Die „Menschlichkeit des Menschen“ als Ursprung und Ziel menschlicher Entwicklung

Feldkirch 2002 Moritz Nestor

Annemarie Buchholz-Kaiser, Joachim Hoefele, Moritz Nestor, Renata Rapp-Wagner

Wo stehen wir heute?

Ist die Geschichte der Menschheit nur eine Abfolge von Kriegen? Welchen Kräften verdanken wir Menschlichkeit und Fortschritt? Wie kann es sein, dass wir Heutigen die Welt in einen dritten Weltkrieg zu stürzen drohen, als hätte es die ersten beiden nicht gegeben, und dabei nichts sehnlicher wünschen als Frieden? Woher nehmen Menschen immer wieder die feste Hoffnung, dass Gewalt und Despotie unmenschlich und überwindbar sind und dass Kriege nicht unabwendbares und ewiges Schicksal sind?

Die gegenwärtige Weltlage scheint nicht zu allzu grosser Hoffnung zu berechtigen: Die Menschheit hat den Krieg noch nicht überwunden. Kulturentwicklungen werden ‑ bei allem Fortschritt ‑ immer wieder gehemmt und zurückgeworfen durch gewaltige Vernichtungen und Opfer. Erneut wird um geostrategischer Vorteile willen ein grosser Krieg geplant, provoziert und Schritt für Schritt durchgeführt. Kosovo, Afghanistan, jetzt der Irak. Die Industrienationen rüsten unter der Führung der USA seit Jahren wieder auf. Das US-Militär wächst unter Bush junior wie seit 20 Jahren nicht mehr. Immer destruktivere Waffen-Systeme werden produziert und – eingesetzt! Durch immer raffinierter manipulierte Bilder werden die Menschen über die Greuel des Krieges, den sie bezahlen, hinweggetäuscht. Sie werden in der Illusion gewogen, es handle sich um „chirurgisch saubere“ Eingriffe, um ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen. Aber die Kriege im Kosovo und in Afghanistan sind genauso so brutal und vernichtend wie andere. Innerhalb weniger Monate war das mühsam erkämpfte Kriegsrecht ‑ Verbot des Angriffskrieges, Ächtung grausamer Waffen, Schutz der Zivilbevölkerung, Schutz des Internationalen Roten Kreuzes und anderer humanitärer Organisationen, Schutz von Kriegsgefangenen, Schutz von Kulturgütern usw. ‑ beiseite geschoben.

Die Menschenrechte, die einst als sittlich-rechtliches Gewissen der Menschheit formuliert und als vorstaatliche Rechte und Schutz des einzelnen gegen staatliche Willkür und Gewalt entwickelt worden sind, werden heute sogar zur Rechtfertigung „humanitärer Interventionen“ als Waffe gegen den Menschen verwendet.

Im Zuge einer rücksichtslosen Globalisierung werden die demokratischen Rechtsstaaten entmachtet und zu Verwaltungseinheiten transnationaler Grossmachtgebilde degradiert. Den Menschen wird der rechtsstaatliche Schutz geraubt und so werden sie dem brutalen Spiel der Macht ausgeliefert. Im Zuge der vorgeblichen Terrorismusbekämpfung schränken die Machthaber der kriegführenden Länder die Freiheitsrechte der Bürger ein.

Die nationalen Volkswirtschaften mit ihren sozialen Schutzmechanismen werden aufgerissen und die Menschen dem inhumanen Konzept eines deregulierten Weltmarktes unterworfen. In China zum Beispiel stehen nach dem Beitritt des Landes zur WTO 200 bis 300 Millionen Bauern vor dem wirtschaftlichen Aus, weil sie mit den industriellen Billigimporten nicht konkurrenzieren können. Wie dort werden weltweit kleine und mittelständische Familienbetriebe in den Ruin getrieben und existentieller Not ausgeliefert, während immer grössere Monopole immer grössere Profite machen und immer totalere Herrschaft ausüben. Weltweit geht die Schere zwischen Arm und Reich weiter auf. Die heutige Weltwirtschaft kennt keine Verteilungsgerechtigkeit mehr.

In der globalisierten Welt werden die Menschen ihrer natürlichen Bindungen beraubt und aus ihren gewachsenen Kulturen gerissen; sie sollen nur noch als identitätslose, „flexible“ Produktionsfaktoren für den Markt existieren, so dass der Mensch für den Markt und nicht mehr der Markt für den Menschen da ist.

Die Bilanz von dreissig Jahren Globalisierung ist ernüchternd: Die Staaten der EU zählen über 20 Mio. Arbeitslose, 50 Mio. Arme und 5 Mio. Obdachlose. 1,3 Mia. Menschen dieser Erde leben in absoluter Armut; über 800 Mio. – etwa das Vierfache der US-Bevölkerung ‑ sind chronisch unterernährt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein afrikanisches Kind vor dem 5. Lebensjahr stirbt, ist grösser als die, dass es jemals eine Schule besucht. 20-30 Mal höher ist die Kindersterblichkeit in Afrika als in der Schweiz, und 30 Jahre niedriger ist die Lebenserwartung dort. In den letzten dreissig Jahren hat sich der Unterschied im Pro-Kopf-Einkommen zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern von 5000.- auf 15 400.- US-Dollar verdreifacht. Gegen alle schönen Versprechungen, dass besonders die Armen von den Segnungen der Globalisierung profitieren würden, ist die Welt viel ungerechter geworden.

Wir können sagen, dass wir heute eine Epoche erleben, die das einmal erreichte Mass des Menschlichen wieder aufzugeben droht: Alle institutionellen Voraussetzungen eines menschlichen friedlichen Zusammenlebens sind heute –national wie international ‑ bereits derart untergraben, dass sie dem einzelnen Menschen sowie den Völkern nicht mehr genügend Schutz bieten. Die humanen Errungenschaften unserer Zivilisation – Demokratie, Gewaltenteilung, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Föderalismus, Sozialstaatlichkeit, Menschenbildung, Wissenschaft, Schutz der Familie, ein hoch stehendes Gesundheits- und Sozialwesen für alle ohne Unterschied sowie schliesslich das Selbstbestimmungsrecht des Menschen und der Völker und so weiter – werden als nutzlose Fossilien einer angeblich überholten Geschichtsepoche aufgegeben. Breite Teile der Bevölkerung werden der Verwahrlosung preisgegeben und atmen immer mehr die Sprache der Gewalt, der Macht- und der Geldgier. Besonders Kinder und Jugendliche müssen darunter leiden, zu Objekten einer verdummenden Kommerzialisierung gemacht zu werden ‑ statt dass sie in unseren Schulen zu verantwortungsbewussten Bürgern gebildet würden, die einmal eine bessere, menschlichere Welt aufbauen.

Dabei darf man sich nichts vormachen. Der Erosionsprozess ist derart weit vorangeschritten, dass die schicksalhafte Ergebenheit, die Arglosigkeit und Ahnungslosigkeit, mit der wir auf die Tragfähigkeit der brüchig gewordenen sozialen Systeme und den Schutz durch den Rechtsstaat vertrauen, verantwortungslos ist: Wir scheinen Ruderern zu gleichen, die im Zentrum eines Hurrikans dahin treiben und besorgt den dunklen Himmel beobachten, wann das Unwetter kommt.

Angesichts dieser Lage steht jeder von uns vor der Entscheidung: Entweder werden wir als Mitläufer oder als Teil einer schweigenden, ängstlichen Mehrheit in diesen Untergangsprozess hineingezogen oder aber wird folgen der Stimme der Menschlichkeit und halten es nicht mehr mit uns selbst aus, nicht alles Menschenmögliche getan zu haben, damit das gerettet wird, was zu retten ist, und das wiederaufgebaut wird, was zerstört wurde. Eigentlich haben wir gar keine Wahl, denn wenn wir nicht den humanen Weg einschlagen, leben wir unser Menschsein nur kümmerlich, stehen nicht zu dem, was wir sind und was wir sein können und was unser Recht ist.

 

Entscheidend ist das Menschenbild …

An Wissen über den Menschen und die Grundbedingungen für sein Zusammenleben in Freiheit und Frieden fehlt es nicht, um tätig werden zu können: Wann und wo immer in der Geschichte Menschen mehr Frieden, Wohlstand, Gerechtigkeit, Erkenntnis, Bildung und freie Entfaltung errungen haben, war das nur möglich, wenn sie miteinander zusammenwirkten, wenn sie sich, ihre Mitmenschen und die Welt besser verstanden und daher ihr Zusammenleben mitmenschlicher gestalten konnten. Je mehr sich Kulturen auf die Gegenseitige Hilfe besannen, die Menschen darin sich miteinander verbanden und gleichwertig zusammen etwas aufbauten und je mehr dabei jeder einzelne als Mensch geachtet und keiner zu gering angesehen wurde, als dass man auf ihn verzichten hätte können ‑ entstanden die besten Bedingungen dafür, dass sich jeder einzelne frei entwickeln konnte. Die moderne Anthropologie und Kulturanthropologie bestätigt uns nichts deutlicher als dass diese Gegenseitige Hilfe von den allerersten Anfängen der Menschheitsgeschichte an der mächtigste Entwicklungs-Faktor war und ist: Menschliches Zusammenleben kann dort gedeihen, wo jeder einzelne sich zum Wohl aller auf seine Weise aktiv beteiligen und Verantwortung übernehmen kann, wo jeder einzelne seine einmalige Bedeutung und seinen Wert für das Wohl aller erkennt, fühlt und lebt, so dass er und seine Mitmenschen zum Gestalter ihrer Geschichte werden und es von jedem einzelnen abhängt, welchen Weg die Menschheit einschlägt. Seit der griechischen Antike nennen wir die politische Form dieses anthropologischen Prinzips Demokratie.

Wo immer in der Menschheitsgeschichte das Prinzip der Gegenseitigen Hilfe verwirklicht wurde, konnte es um den einzelnen Menschen gehen, um sein Recht, seine Freiheit und um die Würde jedes einzelnen. Wo es in einer Kultur Fortschritte gab, verdanken sie ihre Entstehung dieser humanen Grundhaltung.

In der europäischen Tradition seit der frühen Neuzeit erreichte diese humane Grundhaltung mit der Auffassung vom Menschen als Person einen hohen Stand: Der Mensch ist weder durch Triebe oder Instinkte noch durch die soziale Umwelt determiniert. Der Mensch ist ein freies Wesen, auf Mitmenschlichkeit und Zusammenarbeit angelegt. Er ist begabt mit der Fähigkeit zu Vernunft und Sprache, durch die er sich und die ihn umgebende Welt begreifen beziehungsweise verstehen und sich entscheiden kann. Solcherart ist er fähig, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Er ist nicht dazu verdammt, ein Schicksal zu erdulden, sondern kann aktiver und verantwortlicher Gestalter seines Lebens und seiner Geschichte sein und kann an der Höherentwicklung der Menschheit im Sinne einer Höherentwicklung der Menschlichkeit teilnehmen. Gerade dieses schöpferische Aufgreifen und Weiterentwickeln dessen, was sich in der Geschichte bewährt hat, ist besonderer Ausdruck menschlicher Freiheit und wesentlicher Teil der kulturellen, geschichtlichen Existenz des Menschen.

Der Mensch ist von Natur ein kulturelles Lebewesen. Nur das Zusammenleben in Kultur ermöglicht es ihm, sein Menschsein zu entfalten. Kultur ist die „zweite Natur“, die er sich bauen muss, um jeden einzelnen und dadurch die Gattung zu schützen, zu sichern und alle ihre Anlagen zu entfalten. Er ist fähig, sich seiner selbst, seiner Stellung in der Welt und seiner kulturellen, geschichtlichen Bedingtheit bewusst zu werden. So können menschliche Gemeinschaften aus den Erfahrungen ihrer Geschichte lernen, Fehler und Irrtümer korrigieren, um so ihre Kinder zu mehr Mitmenschlichkeit zu erziehen und zu bilden, als dies vorangegangenen Generationen möglich war.

Wesentliche Errungenschaft war dabei die Erkenntnis, dass jeder Mensch sein Menschsein immer auf individuelle, einzigartige und unverwechselbare Weise ausbildet. Im Zentrum aller Bemühungen um ein humanes Zusammenleben der Menschen muss daher immer der einzelne stehen, nicht ein Kollektiv oder eine abstrakte „Menschheitsidee“, in deren Namen man die Menschen unterdrückt und bezwingt.

Diese Idee, die in der personalen Auffassung vom Menschen wurzelt, hat die humanistische Bildungstradition Europas hervorgebracht. Erasmus, Montaigne, Schiller, Humbold, Herder, Pestalozzi, schiesslich auch die Individualpsychologie Adlers und seiner Schüler und viele andere sind aus dieser Tradition hervorgegangen und haben durch Bildung und Erziehung des einzelnen zur Höherentwicklung der Menschheit, zu mehr Humanität beigetragen.

Überall wo dieses Menschenbild geschichtlich wirksam werden konnte, hat Lösungswege gesucht und Einrichtungen geschaffen, bis hin zu den Institutionen des Rechtsstaates un des Völkerrechts, die zu einer humaneren Entwicklung und Entfaltung der menschlichen Fähigkeiten beigetragen und mehr Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen geschaffen haben.

Grundgedanke ist dabei, dass der Mensch nur Mitmensch werden kann unter der Bedingung von Mitmenschlichkeit, Humanität. Zwang und Gewalt können keine selbstbewussten Persönlichkeiten mit Vertrauen zum Mitmenschen hervorbringen. Vertrauen unter Menschen gründet unabdingbar in Freiheit und Gewaltlosigkeit. Das ist eine Konstante der menschlichen Natur, die niemand übergehen kann, ohne dem Menschen Schaden zuzufügen.

Vertrauen zum Mitmenschen ist die Grundlage der Kulturentwicklung, aber auch der Persönlichkeitsentwicklung in allen Lebensphasen. Die erste natürliche Gemeinschaft, in der schon das Neugeborene dieses Vertrauen entwickelt ist die Familie. Ohne ein Grundmass an Urvertrauen entsteht kein Persönlichkeitskern im Kind, entwickeln sich seine Menschlichkeit unvollkommen. Seine Sprachentwicklung leidet, sein Denken entwickelt sich schwach, seine mitmenschlichen Fähigkeiten verkümmern, die Kinder werden anfällig dafür, sich kritiklos Gruppenzwängen unterzuordnen, andere zu beherrschen, abzuwerten oder gar sadistisch zu quälen und darin einen pervertiertes Gefühl von Wert zu spüren; sie können auch sogenannte Borderlinefälle werden. Nichts ist besser im letzten Jahrhundert von der personalen Tiefenpsychologie und Entwicklungspsychologie erforscht worden. Die moderne Anthropologie hat, ausgehend von Adolf Portmanns Grundlagenforschung in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts diese Zusammenhänge bestätigt.

Familien, der grössere Kreis der Verwandtschaften und Gemeinschaften brauchen, um existieren zu können, den Schutz und die Ergänzung durch grössere soziale Einheiten: andere Familien, die zusammen Dorfgemeinschaften, (kleinere) Städte bilden. Diese kleinen kulturellen Einheiten müssen für den Einzelnen überschaubar bleiben. Sie sind Räume gemeinsamer Sprache, Werte, Traditionen, durch die sie sich verständigen und beieinander geborgen fühlen können. Die Menschen bilden sie freiwillig und spontan und schaffen in gegenseitiger Hilfe alle Güter und Einrichtungen, die zum Leben nötig sind. Ausgangspunkt und Ziel dieses für den Menschen typischen Verhaltens ist der Schutz des Lebens eines jeden, seine Bildung und Förderung durch das, was eine Kultur ausmacht: Gegenseitige Hilfe in Familien und den vielfältigen Gemeinschaften wie Nachbarschaftshilfen, Kooperativen, Vereinen, wissenschaftlichen Gesellschaften, Akademien, Schulen, Gesundheitswesen, Institutionen des demokratischen Rechtsstaates – deren Ziel und Zweck die freie Entfaltung jedes einzelnen in und durch Gemeinschaft ist.

So bauen die Menschen Kulturen, die um so menschlicher sind, je mehr sie die Einmaligkeit eines jeden achten und bilden können. Je humaner durchbildet die Kultur ist, desto bessere Voraussetzungen bietet sie dadurch, dass in ihrem Schoss reife, verantwortungsvolle, selbstbewusste Individualitäten heranwachsen können. Diese wiederum tragen ihren Teil dazu bei, das Vorgefundene zum Wohle aller, auch der kommenden Generationen, weiterzuentwickeln, Fehler zu vermeiden, das Bewährte auszubauen und weiterzugeben.

So kann auch ein Band zwischen Kulturen entstehen, können ‑ wie dies die europäische Entwicklung von den antiken Griechen über die Araber und Römer bis in die frühe Neuzeit hinein zeigt ‑ Kulturen voneinander lernen, aufeinander aufbauen, Traditionen aufgreifen und schöpferisch weiterbilden, kurz: den Grad der Humanität im Strom der Geschichte weiterentwickeln. Und so kann es auch eine allmähliche Höherentwicklung der Menschlichkeit in der gesamten Menschheit ‑ eine Menschheitsgeschichte im eigentlichen Sinne des Wortes ‑ geben. Es war Johann Gottfried Herder, der dies Humanität nannte, in einem Wort alles, was das naturrechtlich humanistische Denken seit der griechischen Antike geschaffen hat. Ein Mensch allein kann gar nicht ausbilden, was der Mensch als Gattung sein kann. Schliesslich wird erst die Menschheit in gemeinsamer Anstrengung es tun können.

Gelingen kann es aber nur, wenn diese Menschen sich dafür einsetzen und nicht im Wahn eines Krieges inhumane, kulturdestruktive Kräfte entfesseln oder sich gar selbst vernichten. Die Höherentwicklung ist nämlich kein geradeliniger Prozess, kein Geschichtsautomatismus, sondern hängt davon ab, ob und wie genau wir Menschen dieses Ziel der Menschlichkeit erkennen, wie gut wir erkennen, was Geschichte sinnvoll macht, wie gut es uns gelingt, aus uns Menschen zu machen, die das leben, was wir sind, dass wir Mitmenschen werden und Gesellschaften bauen, die allen Menschen ohne Unterschied die Entfaltung ihrer Menschlichkeit ermöglicht. Und dass wir aus diesem Werden heraus und aus dem tiefen Mitgefühl, welch Unrecht am Menschen der Weg der Macht und des Krieges bedeutet, etwas dafür tun, dass die Menschheit den humanen Weg und keinen anderen einschlägt.

Der Staatsrechtler Martin Kriele hat dies für die staatsrechtliche Sphäre einmal die „demokratische Weltrevolution“ genannt, welche allmählich ‑ mit Umwegen und Rückschlägen ‑ von Beginn des naturrechtlichen Denkens in der griechischen Antike an bis in die Neuzeit mehr Freiheit, mehr Recht, mehr Schutz des einzelnen und seiner Kultur ‑ in allem mehr Menschlichkeit ‑ gebracht hat.

Das ist das, was Alfred Adler nach den Schrecken des Ersten Weltkrieges als Fernziel der Menschheitsentwicklung (sub spezie aeternitatis) und als ethisches Fundament seiner Individualpsychologie ansah: Wir Menschen sollen alles tun, dass eines Tages die Menschheit Gemeinschaftsgefühl wie Luft atmen kann, was nur gelingen kann, wenn es gelingt die Menschen, jeden einzelnen, vom Streben nach Macht zu erlösen und ihn mit den Menschen zu befreunden, und zwar in den kleinen wie in den grossen Gemeinschaften der Menschen.

Wenn in der Geschichte auch kein Automatismus wirkt, so gibt es doch nur dieses eine Ziel der Humanität und des Friedens, das der Mensch seiner Geschichte geben muss, damit sie sinnvoll wird, denn nur der Frieden ‑ innerhalb der Kulturen wie auch zwischen ihnen ‑ schafft die Voraussetzungen, dass der Mensch sich als Mitmensch entwickeln kann, dass er zu dem werden kann, was er ist. Das kulturelle Wesen des Menschen, seine personale Natur zeigt uns: Nicht „der Krieg ist der Vater aller Dinge“, der Friede ist der Humus der humanen Kultur. Man muss nicht die andere Kultur hassen, um die eigene lieben zu können, wie Huntington behauptet. Daher gibt es auch keinen „Clash of civilisations“, wenn er nicht durch Aufstachelung und Verhetzung künstlich herbeigeführt wird.

Wo die Menschen statt Krieg zu führen, zu morden, grenzenlosem Reichtum nachzustreben die Höherentwicklung der Humanität ins Auge fassen, kann der Blick auf den Menschen frei werden und auf die gegenseitigen Hilfe, die ungeahnte Kräfte freisetzt. Wo die personale Auffassung vom Menschen geschichtsmächtig geworden ist, sind Fortschritte zum Wohl aller möglich geworden. Daran anzuknüpfen und weiter zu wirken ist unserer Aufgabe, wenn es darum geht, eine humanere Welt zu bauen.

 

Was stünde an Humanität zur Verfügung?

Wir stellen heute die Frage nach mehr Menschlichkeit nicht mehr wie unsere Vorfahren in der Antike oder zu Beginn der frühen Neuzeit. Wir begehen heute keine Irrtümer oder Fehlentscheide aufgrund fehlender oder mangelnder Kenntnisse über die Bedingungen eines humanen Zusammenlebens, wie sie schon zu genug ‑ und zu oft ‑ in der Menschheitsgeschichte verheerende Folgen hatten. Die heutigen Unmenschlichkeiten geschehen wider besseres Wissen und in vollem Wissen um die Folgen. Folter, Kriege, Genozide und all die schrecklichen Ereignisse des 20. und 21. Jahrhunderts sind nicht so neu, als dass wir nicht längst wüssten, dass an den Wurzeln einer friedlichen Gesellschaft der human denkende und fühlende Mensch steht, der gebildet ist, der eigenständig denken und verantwortlich handeln kann. Der einzelne muss human denken und human fühlen lernen. Und wenn er menschlich denken und fühlen kann, dann kann er auch dazu beitragen, Frieden in der Gesellschaft zu schaffen. Da steht jeder – gerade heute – mit sich an einem Scheideweg.

Es war die abendländisch-christliche-europäische Naturrechtstradition, die erkannte, dass jeder Person ein besonderer Wert und eine Würde zukommt und der Mensch daher nie als Mittel zum Zweck wirtschaftlicher und politischer Machtinteressen missbraucht werden darf, sondern stets als „Zweck an sich selbst“ geachtet werden muss. Das ist die Maxime eines humanen, menschlichen Ethos, das für alle Bereiche des menschlichen Zusammenlebens gilt und gelten muss. Wer mehr Menschlichkeit schaffen will, muss davon ausgehen, muss in seinem Denken, Fühlen und Handeln davon getragen sein.

Wie geschichtsmächtig das Ethos der Menschlichkeit geworden ist, zeigen die besten Errungenschaften der europäischen Geschichte: Welche Hoffnungen waren nicht mit dem Völkerbund, der UNO, der Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verbunden. Erstmals in der Geschichte war nach zwei schrecklichen Weltkriegen das sittlich rechtliche Gewissen der Menschheit so weit, allen Menschen und Völkern eine gemeinsame Menschenrechtsethik zu geben. Sie könnte auf der ganzen Welt Frieden schaffen, würden sie und die Folgepakte nur umgesetzt. Das 20. Jahrhundert begann mit der Hoffnung, es werde ein Jahrhundert des Fortschritts, des Kindes, der Familie, des Friedens. Dank den Wissenschaften waren die Menschen gesünder und älter geworden. Die Städte wurden saniert. Die grossen Seuchen kamen langsam unter Kontrolle. Wohlstand für alle schien möglich. Die Humanwissenschaften begannen Bereiche des sozialen Zusammenlebens zu erforschen, von denen kaum jemand glaubte, sie wären wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich. Die personale Tiefenpsychologie wandte sich Mitte des 20. Jahrhunderts der Prophylaxe seelischen Leides und der Aufgabe der Friedenserziehung zu und untersuchte, was sie zur Verbrechensverhütung und zur Friedenserziehung beitragen kann. Fürsorge und Sozialarbeit erhielten nach dem Zweiten Weltkrieg von der Tiefenpsychologie die erfolgreich und segensreich durchgeführte Einzelfallhilfe. Psychiater wie Gertrude Schwing, H. S. Sullivan, Frieda Fromm-Reichmann u.a. begannen in den 40er und 50er Jahren die schwersten Fälle seelischen Leids mit Erfolg zu behandeln.

All dies war ein gewaltiger Fortschritt an Humanität, hervorgegangen aus der Zusammenarbeit von Generationen und aber Generation, von Kulturen mit anderen Kulturen, von Menschen mit Menschen, die nur eines wollten: Not und Leiden lindern, um dem Menschen zu einem menschenwürdigen, humanen Leben zu verhelfen, den Menschen zu dem zu bilden, was er sein kann.

Anfang des 21. Jahrhunderts findet jedoch über all das kaum mehr eine Diskussion statt. Die Erfahrungen, die Forschungsergebnisse und die darauf aufbauenden Erfolge sind erbracht. Sie müssten nur aufgegriffen, angewendet und verfeinert werden. Sie werden jedoch verschwiegen, verdreht und unterdrückt. Unsere Intellektuellen verwirren die Köpfe, indem sie behaupten, dass Wissenschaft nur ein Spiel und Wahrheit nicht möglich, ja dass Humanität eine blosse Illusion wäre, die für die totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts verantwortlich sei. Die Kriegstreiber des Pentagon diffamieren heute wie Hitler Humanität als Gefühlsduselei und als Hindernis auf dem Weg zum „Fortschritt“.

So werden die „Intelligenz“ und die Kraft ganzer Wissenschaftszweige in Hochrüstung, Ausbeutung, Manipulationstechniken und Machterhalt vergeudet. Die Frage ist mehr denn je offen: Wie können die Menschen wirklich in Frieden leben lernen? Humanität und Frieden entweder für Utopie zu erklären oder sie mit Krieg herzustellen erklärt 2500 Jahre europäische Geschichte für Makulatur. Seit den ersten griechischen Demokratien haben die Menschen 2 500 Jahre lang trotz aller Kriege mit beachtenswerten Erfolgen darum gerungen, wie man nicht nur Grabesfrieden, sondern den gerechten, sicheren Frieden schaffen kann und damit den Menschen die Voraussetzungen für ein humanes Zusammenleben zu schaffen.

Hat Europa nicht den freiheitlich demokratischen Rechtsstaat hervorgebracht? War abendländisch-christliche europäische Kulturtradition nicht die Wiege der Menschenrechte, des gewaltenteilenden Rechtsstaates, der Demokratie? Oder sind Aristoteles, Platon, Sokrates, Cicero, die Stoa, die Schule von Salamanca, Thomas von Aquin, Grotius, Pufendorf, Locke, Montesquieu, Rousseau, Thomasius, Wolff, Kant, die Aufklärung, die katholische Soziallehre, das Schweizer Modell der direkten Demokratie und die vielen anderen so geschichtsmächtigen Ansätze und Entwürfe eines friedlichen Zusammenlebens in der Geschichte vergessen? Erwächst nicht Europa, erwächst nicht jedem von uns aus diesem Erbe die Verantwortung, sich der brennenden Gegenwartsprobleme anzunehmen?

Wir waren in unseren Breiten ‑ wenigstens über weite Strecken ‑ imstande, erfolgreich Frieden zu schaffen, in Freiheit und Gerechtigkeit! Wir haben ein grosses Mass an Humanität im Laufe der Geschichte erlebt und angesammelt. Und die Frage geht jeden von uns ganz persönlich an: Wie nehme ich diese Verantwortung wahr und greife das auf, was meine Vorfahren an Humanität aufgebaut haben, was ich weiss und was ich wissen kann ‑ jeder dort, wo er im Leben steht, ‑ und beginne, mit meinen „Pfunden zu wuchern“?

Ist vergessen, wie aus der Empörung über die blutigen Religionskriege der frühen Neuzeit die grossen Naturrechtslehren entstanden und wie nicht viel mehr als nur 150 Jahre danach die Aufklärung alles Wissen des Naturrechts zusammenzog und die Gesellschaftsordnungen Europas so tiefgreifend wie noch nie zuvor zu wandeln begann? Die grausamen und unmenschlichen Körperstrafen verschwanden nach und nach aus den Strafgesetzbüchern. Die Folter zur Erlangung von Geständnissen vor Gericht wurde unter dem Druck von Aufklärern wie Christian Thomasius innerhalb von nur 50 Jahren abgeschafft. Diese und andere Erfolge der Menschlichkeit wurden von wenigen Philosophen, Pädagogen, Theologen, Juristen, aufgeklärten Staatsmännern vorbereitet. In unermüdlicher Diskussion wirkten sie Jahr um Jahr in die Gesellschaft hinein, nur zu oft unter Lebensgefahr, bis wieder ein Stück mehr Frieden, Humanität und Gerechtigkeit errungen war.

Vor dieser Umwälzung waren die Gesellschaften ständig durch die unkontrollierten Machtansprüchen des Adels und jener Teile des Klerus bedroht, die den Menschen mit Gewalt den „richtigen Glauben“ aufzwingen wollte. Das Resultat waren nicht enden wollende Verfolgungen, Glaubens-, Bürger- und Eroberungskriege. Die neue Gesellschaftsordnung bannte den Bürger- und den Religionskrieg, indem sie Adel und Klerus unter das gemeinsame Dach des Rechts nahm und ihnen – weil alle Menschen gleich und frei geboren sind – ihre Schrankenlosigkeit nahm. Die neue Gesellschaftsordnung war der Rechtszustand auf dem ethischen Fundament der universellen Menschenrechte. Jetzt bestimmten nicht mehr Standesunterschiede oder die Konfession den Wert eines Menschen. Alle waren vor dem Gesetz gleich, von Natur gleich. Meinungsfreiheit wurde garantiert. Das Volk konnte seine Geschicke selbst bestimmen und alle lebten frei unter vernünftigen Gesetzen. Das war der Weg in ein menschlicheres Zusammenleben.

Der freiheitliche föderative und subsidiäre demokratische Rechtsstaates ist eine Errungenschaft, auf die Europa stolz sein müsste. Er hat sich in einem gewaltigen historischen Experiment bewährt, weil er der menschlichen Sozialnatur entspricht, weil er Freiheit und Würde der Person schützt und so die Voraussetzung für mehr Humanität schafft.

Die neue Gesellschaftsordnung war hervorgegangen aus dem naturrechtlichen Denken, das durch die Aufklärung erstmals in der Menschheitsgeschichte politische Wirklichkeit wurde. Das Naturrecht war das Projekt einer Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben und hat als erstes erkannt, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Heute bestätigen Anthropologie, Psychologie und andere Humanwissenschaften, dass die Naturrechtsdenker mit ihrer Sicht von der personalen Sozialnatur des Menschen in den Grundzügen recht hatten. Wir können heute das Naturrecht mit Hilfe human- und sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse ergänzen und verbessern. Wissenschaftliche Ergebnisse beweisen, dass die Menschennatur nicht bösartig ist und es keinen natürlichen Gegensatz zwischen menschlicher Natur und friedlichem Zusammenleben im demokratischen Staat gibt. Der Mensch ist vielmehr von seinen Anlagen her ein friedfertiges, soziales Wesen, das mit Vernunft und Gewissen begabt ist, fähig und verantwortlich ist, das gesellschaftliche Zusammenleben friedlich zu gestalten.

Die Menschen können gerecht und friedlich nach vernünftigen Gesetzen zusammenleben. Das war schon immer das Ziel des Naturrechts. Die modernen Humanwissenschaften bestätigen, dass Krieg nicht naturgegeben ist. Im Gegenteil: Der Mensch kommt zur Welt mit einer Disposition zu Mitmenschlichkeit und Kooperation. Wenn er seiner Sozialnatur gemäss erzogen, zu gewaltfreier, konstruktiver Konfliktlösung und tätiger Nächstenliebe angeleitet wird, wächst ein friedfertiger Mitmensch heran, den die Not von anderen nicht unberührt lässt, der Unrecht nicht duldet. Mit Mut und Realitätssinn kann er Lösungen zum Wohl aller suchen. Sein Ziel ist nicht egozentrische Geltung und Macht, sondern Gerechtigkeit und Friede im Kleinen wie im Grossen.

Menschliche Gesellschaften sind um so solidarischer und kooperativer, je mehr jeder die mitmenschlichen Anlagen auf seine individuelle und einzigartige Weise ausbildet und ins Gemeinschaftsleben einbringt. Das ist die anthropologische Grundlage von Humanität und Frieden. Das ist es auch, was Gesellschaften im Innersten zusammenhält. Aggressive oder gewalttätige Verhaltensweisen sind Reaktionen auf Manipulation, Unterdrückung, seelische bzw. körperliche Grausamkeiten. Sie beruhen auf erworbenen Einstellungen oder Verhaltensmustern, auf lebensgeschichtlich gewordenem oder ideologisch begründetem Überlegenheits- und Machtstreben. Letzer Sinn und Zweck des freiheitlich demokratischen Rechtsstaates ist es, die Gesellschaft vor Fehlschlägen, vor Gewalt und Macht zu schützen und die freie Entfaltung der menschlichen Person zu ermöglichen, um so Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit dauerhaft zu sichern. Friedfertigkeit ist kein „humanitärer Idealismus“ oder ein „illusionäres Weltbild“, sondern ist in der menschlichen Natur angelegt und kann und muss in jedem Menschen ausgebildet werden. Der demokratische Rechtsstaat ist nichts anderes als der schützende Rahmen; er ist die richtige Anpassung der Gesellschaftsordnung an die menschliche Sozialnatur.

In allen Bereichen des Lebens eroberte sich Europa seit der frühen Neuzeit Mittel und Wege, wie man die Natur und ihre Gesetze rational erfassen und erklären kann, um Gefahren zu vermeiden, besser zusammenarbeiten zu können und das Leben immer besser zu schützen. Europa entwickelte sich so zu einer Kultur, in der die Wissenschaften zu einer sonst nirgends gekannten Blüte gelangen konnten. Auch dies ein wertvolles Erbe, das auf abendländisch-christliche Naturrechtstradition zurückzuführen ist. Der Grundgedanke dabei war und ist, dass der Mensch seine Vernunft selbständig gebrauchen lernen kann, um in Frieden, Freiheit, Sicherheit und Gerechtigkeit zusammenleben zu lernen. Er kann seine eigene Natur ‑ die conditio humana ‑ erkennen und verstehen und dementsprechend die Regeln und Gesetze des humanen Zusammenlebens gestalten. Je mehr er dabei seiner Sozialnatur gemäss lebt, desto glücklicher ist er. Seit den Anfängen in der griechischen Antike kreist das Bemühen der europäischen Naturrechtsdenker, der Moralphilosophen und der Aufklärer um diese Frage. Es ist nichts anderes als die Frage, wie das Geltungs- und Machtstreben des Menschen gebändigt werden kann, damit die Menschen in Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit leben können.

Dass in der heutigen Zeit der Globalisierung so scheinbar selbstverständlich der Mensch für den Markt und nicht mehr der Markt für den Menschen da ist, dass so fast selbstverständlich die Wirtschaft über den Menschen herrscht, dass sie ganze Staaten kauft und verkauft, hat gerade darin seine Ursache, dass die Protagonisten und Bewunderer der Globalisierung diese Lehren aus der Geschichte vergessen gemacht haben, dass nämlich auch die Wirtschaft nur ein Teil der Gesellschaft und Dienerin der Menschlichkeit ist wie alle anderen Institutionen und dass unkontrollierte Wirtschaftsmacht ebenso gefährlich ist wie jene Machtmonopole der alten Feudalgesellschaft vor der Aufklärung. Dabei ist der freie globale Markt ist erst 30 Jahre alt! Nach dem Desaster des Zweiten Weltkrieges und angesichts des Bankrotts der sowjetischen Planwirtschaft versuchten deutsche Wirtschaftler eine Wirtschaft aufzubauen, die nicht herrscht, sondern der Mitmenschlichkeit dient. Ihr Modell müsste nur wieder aufgegriffen und konsequent weiter ausgebaut und verfeinert werden.

Derselbe Grundgedanke, wie das Machtstreben des Menschen zu bändigen sei, hat seit der griechischen Aufklärung auch immer klarer die Einsicht hervortreten lassen, dass der Mensch die Erziehung seiner Kinder nicht dem blinden Zufall, oder der harten Hand überlassen muss, sondern, dass Erziehung und Bildung der Natur des Kindes entsprechen und seinen Entwicklungsschritten folgen muss. Dass das Kind bildungs- und erziehungsfähig ist und durch die rechte Erziehung fähig wird, als Mitmensch und Staatsbürger Verantwortung fürs Ganze zu übernehmen.

Die Erziehung zum mündigen Mitbürger, zur selbständigen und verantwortlichen Persönlichkeit, die zum Gemeinwohl in einem demokratischen Rechtsstaat ihren Beitrag leisten kann und will, ist Kern der europäischen humanistischen Bildungstradition. Die Demokratie kann nur erhalten werden, sie lebt und ist nur so gut, wie die Bürger gebildet sind! Deshalb muss der Erziehung der Kinder und der Jugend besondere Aufmerksamkeit und Sorgfalt gewidmet werden.

Dabei kommt der Familie besondere Bedeutung zu. Hier vor allem hier wird Humanität gelegt. Das auf Liebe und Vertrauen aufbauende Zusammenleben in der Familie ist das anthropologische Grundmodell eines friedlichen Zusammenlebens in Gesellschaft und Staat. Konstruktives Mittun in der politischen Gemeinschaft der Demokratie und ein aktives Einsetzen für friedliche Konfliktlösungen beginnt mit der Erziehung in der Familie. Wenn das Kind in der Beziehung zu seinen Eltern Urvertrauen und Mitgefühl und ‑ darauf aufbauend ‑ einen stabilen Persönlichkeitskern entwickelt, ist das die beste Prävention gegen Gewalt. In der täglichen Gestaltung des familiären Miteinanders muss das Kind erfahren können, was es heisst, um seiner selbst willen von Bedeutung zu sein und als Mensch anerkannt zu sein. In der Familie entwickelt das Kind das innere Grundmodell, wie Menschen miteinander umgehen, wie man Gemeinschaften mitgestaltet, wie man sich unter den Menschen beheimatet fühlt und Verantwortung für das Wohl aller übernimmt. So werden die Achtung vor dem Menschen und Gleichwertigkeit im zwischenmenschlichen Umgang zu grundlegenden Lebenseinstellungen. – Darüber hinaus werden durch die Identifikation mit den Eltern und Grosseltern die kulturellen Werte und Normen an die nächste Generation tradiert. So entsteht ein Gefühl der Zugehörigkeit zu Volk, Kultur, Nation und Geschichte, was ebenfalls Grundvoraussetzung für die Entwicklung einer reifen Persönlichkeit ist und der beste Schutz gegen Gleichgültigkeit, Verantwortungs- und Rückgratlosigkeit; das ist auch die Grundlage für ein echtes Verständnis anderer Kulturen. – In der Familie sind mehrere Generationen in gegenseitiger Hilfe zum Teil über die gesamte Lebensspanne miteinander verbunden. Das schützt die Gesellschaft vor Entsolidarisierung, Vereinzelung und Manipulation. Deshalb ist der Schutz der Familie durch Gesellschaft und Staat oberstes Gebot der Friedenserhaltung.

Die in der Familie gelebte Menschlichkeit muss durch die Schule weiter gehegt und gepflegt werden. Die Kinder sollen in der Klassengemeinschaft im Sinn und Geist der Menschenrechte erzogen werden, ohne Unterschied von Geschlecht, Religion, sozialer und kultureller Herkunft. Das ist seit den Anfängen der öffentlichen Erziehung bei Condorcet der Auftrag der öffentlichen Volksschulen. Souveräniät, so sahen es die Gründer der öffentlichen Erziehung, kann der Mensch nur dann wirklich wahrnehmen, wenn er eine solide Grundbildung hat. Allen ist daher eine ‑ möglichst unentgeltliche ‑ Allgemeinbildung mitzugeben, damit sie ihre grundlegenden Rechte und Pflichten als Menschen und als Bürger in einem demokratischen Rechtsstaat kennenlernen, damit sie einen Beruf ergreifen können, der ihren Neigungen entspricht und der es ihnen ermöglicht, selbständig und aus eigener Kraft mit anderen zusammenzuleben und zusammenzuarbeiten und sich „nützlich“ zu machen zum Wohl der Allgemeinheit. Über die Vermittlung von Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinaus muss die Schule daher Menschlichkeit, Nächstenliebe, Achtung der Würde und der Überzeugung anderer, Toleranz, friedliche Konfliktlösung, Eigenverantwortung, Leistungswillen und auch zu Liebe und Respekt vor der eigenen Kultur und der eigenen Kulturtradition vermitteln. Dieser Gedanke der Erziehung zur Menschlichkeit, zur Mitmenschlichkeit ist Frucht des vom Humanitätsideal getragenen abendländisch-christlichen Naturrechts, von der griechischen Antike bis zur Aufklärung und zum Neuhumanismus bis heute.

 

… für jeden einzelnen …

Diese Tradition der abendländisch-christlichen, der europäischen Kultur stünde allen Menschen zur Verfügung. Es ist ein reichhaltiges und gesichertes Wissen über die „conditio humana“. Und es ist ein reicher Schatz an historischen Erfahrungen, der jeden lehren kann, wie überall auf der Welt die Völker, in ihrer Situation und mit ihren Mitteln eine demokratische Gesellschaft aufbauen können, in der jeder, jedes Volk seine eigene kulturelle Identität wahren und in Frieden  und Mitmenschlichkeit leben kann. Wir können nicht hinter diesen einmal erreichten Stand der Humanität zurückweichen. Er ist mehr als eine blosse historische Phase oder bloss in Geschichtsbüchern Gedrucktes.

Was wir hier als humane Tradition unserer Kultur skizziert haben, ist in unzähligen Einzelsituationen überprüft, oft unter schmerzlichen Erfahrungen korrigiert. Es ist Wissen und Ethos zugleich, das wir nicht noch einmal erfinden müssen: Nur in und durch die Gemeinschaften, die auf gegenseitigem Verständnis, Vertrauen und Liebe aufbauen, kann der Mensch seine sozialen Anlagen frei entwickeln. Wenn durch die Liebe und wissende und lebenserfahrene Anleitung der Eltern das Urvertrauen eines Kindes geweckt wird, dann kann in ihm das Mitfühlen und Mitdenken mit anderen entstehen und es wird Verantwortung lernen. Das ist die nötige charakterliche Grundlage, warum ein Mensch später keinem anderen etwas zuleide tun kann ‑ nicht aus verstandesmässiger Einsicht allein oder aus Zwang; sondern aus spontanem Mitleiden, Mitdenken und Mitfühlen. Das ist die Grundlage in der Menschennatur für das Ethos der Menschlichkeit und des Friedens.

Unser ganzes Leben lang kann dieses Ethos in uns Menschen wach werden und wachsen, weil es unserer Natur entspringt: Wo ich mich angesprochen fühle vom Leid anderer, wo ich mit anderen mitdenke ‑ und dann auch mitleide ‑, wo ich mich in die Lage des anderen hineinversetze, mit seinen Augen sehe, mit seinen Ohren höre und mit seinem Herzen mitfühle, da erlebe ich mit allen Sinnen und vollem Herzen, als ganzer Mensch, was in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in vergleichsweise leblosen Buchstaben steht. Ich erfülle sie mit menschlichem Leben und sehe die wahre Bedeutung des Satzes: „Alle Menschen sind frei und gleich geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Das und nicht Machtstreben muss Grundlage politischer Tätigkeit sein.

Dieses Sich-in-den-anderen-hineinversetzen-können, den anderen und seine Lage mit Kopf und Herz zu verstehen ist gelebte Gleichheit zwischen Menschen. Mit dieser inneren Haltung klingen meine Worte nicht künstlich, handle ich nicht „aufgesetzt“ menschlich. Ich reagiere spontan und echt, ohne Zögern. Ich nähere mich dem anderen nicht mehr von oben oder unterwürfig, sondern verstehe ihn von gleich zu gleich, warum er so und nicht anders handeln konnte. Und dann wird in mir das urmenschlichste Gefühl wach, spontan helfen zu wollen, nicht mehr anders zu können als mitmenschlich zu handeln. Dann ist meine Natur wach geworden!

So entsteht am Anfang des Lebens, so entsteht aber auch immer im Leben Beziehung zwischen Menschen, wirkliche mitmenschliche Begegnung von gleich zu gleich, die Grundlage jedes humanen Handelns.

Hier kann auf der positiven Seite des Lebens ein wirklicher Wettbewerb entstehen: Immer besser helfen zu wollen und dabei die tiefe menschliche Genugtuung zu erleben, für andere Menschen Bedeutung zu haben. Nur mit dieser echten menschlichen Reaktion kann ich erwarten, dass sich andere Menschen angesprochen und bewegt fühlen. Es kann zwischen uns dann eine Beziehung von Du zu Du gestiftet werden: eine Verbundenheit, Freundschaft, geistige Gemeinschaft, die wir auf immer mehr Menschen ausdehnen können, eine gemeinsame Geisteswelt, die nie zu klein wird, sondern immer reichhaltiger und wertvoller, je mehr wir sie mit anderen teilen können!

Und es wächst mit jeder neuen Verbindung von gleich zu gleich die innere Stärke, dass die zuvor übermächtig erlebten „Verhältnisse“ ihren, nun als künstlich entlarvten Schrecken verlieren, und mir als das erscheinen, was sie in Wirklichkeit sind: von Menschen gemacht, von wenigen beherrscht, getragen von der künstlich erzeugten und mit Unsummen künstlich aufrecht erhaltenen Ohnmacht und Lethargie von Millionen. Sie erscheinen mir dann entkleidet von ihrem Schein der Übermächtigkeit, den sie nur hatten, weil ich mich unterlegen fühlte und daher glaubte, nichts dagegen tun zu können. Ich habe die Verhältnisse sozusagen vom Kopf auf die Füsse gestellt und sehe nun ihre Brutalität und Gefährlichkeit, aber ich kapituliere nicht mehr innerlich vor ihnen. Ich tue der „Räuberbande“ nicht mehr freiwillig den Gefallen, was Grundvoraussetzung für ihr reibungsloses Funktionieren ist: verharren, gehorchen, unterlegen fühlen. Die Angst oder sonst eine Schwäche, selbständig zu denken, ist überwunden. Und dann sehe ich erst wirklich, was Despotie ist: Gewalt, ausgeübt von wenigen, nicht erkannt oder hingenommen von vielen. Und dann bin ich frei geworden, das meine dagegen zu tun. Und das ist das, was wir alle jederzeit heute tun können, weil es in unserer Natur liegt, und wozu wir vor der Geschichte verpflichtet sind!

Wir haben doch die Katastrophe des Nationalsozialismus nicht umsonst studiert, um zu verstehen, warum unzählige Menschen sich ‑ scheinbar willenlos ‑ gleichschalten liessen! Nur wo Millionen vor dem Gebrüll der Macht schon dort in Gehorsam erstarrten, wegschauten oder gleichgültig blieben, als sie erst anfing, in die Gesellschaft einzudringen und als man noch lange etwas hätte tun können, kann sich die Gewalt durchsetzen.

Wenn wir das Gesagte durchdenken, dann drängt alles auf eine entscheidende Frage hin: Wer ist nun historisch stärker und wird sich auf Dauer durchsetzen können? Die sich nur aus relativ wenigen zusammensetzende Klasse von Politikern, vom Volk gewählt, die ihr Mandat gegen das Volk missbrauchen und es in den Krieg hetzen, oder Millionen Menschen, wenn sie sich mitmenschlich verbunden fühlen und ihr Leben in der Familie, in der Gemeinde, in den kleinen kulturellen Gemeinschaften selbst in die Hand nehmen? Wo Menschen sich miteinander in Mitmenschlichkeit verbinden, gibt es auf Dauer nichts und niemanden mehr, der ihnen seine Macht aufoktroyieren kann. Was über die Jahrhunderte an Mitmenschlichkeit errungen wurde, wurde von Menschen errungen, die aus gelebter Menschlichkeit heraus nicht anders konnten, als Verantwortung zu übernehmen, aus der Geschichte zu lernen und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Romano Guardini formulierte dies mit seinen Worten folgendermassen: „Wenn ein Glied meiner Familie ein Unrecht begangen hat, dann darf ich sagen: ich bin daran unschuldig. Nicht aber darf ich sagen: es geht mich nichts an. Schuldig werde ich nur durch das, was ich selbst tue oder unterlasse; aber beteiligt bin ich an allem, was die Glieder meiner Familie tun. Denn ich stehe in ihr, und ihre Ehre ist – bis zu einer gewissen Grad – auch die meine. Wenn die Familie gedeiht, nehme ich mit Selbstverständlichkeit an diesem Gedeihen teil. Wenn einzelne in ihr Grosses leisten, fühle ich das mit Recht als etwas, das mich mithebt und trägt. So muss ich auch das, was in ihr an Unrecht geschieht, in meine Verantwortung nehmen … Ich muss mich innerlich mit ihm auseinandersetzen und tun, was mir möglich ist, damit es in Ordnung komme. Das gleiche gilt für das Volk. … Jeder empfindet das Grosse, das im Volk geschehen ist, als auch ihm gehörig. So muss er auch das Unrecht, das da geschieht in seine Verantwortung aufnehmen. Es trifft seine Ehre; und er ist gehalten, das Seine zu tun, damit es in Ordnung komme. Das muss geschehen, weil Unrecht nicht stehen bleiben darf …weil Unrecht real ist; eine Macht, die, wenn sie nicht bewältigt und neu eingeordnet wird, weiterwirkt.“ (Romano Guardini)

Es liegt also heute an jedem von uns, diese Verantwortung zu tragen und „das Seine zu tun“.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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