und sei aller Pflichten ledig. Denn diese Auffassung entwürdigt den Menschen zum blossen Almosenempfänger und Verwaltungsobjekt und zerstört jedes Gemeinwesen. Wir wenden uns auch gegen die Auffassung, promiskuitive hetero- oder homosexuelle Lebensführung seien der Familie gleichwertige Lebensformen. Die Forderung, Gewalt als Trieb oder Bedürfnis ausleben zu müssen oder zu „dürfen“, ist unmenschlich.

 

 

Neunte These

Die Erziehung und Selbsterziehung zur Tugend durch Vorbilder übt ein in eine sittliche Lebensführung und aktive Lebensbewältigung, die den Menschen frei werden lässt.

Der zu Zusammenarbeit und Mitmenschlichkeit erzogene Mensch ist tugendhaft; er verfügt über Klugheit, Besonnenheit, Mut und Gerechtigkeit. Er übernimmt Verantwortung für sein eigenes Leben, seine Umgebung und für das Gemeinwohl. Fähig ist er zur Selbstbeherrschung und hat eine mutige Lebenshaltung. Ge­rechtigkeit bedeutet für ihn die Achtung vor der eigenen Würde und der Würde und Freiheit anderer. Die sittliche Persönlichkeit verfügt über ein ausgebildetes Gewissen. Verletzt der Mensch die Würde eines Mitmenschen, erweckt das Mitgefühl mit dem anderen ein Bedürfnis nach Wiedergutmachung und wirkt einer Wiederholung der Tat entgegen. Die sittliche Persönlichkeit gibt selbst im Leiden ihre Überzeugungen nicht preis, erhält ihre Selbstachtung und verliert die Liebe zum Menschen nicht. Untugend ist für den Menschen das der Mitmenschlichkeit entgegengesetzte Streben nach Macht und Gewalt zur Durchsetzug von Habsucht, Neid, Eifersucht, Egoismus.
Wir wenden uns gegen die Ideologie der „Selbstverwirklichung“ auf Kosten der Mitmenschen und der Gesellschaft und dagegen, menschliches Gewissen und Schuldbewusstsein seien „repressive“ Normen der Gesellschaft, die der autoritär Erzogene verinnerlicht habe, wovon man ihn „befreien“ müsse. Wir wenden uns gegen die Abwertung der Tugenden, auch gegen die Verteufelung der Sekundärtugenden, vor allem von Arbeitsbereitschaft und Leistungswille. Wir wenden uns auch gegen eine unwürdige Darstellung des Menschen in den Medien und dagegen, durch unkontrollierte Medienmacht das Prinzip der Gewaltenteilung zu brechen.

 

 

Zehnte These

Glück erwächst dem Menschen aus dem Streben nach wahrem Menschsein durch tugendhaftes Handeln und Selbstverwirklichung als Mitmensch.

Da dem Menschen das Leben ein Sollen ist, muss er im Unterschied zum Tier lernen, sein Leben zu führen. Die Tugenden sind lebensbejahende Antworten und Ideale zur Lösung dieser existentiellen Aufgabe. Sie sind nicht nur interpersonale Ordnungsprinzipien, sondern formen auch eine im Menschen etablierte Ordnung und sollen ihn zur Selbstverwirklichung als Mitmensch leiten.
Wir wenden uns gegen den modernen Hedonismus, der den Menschen als „Erlebnismaschine“ betrachtet und Glück in Form von Reizüberflutung, Nervenkitzel, Drogenrausch anpreist, als bestünde Glück in einer Folge starker Empfindungen. Wir wenden uns auch gegen eine esoterische „neue Innerlichkeit“, die den Menschen verleitet, nur in sich selbst zu starren, dem Leid gegenüber indifferent zu werden und sich von der tätigen Gestaltung des Lebens – insbesondere von der Hilfeleistung am Notleidenden – zu dispensieren.

Glück erwächst dem Menschen dort, wo er mit Ausdauer, Mut und Besonnenheit ein sittliches Ziel zu erreichen sucht, unter Umständen auch gegen äussere und innere Widerstände. Es bedeutet menschliche Genugtuung für ihn, sein und seines Nächsten Wohl zu fördern sowie die Werte des Guten, Wahren und Schönen zu verwirklichen.

Wir schliessen mit einem Zitat aus den Thesen „Mut zur Erziehung“ von 1978:
                  „Glück folgt nicht aus der Befriedigung von Ansprüchen,
                   sondern stellt im Tun des Rechten sich ein.“

Bregenz, im September 1993

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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