Adolf Portmanns «Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen», Teil III

Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM, Seminar für Entwicklungspsychologie, Freitag, 16. Juni 1989 Moritz Nestor

Das erste Lebensjahr und die Weltoffenheit des Menschen

 

Verehrte Anwesend!

Wir kommen heute zum ersten Lebensjahr des Menschen, nachdem wir am letzten Freitag den Geburtszustand des Menschen diskutiert haben.

Die Bedeutung des menschlichen Erstjahres zu beurteilen erfordert nach Portmann für den Biologen auch eine Diskussion der speziellen menschlichen Lebensweise, eine Diskussion des in der Natur in dieser Form einzig dastehenden menschlichen Verhaltens. Portmann stellt damit auch eine im Grunde psychologische Frage, wenn er sich dem Problem auch auf biologischem Wege nähert. Vielleicht – ich kann das nicht beurteilen – war er sich dessen zu wenig bewusst. Er stellt jedenfalls die für einen Biologen wichtige Frage nach dem artgemässen Verhalten des Menschen. Eine eigentliche Verhaltensforschung des Menschen also, wobei wir, von menschlicher Lebensform und von menschlichem Verhalten sprechend, nie individuelles Verhalten meinen, das auch. Es bezieht sich jedoch immer auf das Verhalten, welches der Gattung Mensch, also allen Individuen, eigentümlich ist, denn diese untersuchen wir ja. Wie wir analog dazu ja auch davon sprechen, dass alle Individuen einer bestimmten Wespenart (Nester aus mit Speichel vermischtem zerkauten Holz kugelförmige Nester herstellen), also dies ein typisches Verhalten dieser Tierart ist.

Immer – das letzte wie dieses Mal – bewegen wir uns dabei in dem Gedankengebäude Adolf Portmanns, auch wenn dies nicht ausdrücklich als Zitat gekennzeichnet ist.

 

 

Die ‚physiologische Frühgeburt‘

 

Zunächst aber doch noch einiges zum Stichwort: Der Mensch als „Frühgeburt“. Portmannn spricht von ‚physiologischer Frühgeburt’. Er meint damit aber keinen Unfall der Evolution, der sich an die Umweltbedingungen gerade hat anpassen können, sondern folgendes:

Wir haben das letzte Mal gehört, wie der neugeborene Mensch dem Zoologen als „hilfloser Nestflüchter“ erscheint. Bedeutend daran ist, dass dies alle Regeln einer typischen Säugetierentwicklung durchbricht. Obwohl der Mensch ein Säugetier ist, unterscheidet er sich doch fundamental von seinen Verwandten in der eigenständigen Art seines Geburtszustandes und der nachgeburtlichen Entwicklung.

Würde der menschliche Geburtszustand den Regeln der Säugetiere folgen, ergäbe sich etwa folgendes Bild: Ein Neugeborenes, „das in den Proportionen seines Körpers dem Erwachsenen ähnlich ist, das die artgemässe aufrechte Körperhaltung einnehmen kann und das wenigstens über die ersten Elemente unseres Beziehungsmittels, der Wortsprache (und Gebärdensprache) verfügt. Es gibt dieses gerade theoretisch geforderte Stadium in der Tat in unserer Entwicklung: etwa ein Jahr nach der Geburt wird diese Stufe erreicht. Nach einem Jahr erlangt der Mensch den Ausbildungsgrad, den ein seiner Art entsprechendes echtes Säugetier zur Zeit der Geburt verwirklichen müsste.“

Wenn der Mensch also, was seinen Geburtszustand betrifft, auch den Regeln der Säugetiere folgen, dann müsste die menschliche Schwangerschaft etwa 21 Monate dauern, also über ein Jahr länger sein, als sie tatsächlich ist. Erinnern Sie sich jetzt noch daran, dass Frühgeburten bereits ab dem 7. Schwangerschaftsmonat lebensfähig sind, erstaunt dieser eigenartige menschliche Geburtszustand.

Was wir eben theoretisch für den Menschen gefordert haben, kommt in der Natur auch tatsächlich vor. Der indische Elefant zum Beispiel hat eine Tragzeit von 21-22 Monaten, bringt ein Junges von etwa einem Meter Schulterhöhe und ca. 100 kg Körpergewicht zur Welt, welches sehr beweglich ist, dem Alttier an Gestalt ähnlich. Umso mehr müssen wir die starke Abweichung des Menschen von der Regel der Säugetiere als eigenständige Art der Entwicklung auffassen.

Dieser Sachverhalt des menschlichen Geburtszustandes als einer „Art „physiologischer“, d.h. normalisierter Frühgeburt“, war als solches zu Portmanns Zeiten bereits bekannt. Was man bis zu ihm hin aber noch nicht erkannt hatte,  war die  Sonderstellung  die dem menschlichen Geburtszustand und seiner nachgeburtlichen Entwicklung während des ersten Lebensjahres unter den Säugetieren zukommt, und von der wir hier die ganze Zeit sprechen.

Von Frühgeburt also im Portmannschen Sinne zu sprechen heisst, die Tatsache ins Auge zu fassen, dass der Mensch in der Reihe der Säugetiere eine Sonderstellung einnimmt, die dadurch gekennzeichnet ist, dass er einen Geburtszustand aufweist, der völlig verschieden von der Regel der Säuger ist. Im Vergleich zu diesen – den Säugern – kommt der Mensch ein Jahr „zu früh“ auf die Welt.

Nachdem wir nun diese Verschiedenheit erkannt haben, wollen wir die Gesetzmässigkeiten der nachgeburtlichen Entwicklung  des Menschen erforschen.

Wir haben – wie Sie sicher erinnern können – vor zwei Freitagen gehört, wie enorm gross die Zunahme des Körpergewichts im ersten menschlichen Lebensjahr ist. Das steht im Gegensatz zu der nach dem ersten Jahr langsamen körperlichen Entwicklung, die für den Menschen besonders typisch ist. Würde man den Verlauf des Wachstums von der Geburt bis in die Pubertät hinein zeichnerisch darstellen, entstünde zunächst eine kurze steile Gerade, die das schnelle Wachstum von der Geburt bis zum Ende des ersten Lebensjahres etwa darstellt. Von Geburt bis zum ersten Lebensjahr also steiler Anstieg. Am Ende des ersten Lebensjahres bekäme die Gerade aber dann einen deutlichen Knick. Die „erste Streckung“ ist ausgelaufen. Sie erinnern sich: die „erste Streckung“ ist jenes starke Körperwachstum, das etwa mit dem 8. Schwangerschaftsmonat einsetzt und über die Geburt hinaus, aber langsam abnehmend, bis etwa Ende des ersten Lebensjahres anhält.

Bei Eins hat unsere Gerade also einen deutlichen Knick. Sie wird sehr viel flacher und steigt nun viel langsamer aber kontinuierlich bis in die Pubertät. „Diese scharfe Gliederung unserer Wachstumskurve in zwei Abschnitte findet sich bei keinem Nestflüchter, auch nicht bei den Menschenaffen.“ Bei den Menschenaffen, den nächsten Verwandten des Menschen, verläuft das Körperwachstum kontinuierlich von der Geburt bis zum Erreichen des erwachsenen Gewichts. Es weist keinen Knick, wie beim Menschen auf.

Das Wachstum des ersten steilen Stückes bis zum Ende des ersten Lebensjahres verläuft beim Menschen eigentlich noch nach Gesetzen des vorgeburtlichen Entwicklung. Dieses Wachstum gehört ja zur „ersten Streckung“. Sie beginnt unter Bedingungen des Mutterleibes etwa mit dem 8. Schwangerschaftsmonat und erstreckt sich – wie wir schon gesagt haben – unter sozialen Bedingungen bis Ende des ersten Jahres etwa. Unter sozialen Bedingungen also setzt sich nach der Geburt unseres Neugeborenen ein ursprünglich embryonalen Gesetzmässigkeiten folgendes Wachstum etwa ein Jahr lang noch fort. Ein eigentlich „sozialer Uterus“ also.

Sie ahnen den faszinierenden Zusammenhang: Vorhin hatten wir schon festgestellt, dass der Mensch, würde er sich nach der Regel der Säuger entwickeln, etwa mit Ende des ersten Jahres zur Welt kommen müsste. Das erste Massenwachstum, haben wir dann gesehen, erreicht nach Abschluss des ersten Jahres etwa sein Ende. Genau dort macht die Wachstumskurve einen scharfen Knick. Jetzt beginnt genau jene Wachstumsentwicklung, die wir zum Beispiel bei den Menschenaffen beobachten können.

Dass beim Menschen das Wachstum des ersten Jahres – wenn auch schon im Sozialkontakt – noch nach Gesetzen des Mutterleibes verläuft, galt vor Portmann einigen Autoren als Zeichen dafür, dass der Mensch in dieser Phase eine Art vormenschliches Stadium durchmache. Frühe  Stadien der Entwicklung des Neugeborenen galten deshalb oft als „tierische“, und die Schwelle vom ersten zum zweiten Lebensjahr wurde gerade deshalb oft als Schwelle zur eigentlichen Menschwerdung bezeichnet. Manche sagten sogar, hier verlasse der Mensch das „Schimpansenstadium“! Die Erforschung des ersten Menschenjahres galt deshalb in der Biologie lange als zoologischer Beitrag zur Menschenkunde/Anthropologie.

Soweit einmal das Kapitel „Frühgeburt“. Die Frage ist ja immer noch: Was bedeutet das alles für die Lebensart des Menschen? Dazu müssen wir wieder ein Kapitel vergleichende Morphologie betreiben.

 


 

Wir haben schon das letzte Mal unter den Säugetieren eine Ordnungsskala erstellt, bei der wir die Arten nach dem Grad der Gehirnentwicklung aufreihten. Dies wollen wir heute ebenfalls tun: Stellen sie sich also alle Tiere – nicht nur die Säugetiere – geordnet nach dem Grad des Entwicklung ihres Gehirnes. Je höher wir steigen, desto komplizierter sind die Gehirne, die wir treffen. Ganz oben finden wir den Menschen mit dem am weitesten entwickelten Gehirn in der Natur.

Die Jungperiode der Tiere und die Art der Brutpflege sind sehr verschieden voneinander, aber sie sind nicht zufällig über die Arten verstreut, sondern es finden sich bestimmte Gesetzmässigkeiten: Vergleicht man die Entwicklungsart der Neugeborenen verschiedenen Tierarten, lässt sich ein bestimmter Zusammenhang zwischen 1. der Reichhaltigkeit des Gehirns, 2. der Art der Jungperiode und 3. der Brutpflege entdecken. Also kurz und etwas vereinfacht gesagt: Die Brutpflege hängt in der Natur auf eine bestimmte Weise von der Grösse des Gehirns ab.

Wir beginnen deshalb also bei den niederen Tieren und schreiten zu den höheren fort, um schliesslich zum Menschen zu gelangen. Wir erkennen dabei drei grosse Gruppen von Tierarten: Die Kriechtiere, die niedrigsten Tiere, die Vögel als etwas höher entwickelte Tiere, dann die Säugetiere, zu denen wir den Menschen rechnen. Verfolgen wir nun in dieser Ordnung den fortschreitendem Kompliziertheitsgrad der Gehirne, so erkennen wir in der Aufwärtsentwicklung drei grosse Sprünge:

 

 

A KRIECHTIERE

 

Alle echte Nestflüchter: Ein verkleinertes Abbild der Reifeform schlüpft aus dem Ei. In den meisten Fällen sieht das Jungtier die Eltern nie. Sie bringen ein fertiges, unkompliziertes Gehirn mit auf die Welt.

 

 

B VÖGEL

 

Vögel mit niederer Hirnentwicklung sind Nestflüchter, sie kommen der Entwicklungsweise der Kriechtiere sehr nahe.

Innerhalb der Vögel geschieht ein erster Sprung. Vögel mit hoher Hirnentwicklung sind Nesthocker und zeigen eine auffällig hohe Abhängigkeit der Jungen von den Alttieren. Hier findet sich oft eine Reduktion der Nachkommenzahl auf ein Junges. Die  hohe Ausbildung des Gehirns erfordert eine lange Bildungsperiode dieses Organs, während der Körper – der ja vom Wachstum des Gehirns abhängt – noch hilflos ist. Dies wird durch die ausgedehnte Brutpflege durch die Alttiere ausgeglichen. Die Eltern erfüllen Funktionen, zu denen das Jungtier noch nicht fähig ist.

Eine ganz ähnliche „Lösung“ finden wir unter den Säugetieren.

 

 

C SÄUGETIERE

 

Säuger mit niederer Hirnentwicklung sind Nesthocker: Sie kommen der Entwicklungsform der Vögel mit hoher Hirnentwicklung sehr nahe.

Säuger mit hoher Hirnentwicklung sind „abhängige Nestflüchter“ noch höher ausgebildetes Hirn, d.h. noch längere Entwicklungszeit. Dies wird aber nicht erreicht durch eine nochmalige Verlängerung der Brutpflege, wie bei den Vögeln, sondern durch eine verlängerte Schwangerschaft. Hier zeigt sich wieder ein neuer Zusammenhang von Hirnentwicklung und Brutpflege. Die Lösung für die ranghöchsten Säuger ist „eine beträchtlich verlängerte Embryonalzeit im Mutterkörper, die so weit gesteigert wird, dass der Geburtszustand bei sehr ranghohen Säugern“ – wie wir schon das letzte Mal sahen – „eine neue Art von Nestflüchtern darstellt, der nur noch durch die Notwendigkeit der Milchnahrung an die Eltern gebunden erscheint – ein „abhängiger Nestflüchter“, im Gegensatz zu dem sonst in manchem so ähnlichen Zustand bei Reptilien.“

 

 

D MENSCH

 

Zwischen den ranghöchsten Säugetieren und dem Menschen besteht aber nun noch ein weiterer Unterschied. Zum Menschen hin finden wir in dieser Entwicklung, wie wir sie gerade besprechen, abermals einen Sprung.

Der Mensch hat ein noch komplizierteres, noch höher entwickeltes Gehirn. Die Entwicklungsdauer von Hirn, Nervensystem und Körper ist also wiederum gesteigert. Denkbar wäre – nach Säugetiermuster – eine abermalige Verlängerung der Schwangerschaft. Das trifft aber nicht zu. Die verlängerte Zeit, die das menschliche Gehirn und der von seinem Wachstum abhängige Körper zur Entwicklung brauchen, wird nicht durch abermalige Verlängerung der Schwangerschaftsperiode erreicht. Wie wir es vorhin bei den Vögeln gesehen haben, wird diese verlängerte Wachstumszeit vielmehr durch eine stark intensivierte Brutpflege ausgeglichen, das heisst durch einen überaus frühen und intensiven Sozialkontakt des Kindes mit der Kultur. Sie sehen also, wie sinnvoll sich die menschlichen Sozialität der Spezies Mensch ergibt.

„Der neugeborene Mensch, seinem Grundplane nach ein Nestflüchter, gerät in eine besondere Art von Abhängigkeit, weshalb“ Portmann ihn einen „sekundären Nesthocker“ nennt. Sie sehen also, dass Abhängigkeit vom Sozialkontakt eine natürliche Gegebenheit ist, eine positive, fruchtbare Abhängigkeit, die gerade für die vielfältigen kulturellen Erscheinungsformen unabdingbare Voraussetzung ist.

Obwohl Portmann erkennt, dass die Menschenaffen abhängige Nestflüchter sind, und er damit sieht, dass die Mutter-Kind-Beziehung auch dort eine Rolle spielt, erkennt er dennoch, dass der Mensch mit seiner „besonderen Abhängigkeit […] in der Gruppe der Säuger allein“ steht. Sie macht die Bedeutung des ersten Lebensjahres des Menschen und seine durch und durch soziale, das heisst geschichtliche Lebensart aus.

„Man  darf sich“ sagt Portmann „durch die  bei  Anthropoiden [=Menschenaffen, M.N.] in Gebärde und Haltung so eindrückliche Beziehung von Mutter und Kind nicht täuschen lassen: im Neugeborenen und so wohlbehüteten Menschenaffen entstehen keine wesentlich neuen Möglichkeiten der Haltung und der Bewegung oder der Kommunikationsmittel mehr, während bei uns wesentliche Entwicklungsetappen in diese besondere extrauterine Zeit (und zwar an deren Ende!) fallen. Beim Anthropoiden reifen in rascher Folge die  bereits in voller Ausbildung befindlichen  endgültigen Zustände – beim Menschen aber entstehen erst überhaupt artgemässe Haltung, Bewegung und Sprache.“

 

 

Die Menschliche Daseinsart

 

Vielfach nahmen Forscher an, jeder Mensch wiederhole in seiner individuellen Entwicklung Teile der Naturgeschichte, der Evolution. Oft sieht man im individuellen Werdegang eines Menschen „sogar das Nachbild eines erdgeschichtlichen Werdens des Menschengestalt. Je früher die betrachtete Entwicklungsphase desto weniger enthält sie nach dieser landläufigen Ansicht von jener Beimengung, die schliesslich aus dem Tierleib den Menschen macht. Die vor der Geburt ablaufende Entwicklung, und innerhalb derselben die frühen Stadien, gelten darum vielen als besonders tierisch. Im Zuge dieses Denkens sind die bedeutungsvollen Veränderungen, die sich gegen das Ende des ersten Lebensjahres nach der Geburt vollziehen, von manchem Biologen und Psychologen geradezu als die eigentliche Menschwerdung des Menschen bezeichnet worden. Man hat dies etwa auch noch drastischer gefasst: der Mensch überschreite zu jener Zeit das Schimpansenstadium!“ (55)

Sie erinnern sich: Die Psychoanalyse Freuds operiert mit einer ganz ähnlichen Auffassung. Hier ist der Mensch einige Zeit nach der Geburt noch gar nicht in der Lage, zu seinen Mitmenschen Gefühle zu haben, Beziehung zu empfinden oder gar eine solche aufzubauen. Freud nennt dies den ‚primären Narzissmus‘. Das Kind hat von der Welt und sich ein ozeanisches Gefühl, mehr nicht. Erst durch das Stillen an der Mutterbrust bildet sich in diesem Ozean die Wahrnehmung einer Brust wie ein langsam aus einem Nebel allumfassend grauer Empfindungen auftauchendes Bild. Hier beginnt dann ein Gefühl von Wohlbehagen, worauf erst so etwas wie gefühlsmässiges Wahrnehmen der Mutter aufbauen kann. Langsam entsteht also in dieser Theorie erst eine Beziehungsfähigkeit beim Kleinkind durch die Befriedigung der rein körperlich aufgefassten Bedürfnisse des Säuglings durch die Mutter.

Wie ganz anders ist der Mensch in Wirklichkeit! Sie werden im Verlaufe der weiteren Ausführungen sehen, wie Portmanns Befunde allen Vorstellungen entkräftet, dass der Mensch zu Beginn seines Lebens zu keiner zwischenmenschlichen Beziehung fähig  sei. Gerade das Gegenteil weist er nach.

Nur wenn wir das Besondere des arttypischen menschlichen Verhaltens, mit dem dieser aus den Säugetieren heraussticht, erkennen, kann man – so Portmann – die menschliche Daseinsart richtig erfasssen. „Wir stellen“, sagt er, „diese Analyse unseres Verhaltens in die Mitte unserer Betrachtung. Nicht, dass wir die somatische Eigenart unseres Körperbaus gering achten würden [. . .] Die somatischen Merkmale sind aber lange genug Zentrum der Erklärungsversuche gewesen, ohne, dass es gelungen wäre, auf diesem Weg ein umfassendes Bild der menschlichen Entwicklung zu gewinnen.“ Wesentliche Züge des menschlichen Körperbaus und seiner Entwicklung werden so erst durch die Untersuchung des besonderen menschlichen Verhaltens erfasst. Der Biologe muss, um den ganzen Menschen richtig erfassen zu können, so PORTMANN, den „Eintritt in den fremden Bereich des Psychischen“ (58) wagen, der „allein einen neuen Horizont, eine neue Möglichkeit der Umschau verspricht.“ (58) Was Portmann damit unternimmt ist vergleichende Verhaltensforschung, auf den Menschen angewandt, die den Menschen so nimmt wie er ist. Ein Unterfangen, welches nach Portmanns eigenen Worten viel zu gross ist, um mit einem Wurf bewältigt werden zu können. Betont bescheiden und dem Schwierigkeitsgrad des Gegenstandes angemessen, wählt er deshalb auch für sein Buch den Titel „Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen“. „Nur Fragmente werden gegeben“, betont er, „solche, die uns für die Erkenntnis des Verhältnisses Mensch-Tier besonders bedeutsam vorkommen.“ (58)

Der wohl bedeutendste Unterschied zwischen Mensch und übrigem Tierreich finden wir in der menschlichen Freiheit, in seiner Möglichkeit zum „freien Entschluss“ (59) Der Mensch ist nicht beziehungsweise nur in sehr geringem Masse durch Instinkte in seinen Handlungen vorbestimmt. „Während beim Tier alle wesentlichen Verhaltensweisen“, schreibt Portmann, „durch jene organischen Voraussetzungen bestimmt sind, die wir als Instinkt bezeichnen, so ist beim Menschen sogar der am meisten instinktgebundene Teil des Verhaltens, die Sexualsphäre, einer weitgehenden Freiheit der persönlichen Entscheidung offen.“ Die Rolle, die die Psychoanalyse der Sexualität einräumt, ist somit von vorn herein nicht gegeben.

„Freier Entschluss“ ist hier aber nicht mit dem gleichzusetzen, was wir oft unter ‚freiem Willen‘ verstehen. Portmann gibt an anderer Stelle einen Überblick über diese Frage. In seinem Buch „Das Tier als soziales Wesen“ verfolgt er die Entfaltung der sozialen Lebensform in der Tierwelt. Ein Kennzeichen hiervon ist die Tatsache, dass bereits bei niederen Tieren nicht alles Verhalten restlos durch Instinkte mechanisch geregelt und in diesem Sinne unfrei ist.

Trotzdem kann man davon sprechen, dass bei niederen Tieren das Verhalten weitgehend auf instinkthaften Grundlagen ruht. Die Stellen im Verhalten der Tiere, wo das Verhalten nicht instinkthaft geregelt ist, nennt Portmann freie Stellen, und er verfolgt durch das ganze Tierreich hindurch, wie die Zahl dieser freien Stellen im Verhalten der Lebewesen immer mehr zunimmt, je höher wir in der Entwicklung der Lebewesen schreiten. Die hoch entwickelten Lebewesen – die Säugetiere – haben bedeutende Freiheiten, die wir bei nieder entwickelten Tieren noch nicht finden. Beim Menschen angelangt finden wir eine Lebensform, die in extremem Masse völlig ohne jede Instinktgrundlage existiert. Man sagt dafür auch der Mensch sei instinktreduziert. Bei ihm ist die Entwicklung der sozialen Lebensweise, die wir auch mit steigender Freiheit im Tierreich vorfinden, in der geschichtlichen Lebensform des Menschen zur höchsten Blüte gelangt.

Dies hat seine Gründe auch in der Organisation des menschlichen Gehirns: Wesentliche wichtige Funktionen sind beim Menschen in den Bereich der Grosshirnrinde verlegt, deren Grösse bei ihm im Vergleich zu den anderen Säugern gewaltig gesteigert ist. „Der relativen Schwäche der Instinktorganisation steht beim Menschen“ eine gewaltige Steigerung anderer Zentren des Grosshirns gegenüber. „Die gewaltige Steigerung der Masse der Hirnrinde [. . .] steht in Zusammenhang mit der Schwächung der Instinktorganisation.“ (61)

Bedeutenden Einfluss auf das Verhalten hat ebenfalls das menschliche Hormonsystem. „Aber die für das Tierleben so bezeichnende rhythmische Betätigung des“ Hormonsystems, „der regelmässige Wechsel zwischen Zeiten der Brunst und solchen geschlechtlicher Indifferenz, ist bei den höheren“ Menschenaffen „sehr locker, beim Menschen so gut wie völlig aufgehoben.“ (61) Das hat bedeutende Folgen für den Menschen, denn seine sexuellen Aktivitäten werden – da sie nicht mehr rhythmisch gehemmt werden – durchdrungen von „den stetig wirkenden anderen Motiven menschlichen Verhaltens.“ (62) Andererseits spielen dadurch sexuelle Motive im ganzen menschlichen Welterleben eine gewisse Rolle. Die menschliche Sexualität wird so zum Beziehungsproblem, und Portmann bestätigt damit auch in diesem Punkt die Sicht die Adlersche Individualpsychologie.

Die Instinktreduziertheit des Menschen ist für seine ganze Lebensart bedeutend. Der Tatsache, dass der Mensch in seinem Verhalten so gering von instinktiven Verhaltensweise bestimmt ist, entspricht, dass „uns als Lebensraum nicht eine bestimmte Umwelt, kein bestimmter Naturausschnitt zugeordnet ist. Es gibt keine Umwelt für den Menschen, wie man sie für ein Tier meistens angeben kann: etwa die Steppe oder den Wald.“ (62)

Jedes Tier hat eine bestimmte „Umwelt“, die es nicht verlassen kann. Sein gesamter Körperbau, seine Wahrnehmungs- und Denkfähigkeiten sind so gebaut, dass jede Art nur einen ganz bestimmten Teil der Welt wahrnimmt, ihn bewohnt, von ihm lebt. Wesentlich ist nun, dass keine Tier sich in die Welt einer anderen Art eindenken oder hineinversetzen kann. Der Hund etwa lebt in einer „Hundewelt“, orientiert vor allem auch an Geruchseindrücken dank einer gut ausgebildeten Nase. Seine Hundewelt ist der Ausschnitt der gesamten Natur, den der Hund aufgrund seiner Wahrnehmungsfähigkeiten erkennen kann, und den er aufgrund seiner Körperorganisation bewohnen kann,  und von dem er aufgrund bestimmter Körperbedingungen leben kann. In diesem Sinne nennt Portmann tierisches Verhalten „umweltgebunden.“ (63)

Der Mensch dagegen ist wesentlich „weltoffen“. (63) Er hat nicht eine bestimmte Umwelt als Ausschnitt der gesamten Natur als sein Lebensraum. Seine Umwelt ist die ganze Welt, neuerdings auch Teile des Kosmos. „Unserer ganzen Daseinsart entspricht es [. . .], in irgend einem von Menschen aufgesuchten Naturbereich sich eine besondere „Welt“ zu schaffen, sie aufzubauen aus Naturbeständen, die durch menschliches Tun umgeformt worden sind. Im Gegensatz zu den Veränderungen, zu denen ja auch das Tier fähig ist, [. . .] und die stets nur ein durch instinktives Schaffen umgeformtes Stück der festgelegten „Umwelt“ sind, erfolgt der menschliche Eingriff in freier Entscheidung.“ (62) Diese Weltoffenheit ist ein „grosses Vermögen von schöpferischem Verhalten [. . .] ein [. . .] Gut, das auch vertan [. . .] werden kann.“ (64)

Der Mensch kann sich in der ganzen Natur bewegen. Er kann sich in andere Umwelten eindenken, auch in tierische. Er hat die Fähigkeit, sich in eine andere Welt eines anderen Menschen hinein versetzen zu können. Er kann sogar durch Forschung Zugang zu jenen Bereichen erlangen, die ihm verschlossen wären, würde er nur mit seinen natürlichen Wahrnehmungsorganen versuchen in sie einzudringen zu wollen.

„Dieses ‚Kulturleben’ ist so allgemein menschlich, dass wir keine Menschengruppe finden, die im wahren Sinne des Wortes Naturmenschen wären, so wenig wie wir Naturvölker kennen, da eben Kultur im allgemeinsten Sinn dieses Wortes ein Teil der Verhaltensform jedes, auch des ‚primitivsten’ Menschen ist.“ (63)

Durch seine „weltoffene Anlage hat“ der Mensch ein ganz anderes Verhältnis zur Natur als das Tier. „Uns kann jeder noch so unscheinbare Teilbestand der Umgebung bedeutend werden [. . .] Uns kann alles in der Umgebung etwas angehen;“ [. . .] „Ist doch die Forschung dauernd auf der Suche nach“ Unbekanntem, [. . .] „während auch das aktivste unermüdlich suchende Tier immer bloss“ nach dem sucht, was es aufgrund eingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeiten an Ausschnitt aus der Natur kennt. Der Mensch hat wesentlich ein Interesse an der Natur. Nebensächliches kann ihm bedeutungsvoll werden. Er dringt in die Natur ein. Das kann das Tier nicht. Sein Verhalten ist nach PORTMANN wesentlich Appetenz, also innerer Antrieb zu einem mehr oder minder starr ablaufenden Verhaltensmuster. Deshalb sollte man den Begriff der Appetenz nach Portmann auch nicht auf den Menschen anwenden.

Fehlt dieses Interesse an der Natur beim erwachsenen Tier, so macht Portmann aber eine gewisse Einschränkung. Die spielenden Jungtiere höherer Säugetiere weisen Züge von Interesse und Neugierde auf, wie wir sie sonst nur beim Menschen finden.

Eine Eigenart der Weltoffenheit ist weiter die menschliche Fähigkeit, sich Dinge vorstellen zu können, die gar nicht anwesend sind, die es eventuell gar nicht gibt, oder die er nur zur Hälfte erkennen kann und gedanklich richtig ergänzt. Was auch immer in Ansätzen von solcher Fähigkeit bei den höheren Tieren bereits vorkommt, es steht in keinem Vergleich zu dem, wozu der Mensch fähig ist.

Damit hängt eng zusammen, dass der Mensch aufgrund seiner Weltoffenheit ebenfalls dazu imstande ist, sich selbst gegenüber zu treten. „Wir können von einem gleichsam ausser uns gewählten Standpunkt aus sowohl uns selbst wie andere Objekte und Geschehnisse betrachten.“ In diesem Sinne kann der Mensch  „auch objektiv“ denken, im Gegensatz zum Tier, welches immer subjektiv wahrnimmt. Der Mensch ist also von Natur aus zur Wissenschaft angelegt. Nichts entspricht seinem Wesen mehr, als sich über die Natur ein objektives Bild zu machen. Hier die Ursache von Kriegen zu suchen, spricht Bände über den Geisteszustand unseres Jahrhunderts.

Der Mensch „führt“ aufgrund seiner weltoffenen Anlage sein Leben, im Gegensatz zum Tier, das sein Leben „lebt“. Bewusst gestaltetes menschliches Leben steht also nach Portmann nicht im Gegensatz zum Leben, sondern macht im Gegenteil genau die wesentlichste Eigenart menschlichen Daseins aus. „Umweltgebunden und instinktgesichert – so können wir in vereinfachender Kürze das Verhalten des Tieres bezeichnen. Das der Menschen mag demgegenüber weltoffen und entscheidungsfrei genannt werden.“ (66f.)

Der Mensch ist dadurch nicht frei von Bindungen an die Natur gedacht, ein weiterer Irrtum, auf den Portmann hinweist. Der Mensch ist zwar weltoffen, aber dadurch nicht aus der Natur entlassen! Die Weltoffenheit ist Bestandteil seiner Natur und er ist gerade deshalb aufs Beste in der Natur gesichert und in sie eingebunden. Wie er das ist, erkennen wir völlig, wenn wir uns das erste menschliche Lebensjahr genauer anschauen.

„Drei bedeutungsvolle Ereignisse kennzeichnen das erste Lebensjahr des Menschen: der Erwerb der aufrechten Körperhaltung, das Erlernen der eigentlichen Wortsprache und der Eintritt in die Sphäre des technischen Denkens und Handelns.“ (70) Und darauf werden wir das nächste Mal zu sprechen kommen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Adolf Portmanns «Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen», Teil III

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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