Prostitution ist «eine unmenschliche Tätigkeit», eine «humanitäre Katastrophe» – Betroffene berichten ungeschminkt

2. Oktober 2021 Moritz Nestor


Prostitution ist «eine unmenschliche Tätigkeit», eine «humanitäre Katastrophe» – Betroffene berichten ungeschminkt


 

In seinem Aufsatz «Die individuelle Psychologie der Prostitution» von 1920 schreibt Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie, Prostitution könne

«nur menschlichen Zuständen entspringen, die keinen Widerspruch dabei empfinden, das Weib als Mittel zur Geschlechtslust, als Objekt, als Eigentum des Mannes zu betrachten. Mit anderen Worten: die Tatsache der Prostitution ist nur in einer Gesellschaft möglich, die sich als Ziel schlechthin die Bedürfnisbefriedigung des Mannes gesetzt hat.»[1]

Doch heute heisst es unverdrossen: Prostitution, ein «Beruf wie jeder andere», das «älteste Gewerbe der Welt«, Prostitution «wird es immer geben». Stimmt das? Ist nicht ganz Ähnliches vor gar nicht so langer Zeit auch von der Sklaverei gesagt worden? Und wird Sklaverei nicht heute von Humanisten und Demokraten geächtet? Nach den Gesetzen des Rotlichts, welche Frauen sexuell ausbeuten, ist Sex-Sklaverei allerdings auch eine «Lebensform».

In Ländern wie Schweden oder Frankreich redet man im Zusammenhang mit Prostitution von der Menschenwürde der Frauen – und Männer. Und bekämpft die internationale Kinder- und Frauenhandel-Mafia. Nur in Deutschland wird der «Verkauf» von Körper und Seele verschleiernd «Sexarbeit» genannt und gilt die Prostitution als ein «Beruf wie jeder andere». Und nur in Deutschland öffnete eine rot-grüne Gesetzesänderung 2002 mit einem Gesetz den Frauenhändlern Tür und Tor. 90 % aller Prostituierten in Deutschland kommen aus den ärmsten Ländern in Osteuropa und Afrika. Doch auch die meisten deutschen Prostituierten landen in der Altersarmut.

In dem von Alice Schwarzer 2013 herausgegebenen Buch «Prostitution – Ein deutscher Skandal! Wie konnten wir zum Paradies der Frauenhändler werden?» informieren Autorinnen und Autoren über den Skandal des «deutschen Sonderweges», die bittere Realität der Frauen in der Prostitution – und den Kampf von Feministinnen an ihrer Seite.

Ellen Templin, zum Beispiel, Chefin eines Domina-Studios in Berlin-Schöneberg berichtet, seit der ‘Legalisierung’ der Prostitution durch das 2002 durch die rot-grünen Regierung Schröder/Fischer erlassene Prostitutionsgesetz seien die Sexanzeigen des Berliner Stadtmagazins ‘Tip’ von einem Tag auf den anderen hemmungslos geworden,

«auch die Freier brutaler. Von einem Tag auf den anderen. Wenn man sagt: Das mache ich nicht – antworten die heutzutage: Hab dich nicht so, das ist doch dein Beruf!» ° «Neulich hat mich ein Mann angerufen, die ich nicht kannte, und mich gefragt: Kann ich dir nachmittags mal für zwei, drei Stunden meine Monika zum Jobben vorbeischicken? Auf Nachfrage stellte sich heraus: Monika ist seine Ehefrau, und sie haben Schulden und brauchen Geld. Das ist beileibe nicht das einzige Angebot dieser Art, das ich in den vergangenen Jahren bekommen habe.» ° «Früher lief SM [= Sadomasochismus: sexuelles Lusterleben durch Zufügen oder Erleiden von Gewalt] unter ‚Perversion‘, nicht nur prostituiertentechnisch, sondern auch medizinisch gesehen. Heute ist Sadomasochismus ’normal‘ und inzwischen lässt sich etwa jeder fünfte Freier lustvoll quälen». «Früher hatten die Freier wenigstens noch ein schlechtes Gewissen. Das gibt es heute nicht mehr. Sie wollen immer mehr.» ° «Unter Prostituierten wird jetzt noch mehr gesoffen, werden noch mehr Drogen genommen, wird noch mehr gekotzt, gibt es noch mehr Schuppenflechte.» ° «Ich kenne keine einzige Prostituierte, die sich als ‚Prostituierte‘ krankenversichert hätte – was ja angeblich der grosse Vorteil der Gesetzesreform [von 2002] sein soll. Auch hier im Studio will doch keine, dass die anderen wissen, was sie tut. Viele hier haben Kinder. Die meisten zwei. Die sagen immer: Meine Kinder dürfen das nie erfahren.» ° «Für die Zuhälter ist das neue Gesetz natürlich ein Traum. Die sind jetzt ja nur noch Manager …» ° «Es gibt keine freiwillige Prostitution. Eine Frau, die sich prostituiert, hat Gründe, in erste Linie psychische. […] Und in zweiter Linie hat sie finanzielle Gründe. […] Die Seele von Frauen, die sich prostituieren, ist immer schon zerstört.» ° «Es gibt allerdings Frauen, die, nachdem sie sich zum ersten Mal prostituiert haben, sagen: Zum ersten Mal in meinem Leben hat mir ein Mann Komplimente gemacht. […] Das heisst, deren Selbstwertgefühl ist noch nicht mal im Keller – es existiert überhaupt nicht.» ° «Eine der Frauen […] war beim Therapeuten, […] . Und der hat ihr doch tatsächlich gesagt, er fände das toll, was sie macht. Als sie mir das erzählt hat, habe ich es ihr nicht geglaubt. Ich bin also auch hin. Und ich habe ihm gesagt, wie verzweifelt ich bin, dass ich mich schäme und überhaupt nicht klarkomme damit, dass ich mich prostituiere. Da hat er mir geantwortet: ‚Das ist doch gar kein Problem. Ich finde das gut, was sie machen. Das ist doch jetzt auch ein richtiger Beruf.» ° «Früher hat man uns gesagt, mit uns stimme was nicht, weil wir Prostituierte sind. Jetzt stimmt mit uns was nicht, wenn wir nicht gerne Prostituierte sind.» ° «PROSTITUTION IST EINE UNMENSCHLICHE TÄTIGKEIT – UND KEIN BERUF WIE JEDER ANDERE.» (Seite 171-178)

Am 25. Feb 2020 veröffentlicht die einstige Prostituierte Anna Schreiber, die sich als junge alleinerziehende Mutter in Geldnot zwei Jahre lang prostituiert hat, um sich und ihre Tochter durchzubringen, auf «www.frauensicht.ch» einen flammenden Artikel mit dem Titel «Prostitution ist eine humanitäre Katastrophe». Darin wendet sie sich gegen die «Normalisierung» der Prostitution als «Beruf wie jeder andere». Sie hat an Leib und Seele die Qualen erlebt, «wie brutal es ist, einen anderen Körper für die eigene sexuelle Befriedigung zu benutzen, lieblos, seelenlos, völlig unpersönlich und austauschbar», klagt sie an. Heute ist sie Psychotherapeutin und will Prostitution verbieten lassen. 2008 erschien ihr Buch «Körper sucht Seele».

Als Psychotherapeutin und Betroffene, die es aus eigener Erfahrung weiss, verweist Anna Schreiber die Behauptung ins Märchenland, es gebe «freiwillige» Prostitution. Die meisten Prostituierten seien Zwangsprostituierte.

«Viele Frauen verkaufen ihren Körper, damit ihre Kinder oder ihre Familien in einem anderen Land nicht verhungern. Das ist eine humanitäre Katastrophe»,

sagte sie. Dieses Elend werde umso mehr vertuscht, je mehr die Gesellschaft Prostitution für «völlig normal» halte. Der Freier könne das Elend, an dem er aktiv beteiligt ist, vor seinem Gewissen und der Gesellschaft billigerweise damit entschuldigen, dass doch alles «ganz normal» und «freiwillig» bzw. «einvernehmlich» sei. Je mehr Geld im Spiel sei, desto weniger nehme man wahr, dass bei Prostitution immer Gewalt im Spiel ist.

Aus eigenem bitteren Erleben heraus berichtet Anna Schreiber authentisch von den weithin in der Öffentlichkeit verleugneten Schrecken der Prostitution. Jenseits der herrschenden gesellschaftlichen Mythen von «sexueller Freiheit», «Vorlieben» und «Gewerbe wie jedes andere» wird gezeigt, was Prostitution wirklich ist: «nacktes Schlachtvieh in perverser Variation», sagt Anna Schreiber. Ohne sich auf einseitige Schemata einzulassen, beschreibt «Körper sucht Seele» die menschlich bedrückenden, zerstörerischen psychologischen Vorgänge in Frauen und (!) Männern im Rotlichtmilieu – jenseits von Opfer-Täter-Debatten, die oft so falsch sind und kaum oder nie auf die wirklichen seelischen Ursachen der Prostitution in Individuum und Kultur eingehen. Sei es aus finanziellen und/oder ideologischen Motiven.

Man kann es der Psychotherapeutin Anna Schreiber kaum hoch genug anrechnen, wie ehrlich und differenziert sie als mittlerweile geschulte Fachperson – dreissig Jahre nach den traumatischen Erfahrungen ihrer Rotlichtzeit –, die psychodynamischen Zusammenhänge der Prostitution aus eigenem schmerzlichen Erleben heraus beschreibt. Hier muss alle ideologisch motivierte Abwehr und Schönfärberei innehalten, zu nahe lässt Anna Schreiber den Leser an sich herankommen. Nur dadurch wird die seelische Wahrheit der Prostitution, die der Zeitgeist nicht hören will, dem Dunkel entrissen. Anna Schreiber hat während Jahren der therapeutischen Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrem Schicksal gerungen, hat Kraft gefunden, sich aus dem Elend emporzuheben, und sie lässt den Leser daran teilhaben. Sie legt den Finger auf die tiefe Wunde im Menschenbild unserer Kultur, welche für die Prostitution ursächlich verantwortlich ist: Die Trennung von Körper und Seele/Geist – von «Sex» und Liebe. Gerade das drückt «Körper sucht Seele» aus: wie sie als Prostituierte immer gefühlloser wurde – werden musste: Um das Gefühl für die eigene Würde wenigstens etwas vor dem Gewahrwerden des tiefen Schmerzes abzuschirmen, der entsteht, wenn man neben sich steht, während man seinen Körper als «Fleisch» an neurotische Männer verkaufen muss:

«Die hohe Dosis an herzlosem Sex bringt den Mangel nicht zum Verschwinden, sondern verstärkt die Suche und erschwert zunehmend, dem Gegenüber auf der Herzebene zu begegnen.»

«Keine Frau kommt als Prostituierte zur Welt», Prostitution sein ein Lebensschicksal, sagt Anna Schreiber und beschreibt ihren Weg durch eine Hölle, die jedem Gerede von «Gewerbe» und «Freiwilligkeit» Hohn spottet – bis zum bitteren Ende: «Ich nehme Menschen um mich herum nicht mehr wahr.» (S. 152) «Ich erbreche meine Nahrung. Ich schneide meine Haut. Ich drücke Zigaretten auf meinem Körper aus. Ich spüre nichts, aber so kann ich wenigstens sehen, wie Schmerz aussieht, wenn ich ihn schon nicht mehr fühlen kann.» (S. 154)

Der erste Schritt zum Ausstieg geschieht 1984 auf einem Neckarschiff, gechartert von einer Ärztegruppe – inklusive Prostituiertenschar:

«Unter Deck: jeder Mann mit jeder Frau, nacktes Schlachtvieh in perverser Variation. […] Ich hänge in den Seilen an Bord, wie ein gerupftes Huhn, wie geschlachtet und ausgenommen». (S. 207)

Da tritt eine Freundin zu ihr, die wie Anna auch eine Tochter hat, und sagt unvermittelt:

«Jetzt stell dir vor, sie [ihre beiden Töchter] würden hier sitzen und würden das tun, was wir tun. Stell die das mal vor!» ° «“Wir werden aufhören“, höre ich mich sprechen, ruhig und sicher. […] Dieses Leid wird aufhören, und die Liebe wird bleiben. Wir halten uns fest, weinend und lachend. […] Durch die Frage meiner Freundin kam, mit dem liebenden Blick auf mein Kind, Erkennen und Sehen der Liebe zu mir. […] Die Vorstellung, dass meine Tochter als erwachsene Frau auch nur ansatzweise derlei Erfahrungen machen müsste wie ich in dieser Zeit, war mir so unerträglich grauenvoll, so leidvoll entsetzlich, dass das klare Erkennen durchbrach […] Das war der erste und der wichtigste Schritt. Das vergass ich nie mehr. Daran konnte ich mich festhalten.» (S. 208f.)

Man muss nicht mit allen Deutungen des von Ana Schreiber Erlebten einverstanden sein. Doch das schmälert den Wert des Buches nicht. Es behält seinen Wert als Schilderung einer verleugneten Realität durch eine Zeitzeugin. Und während ich die Schilderungen Anna Schreibers las über ihr Leben als Prostituiert und ihren Weg wieder heraus, fiel mir unwillkürlich jenes Zitat Alfred Adlers von 1927 in seinem Buch Menschenkenntnis wieder ein:

Dass
«ein Mensch, der sich aus den Schwierigkeiten des Lebens erhoben, sich aus dem Sumpf emporgearbeitet hat, der die Kraft gefunden hat, alles das hinter sich zu werfen und sich daraus zu erheben, die guten und schlechten Seiten des Lebens am besten kennen muß. Ihm kommt darin kein anderer gleich, vor allem nicht der Gerechte.»[2]

Der «beste Menschenkenner», betont Adler dann, sei jener Typus Mensch,
«der entweder drinnen war in all den Verfehlungen des menschlichen Seelenlebens und sich daraus gerettet hat, oder der wenigstens nahe daran vorbeigekommen ist.» Er, «der alle diese Leidenschaften selbst durchgemacht hat. Der reuige Sünder scheint nicht nur für unsere Zeit, sondern auch für die Zeit der Entwicklung aller Religionen jener Typus zu sein, dem der höchste Wert zugebilligt wird, der viel höher steht als tausend Gerechte.» [3]

 

***

[1]      Adler, Alfred. Die individuelle Psychologie der Prostitution. In: Praxis und Theorie der Individualpsychologie. 1920
[2]      Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[3]      Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[4]      http://www.frauensicht.ch/Artikel/Koerper/Prostitution-ist-eine-humanitare-Katastrophe (eingesehen am 2. 10. 2021)

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

Weiterempfehlen