Irrwege der Sterbehilfe

1995 Salisbury Review Moritz Nestor


Irrwege der Sterbehilfe


 

 

In Massenmedien und populärwissenschaftlichen Werken spricht man heute undifferenziert von „Sterbehilfe“, „Recht auf den Tod“, „Euthanasie“ oder „Gnadentod“ („mercy killing“), meint aber in der Regel die sogenannte „aktive Sterbehilfe“, d. h. die gewollte Tötung des Patienten. Um diese soll es hier gehen. Die demokratischen Verfassungsstaaten haben sie von jeher als Tötungsdelikt aufgefasst: Tötung eines Kranken ist nach britischem Recht auch dann eine vorsätzliche Tötung (murder), wenn der Kranke seine Tötung gewünscht hat. Denn kein Mensch kann in seine Tötung durch einen anderen wirksam einwilligen. Im deutschen Strafrecht ist die aktive und direkte Sterbehilfe ebenfalls durch die Einwilligungssperre des Paragraphen 216 StGB auch dann als Tötung strafbar, wenn sie auf ausdrückliches und ernstliches Verlangen des Getöteten geschieht. Damit wird dem naturrechtlich geforderten absoluten und unveräusserlichen Schutz des menschlichen Lebens und dessen Unversehrtheit Rechnung getragen. Dies folgt ebenfalls aus dem in Artikel 2, Absatz 2 des Grundgesetzes garantierten Recht auf Leben eines jeden Menschen. Es gibt keine Kausalität, warum der Wunsch eines Menschen, nicht mehr leben zu wollen, für jemanden ein zwingender Handlungsauftrag sein soll, ihn darum zu töten. Nicht mehr leben wollen und getötet werden wollen ist ausserdem zweierlei.

Seit der britischen habeas corpus act und den ersten Verfassungen der Neuzeit ist dieses Lebensrecht zur Grundbedingung von Selbstbestimmung und Würde und Kern des Grund- und Menschenrechtsbestandes unserer freiheitlich demokratischen Rechtsstaaten geworden. Die nationalen und internationalen ärztlichen Standesorganisationen stimmen damit überein. Alle Weltreligionen und die großen Zivilisationen, die wir aus der überlieferten Menschheitsgeschichte kennen,- Issedoner, Ägypter, Perser, Babylonier, Juden, Altchina (Buddhismus), Japaner (Konfuzianismus), Inder (Hinduismus), Römer, Griechen, Christentum, um nur einige zu nennen – kannten und kennen mit extrem geringen Ausnahmen (zum Beispiel die Kindsaussetzungen in Sparta) die Tötung Kranker oder „Lebensunwerter“ überhaupt nicht. Gerade im Germanischen Raum verschwanden mit dem Christentum die Greisenaussetzung oder -tötung bei Krieg, Hunger und Kälte.

„Euthanasie“ ist nicht von Hitler erfunden worden. Es handelt sich vielmehr um eine internationale Bewegung des 20 Jahrhunderts. Es hat immer wieder einzelne – z. B. Bacon oder Morus – gegeben, die „Euthanasie“ erwogen. Sie blieben jedoch bedeutungslos. Erst gegen Ende des 19. und dann im 20. Jahrhunderts entstand erstmals eine weltweite Bewegung, die größere Bevölkerungsgruppen oder sogar ganze Staaten wie Hitlerdeutschland zu mobilisieren vermochte. Man nannte sie „eugenische Gesellschaften“, Gesellschaften „für freiwillige Euthanasie“ oder für „humanes Sterben“. Sie haben eine ihrer wesentlichen geistigen Wurzeln im Sozialdarwinismus. Diese Ideologie predigt, der Starke solle nicht dem Schwachen helfen, sondern ihn töten, um alle vor dem Untergang zu schützen. Die Nazis wollten den „Volkskörper“ durch Ausmerzung der Kranken als „lebensunwertes Leben“ heilen. In den bolschewistischen KZs wurde in ganz ähnlichem Sinn die „russische Erde“ vom Bourgoise oder vom „Ungeziefer“ – so Lenin – „gereinigt“.

Für Darwin stand die Nächstenliebe höher als die Selektion. Einige seiner Nachfolger meinten jedoch, das Gesetz der Selektion stehe über der Nächstenliebe, und sie brachten das Schlagwort vom „Kampf ums Dasein“ popular. Ernst Haeckel und vor allem Galton übertrugen die Evolutionslehre in die Sozialpolitik. Man nannte das zu Beginn des Jahrhunderts „Eugenik“, Lehre von der guten Rasse. Weil Begabung vererbt sei – so Galton – müsse man in die Evolution lenkend eingreifen: Durch Behinderung der Vermehrung der „schlechteren“ Teile der Bevökerung bei gleichzeitiger Förderung der Vermehrung des „besseren“ Teils der Bevölkerung sollte die gesamte „Rasse“ verbessert werden.

Einer der Grundgedanken der Sozialdarwinisten war es, dass der Mensch die Evolution für seine Art außer Kraft gesetzt habe. Dadurch würden zu viele „lebensunwerte“ Esser überleben. Also müsse der Mensch die Selektion selbst in die Hand nehmen. Man wandte das zunächst auf das „Volk“, die „Rasse“, bald aber auch schon auf das Individuum an und da hiess es dann nicht mehr „Selektion“ oder „Ausmerze“, sondern man sprach vom „Recht auf den Tod“ – so der Titel eines Buches von Jost aus dem Jahre 1895. Haeckel hat diesen Gedanken des „Gnadentodes“ dann so formuliert, wie es uns auch heute wieder gegenübertritt: Der Mensch habe „das Recht oder wenn man will: die Pflicht, den schweren Leiden unserer Mitmenschen ein Ende zu bereiten, wenn schwere Krankheit ohne Hoffnung auf Besserung ihnen die Existenz unerträglich macht, und wenn sie selbst uns um «Erlösung vom Übel» bitten.“

Dem Sozialdarwinismus gesellte sich der – nach seinem Begründer, dem schottischen Pfarrer Mathus, benannte – Neo- Malthusianismus hinzu, der glaubte, weil die Armen sich schneller als die Wohlhabenden vermehren würden, sei das Bevölkerungwachstum immer grösser als die Nahrungsmittelproduktion, was einen ständigen Anstieg von Armut und Kriminalität zur Folge habe. Beide Geistesströmungen vereinigten sich zeitweise und finden sich in der Geschichte der Euthanasiebewegung während des ganzen 20. Jahrhunderts wieder.

Es war bald eine breite Bewegung. 1907 wurde das Galton Labaratory of National Eugenics in London gegründet. 1908 entstand die britische Eugenics Education Society, 1910 das Eugenics Record Office in den USA. 1914 galt zum Beispiel als Slogan für die Einwanderung in die USA „Might is Right“. In Deutschland schlug 1900 Ploetz, Vater der deutschen Rassehygiene, vor, bei jeder Geburt solle ein Ärztegremium über das Lebensrecht des Kindes entscheiden. Ploetz gründet 1905 die Gesellschaft für Rassenhygiene.

1908 wurde in den USA die Gründung der Society for Mental Hygiene in Conneticut zum Startschuss für eine weltweite Bewegung, die Eugenik als Psychohygiene propagierte. Man forderte vielerorts Sterilisation und Kastration von Geisteskranken, in manchen Ländern auch von Alkoholikern und sozial Untragbaren, in Deutschland dann auch von Kriminellen. 1922 lieferten der Jurist Binding und der Psychiater Hoche in Deutschland mit ihrer Schrift „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ den Nationalsozialisten die ideologische Grundlage für den euphemistisch als „Euthanasie“ benannten Massenmord an Zehntausenden von Patienten: Für Kranke, „an deren Erhaltung jedes vernünftige Interesse dauernd geschwunden ist“, so Binding, seien die Kosten zu hoch. Ihr Tod sei „für sie eine Erlösung“ und „für den Staat eine Befreiung von einer Last“. Der Mensch sei der „frei geborene Souverän über sein Leben“. Die „Beendigung“ eines „unwerten Lebens“ oder eines Lebens mit „negativem Wert“ müsse „als Erlösung mindestens für ihn empfunden werden“. Hitlers Leibarzt drückte sich dann so aus: „Dahinter stand: dem Menschen, der sich nicht selbst helfen kann und der unter entsprechenden quälenden Leiden sein Dasein fristete, eine Hilfe zu bringen.“ 1922, als Binding und Hoche ihre Ideen veröffentlichten und Hitlers Kanzlerschaft noch weit war, wurde ein Gesetzesentwurf zur Legalisierung der Euthanasie im Deutschen Parlament eingebracht, aber zurückgewiesen. 1935 schlug der US-amerikanische Arzt Carrel in seinem Buch „Man the Unknown“ vor, Kriminelle und Geisteskranke durch „suiable gases“ zu töten. Im gleichen Jahr 1935 wurde die englische Euthanasia Society gegründet, die bei unheilbaren, im Sterben liegenden Kranken „freiwillige Euthanasie“ legalisieren will. 1936 wird in Großbritanien ein entsprechender Gesetzesentwurf zurückgewiesen. 1938 entsteht die American Society of Euthanasia, gleichzeitg eine Gesellschaft für freiwillige Euthanasie in Conneticut. Hitler war dann der erste, der 1939 zur Tat schritt und den Befehl zur Massentötung Kranker gab. Man sieht die fliessenden Übergänge von der Rassenhygiene zum „freiwilligen“ oder, wie es heute moderner heißt, „selbstbestimmten Sterben“.

1945 war jedoch nicht das Ende der Euthanasiebewegung. Es mutet fast gespentisch an, wenn Hitlers Leibarzt während des Nürnberger Ärzteprozesses 1945 meinte: „Wenn man über diese Frage der Euthanasie sich offen ausspricht und sich müht, von einer ernsten Grundlage der Tatsachen sich gegenseitig zu verstehen, so wird meiner Meinung nach auch für die Zukunft ein Weg für die Durchführung zu finden sein.“ Die jüngste Geschichte in den Niederlanden hat dieses Omen, wie wir sehen werden, nur zu wahr werden lassen.

1969, 1975 und 1985 werden erneut Gesetzesentwürfe zur Euthanasie im Britischen Parlament eingebracht. Die „Incurable Patient´s Bill“ von 1975 vermeidet jedoch geflissentlich das durch die Nazis belastete Wort „Euthanasie“ und spricht vom „Recht“ des Patienten, „to be delivered from incurable suffering.“ Auch in Deutschland beginnen sich schon in den fünziger Jahren wieder die ersten Stimmen zu erheben. 1962 schlägt der vor 1945 als „Euthanasie“-Gutachter tätige Kinderarzt Catel eine „begrenzte Euthanasie“ als richtig verstandene „Leidminderung“ vor. Dies bleiben vorerst vereinzelte Stimmen, denn die Erinnerung an die Nazimorde ist noch zu wach. Nach dem Zweiten Weltkrieg passte sich die Euthanasiebewegung der historischen Situation an. Die Niederlage des Nationalsozialismus war eindeutig Man liess daher die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ zurücktreten und betonte jetzt das „Recht auf den Tod“. Die Hauptvertreter kamen aus dem linken, linksliberalen und später grünen Lager.

Der seit dem Zweiten Weltkrieg gestiegene Wohlstand hatte viele Menschen dazu verleitet, mehr Gewicht auf materielle Güter und gesellschaftliche Geltung zu legen als zum Beispiel auf die verantwortungsvolle Aufgabe der Gestaltung eines Familienlebens. Seit den 68er Jahren setzte dann eine massive Abwertung der Familie ein. Beides zusammen stellt wohl einen der wesentlichsten Faktoren dafür dar, daß die Gnadentodieologie greifen konnte. Das Wertgefüge unserer Demokratien wurde allgemein unter dem Ansturm einer Kulturrevolution, eines allgemeinen Verlusts an Sittlichkeit erschüttert. So war es gang und gäbe unter den Revolutionären der 68er Generation, sowohl für die Befreiung der Arbeiter vom Kapitalismus, der Kinder von den Eltern, der Sexualität von Tabus und für eine Freigabe der Abtreibung einzutreten als auch für die Legalisierung der „Euthanasie“. Wie der Familie so erging es allen tragenden Werten: Sowohl Pflichten gegenüber sich und die Gemeinschaft als auch das Recht selbst wurden als „Repression“ denunziert. Uum Ideal wurde eine „Selbstbestimmung“ ohne soziale Verantwortung erhoben – eine Freiheit, immer ohne Bedürfnisaufschub das tun zu dürfen, was man augeblicklich will. In einer nach einem solchen „Freiheit“sideal lebenden Gesellschaft lastet auf den Alten, Schwachen und Leidenden immer mehr der Druck, nicht der Gesellschaft zur Last fallen zu sollen. Je mehr der Lebenssinn nur noch in der ungehinderten spontanen Bedürfnisbefriedigung besteht, desto mehr ist im Individuum das Gefühl der Sinnlosigkeit für den Zeitpunkt vorprogrammiert, da es nicht mehr geniessen kann, alt und krank ist, leidet kurz wenn er nicht mehr dem Ideal einer ewigen Genußfähigkeit oder des ungehinderten Wollens entspricht. Dann „will“ er bald auch einmal „freiwillig“ das, was gesamtgeesellschaftlich up to date ist. Sein eigenes „Recht auf den Tod“ für den Augebnblick, wo ihm sein Leben unwert erscheint. Und wie anfällig für solche Empfindungen ist gerade das Selbstwertgefühl eines Kranken, Alten, Schwachen! Durch das ständige Reden über den Gnadentod gewöhnen sich die Menschen daran, dass Tötung in „bestimmten Fällen“ für menschlich zu halten. Das hat eine Entsolidarisierung zur Folge. Immer mehr entsteht das Gefühl für jeden in der Gesellschaft, dass er sich überlegen muss, wann er der Gemeinschaft zu Last fällt und wann es für ihn der rechte Zeitpunkt sei, sein „Recht auf den Tod“ wahrzunehmen. Aus dem sogenannten „Recht auf den Tod“ wird unweigerlich eine innere Verpflichtung, den Zeitpunkt selbst herauszufinden, wo das eigene Leben nicht mehr lebenswert ist. Bei den Nazis entschied ein Gremium Dritte, wer „lebensunwert“ sei. Nach der Ideologie der heutigen „Euthanasie“Ideologen soll jeder „selbst“ entscheiden können, wann sein Leben „unwert“ ist. Wie leicht ist dieses individuelleInteresse des Menschen sozial steuerbar! Und wie leicht ist es gerade steuerbar in einer Gesellschaft, in der immer mehr Menschen nach der Meinung der Allgemeinheit oder im Sinne der veröffentlichten Meinung handeln. Wenn es also zum Freiheitsideal wird, über seinen Tod selbst zu bestimmen, dann wirkt das auf den konformistisch Eingestellten so, dass er irgendwann auch einmal dadurch „fortschrittlich“ sein will, dass er scheinbar freiwillig ein „Interesse“ hat, sein Leben als unwert zu beenden. Der hierbei wirksame Druck ist vielfältig und subtil. Das mag das Gefühl sein, seiner sozialen Umwelt zur Last zu fallen, oder nicht mehr gesund und daher „unwert“ zu sein, oder, offene Anfeindung als Krüppel, und so weiter. Was ist das schliesslich anders als „indirekte Eugenik“ oder „individueller Faschismus“? Sowohl die postmoderne Gesellschaft der absolut befreiten und unmitelbaren Bedürfnisbefriediger als auch die nationalsozialistische Gesellschaft produzieren „lebensunwertes Leben“, sie töten es, und ranken (um das Gewissen der Menschen nicht zu beleidigen) darum den Glorienschein der „Euthanasie“, des „schönen Todes“. Der Mörder steht als durch eine neue Menschlichkeit gerechtfertigter „Erlöser“ da.

Mit dem Gnadentod aber betritt man unweigerlich eine schiefe Ebene: Am Anfang steht die Idee, der Arzt solle das Recht bekommen, einem Leidenden aus Mitleid zum Tode zu „verhelfen“, wenn dieser es aus freien Stücken verlangt (Wer wäre schon gegen das Selbstbestimmungsrecht!). Es wäre aber sicher ungerecht, wenn wir nur den von seinem Leiden „erlösen“ würden, der seinen Willen dazu frei äußern kann, wenn wir aber den, der es nicht (oder nicht mehr) kann, in seinem Leiden liegen lassen würden und er sich quälen müßte. Hat aber der Patient ein „Recht“, „erlöst“ zu werden, so ist es sicher unmenschlich, wenn der Arzt sich weigert, ihm nicht zu „helfen“ – sprich sich weigert zu töten! Dann ist es scheinbar menschlich und eine moralische Pflicht geworden zu töten und man will sie zum Gesetz erheben.

Dieser Logik können sich auch die Niederlande nicht entziehen, die heute als Bespiel dafür genannt werden, daß man den Gnadentod – gesetzlich kontrolliert – freigeben könne. Der 1991 veröffentlichte regierungsamtliche Remmelink-Bericht über die Euthanasiepraxis in Holland zeigt dies. Der Bericht beruht auf Daten über die niederländischen Patiententötungen, das unter der staatlichen Zusicherung von Straffreiheit landesweit erhoben wurde: Auf die zynisch formulierte Frage, ob sie jemals in ihrem Leben ohne Verlangen des Patienten „lebensbeendigend gehandelt“ hätten, antworteten die befragten Ärzte wie folgt: 27% hatten mindestens einmal in ihrem Leben einen Patienten ohne dessen Verlangen getötet, 32% hielten dies für „denkbar“ und nur 41% der befragten Ärzte wollten nie ohne ausdrückliches Verlangen des Patienten diesen töten.! – Aber töten würden sie? Das wahre Gesicht des vorgeblich „selbestimmten Todes“! Man würde also in ganz Grossbritanien keinen Arzt finden, der es nicht mindestens für „denkbar“ hielte, „lebensbeendigend zu handeln“!

Diese schiefe Ebene spiegelt sich ebenfalls in Euthanasiezahlen wieder: Für das Jahr 1990/91 zählt der Bericht 2 300 Euthanasien (jährliche Gesamtsterblichkeit 1990/91: 129 000). Unter „Euthanasie“ versteht der Bericht die Gabe eines Giftes durch den Arzt auf Verlangen des Patienten. Der Bericht nennt jedoch weitere 1 000 Patienten, denen ohne Verlangen von ihrem Arzt Gift verabreicht wurde Sie werden im Bericht ebenfalls nicht „Euthanasie“ genannt, sondern zynisch als „im äussersten Notfall angewandter Akt der Menschlichkeit beim Sterben“! Die Motive für diese 1 000 Tötungen ohne Verlangen (Mehrfachnennungen waren möglich) zeigen ebenfalls eindrücklich die „slippery slope“: Bei 17 % gab der Arzt „Wunsch des Patienten“ an, ohne ihn in Wirklichkeit gefragt zu haben, bei 30% wurden Schmerzen/Leiden des Patienten genannt, bei 31 % „niedere Lebensqualität, bei 60% „keine Aussicht auf Besserung“, bei 39% „Behandlung wurde sinnlos“, bei 32 % „Die Angehörigen hielten es nicht mehr aus“, bei 1% „Ökonomisch Gründe, z.B. Bettenknappheit“. Der Bericht listet weitere 6 700 Patienten auf, die eine Überdosis eines Medikamentes bekamen. Dabei war die Lebensbenedigung eines der Motive des Arztes. Weitere 1 350 Patienten bekamen eine Überdosis eines Medikamentes with the dotor´s explicit aim to end the patient´s live. Bei 5 400 von diesen 8 100 Fällen handelte der Arzt auf Verlangen der Patienten, bei 2 700 without request. Nach Aussagen der tonangebenden niederländischen Ärztegesellschaft KNMG wäre das unfreiwillige Euthanasie und grundsätzlich verboten. Der Bericht bezeichnet diese 8 100 Fälle als „normale medizinische Behandlung“! Withholding treatment geschah nach Angaben des Berichtes in 7 875 Fällen without the patient´s request. Bei 4 275 dieser Fälle war ending of the patient´s live one of the doctor´s motives. Bei 3 600 Fällen war die Lebensbeendigung the doctor´s explicit aim. Der Bericht zählt diese Fälle, nennt aber auch sie „normale medizinische Behandlung“!

Das sind zusammen über 19 000 Tote in einem Jahr. davon über 11 000 Patienten, die ohne Verlangen getötet wurden. Nur 2 300 werden von der niederländischen Regierung heute als „Euthanasie“ bezeichnet! Bei der Drogenfrage haben die Niederlande dieses statistische Kunststückchen schon einmal vorgeführt. Man zählte einfach nur den als „Drogentoten“, der mit der Nadel im Arm gefunden wurde – und kam so auf sagenhaft niedere Zahlen. Der Bericht sagt nichts Genaueres über Euthanasie an Neugeborenen oder Psychiatriepatienten aus. Es heisst jedoch darin, dass bei etwa der Hälfte aller Fälle von Frühgeburten oder bei schwer behinderten Kindern Hilfe nicht erteilt oder abgebrochen worden sei. Niemand wird je mehr aufdecken können, wieviel Unrecht da geschehen ist. Unangenehmste Erinnerungen aus nicht allzu ferner Vergangenheit steigen auf.

Seit den 68er Jahren hatte sich in den Niederlanden durch gezielte Rechtsbrüche eine wilde Euthanasiepraxis im ganzen Lande entwickelt. Niemand wusste, wie viele Menschen dabei umkamen. Bezeichnenderweise wurde die Kampagne gerade aus der Ärzteschaft heraus unter Mithilfe von Medien, Regierung und Justiz lanciert. Bis 1990 hatten mmer mehr Ärzte Patienten getötet. Einige waren dafür bestraft worden – mit der Zeit wurden es immer weniger, und die Strafen immer geringer. Immer mehr Ärzte wurden freigesprochen, weil sie angeblich in einer «Notsituation» gehandelt hätten. Immer mehr Fälle wurden gar nicht erst zur Anklage gebracht. Am 1. November 1990 haben sich dann die grösste niederländische Ärztegesellschaft und das Justizministerium auf ein „Meldeverfahren“ geeinigt, das von einem Arzt einen schriftlichen Bericht verlangt, wenn er einen Patienten getötet hat. Erschien dieser Bericht in Ordnung, ging der tötende Arzt straffrei aus. Ab dieser Zeit wurden noch weniger Anklagen erhoben. Das Töten ging aber unvermindert weiter. 1991 stellte sich heraus, dass über fünfzig % aller tötenden Ärzte auf den Totenschein «natürliche Todesursache» geschrieben hatten. Heute haben wir bereits die ersten Freisprüche wegen Tötung körperlich gesunder psychiatrischer Patienten.

Das niederländische Parlament verabschiedete 1993 das lange bekämpfte und europaweit von der Ärzteschaft geächtete Euthanasiegesetz. Art. 293 und 294 des nlStGB verbieten Tötung auf Verlangen und Beihilfe zum Suizid. Sie blieben unangetastet. Man baute vielmehr in das bereits bestehende «Gesetz über das Bestattungswesen» das 1990 ausgehandelte Meldeverfahren ein. Der Gesetzgeber schuf damit die groteske Situation, dass das Strafgesetzbuch allen im Staat außer den Ärzten das Töten kategorisch verbietet. Das Gesetz sagt nicht, welche Patienten ein Arzt töten „darf“. Es beschreibt nur, wie ein Arzt Patiententötungen korrekt melden muß, um nicht bestraft zu werden. Daß Beihilfe zum Suizid und Patiententötungen ohne Verlangen des Patienten als „normale medizinische Praxis» längst gerichtlich toleriert werden, nennt es nicht. Was „Euthanasie“ sei und wer getötet werden darf, setzt die Königlich-niederländische medizinische Gesellschaft fest. Sie befürwortet auch «lebensbeendende Massnahmen» bei Koma-Patienten, geistig behinderten Alten, schwer missgebildeten Neugeborenen und psychisch Gestörten. Dass im Sinne des Gesetzes „richtig“ – getötet wird, darüber wacht der Staat. Hat nun ein Arzt einen Patienten getötet, ruft er danach den amtsärztlichen Leichenbeschauer. Der untersucht die Leiche – rein äusserlich. Dann hält er fest, ob der die Tötung eine „Sterbehilfe auf Verlangen“, einer „Hilfeleistung bei Selbsttötung“ oder eine „aktive Sterbehilfe ohne ausdrückliches Verlangen“ war, und er bekommt vom Arzt einen Bericht, den er „verifiziert“. Dieser Bericht umfasst die Krankengeschichte; eine Bestätigung, dass es der freie Wunsch des Patienten war, durch den Arzt getötet zu werden; oder – man beachte! – «was die Ursache [dafür war], dass der ausdrückliche Wunsch des Patienten nicht vorlag»; mit welchen Kollegen sich der Arzt beraten hatte; wer wie tötete und wer dabei Zeuge war.

So einfach ist schlussendlich der Beginn einer neuen Ära, in der das Leben des anderen Menschen nicht mehr unantastbar sein soll. Wer an seine betagten Eltern, seine Familie oder andere liebe Angehörige denkt oder an die eigene Situation bei schwerer Krankheit oder fortgeschrittenem Alter, der füllt den mit dem Fremdwort „Euthanasie“ kaschierten Vorgang mit Leben oder Tod. Was dann, wenn es nicht mehr zum naturrechtlich geltenden Bestand gehört und der Mensch keinerlei Recht hat, es mutwillig zu beenden? Ist nicht zutiefst erschreckend, dass heute eine junge und mittlere Generation eine Debatte darüber zulässt, ob älter werdende Menschen oder in Krankheit auf die Hilfe anderer angewiesene noch weiter leben sollen und dürfen oder nicht? Humanität und Vernunft haben in der Medizin dazu geführt, bei irreversibler (nicht mehr rückgängig zu machender) Bewusstlosigkeit von künstlichen lebensverlängernden Massnahmen abzusehen; bei schweren Krankheitsprozessen, die zum Tode hinführen, wird mit den heutigen Möglichkeiten sorgfältig dosierter Schmerzbehandlung unnötiges Leid vermieden. Keine ideologische Diskussion und keine Kosten-Debatte hat ein Recht, daran zu rütteln und Leben aktiv zu beenden.

Das niederländische Euthanasiegesetz setzt unveräußerliche Grundsätze des Rechtsstaates außer Kraft. Der Getötete wird vom Leichenbeschauer nur äußerlich untersucht. Das Beweismaterial (Bericht, Formulare, Bescheinigungen, Briefe etc.) wird vom Arzt bereitgestellt und vom Leichenbeschauer «verifiziert»,  erst nachdem der Patient tot ist! Der Leichenbeschauer gibt die Unterlagen an den Staatsanwalt weiter, der rein nach ihnen darüber entscheidet, ob er eine Strafverfolgung einleitet. Scheint ihm der Fall korrekt gemeldet, sieht er von einer Strafverfolgung ab. Dies ist dann der Fall, wenn der Arzt „nachweist“, dass ein freier Entschluß des Patienten vorlag und der Arzt in einer „ausweglosen Notsituation“ gewesen zu sein, in der er dem Patienten nur noch dadurch helfen konnte, dass er ihn tötete. Zum Zeitpunkt, da der Arzt den Leichenbeschauer ruft, lebt der einzig verlässliche Zeuge – der Patient – nicht mehr. Der Arzt kann in seinen Bericht schreiben, was er will! Für einen Rechtsstaat ist dies untragbar. Der Remmelink-Bericht deckt auf, dass in 65 bis 75 % aller untersuchten Patiententötungen die Ärzte einfach „natürliche Todesursache“ angegeben hatten. 1987 wurden nur 197, 1988 nur 180 und 1989 nur 340 und 1992 nur 1320 Fälle tatsächlich gemeldet. Rechtsstaat, quo vadis? Ethik muss nach Aristoteles Grundlage der Politik sein. Entweder wir verbieten allen das Töten, oder wir lassen den Dingen freien Lauf. Absurd ist es, Täter darauf verpflichten zu wollen, ihre Tötung nachträglich zu melden, damit man kontrollieren kann, ob sie richtig gehandelt haben. Man kann nicht durch eine nachträgliche Meldepflicht den Täter dazu erziehen, nur dann zu töten, wenn es „richtig“ ist. Damit läuft jede Schutzwirkung des Strafrechts zum Erhalt des Lebens automatisch ins Leere. Sinn des Strafens der Tötungsdelikte ist vor allem, den Schutz und die Sicherheit des Lebenden zu gewährleisten. Das niederländische Gesetz dagegen kann und will offenbar keine Tötungen verhindern. Es ist Freipass: Zuerst töten, dann berichten – Papier ist geduldig und der Zeuge tot! Aus Angst vor internationalem Ansehensverlust wehrt sich die holländische Regierung natürlich energisch gegen den Vorwurf, sie wolle Tötung legalisieren.

Und was wird geschehen, wenn diese unglückselige Debatte um „Euthanasie“ statt Tötung weiter forciert wird? So nannte etwa der Zürcher Philosophiedozent Leist kürzlich vor Ärzten als einziges Kriterium für die Frage, ob ein Mensch leben dürfe oder nicht, Lust-Unlust-Empfindungen! Und wenn die gleichen Argumente etwas kaschierter, etwas unauffälliger, etwas «humaner» oder gar als «Notstand» oder «Hilfeleistung» daherkommen? Was dann, wenn sie in Kostenargumente verpackt werden? – Die Computerindustrie hat ihre Chance längst wahrgenommen: In den USA wurde dafür schon ein Programm entwickelt, das errechnet, ob der Patient eine 90tägige Behandlung überleben wird. Kommt die Maschine zu einem „Nein“, leuchtet ein schwarzer Sarg mit einem weißen Kreuz am Bildschirm auf. – Und was, wenn beide Argumentationen eine unselige Allianz eingehen? Die Menschheit hat als Voraussetzung für alles weitere und als zentralen Punkt im Bestand der unveräusserlichen Menschrechte das Recht auf das eigene Leben und auf Achtung der Person erklärt. Der Mensch habe seine sittliche Existenz in einem nie in sich abgeschlossenen Prozess zu verwirklichen und darf deshalb diesem Prozess kein willkürliches Ende setzen, hält Messner in seiner naturrechtlich-christlichen Ethik fest. «Daher ist Euthanasie sittlich verwerflich», sagt er als einer, der 1938 sein Exil begann und der wusste, wohin es führt, wenn das menschliche Leben nicht mehr unantastbar bleibt.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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