Der „soziale Uterus“: das Entwicklungsgeschehen während des ersten Lebensjahres
Wir kommend am heutigen Abend zum Entwicklungsgeschehen des ersten menschlichen Lebensjahres, wie Portmann es erforscht hat. Die gedanklichen Schritte hin zum Entwicklungsgeschehen des ersten Lebensjahres haben ich Ihnen an der letzten Abenden vorgetragen, und ich möchte Sie Ihnen noch kurz einmal im wesentlichen zusammenfassen.
In die Mitte seiner Betrachtungen stellt Portmann das Verhalten das ein erwachsener Mensch natürlicherweise zeigt, wenn er gesund aufwächst. Das ist das menschliche Verhalten. Den wohl bedeutendsten Unterschied zwischen Mensch und Tier finden wir in der menschlichen Freiheit, in er Möglichkeit des Menschen zum „freien Entschluß“. (59)
Der Mensch ist nicht beziehungsweise nur in sehr geringem Masse durch Instinkte in seinen Handlungen vorbestimmt. „Während beim Tier alle wesentlichen Verhaltensweisen durch Instinkte (. . .) bestimmt sind, so ist beim Menschen sogar der am meisten instinktgebundene Teil des Verhaltens, die Sexualsphäre, einer weitgehenden Freiheit der persönlichen Entscheidung offen.“
Die hoch entwickelten Lebewesen – die Säugetiere – haben bereits bedeutende Möglichkeiten der Freiheit, die wir bei nieder entwickelten Tieren noch nicht finden. Beim Menschen finden wir eine Lebensform, die in extremem Masse völlig ohne jede Instinktgrundlage existiert. Man sagt dafür auch der Mensch sei instinktreduziert. Bei ihm ist die Entwicklung der sozialen Lebensweise, die wir auch mit steigender Freiheit im Tierreich vorfinden, in der geschichtlichen Lebensform des Menschen zur höchsten Blüte gelangt.
Dies hat seine Gründe auch in der Organisation des menschlichen Gehirns: Wesentliche wichtige Funktionen sind beim Menschen in den Bereich der Grosshirnrinde verlegt, deren Grösse bei ihm im Vergleich zu den anderen Säugern gewaltig gesteigert ist. „Der relativen Schwäche der Instinktorganisation steht beim Menschen“ eine gewaltige Steigerung anderer Zentren des Grosshirns gegenüber. „Die gewaltige Steigerung der Masse der Hirnrinde (. . .) steht in Zusammenhang mit der Schwächung der Instinktorganisation.“ (61)
Das bedeutet aber, dass der Mensch zwar hilflos zur Welt kommt, hilfloser als alle anderen Tiere, aber – wach! Ein hoch entwickeltes Gehirn steht ihm zur Verfügung, das im Sozialkontakt völlig ausreift, in höchstem Masse also beeinflussbar ist durch die erzieherischen Massnahmen. Von Anfang an ist dieses Gehirn fähig all die vielfachen komplizierten Vorgänge der aktiven Beziehungsaufnahme zur Sozialwelt zu leisten, wie wir dies auch in den weiteren Abenden aus der Entwicklungspsychologie erfahren werden.
Bedeutenden Einfluss auf das Verhalten hat ebenfalls das menschliche Hormonsystem. „Aber die für das Tierleben so bezeichnende rhythmische Betätigung des“ Hormonsystems, „der regelmässige Wechsel zwischen Zeiten der Brunst und solchen geschlechtlicher Indifferenz, ist bei den höheren“ Menschenaffen „sehr locker, beim Menschen so gut wie völlig aufgehoben.“ (61) Das hat bedeutende Folgen für den Menschen, denn seine sexuellen Aktivitäten werden – da sie nicht mehr rhythmisch gehemmt werden – durchdrungen von „den stetig wirkenden anderen Motiven menschlichen Verhaltens.“ (62) Andererseits spielen dadurch sexuelle Motive im ganzen menschlichen Welterleben eine gewisse Rolle. Die menschliche Sexualität wird so zum Beziehungsproblem, und Portmann bestätigt damit auch in diesem Punkt die Sicht die ADLERsche Individualpsychologie.
Die Instinktreduziertheit des Menschen ist für seine ganze Lebensart bedeutend. Der Tatsache, dass der Mensch in seinem Verhalten so gering von instinktiven Verhaltensweise bestimmt ist, entspricht, dass „uns als Lebensraum nicht eine bestimmte Umwelt, kein bestimmter Naturausschnitt zugeordnet ist. Es gibt keine Umwelt für den Menschen, wie man sie für ein Tier meistens angeben kann: etwa die Steppe oder den Wald.“ (62)
Jedes Tier hat eine bestimmte sogenannte „Umwelt“, die es nicht verlassen kann. Sein gesamter Körperbau, seine Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten sind so gebaut, dass jede Art nur einen ganz bestimmten Teil der Welt wahrnimmt, ihn bewohnt, von ihm lebt.
Wesentlich ist nun, dass keine Tier sich in die Welt einer anderen Art eindenken oder hineinversetzen kann. Der Hund etwa lebt in einer „Hundewelt“, orientiert vor allem auch an Geruchs- eindrücken dank einer gut ausgebildeten Nase. Seine Hundewelt ist der Ausschnitt der gesamten Natur, den der Hund aufgrund seiner Wahrnehmungsfähigkeiten erkennen kann, und den er aufgrund seiner Körperorganisation bewohnen kann, und von dem er aufgrund bestimmter Körperbedingungen leben kann. In diesem Sinne nennt Protzmann tierisches Verhalten „umweltgebunden“. (63)
Der Mensch dagegen ist wesentlich weltoffen. (63) Er hat nicht eine bestimmte Umwelt als Ausschnitt der gesamten Natur als sein Lebensraum. Seine Umwelt ist die ganze Welt, neuerdings auch Teile des Kosmos. „Unserer ganzen Daseinsart entspricht es (. . .), in irgend einem von Menschen aufgesuchten Naturbereich sich eine besondere „Welt“ zu schaffen, sie aufzubauen aus Naturbeständen, die durch menschliches Tun umgeformt worden sind. Im Gegensatz zu den Veränderungen, zu denen ja auch das Tier fähig ist, (. . .) und die stets nur ein durch instinktives Schaffen umgeformtes Stück der festgelegten ‚Umwelt’ sind, erfolgt der menschliche Eingriff in freier Entscheidung.“ (62) Diese Weltoffenheit ist „ein grosses Vermögen von schöpferischem Verhalten (. . .) ein (. . .) Gut, das auch vertan (. . .) werden kann.“ (64)
Der Mensch kann sich in der ganzen Natur bewegen. Er kann sich in andere Umwelten eindenken, auch in tierische. Er hat die Fähigkeit, sich in eine andere Welt eines anderen Menschen hinein versetzen zu können. Er kann sogar durch Forschung Zugang zu jenen Bereichen erlangen, die ihm verschlossen wären, würde er nur mit seinen natürlichen Wahrnehmungsorganen versuchen in sie einzudringen zu wollen.
„Dieses ‚Kulturleben’ ist so allgemein menschlich, dass wir keine Menschengruppe finden, die im wahren Sinne des Wortes Naturmenschen wären, so wenig wie wir Naturvölker kennen, da eben Kultur im allgemeinsten Sinn dieses Wortes ein Teil der Verhaltensform jedes, auch des ‚primitivsten’ Menschen ist.“ (63)
Durch seine „weltoffene Anlage hat“ der Mensch ein ganz anderes Verhältnis zur Natur als das Tier. „Uns kann jeder noch so unscheinbare Teilbestand der Umgebung bedeutend werden (. . .) Uns kann alles in der Umgebung etwas angehen;“ (. . .) Ist doch die Forschung dauernd auf der Suche nach Unbekanntem, (. . .) während auch das aktivste unermüdlich suchende Tier immer bloss“ nach dem sucht, was es aufgrund eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeiten an Ausschnitt aus der Natur kennt. Der Mensch hat wesentlich ein Interesse an der Natur. Nebensächliches kann ihm bedeutungsvoll werden. Er dringt in die Natur ein. Das kann das Tier nicht. Sein Verhalten ist nach PORTMANN wesentlich Appetenz, also innerer Antrieb zu einem mehr oder minder starr ablaufenden Verhaltensmuster. Deshalb sollte man den Begriff der Appetenz nach Portmann auch nicht auf den Menschen anwenden.
Fehlt dieses Interesse an der Natur beim erwachsenen Tier, so macht Portmann aber eine gewisse Einschränkung. Die spielenden Jungtiere höherer Säugetiere weisen Züge von Interesse und Neugierde auf, wie wir sie sonst nur beim Menschen finden.
Eine Eigenart der Weltoffenheit ist weiter die menschliche Fähigkeit, sich Dinge vorstellen zu können, die gar nicht anwesend sind, die es eventuell gar nicht gibt, oder die er nur zur Hälfte erkennen kann und gedanklich richtig ergänzt. Was auch immer in Ansätzen von solcher Fähigkeit bei den höheren Tieren bereits vorkommt, es steht in keinem Vergleich zu dem, wozu der Mensch fähig ist.
Damit hängt eng zusammen, dass der Mensch aufgrund seiner Weltoffenheit ebenfalls dazu imstande ist, sich selbst gegenüber zu treten. „Wir können von einem gleichsam ausser uns gewählten Standpunkt aus sowohl uns selbst wie andere Objekte und Geschehnisse betrachten.“ In diesem Sinne kann der erwachsene Mensch „auch objektiv“ denken, im Gegensatz zum Tier, welches immer subjektiv wahrnimmt. Der Mensch ist also von Natur aus zur Wissenschaft angelegt. Nichts entspricht seinem Wesen mehr, als sich über die Natur ein objektives Bild zu machen.
Der Mensch „führt“ aufgrund seiner weltoffenen Anlage sein Leben. Er kann Schreiner werden, Schlosser, Lehrer, Arzt oder Psychologe. Das ist seine freie Entscheidung und nicht genetisch vorgegeben. Im Gegensatz zum Tier. Es „lebt“ sein Leben, kann es nicht bewusst führen. Der Affe kann nur immer Affe werden. Sein einziger Beruf ist Affe-Sein. Bewusst gestaltetes menschliches Leben steht also nach Portmann nicht im Gegensatz zum Leben, sondern macht im Gegenteil genau die wesentlichste Eigenart menschlichen Daseins aus.
„Umweltgebunden und instinktgesichert – so können wir in vereinfachender Kürze das Verhalten des Tieres bezeichnen. Das der Menschen mag demgegenüber weltoffen und entscheidungsfrei genannt werden.“ (66f.) Der Mensch ist dadurch nicht fei von Bindungen an die Natur gedacht, ein weiterer Irrtum, auf den Portmann hin- weist. Der Mensch ist zwar weltoffen, aber dadurch nicht aus der Natur entlassen! Die Weltoffenheit ist Bestandteil seiner Natur und er ist gerade deshalb aufs Beste in der Natur gesichert und in sie eingebunden. Wie er das ist, erkennen wir völlig, wenn wir uns das erste menschliche Lebensjahr genauer anschauen.
Das „extrauterine Erstjahr“
„Drei bedeutungsvolle Ereignisse kennzeichnen das erste Lebensjahr des Menschen: der Erwerb der aufrechten Körperhaltung, das Erlernen der eigentlichen Wortsprache und der Eintritt in die Sphäre des technischen Denkens und Handelns.“
Aufrechte Haltung
„Kein einziges Tier unter den Säugetieren erreicht seine artgemässe Haltung so wie der Mensch durch aktives Streben und erst längerer Zeit nach der Geburt.“ (70)
Bei Geburt finden wir beim noch hilflosen Menschen eine relativ weit entwickelte Organisation von Muskeln und Nerven bereit. Erst Monate nach der Geburt beginnt jedoch die endgültige Ausgestaltung des Körpers zur eigentlichen Reifeform. „Diese Ausformung aber erfolgt nicht durch einfaches Einüben“ von schon vorhandenen Muskeln und Gliedern. Es wirken hier nur dem menschlichen Organismus eigene „Akte des Strebens, Lernens und Nachahmens, während“ [und das ist wichtig!] „der Körper unter sehr auffälligen Verschiebungen im Wachstum seiner Teile sich weiter formt. Unter der Mitwirkung dieses Strebens erreicht auch der eigentliche Körperbau seine artgemässe Ausprägung. Die Wirbelsäule, die beim Neugeborenen noch fast gerade gestreckt ist, erhält erst spät“ (70f.) ihre charakteristische federnde Krümmung, die geeignet ist, den nunmehr senkrechten Körper wirklich zu stützen. „Entsprechend spät und mit bedeutenden Formprozessen nimmt auch das Becken seine typische Stellung ein.“ Erst gegen Ende des dritten Jahres haben Becken und Wirbelsäule annähernd die Form der reifen Gestalt.
Die wichtigsten Etappen beim Erwerb des aufrechten Ganges sind folgende:
2.- 3. Monat: Beherrschung der Kopfhaltung
5.- 6. Monat: Erstreben und Erreichen des Aufsitzens
6.- 8. Monat: Aufrichten des ganzen Körpers mit Hilfe der Erwachsenen und durch Stützen an Gegenständen
11.-12. Monat: erstes freies Stehen und selbständige Schritte, anschliessend rasches Erlernen des freien Stehens und Laufens
11.-13. Monat: Erlernen des Aufrichtens aus der Bauchlage
Genau genommen, lernt das Kind nicht so sehr den aufrechten Gang, sondern vielmehr das Stehen, die „aufrechte Haltung, denn diese ist das Besondere, Menschliche.“ (71) Die Schreitbewegungen selbst, also die alternierenden Bewegungen der Glieder, ist genetisch bei allen Vierfüssern gegeben. Bereits das Neugeborene macht spontan diese Bewegungen als Ausdruck eines fertig ausgebildeten Bewegungsmechanismus. 28% aller Neugeborenen etwa, „auf den Bauch gelegt, kriechen schiebend“. 16% etwa vollführen, wenn sie aufrecht gehalten werden, Schrittbewegungen. Nach etwa 14 Tage zeigen etwa 59 % die Kriechbewegung und etwa 58% die Schritte beim aufrecht Halten. Das alles geschieht ohne jegliche Übung. Im 3. bis 5. Monat verschwinden diese spontanen Bewegungen. Erst mit 9 bis 10 Monaten kriechen respektive schreiten die Kleinkinder in derselben Situation wieder. Es handelt sich damit um eine erbliche Bewegungsstruktur, die reift.
Die „Bildung eines der kennzeichnendsten Merkmale unseres Menschenwesens ist damit in eine Zeit verlegt (. . .), in der die grossen psychischen Bildungsvorgänge, die Formung unseres Welterlebens sich ereignen.“ (72) Der Umstand, dass die Beine des Säuglings relativ kurz sind, hilft mit, dass dieser besser die aufrechte Haltung lernen kann, da die ersten Stehversuche sehr erleichtert sind. Bereits „um den 5. Schwangerschaftsmonat bleibt das Wachstum der Beine hinter dem der Arme zurück.“ (72) In diesem Vorgang ist ein frühes Bremsen des Wachstums zu sehen, welches genau auf „die besondere Art des Erwerbs der aufrechten Haltung beim Menschen abgestimmt ist.“ So versteht man auch leicht die zweite Tatsache, „dass das intensive Wachstum unserer Beine nicht unmittelbar nach der Geburt,“ (. . .), „sondern erst sehr allmählich nach dem 6. Monat“ des Säuglings beginnt. „Erst beim Beginn der Stehversuche also, und ganz besonders nach dem Erwerb der aufrechten Haltung beginnen die Beine rascher zu wachsen“, (73) sodass der Säugling auf den relativ kurzen Beinen standfester üben kann, das Gleichgewicht zu halten.
Auch beim Menschen könnte sich theoretisch – bei bestimmten Tieren ist dies auch der Fall – die aufrechte Haltung im Mutterleibe schon bilden, sie tut es aber nicht, was darauf hinweist, „dass dieser Akt unserer Entwicklung auf das engste mit anderen typisch menschlichen Bildungsvorgängen verbunden ist und nur in solchem Zusammenhang voll aufgefasst werden kann.“ (73)
Der zweite dieser Vorgänge ist der Spracherwerb.
Die Sprache
Menschliche Wort- und Gebärdensprache sind nach Portmann etwas völlig anderes als alle tierischen Laute. Den tierischen Lauten entspricht beim Menschen der Schrei. Vom tierischen Laut gibt es keine evolutionäre Entwicklung zur menschlichen Sprache. Sie baut wesentlich auf Zeichen auf. In der menschlichen Sprache ist das Wort ein Träger einer Bedeutung, die der Mensch frei erfinden kann. Der tierische Laut ist Ausdruck der inneren Befindlichkeit des Tieres.
Allem Spracherwerb voraus – „erblich vorgegeben – findet sich beim Menschen die Fähigkeit zum Schreien, Brummen, Quiecken oder Schnalzen, d.h. zu sehr allgemeinen Äusserungen innerer Zustände.“
Mit dem 3. bis 4. Monat – besonders reichlich im 5. und 6. Monat beginnt das Kind zu Lallen. Dieses Lallen ist Resultat erster probender kindlicher Versuche, die Sprechmuskulatur zu betätigen und damit Laute zu erzeugen. Es entstehen eigentliche Lallmonologe, denn das Kind freut sich an seinen Fähigkeiten und übt sie und produziert so ein ganzes Arsenal von Lautgebilden, „darunter viele, die es in seiner späteren Muttersprache nie mehr verwenden wird, und dazu manche, die es dann beim Erlernen von fremden Sprachen mühsam sich wieder aneignen muss. Diese Phase mit ihrem Reichtum an Elementen enthält die Möglichkeit zum Erlernen jeder menschlichen Sprache.“ (75)
Die Nachahmung von Worten aus der Sozialumgebung, das Nachsprechen, setzt dann etwa mit 9 bis 10 Monaten ein. Dieser eigentliche Spracherwerb, der der vorhin genannten Lautproduktion folgt, ist qualitativ eine neue Stufe, denn nun beginnt die „nachkonstruierende Übernahme einer vollen, bereits bestehenden Einrichtung der Gesellschaft, ein Vorgang, der auf das innigste mit dem Sozialleben des Kindes verflochten ist.“ (76) Eindrucks- voll wird dies, wenn man das mit der Entwicklung eines Schimpansen vergleicht:
Man hat bei einem mehr als einem Jahr alten Schimpansenjungen 23 verschiedene Laute als Ausdrucksmöglichkeiten festgestellt. Alle diese Laute finden sich bei einem 7 Monate alten Kind bereits vor. Im 8. Monat ahmt das Menschenkind bereits das eine oder andere Wort eines Erwachsenen nach.
Mit 15 Monaten kann ein Kind Worte gebrauchen, um Gegenstände zu benennen. Der Schimpanse verfällt dagegen nie auf diese Nachahmung eines in seiner Umgebung regelmässig wiederkehrenden Lautes, um daraus ein sprachliches Kommunikationsmittel zu formen.
Welch ungeheurer Vorgang liegt hier verborgen! Hier, während des Spracherwerbs, also während der kleine Mensch sich im Zusammenwirken mit seiner sozialen Umwelt aktiv probierend und strebend das Mittel der Kommunikation mit seinen Artgenossen in einer langen Periode des Lernens und Reifens erwirbt – er hat sie nicht von Natur aus! – während dieser Zeit und durch das Lernen der Sprache seiner Umwelt, lernt der Mensch seine Kultur, in die er hineingeboren wird. Im Spracherwerb wird das kulturelle Wissen von einer Generation zur anderen weitergegeben. Welch’ ungeheurer, reichhaltiger und komplizierter Vorgang! Der Mensch lernt sein Verhältnis zur Welt – nichts anderes ist Kultur ja – von seiner Elterngeneration bereits mit dem Erwerb der Mittel, mit denen er später mit der Welt in Austausch treten wird. Eine bestehende Gesellschaft mit ihrer ganzen Geschichte, ihrer Tradition, ihrem Wissen, ihrem Glauben, ihrer Philosophie und Kunst, ihrer Moral, den Sitten und Gebräuchen, aber auch mit ihren Unsitten, ihren Lastern, ihren Strafen und ihrer Verwöhnung, mit ihrem Krieg, der Armut oder dem Reichtum, es gibt nichts, was in der Umwelt des Kindes zu finden wäre, das nicht auf es hinübergehen würde, und alles indem der kleine Mensch erst einmal die Mittel der sprachlichen Verständigung von seiner Kultur erlernen muss.
Einsichtiges Handeln
Kann man schon beim Spracherwerb feststellen, dass die geistigen und seelischen Vorgänge im Kind bereits weitaus reichhaltiger sind, als es sie durch die erst langsam angeeigneten Worte ausdrücken kann, so erkennt PORTMANN, dass „gleichzeitig mit der Vorbereitung zum Stehen und dem Nachsprechen der ersten Wortgebilde (. . .) sich der Übergang im Handeln von (. . .)“ reinen „Nachahmungen, die schon früh neben instinktivem Verhalten auftreten, zu eigentlich einsichtigem Handeln“ (77) vollzieht. Kennzeichnend hierfür ist, dass das Kind eine Schwelle überschreitet, wo es nun Zusammenhänge selbständig erfassen kann, die Lösung eines Problems zum Beispiel auf eine ähnliche Situation übertragen kann. Einsicht, Verstehen von Sinnzusammenhängen – die typischen Elemente im Verhalten des erwachsenen Menschen – entstehen hier. Hier schreitet das Kind vom subjektiven Verhalten zum sogenannten objektiven Verhalten fort. Es kann nun analoge Situationen erkennen, da es zur Abstraktion fähig geworden ist.
Gestalt und Verhalten als Einheit
Ontogenese
Analytisch haben wir in drei Schritten nun drei Lernbereiche unterschieden, die für das Kind gegen Ende des ersten Jahres entscheiden sind, und die das erste Jahr bestimmen. In Wirklichkeit spielt sich natürlich alles in einem Menschenleben ab. Die Trennung war nur zur genaueren Darstellung gemacht.
Das Entwicklungsgeschehen des ersten Jahres bildet eine Einheit. Nicht zufälligerweise treten die genannten drei Erscheinungen alle zur gleichen Zeit auf. Auch zeichnen sie ja verwandte Wesenszüge aus. Wichtige Gemeinsamkeiten lassen sich beobachten, wenn man sich die Entwicklung von Stehen, Sprechen und Denken anschaut.
Sowohl dem Erwerb der aufrechten Haltung als auch dem Spracherwerb geht eine beiden Vorgängen gemeinsame Entwicklung voraus: „Wir sehen aktives Streben des Kindes nach immer neuen Haltungen und Bewegungen, sowohl im Bereich des Rumpfes und der Gliedmassen als auch in dem des Kehlkopfes, der den Augen verborgen ist und der Zungenmuskulatur. Alle diese versuchenden Regungen führen nicht nur zur Befriedigung eines Bewegungsdranges, sondern zu- gleich auch zu einer intensiven Kenntnis des eigenen Körpers, zum Verfügen über die Bewegungen der Arme und Beine und die so wichtigen der kleinen Fingerchen, ebenso aber auch zur Macht über die Bewegungen der Lautorgane. So wie der Säugling im Laufe dieser unablässigen Tätigkeit seinen Körper allmählich als „sein“ erkennt und den Reichtum der Möglichkeiten des Verfügens erfaßt, erfährt er durch eigenes Tun die Möglichkeiten des Hörens selbsterzeugter Laute, von Lauten also, die auch ‚sein’ sind.“ (78)
Wie sehr, können wir nun leicht sehen, kommt diesen Probierbewegungen eine Bedeutung zu, wenn wir uns vor Augen halten, was es bedeutet, dass der Säugling im Werden seines Seelenlebens und seiner Persönlichkeit ebensolche Probierbewegungen vollzieht. Er tastet sich auch im zwischenmenschlichen Bereich suchend und probierend vorwärts. Mit jedem Akt, den das Kind bei diesen Probierbewegungen vollführt, sagt Portmann, schafft es selbst eine neue Ausgangssituation, die ganz neu ist. Sie enthält die verarbeite Erfahrung, die der Säugling aufgrund seiner vorangegangenen Probierbewegung gemacht hat. Der Säugling tastet fühlend nach seiner Sozialumgebung, auf die er ausgerichtet ist, und wie diese antwortet, wird zur Erfahrung, die er schon in seinen nächsten Tast- und Probierbewegungen wieder mit einplant. Das zwischenmenschliche Leben ist dem Säugling so eine ständige Aufgabe, an die er sich aktiv probierend heranarbeitet, und dabei die Antworten der Beziehungspersonen auf seine kindlichen Aktivitäten interpretierend zum Bild von sich und der Welt verarbeitet.
So sind die Probierbewegungen, die das Kind vollführt einmal Zeichen kindlicher Aktivität, werden zum andern aber sogleich auch „selbst Glieder des Entwicklungsvorganges, indem sie stets neue Beziehungen erzeugen, mit jedem Akt eine Ausganssituation schaffen, die ganz neu ist, die kurz vorher noch nicht bestehen konnte, und die für alles weitere Geschehen eine neue Gesamtlage hinterlässt.“ (78) Das werdende System des Nervenlebens des Kindes entwickelt sich im ersten Lebensjahr also sowohl unter organischen Reifungseinflüssen, als auch verschränkt mit den Erfahrungen des Säuglings mit der Sozialumgebung.
Wie sehr unterscheidet sich also das gleichförmige Werden im Mutterleib von diesen besonderen reichhaltigen Bedingungen des ersten Lebensjahres beim Menschen, in einer Zeit, da so wichtige „Akte der Gestaltung geschehen. Die Prozesse der Reifung (. . .) kombinieren sich bei uns in ihren wichtigsten Phasen mit den Erlebnissen“, (79) die die soziale Umgebung mit ihrer Reichhaltigkeit und Vielfalt „den bildungsfähigen Anlagen bietet.“ (79)
„So geschehen naturgesetzliche Abläufe beim Menschen im ersten Lebensjahr statt unter allgemein gültigen Bedingungen im Mutterleib bereits unter einmaligen Voraussetzungen.“ (79) Jedes menschliche Wesen ist also einmalig, da es nicht nach gleichför- migen Gesetzen im Mutterleib seine menschliche Gestalt und sein menschliches Verhalten erwirbt, sondern unter einer Kombination von Reifungsvorgängen und Einflüssen der sozialen Umgebung, durch lernendes Reifen also. Da der Mensch seine erwachsene Gestalt und sein erwachsenes Verhalten nicht fertig mit auf die Welt bringt, sondern aktiv an deren Entwicklung teilhat, ja dies wiederum auch von den Werten und Eigenarten der jeweiligen Familie und der Kultur und deren historischen Situation abhängt, in die das Kind hinein geboren wird, ist die Entwicklung eines jeden menschlichen Individuums von Natur aus immer im höchsten Masse individuell. Ein jeder Mensch ist einmalig in seinem Werden, weil er alle wesentlichen Merkmale seiner Art erst im innigen Wechselspiel mit der Sozialumgebung in lernendem Reifen erwirbt, Bedingungen, die bei keinem die gleichen sein können. „Jede“ weitere „Phase des ausserembryonalen Lebens steigert diese Einmaligkeit durch die erhöhten Möglichkeiten der Abweichungen individueller Bedingungen. So steht“ – und das ist die gewaltige Schlussfolgerung Portmanns – „bereits im ersten Lebensjahr das Lebens des Menschenkindes unter dem Gesetz des ‚Geschichtlichen’, in einer Zeit, wo der Mensch als echtes Säugetier noch unter den reinsten naturgesetzlichen Verhältnissen im Dunkel des Mutterschosses sich aus- formen müsste. Schon in diesem extraembryonalen Frühjahr geschehen neben ‚Vorgängen‘ von durchaus genereller Artung auch ungezählte ‚Ereignisse’, die einmalig sind – und wie oft schicksalsbestimmend.“ (79)
So haben wir nun gesehen, dass den Entwicklungsvorgängen des Säuglings während des ersten Jahres ein spontaner „Drang zum Probieren neuer Bewegungen“ (79) zugrundeliegt. Des weiteren ist nun dem Entstehen der aufrechten Haltung, dem Spracherwerb und dem Werden des einsichtigen Handelns gemeinsam „die hohe Bedeutung der Nachahmung von Verhaltensweisen, wie sie die Sozialumgebund bietet.“ (79) „Früh schon beginnt sie die Probierbewegungen gleichsam mit Beschlag zu belegen und ihnen die Richtung mehr oder weniger vorzuzeichnen.“ (79f.) Wir sehen also, wie der Erwerb der aufrechten Haltung, des Sprechens und Denkens „von allem Anfng an Phänomene sozialen Gepräges sind, wie sehr sie von allem Beginn an mitgestaltet werden durch die Tatsache des Sozialkontaktes. Hilfe und Anregung von Seiten der Umgebenden, eigene schöpferische Aktivität und Drang zur Nachahmung beim Kinde geben in steter unlösbarer Wechselwirkung dem Entwicklungsgange sein Gepräge, sie alle schaffen gleichermassen mit an den Merkmalen des Leibes wie an denen der Lebensart.“ (80)
Alles zusammengenommen entspricht „der einzig dem Menschen zukommende frühe Kontakt mit dem Reichtum der Welt“ (80) – so Portmanns Schlussfolgerung – der „Weltoffenheit“ der menschlichen Natur. Das Wesen des Menschen ist somit seine geschichtliche Daseinsform. Die Menschliche Gestalt, so haben die bisherigen Ausführungen Portmanns gezeigt und das typische Verhalten des Menschen, seine Weltoffenheit also, sind „unlöslich miteinander verbunden“. (81) Gestalt und Verhalten reift bei uns nicht im Mutterkörper heran. Der Mensch durchläuft entscheidende Ausbildungsphasen seines Verhaltens und seiner Gestalt in „enger Wechselwirkung von psychischen und körperlichen Geschehnissen ausserhalb des Mutterleibes.“ (81) Indem der Säugling in die Umgebung, in die er hineingeboren wurde „gleichsam hineinwächst, entsteht das Besondere der aufrechten Person und des menschlichen Welterlebens“ (81)
Was wir als von der Säugetiernorm abweichenden Geburtszustand und Jungperiode des Menschen kennengelernt haben, die sogenannte „physiologische Frühgeburt“, ist also keine Unfall der Evolution, sondern entspricht der „Tatsache des weltoffenen Wesens“ (81) des Menschen. „Das“ wiederum „entspricht dem Umstand, dass unsere Sozialwelt“ – also die konkrete Form des Zusammenlebens der Menschen – „uns nicht erblich gegeben ist, sondern aus ererbter Anlage und Kontakt mit der Wirklichkeit sich in jedem einzelnen Menschen wieder neu gestalten muss.“ (81)
Dass das Kind also zum Beispiel die Sprache seiner Kultur lernt, heisst, dass es neugierig probierend und nachahmend die Sprache der Erwachsenen als ein „vorgefundenes, reich gestaltetes Sozialinstrument“ (81) nachschaffend übernimmt. Wie bei der Sprache spielen sich auch alle anderen Bildungsvorgänge beim Säugling ab. „Unsere psychischen Anlagen“, sagt Portmann, „reifen nicht durch Selbstdifferenzierung zu den fertigen, nur geringer Nuancierungen fähigen Verhaltensweisen heran, wie wir sie von Tieren kennen, sondern erst im Kontakt mit dem reichen Inhalt der Umgebung entfalten sie sich zu der für jeden Einzelnen charakteristischen und zeitbedingten Form.“
Diese in der Natur einzigartige Entwicklungsart ist beim Menschen durch seinen Geburtszustand des sekundären Nesthockers gesichert, das heisst dadurch, „dass der Mensch zwar in einem gestaltlich wie psychisch recht weit entwickelten Zustand geboren wird, aber doch noch sehr lange vor der Reifung seiner typischen Verhaltensformen, für deren Werden so die Möglichkeit des Kontaktes mit der Umgebung eines reichen Welterlebens und der Sozialerfahrung geschaffen wird.“ (81f.)
Hierin, man ahnt es, sieht Portmann auch die Einheit von Körper, Geist und Seele begründet, die Grundlage jeder psychosomatischen Betrachtungsweise. Untrennbar sind in der Entwicklung körperlicher Merkmale psychische Entwicklungsvorgänge verwoben, ja gerade diese Verschränkung von seelischer und körperlicher Entwicklung ist die Grundlage der menschlichen Sozialnatur. „Wie oft“, schreibt PORTMANN, „wird doch der Körper nur als die materielle Grundlage betrachtet, auf der das eigentliche menschliche Dasein als weitere Möglichkeit beruhe; dieser Leib gilt als ein Gefäss des höheren Menschlichen.““Unsere Entwicklung“, schreibt Portmann, zeigt“ jedoch „einen Zusammenhang von Körperbau und Verhalten, der viel inniger ist als der von Gefäss und Inhalt. In unserem Werdegang entstehen in unlösbarer Einheit, in steter, innigster Wechselwirkung das für uns kennzeichnende Welterleben ebenso wie die uns allein auszeichnende Endgestalt“, (82) also die Gestalt des erwachsenen Menschen. Innere Prozesse des Organismus und äussere Prozesse in Beziehung zur Sozialumgebung wirken hier zusammen. Für jede Darstellung „des menschlichen Seins“, schreibt Portmann deshalb, ist es notwendig, „auf die künstliche, nur für engere Zwecke sinnvolle Trennung in natur- und geisteswissenschaftliche Betrachtungsart zu verzichten.“ (125) Dies hat Portmann sehr zu unrecht von traditionellen Biologen den Vorwurf eingetragen, er gleite in religiöse Spekulation ab, weil er nicht mehr klar zwischen Natur- und Geisteswissenschaften unterscheide.
Phylogenese
Noch einmal zurück zur Evolutionslehre, denn diese neuen Erkenntnisse Portmanns lenken den Blick auf wiederum auf die Frage, ob der Mensch in seiner Ontogenese – also der Entwicklung eines Individuums – in verkürzter Form, wie von manchen Theorien behauptet wird, die Stadien der Evolution durchläuft, um schliesslich, nach Durchlaufen eines letzten „Affenstadiums“, Mensch zu werden. Trotz der zu beobachtenden Gemeinsamkeiten zwischen der Entwicklung des menschlichen Embryos und der anderer Arten, weist Portmann darauf hin, dass sowohl beim Menschen wie bei allen anderen Tieren die Entwicklung über verwandte Entwicklungsstufen hinaus auch jeweils eine eigenständige innerhalb des Tierreiches ist. Die Annahme eines „Gesetzes der Rekapitulation von Ahnenstufen“ (84) in der Entwicklung eines Individuums besteht also nicht. Auch nicht beim Mensch. „Nur der“, schreibt Portmann, „wird die menschliche Entwicklung tiefer erfassen, der in jeder ihrer Etappen das Werden eines Menschen sieht.“ (85) Die Tatsache, dass der Mensch mit einem derart hoch entwickelten Nerven- und Sinnesleben zur Welt kommt, zwingt „den Blick in die so viel schwerer zugängliche Zeit vor der Geburt, die diesen Zustand schafft. Schon in frühen Zeiten (. . .) im Mutterkörper müssen wir Elemente annehmen, die, wenn auch unscharf, schon menschliches Sondergepräge zeigen und nicht einfach als Säugetierstufe oder in späteren Phasen als Affenstufe taxiert werden sollten.“ (84)
„Wie einem Bild der Entwurf vorausgeht,“ schreibt Portmann, „und in ersten andeutenden Linien auf dem reinen Grunde bereits das fertige Ganze in sich fasst, wenn es auch in den Einzelheiten unscharf ist (. . .) so ist auch in der Entwicklung eines Menschen die besondere Wesensart von Anfang an in entscheidenden Zügen da, ist „Menschliches“ von allem Beginn dieses Werdens vorhanden (. . .) schon das Ei in der schlichten Kugelgestalt ist nicht nur dieses sichtbar Einfache, eben eine Kugel (. . .), sondern erfüllt mit den Möglichkeiten der Menschengestalt.“ (85)
Wenn wir nun aus dem reichhaltigen Material, welches Portmann zusammengetragen hat, schöpfen, so können wir zusammenfassen sagen, dass im Lichte dieser Untersuchung die menschliche „Gestalt“, seine „Psyche“, seine „Daseinsart und Entwicklung“ (125) als ein Ganzes erscheinen. Es zeigt sich ein unlösbarer Zusammenhang zwischen individueller menschlicher Entwicklung und dem Sozialverhalten des Menschen. Das Menschenkind ist völlig in die Sozialsphäre eingegliedert und bildet darin eine Einheit mit „der Ausbildung unserer körperlichen und psychischen Menschlichkeit.“ (125) „Alle unsere Arbeitsweisen, die Sprache, das einsichtige Verhalten, aber auch die aufrechte Haltung bilden sich im Wechselspiel zwischen den erblich gegebenen Anlagen und dem bereits bestehenden Sozialwerk der Menschen.“ (125) Der Reifungsvorgang eines jeden Individuums wird also von der Sozialstruktur mitbestimmt, sagt Portmann.
Bereits im ersten Lebensjahr des Kindes ist so Tradition wirksam, „ein für die menschliche Kultur so wichtiges Mittel (. . .), die das ganze Sozialgebilde“ auf die nächste Generation „weiter gibt.“ Die Entfaltung der sozialen Anlagen beim Menschen geschieht dabei im „Zusammenwirken von erblich gegebenen“ allgemeinen sozialen Anlagen und „einmaligen, durch die Tradition des geschichtlichen Lebens bestimmten Sozialgebilden.“ (126) Diese Kultur, auf die das Kind bei seiner Geburt trifft, ist ein jeweils einmaliges Gefüge.
Gerade „in dem unlösbaren, für das Individuum endgültigen und einzigartigen Verwachsen von ererbten Anlagen und Sozialwirkung“ (127) liegt die Eigenart der „menschlichen Daseinsform“. Es besteht also zwischen dem Individuum und seiner Kultur kein natürlicher Gegensatz. Gerade das Gegenteil hat Portmann bewiesen. Das Individuum gelangt zu vollen Ausbildung aller seiner Kräfte, sein Lebens wird gerade dadurch reichhaltig, er lernt gerade deshalb die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten seiner Kultur so gut, weil er nur im Eingebettet-Sein in die menschliche Sozietät Mensch werden kann. Sein menschliches Wesen ist, dass er geschichtlich lebt, dass er Kultur schafft als seine Umwelt, die sein Leben sichert. Sein Kulturschaffen ist das menschliche an seiner Natur. Die Kultur ist in diesem Sinne seine „zweite Natur“, die er selbst als Menschheitsgeschichte immer wieder neu und einzigartig formt.
Die Grundlage menschlicher Sozietäten ist also die vertraute Welt, die der Säugling nach seiner Geburt vorfindet, die Mutter Kind-Beziehung. Sie ist das einzige, was dem Menschen als Form seiner Kultur gegeben ist. Dass er in Staaten lebt, dass er in Diktaturen lebt, dass er in Demokratien lebt oder in Oligarchien ist sein freies Werk und nicht naturgegeben.
Die Mutter-Kind-Beziehung ist so das Gründende menschlicher Kultur, und Vertrautheit in der Gruppe ist demnach die natürliche Lebensweise des Menschen. Vertrauensvolle Zuwendung ist das, was den Säugling leben, wachsen und gedeihen lässt. Er ist darauf angewiesen wie auf die Befriedigung von Hunger und Durst. Mangel an Vertrautheit also, Beziehungsmangel ist der Hungerzustand der menschlichen Seele. Diese hohe Abhängigkeit des Säuglings hat nichts schlechtes. Aus ihr kann der Mensch nicht entfliehen. Dass er auf den Gedanken kommt, dies tun zu wollen, ist schon ein Stück Pathologie. Dass der Säugling absolut abhängig von den Mitmenschen ist, lässt ihn leben lernen, und dass er lernt zu leben, beinhaltet, dass er unabhängig und selbständig wird, aber nicht getrennt von den Menschen, nicht getrennt von seiner natürlichen Umwelt, sondern im Einklang zwischen seinen individuellen Interessen und den Interessen der gesamten Menschheit.
Des Menschen natürliche Lebensform ist in diesem Sinne eine soziale oder kulturelle. In der Vertrautheit der Gruppe zu leben, ist seine Natur und damit auch sein Bedürfnis, ohne, dass darob sein Eigenwert geschmälert werden würde. Das Bedürfnis nach vollem Wechselspielt zwischen menschlicher Gemeinschaft und Individuum ist ebenso tief in seiner Natur verankert wie das Streben nach Selbstbehauptung, desgleichen das lebenslange Bedürfnis nach einer innigen Liebesbeziehung, ebenso wie die von Geburt an lebendige Ausrichtung des Kindes auf die soziale Umgebung in der Mutter-Kind-Beziehung und seine von Geburt an spielenden, im Verlauf der Entwicklung immer stärker werdenden spontanen Impulse des Strebens, der Nachahmung und des Lernens.
Jeder Mensch, sagt Portmann, reagiert von Geburt an individuell. Wie und gerade weil sein Leben von Anfang an sozial verläuft, ist es gleichzeitig von Anfang an auch immer individuelles Leben. In der sozialen Lebensweise entfaltet er sogleich nach der Geburt eine unverkennbare Eigenaktivität.
Es gibt somit auch nach Portmann keine Vererbung erworbener Eigenschaften des menschlichen Seelenlebens. Es gibt in den menschlichen Sozietäten das, was man einmal „soziale Vererbung“ genannt hat. Werte der Kultur werden durch Tradition, Erfahrung und Erziehung weitergegeben.
Der Mensch kommt aber auch nicht aus „Verabredung“, oder durch verstandesmässigen Entschluss zur Geselligkeit, sondern aus der natürlichen primären Anlage, die er mit allen höheren Tieren teilt. Vor aller Abwendung des Menschen von seinen Artgenossen, vor allem Streben nach Autonomie – was auch immer wir darunter verstehen wollen – steht die Zuwendung zum Artgenossen. „Einsiedlertum ist stets eine nachträgliche Flucht aus einer natürlichen Bindung“, sagt Portmann, „und“, fährt er fort, „wir wollen bedenken, dass jeder Robinson mindestens einen Schiffbruch nötig hatte, um glaubhaft zu sein.“
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Adolf Portmanns «Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen», Teil IV