Rapp Wagner, Renata. Postmodernes Denken und Pädagogik. Eine kritische Analyse aus philosophisch-anthropologischer Perspektive. Mit einem Vorwort von Fritz-Peter Hager. Verlag Paul Haupt, Bern, Stuttgart, Wien 1997
Vorwort von Fritz-Peter Hager
Einleitung
I. Philosophisch-anthropologische Grundlagen pädagogischer Theorie
I.1. Zur Entwicklung eines personalen Menschenbildes in der europäischen Bildungstradition
I.1.1. Vernunft, Tugend und Freiheit als Grundkonstanten eines personalen Menschenbildes
I.1.2. Griechische Philosophie
I.1.2.1. Platon: Vernunftherrschaft in der Seele als sittliches Ideal
I.1.2.2. Aristoteles: Lebenspraktische Tugendlehre
I.1.2.2.1. Exkurs: Zur Natur des Menschen
I.1.3. Die Stoa
I.1.4. Thomas von Aquin: Person, Vernunft und Tugend
I.1.4.1. Das augustinisch-mittelalterliche Weltbild und die geistesgeschichtliche Wende durch die Aristoteles-Rezeption
I.1.4.2. Der Person-Begriff bei Thomas von Aquin
I.1.5. Zur klassischen Tugendmoral
I.1.6. Neuzeit und Aufklärung
I.1.6.1. Einleitung
I.1.6.2. Leitgedanken der Aufklärung
I.1.6.3. Vernunft, Freiheit und Selbstbestimmung: Das Menschenbild der neuzeitlichen Moderne
I.1.6.3.1. Das freie und selbständige Individuum bei Montaigne
I.1.6.3.2. Das denkende Subjekt als Voraussetzung aller Gewissheit bei Descartes
I.1.6.3.3. John Locke: Freiheit, Gleichheit und Vernunft
I.1.6.3.3.1. Befreiung der Vernunft von metaphysischer Spekulation und empiristische Erkenntnistheorie
I.1.6.3.3.2. Die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit im Rechtsstaat
I.1.6.3.3.3. Vernünftige Selbstbestimmung im Rahmen der menschlichen Natur: Das neuzeitliche Menschenbild
I.1.6.3.3.4. Lockes Gedanken über Erziehung
I.1.6.3.4. Die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit durch die Volksschule bei Condorcet
I.1.6.3.5. Der Erziehungsgedanke in der französischen Aufklärung
I.1.6.3.6. Konsequenzen der aufklärerischen philosophisch-anthropologischen Grundannahmen für die Pädagogik
I.1.6.3.7. Erziehung zur Mitmenschlichkeit bei Pestalozzi
I.1.6.3.7.1. Zu Pestalozzis Werk und Wirken
I.1.6.3.7.2. Pestalozzis anthropologische Konzeption
I.1.6.3.7.3. Gefühlsbildung und die Mutter-Kind-Beziehung
I.1.6.3.7.4. Gefühlsmässig verankerte Sittlichkeit
I.1.6.3.7.5. Die grosse Bedeutung des Lehrers und Erziehers bei Pestalozzi
I.2. Anthropologisch fundierte Werte aus der europäischen Ethiktradition
I.3. Wissenschaft
I.3.1. Postmoderne Vorwürfe an die Wissenschaft
I.3.2. Was ist Wissenschaft?
I.3.3. Die neuzeitliche Wissenschaft
I.3.4. Menschliche Natur und Wissenschaft
I.3.5. Entwicklungen in den Naturwissenschaften nach der Ablösung des mechanistischen Weltbildes im 20. Jahrhundert
II. Die postmoderne Philosophie
II.1. Das postmoderne Denken
II.1.1. Der Begriff „Postmoderne“
II.1.2. Systematische Kategorien für das postmoderne Denken
II.2. Der postmoderne Antihumanismus
II.3. Relativismus und Wertezersetzung
II.3.1. Das „Ende der grossen Erzählungen“: Die relativistische Position bei Lyotard
II.3.2. Foucaults „kulturelle Attacke“
II.3.2.1. „Normalisierung“ und „Disziplinierung“
II.3.2.2. Historischer und kultureller Relativismus
II.3.2.3. Die Schule als „Disziplinarinstitution“
II.3.3. „Prinzipien sind Grabsteine“: Feyerabends Relativismus
II.3.4. Werte und Moral als „Sekundärzynismen“ bei Sloterdijk
II.4. Der Angriff auf die Vernunft
II.4.1. Übersicht über die neuzeitliche Tradition der Vernunft und deren Kritik
II.4.2. Lyotard: Die Vernunft im Plural
II.4.3. Foucault: Vernunftanspruch als „Wille zur Macht“
II.4.4. Feyerabend: „Ratiofaschismus“
II.4.5. Sloterdijk: „Zynische Vernunft“
II.5. Der postmoderne Bruch mit der Geschichte
II.5.1. Vattimo: „Das Ende der Moderne“
II.5.2. Foucault: „Zerstreute Ereignisse“
II.5.3. Sloterdijk: „Nach der Geschichte“
II.5.4. Die linksideologische Geschichtsinterpretation
II.5.4.1. Foucaults Darstellung historischer Entwicklungen anhand der „Geburt des Gefängnisses“
II.6. Wissenschaftsfeindschaft
II.6.1. „Herrschaftsstreben“, „Wissen und Macht“
II.6.2. Wissenschaft als Sprachspiel oder Meinung
II.6.3. „Anything goes“
II.6.4. Ablehnung der Humanwissenschaften
II.7. Die wichtigsten Kritikpunkte an der postmodernen Philosophie
III. Konsequenzen postmoderner Philosophie für die Pädagogik
III.1. Einleitung
III.2. Konsequenzen postmoderner Philosophie für die Pädagogik
III.3. Beiträge aus der erziehungswissenschaftlichen Debatte über die Postmoderne
III.3.1. Darstellung verschiedener Positionen
III.3.2. Von der erziehungswissenschaftlichen Diskussion angesprochene Merkmale des Postmodernismus und ihre Auswirkungen auf die Pädagogik
III.4. Konzepte für eine postmoderne Pädagogik
III.4.1. Postmodernism and Education
III.4.2. Applied Grammatology. Post(e)-Pedagogy from Jacques Derrida to Joseph Beuys
III.4.3. Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur Subjektiven Didaktik
III.5. Postmoderne Tendenzen in der pädagogischen Praxis
III.5.1. Bildungssysteme und Prinzipien der Postmoderne: Vielfalt und Transversale Vernunft
III.5.2. Die Antipädagogik
III.5.3. Die Gestaltpädagogik
III.6. Ergebnisse für die Hauptbereiche der Pädagogik
Ausblick
Vorwort
von Fritz-Peter Hager
Das postmoderne Denken hat sich sowohl in seiner philosophischen Ausprägung im französischen Poststrukturalismus (J.-F. Lyotard, J. Baudrillard, M. Foucault, J. Derrida) als auch in seinen grundsätzlichen Äusserungen z.B. in den USA, in Grossbritannien und Deutschland als ein äusserst komplexes Phänomen erwiesen, und der Begriff der Postmoderne muss geistesgeschichtlich gesehen als ein uneinheitliches und höchst problematisches Konstrukt angesehen werden.
Seit Beginn der siebziger Jahre hat sich dieses Denken auch in der pädagogischen Theorie und Reflexion ausgewirkt, zunächst in den USA und in Grossbritannien, seit Beginn der achtziger Jahre auch im deutschen Sprach- und Kulturbereich. Hier hat es allerdings nicht zur Begründung einer neuen Richtung pädagogischer Theorie (nach der geisteswissenschaftlichen, der empirischen und der emanzipatorischen Pädagogik) geführt, sondern ist (abgesehen von einzelnen Ausnahmen, die eher Versuchscharakter tragen) gleichzeitig mit (und symptomatisch für?) gewissen Auflösungstendenzen am Rande der Pädagogik und der Erziehung (im Gefolge derer vom Ende der Pädagogik und der Erziehung die Rede ist).
Trotz der Uneinheitlichkeit und Komplexität des postmodernen Denkens wie auch seiner Rezeption in der Pädagogik lassen sich aber doch gewisse Grundtendenzen der postmodernen Philosophie und gewisse Grundzüge ihrer Auffassung vom Menschen und seiner gegenwärtigen Situation feststellen, welche auch eine Bedeutung für die Diskussion in der Pädagogik haben.
Renata Rapp Wagners vorliegende Arbeit profiliert sich gegenüber anderen Untersuchungen, die (wie z.B. diejenige von C. Beck: „Ästhetisierung des Denkens“, 1993) eine kritische Bestandesaufnahme der Rezeption des postmodernen Denkens in der Pädagogik bieten, dadurch, dass sie gewisse Grundzüge des „Menschenbildes“, welches sich aus dem postmodernen Denken ergibt, herausarbeitet und diese den Grundüberzeugungen des Menschenbildes und der Ethik in der europäisch-abendländischen Tradition von der Antike bis zur Aufklärung gegenüberstellt.
Dabei stellt Rapp Wagner die verschiedenen Ansätze der Rezeption des postmodernen Denkens durch die Pädagogik zusammenfassend dar und gelangt so zu einer Würdigung der Bedeutung der postmodernen Philosophie für die Erziehungswissenschaft. Sowohl bei der Darstellung von einzelnen Phänomenen der postmodernen Philosophie selbst als auch beim Nachweis der Rezeption dieser Denkformen in der Pädagogik gelingt es ihr, Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten aufzudecken, die meines Wissens bisher noch nicht mit solcher Deutlichkeit erkannt worden sind. Die Vertrautheit mit den für die einschlägige systematische Thematik wichtigsten Klassikern der europäisch‑abendländischen Philosophie und Pädagogik gestattet es Rapp Wagner, auch kritisch zu den postmodernen Denkformen und ihren pädagogischen Konsequenzen Stellung zu nehmen.
Möge die vorliegende Abhandlung Anlass zur Besinnung über die Grundwerte und Grundwahrheiten unserer europäischen Kultur- und Bildungstradition geben, und möge durch diese Untersuchung das Nachdenken darüber gefördert werden, inwiefern die weitere Verwirklichung und Verbreitung dieser Werte und Wahrheiten durch das postmoderne Denken in Frage gestellt oder gar gefährdet wird.
Einleitung
Seit einigen Jahren fällt in verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens das Phänomen eines zunehmenden Werterelativismus auf. Bis anhin geltende und tragende Werte des Zusammenlebens in Ehe und Familie, in der Schule und für andere Institutionen, sind relativiert worden. Verschiedene neue Lebensformen sollen erprobt werden, wobei alles erlaubt sei. Ein Leben als „Single“ könne genau so erfüllend sein, wie die Partnerschaft zweier Menschen, welchen Geschlechts auch immer. Die Ehe auf Lebenszeit, aber auch die Treue zwischen den Lebenspartnern sind keine Ideale mehr. „Familie“ werden alle möglichen Varianten menschlichen Zusammenlebens genannt. Wer seinen Kindern ein Vorbild sein will und ihnen eine Orientierung gibt, nehme die Kinder als gleichwertige Partner nicht ernst, wird behauptet. Ja die Erziehung überhaupt sei autoritäre Unterdrückung der kindlichen Spontaneität. Menschen, die sich an Werten aus der jüdisch-christlichen und der aufklärerischen Tradition orientieren, laufen heute Gefahr, als fundamentalistisch denunziert und ausgegrenzt zu werden. Propagiert und politisch vorangetrieben wird die multikulturelle Gesellschaft mit ihrem Wertechaos. Ob alle Volksgruppen, die im gleichen Staat nebeneinanderherleben, die Menschenrechte respektieren, wird nicht gefragt. Von feministischer Seite sind Bestrebungen im Gange, die natürlichen Geschlechter von Frau und Mann zu dekonstruieren. Unter dem Begriff „Gender“ deuten Feministinnen die natürlichen Geschlechter von Frau und Mann als soziale Konstruktionen um, die beliebig abzuändern seien. Normalität wird als unterdrückerisch bezeichnet. So solle z.B. die sexuelle Orientierung ein Kontinuum darstellen, auf dem Menschen mit der heterosexuellen Ausrichtung sich am einen Ende und solche mit der homosexuellen am anderen Pol befänden. Dazwischen würden alle möglichen Formen des Sexualverhaltens liegen.
In den elektronischen Medien eskalieren die Gewaltdarstellungen. Die Identifikationsfiguren in Serien, Filmen und Videoclips leben gewalttätiges Verhalten und Missachtung anderer Menschen vor. Pornographische Darstellungen am Fernsehen werden immer mehr in die Haupteinschaltszeiten hineingezogen. Schon lange spricht man davon, dass das Fernsehen massiv in die Kindheit eingreife und sie verändere, indem die Kinder brutal in die Erwachsenenwelt (und in was für eine!) hineingestossen werden. Sexuelle Verfrühung wird produziert, die Grenzen der Moral aufgelöst, und die Kinder werden mit Problemen von Erwachsenen konfrontiert, die sie absolut überfordern. Dies nur als einige Beispiele des wertezersetzenden Einflusses durch verschiedene Medien. Auch in der Schule breitet sich unter dem Stichwort „Schule im Wandel“ zunehmende Orientierungslosigkeit aus bezüglich der zu vermittelnden Wissensinhalte oder Werthaltungen und nicht zuletzt auch bezüglich der Rolle des Lehrers. Verunsichernd wirken Lehreraus- und -weiterbildungen, Lehrerzeitschriften und andere Medien, Supervisoren oder neue Lehrmittel. Eine „neue Lehrerrolle“ wird propagiert, wonach sich die Lehrerin oder der Lehrer zurücknehmen müsse und vom Wissensvermittler zum Animator oder Begleiter werde. Gemeinsames Erarbeiten des Lernstoffes im Klassenunterricht wird als „Frontalunterricht“ der autoritären Schule in Misskredit gebracht, um den vom Lehrer geführten Klassenunterricht allmählich abschaffen zu können. Matratzen und Kuschelecken im Schulzimmer oder sogenannte Entspannungsübungen dienen dazu, die „kopflastige“ Schule aufzulösen.
Genug der Phänomene. Mich interessierte, welches Denken und welche Philosophie dahinterstehen. Gibt es eine Philosophie, die den geschilderten Phänomenen der Wertezersetzung, der zunehmenden Enthemmung, der Gewaltverherrlichung und Beziehungslosigkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen zugrundeliegt? Die Frage ist auch für die Pädagogik relevant, da diese neueren Erscheinungen Erziehung und Schule zentral betreffen. Wird ein Werterelativismus von einer bestimmten Denkhaltung oder Philosophie her legitimiert und als zu erstrebendes Ziel angesehen? Ich bin dieser Frage nachgegangen und bin dabei auf den Begriff der „Postmoderne“ und des „postmodernen Denkens“ als zeitgenössische Geisteshaltung und Lebenseinstellung gestossen. Beim Durchgehen der Literatur bin ich zur Ansicht gelangt, dass dieses Denken einen gemeinsamen Nenner für die geschilderten Phänomene darstellt. Das postmoderne Denken wird von seinen Vertretern, z.B. von Jean-François Lyotard, als eine Geisteshaltung oder ein Bewusstseins- und Gemütszustand definiert. Der Begriff der „Postmoderne“ scheint einen Bruch mit den traditionellen Werten der christlich-abendländischen Kultur und im speziellen mit denen der neuzeitlichen Moderne anzuzeigen. Oft ist auch von einem „Paradigmenwechsel“ oder einem „neuen Paradigma“ die Rede: die neuzeitliche Wissenschaft, die Fortschritt versprochen habe, habe Unheil und Desaster produziert. Kalte wissenschaftliche Rationalität und instrumentelle Vernunft hätten zu den unheilvollen Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts geführt, deren Name Auschwitz sei. Die Herrschaft der Wissenschaft habe die Zerstörung der natürlichen Umwelt verursacht. Dies ist nichts Neues: Wir kennen die zivilisationskritische Diagnose aus der „Dialektik der Aufklärung“ von Horkheimer/Adorno. Das postmoderne Denken verschärft jedoch den Angriff auf Vernunft und wissenschaftliche Rationalität und strebt keinen Konsens und keine Versöhnung mehr an. Postmodernes Denken stellt konstitutive Werte der europäischen Tradition grundlegend in Frage: Vernunft, Wissenschaft, allgemeingültige Werte, das vernünftige und sich selbst bewusste Subjekt und die Geschichte als kontinuierliche Entwicklung, sowie den Fortschritt in der Geschichte.
Zum Begriff „postmodernes Denken“ und „postmoderne Philosophie“
Damit kommen wir zu unserem Begriff des postmodernen Denkens, den wir der vorliegenden Arbeit zugrundelegen. Die Begriffe „Postmoderne Philosophie“ oder „postmodernes Denken“ werden hier synonym verwendet. Der Begriff ist weiter gefasst als im Bereich der Kunst, wo er als ästhetische Spielerei und fiktionales Experimentieren verstanden wird. „Postmodernes Denken“ bedeutet eine ganze Geisteshaltung. Der Begriff der „Postmoderne“ breitete sich im Laufe seiner Entwicklung und Ausgestaltung vom Bereich der Literaturwissenschaft, der Architektur und der Kunst her in den Bereich der Philosophie aus. Erstmalig in die Philosophie übertragen hat ihn der französische Philosoph Jean-François Lyotard mit seiner Arbeit „Das postmoderne Wissen“. Heute kann man den Begriff „postmodern“ auch in der Pädagogik vorfinden.
Wir verstehen den Begriff „Postmoderne Philosophie“ oder „postmodernes Denken“ folgendermassen:
Da postmodernes Denken eine bestimmte Geisteshaltung oder eine bestimmte Weltsicht darstellt, kümmert es uns im Moment nicht, ob auch eine geschichtliche Epochenabgrenzung damit verbunden ist. Keinesfalls wollen wir den Begriff der Postmoderne als Normativität für eine mögliche oder faktische Gesellschaftsordnung oder als eine anzustrebende Geisteshaltung verstehen. Die Faktizität einer postmodernen Situation, wie sie oben beispielhaft anhand des Werterelativismus beschrieben wurde, kann meiner Ansicht nach nicht einfach normativ gewendet werden. Das Sein bedeutet nicht automatisch ein Sollen, obwohl heute mit dem Scheinargument einer sich „im Wandel“ befindlichen Gesellschaft verschiedene ideologisch motivierte Veränderungen durchgesetzt werden. Getreu dem marxistischen Motto „das Sein bestimmt das Bewusstsein“ behaupten marxistisch-postmodern inspirierte Soziologen und Pädagogen, unser Bewusstsein hinke der Faktizität einer postmodernen Gesellschaft hintennach, und wir müssten nun eine entsprechende Bewusstseinsveränderung durchmachen.
Postmoderne Philosophie vollzieht nach unserem Begriff einen Bruch mit der Tradition der Moderne, d.h. mit der neuzeitlichen und aufklärerischen Geistesgeschichte und ihren Werten des vernünftigen, sittlich-autonomen und sich selbst bewussten Subjekts. Postmodernes Denken negiert die neuzeitliche, empirisch fundierte Wissenschaft und den durch diese ermöglichten Fortschritt. Es bedeutet aber auch einen Bruch mit den Werten der christlich-abendländischen Tradition überhaupt. Die postmoderne Philosophie lehnt vor allem die aus der christlichen Ethik stammende personale Auffassung des Menschen ab. Die personale Auffassung des Menschen besagt, dass der Mensch kraft seiner Freiheit und seines Vermögens der Selbstbestimmung fähig zur Verantwortung ist. Soziale Vernunft und Sprachlichkeit stellen vorzügliche universelle Wesensmerkmale des Menschen dar, wodurch jeder einzelne zur Gestaltung des Miteinanders befähigt ist.
Wegleitend und paradigmatisch für die postmoderne Geisteshaltung scheint das Diktum Lyotards vom „Ende der Meta‑Erzählungen“ geworden zu sein. Es meint das Ende des „Projekts der Moderne“ (Habermas), das sich von der neuzeitlichen Rationalität und Wissenschaft eine allgemeine Verbesserung der Lebensverhältnisse erhofft habe. Sich von den „grossen Erzählungen“ zu verabschieden, bedeutet, die Allgemeingültigkeit und Universalität von bestimmten Werten, sinnstiftenden Konzeptionen oder von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu bestreiten. Das „Einheitsdenken“ der Moderne, das dominant geworden sei, werde durch die Bejahung der Pluralität oder Vielheit ersetzt, charakterisiert Wolfgang Welsch die postmoderne Sichtweise. Aufgegeben wird in der „Postmoderne“ das Bemühen um eine universelle Ethik und um einen Konsens im gesellschaftlichen Zusammenleben. Die diversen Kulturen und Lebensformen, die in derselben Gesellschaft nebeneinanderherleben, sollten durchaus heterogen sein und nicht auf gemeinsame Grundwerte verpflichtet werden. Aufgegeben wird auch die neuzeitliche Wissenschaft mit ihrem Anspruch auf Objektivität und allgemein überprüfbare Erkenntnisse, wie auch überhaupt die Auffassung, dass der Mensch zu Erkenntnissen gelangen kann, die eine unabhängig von ihm existierende Wirklichkeit beschreiben.
Die postmoderne Philosophie optiert für Differenzen, Brüche, Fragmentierungen, Diskontinuitäten, Zersplitterungen und De-zentrierung. Damit befindet sich das postmoderne Denken im Umkreis der französischen poststrukturalistischen Philosophie, von der es bedeutsame Impulse erhalten hat. Das postmoderne Denken ist insofern ein antihumanistisches Denken, als es den Werten des Humanismus, z.B. der Auffassung eines mit sich selbst identischen, selbstbestimmten Subjekts, des frei und eigenständig denkenden Menschen, und der Vernunft, vorwirft, leere Worthülsen und metaphysische Vorgaben zu sein, die die Menschen unterdrückerisch in eine bestimmte Richtung drängen und normieren würden. Die postmoderne Auffassung verneint nachdrücklich die Vorstellung von einer menschlichen Natur oder von einem menschlichen Wesen mit universellen konstitutiven Merkmalen. Diese Ablehnung einer Natur des Menschen scheint mir der Dreh- und Angelpunkt postmodernen Denkens und seiner Implikationen – z.B. für die Pädagogik – zu sein.
Kategorien postmodernen Denkens
Der Begriff der postmodernen Philosophie, wie er oben entfaltet worden ist, beinhaltet gewisse Merkmale oder Charakteristika, die sich in den folgenden Kategorien bündeln lassen. Sie ergeben die systematische Untersuchungsordnung unserer vorliegenden Arbeit:
1. Der postmoderne Antihumanismus oder die Auflösung der Person: Darunter gefasst sind die postmodernen Vorstellungen einer De-zentrierung des Subjekts, der Auflösung einer einheitlichen, sich selbst bewussten und verantwortlichen Persönlichkeit, oder einer Zersplitterung der Identität (plurale Identitäten in einem Menschen). Die Existenz einer menschlichen Natur oder eines Wesens des Menschen werden negiert.
2. Ein Werterelativismus und eine Wertezersetzung die vom postmodernen Denken vorangetrieben werden. Die Allgemeingültigkeit oder Allgemeinverbindlichkeit von Werten wird abgelehnt, ebenso wie die Begriffe von Wahrheit und Objektivität.
3. Der postmoderne Angriff auf die Vernunft stellt eine weitere Kategorie unserer Analyse dar. Er wurde oben bereits ausgeführt.
4. Der Bruch mit der Geschichte, den das postmoderne Denken vornimmt, beinhaltet die Verabschiedung oder das „Ende der Moderne“, nämlich von unserer Einordnung in die neuzeitliche Geschichte mit ihrem Glauben an einen Fortschritt durch Wissenschaft und Vernunft. Die Kategorie thematisiert postmoderne Sichtweisen der Geschichte als verstreuter Ereignisse und Diskontinuitäten und eine neu-linke negative Beurteilung der neuzeitlichen Moderne, die eine zunehmende „Disziplinierung“ der Menschen ermöglicht habe.
5. Die Wissenschaftsfeindschaft im postmodernen Denken äussert sich in der Postulierung eines „neuen Paradigmas“ der Wissenschaften angesichts der „Grundlagenkrise“ der Wissenschaft durch neuere Entdeckungen anfangs des 20. Jahrhunderts, wodurch die neuzeitliche, kausal-lineare Betrachtungsweise grundlegend infragegestellt worden sei. Man müsse heute davon ausgehen, dass der Mensch keine objektive Erkenntnis über eine „Realität“ gewinnen könne, da z.B. die Sprache die Wirklichkeit nicht abbilde. Wirklichkeit werde durch unser Erkennen erst erzeugt; sie sei ein ästhetisches Konstrukt. Die Folge sei eine Vielzahl unterschiedlicher Wirklichkeiten. Diese Wirklichkeiten könnten nicht auf einen Nenner gebracht werden oder „… fundamentalistisch an der Wirklichkeit – die es eben gerade nicht gibt – bemessen werden.“[1] Im postmodernen Denken haben wissenschaftliche Erkenntnisse gleiche Geltung wie Meinungen. Es wird keine transparadigmatische Rationalität, kein rationaler Massstab ausserhalb eines „Diskurses“ oder einer „Tradition“ anerkannt. Die postmoderne Wissenschaftsauffassung löst die Wissenschaft mit ihren konstitutiven Wesenszügen von Rationalität, Überprüfbarkeit und Objektivität auf.
Unter diesen fünf Kategorien, die nach unserem Begriff postmodernes Denken charakterisieren, soll in der vorliegenden Arbeit die postmoderne Philosophie kritisch analysiert werden:
– Antihumanismus oder Auflösung der Person
– Werterelativismus und Wertezersetzung
– Angriff auf die Vernunft
– Bruch mit der Geschichte
– Wissenschaftsfeindschaft
Die folgenden systematischen Fragestellungen werden untersucht: Lassen sich diese Kategorien oder Merkmale für postmodernes Denken in Texten von repräsentativen Denkern der Postmoderne auffinden? Wie kommen sie zum Ausdruck, d.h., wie wird bezüglich dieser Kategorien argumentiert? Lässt sich dabei für die ausgesuchten Autoren eine gemeinsame Stossrichtung ausmachen? Was lässt sich einer postmodernistischen Argumentation zu den einzelnen Kategorien entgegenhalten?
Die Analyse der postmodernen Philosophie bildet den Hauptteil dieser Arbeit (Teil II).
Zur Autorenauswahl
Welches sind nun Autoren, die wir als repräsentative Vertreter postmoderner Philosophie ansehen, und deren Texte wir auf die Kategorien postmodernen Denkens hin untersuchen? Wie kann ihr Bezug zur Postmoderne begründet werden?
Wir haben vier repräsentative Philosophen oder Theoretiker ausgewählt, die dem französischen und dem deutschen Sprachraum entstammen. Es sind: Jean-François Lyotard, Michel Foucault, Paul Feyerabend und Peter Sloterdijk. Daneben werden, wenn ein bestimmter Aspekt genauer interessiert, auch andere Vertreter der Postmoderne zu Wort kommen, wie z.B. der Italiener Gianni Vattimo oder der deutsche Philosoph Wolfgang Welsch, der eine Systematik der postmodernen Philosophie vorgenommen und eine Sammlung ihrer Grundlagentexte herausgegeben hat. Wir werden nun für jeden Autor dessen Bezug zum postmodernen Denken aufweisen.
1. Jean-François Lyotard: Wie schon erwähnt, gilt Lyotard als der Vertreter postmodernen Denkens. Dies hängt damit zusammen, dass Lyotard die Postmoderne in die Philosophie übertragen und für diesen Bereich argumentativ begründet hat. Seine Arbeit „Das postmoderne Wissen“[2] war eine Gelegenheitsarbeit (wie er selber sagte) für den Universitätsrat von Quebec, in der er die Qualität und Bedeutung des Wissens in der Informationsgesellschaft untersuchen sollte. In weiteren Schriften nahm Lyotard zum postmodernen Denken Stellung und versuchte, es inhaltlich und formal näher zu bestimmen und zu entwickeln. Sein philosophisches Hauptwerk ist „Le Différend“ (dt. „Der Widerstreit“).[3] Lyotard war wie Foucault und Deleuze Professor an der nach der Studentenrevolte 1968 gegründeten Experimentier- oder Gegenuniversität von Vincennes. Derrida, ein anderer führender Poststrukturalist, sass in der Richtlinienkommission. Lyotard scheint auch der Randgruppenpolitik, wie sie Foucault formulierte, nahegestanden zu sein, wie seine Schrift „Das Patchwork der Minderheiten“[4], zeigt: Ein Flickwerk von Minderheiten, wie Homosexuelle, Prostituierte, Frauen, Geschiedene oder Gastarbeiter könnten in ihren vielfachen Widersprüchen und Widerständen subversiv gegen die Gesellschaft wirksam werden, indem sie sich in deren „Diskurse“ einschlichen und ihre Logik platzen liessen. Lyotard und andere linke Autoren, die früher in kommunistischen Gruppierungen aktiv gewesen waren, versuchten, sich von totalitären Denkweisen abzusetzen. Dies zum Beispiel durch die Entwicklung neuer Denkformen, wie die poststrukturalistische oder die postmoderne, die jegliche Vereinheitlichung oder „Einheitserzählung“ ablehnen. Trotzdem geht Lyotards Welt- und Menschenbild, genauso wie das der anderen drei hier rezipierten Denker, vom Marxismus, bzw. dem Neo-Marxismus aus. Wenn postmoderne Philosophie dargestellt und erläutert wird, wird zumeist auf Lyotards „Ende der Meta‑Erzählungen“ als wegweisendes Paradigma für die postmoderne Sicht verwiesen.
2. Michel Foucault: Auch Foucault gilt als Initiator und Kronzeuge für postmodernes Denken. Nach Welsch beginnt mit Foucault der Poststrukturalismus als namhaftester Nährboden postmodernen Denkens. Der abendländischen Auffassung einer kontinuierlichen Wissensentwicklung setzte Foucault den Begriff der Diskontinuität und Heterogenität der Episteme-Blöcke entgegen. Der Poststruktu-ralismus hebt sich vom vorangegangenen Strukturalismus durch den Gedanken unaufhebbarer Differenz ab. Lyotard übernahm diese Betonung der Differenz von Foucault. Foucaults Schriften waren Bestseller der französischen 68-er Bewegung, vor allem sein „Wahnsinn und Gesellschaft“[5] und „Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften.“[6], in denen er einen radikalen Bruch mit der abendländischen und der aufklärerischen Tradition des Humanismus und der Vernunft vornimmt. Er verkehrt die humanen Werte in ihr Gegenteil: die Vernunft gilt bei ihm als Instrument des Terrors. Der Begriff von Normalität wird abgeschafft, wobei Foucault ausdrücklich das Perverse und Abnormale, z.B. sado-masochistische Praktiken, als das Selbst „auflösende“ und die Gesellschaft sprengende Mittel, bevorzugt und propagiert.[7] Am centre expérimental de Vincennes übernahm Foucault Ende 1968 den Lehrstuhl für Philosophie. Interessant ist, dass das Vorlesungsverzeichnis von Vincennes in den Jahren 1968-70 hauptsächlich marxistisch‑leninistische Themen aufwies. Die Hauptfraktion des von Foucault ausgewählten Philosophen‑Teams bestand aus Maoisten.[8] Foucault engagierte sich seit Ende der sechziger Jahre als politischer Aktivist in der Randgruppenpolitik und nahm in führender Position an Demonstrationen teil. Er gründete eine Gefangenenbefreiungs‑Bewegung (G.I.P.), die gewalttätige Gefangenenaufstände organisierte. Auch die Anti‑Psychiatrie bezog sich auf ihn. Foucaults Einfluss auf die Geisteswissenschaften, auf die Institutionenkritik, die Homosexuellenbewegung oder die Schulkritik war enorm, und zwar auch im deutschsprachigen Raum. Zur hiesigen Rezeption seines Denkens sei die Anzeige einer neuen Biographie über Foucault in einem Bücherprospekt zitiert: „Mit Michel Foucault starb 1984 einer der bedeutendsten Philosophen Frankreichs. Wenigen ist es wie ihm gelungen, ihre Zeit nicht nur zu reflektieren, sondern ihr das Signum des eigenen Denkens aufzuprägen. Seit Foucault sehen wir ‘Sexualität’, ‘Wahnsinn’, ‘Gefängnis’, ‘Macht’ in einem anderen Licht.“[9] Foucaults Einfluss war übrigens auch in den USA sehr gross, seine dortigen Vorlesungen wurden von Tausenden von Studenten geradezu überflutet.
Durch die Skizzierung des politischen Hintergrunds bei Lyotard und Foucault sollte deutlich werden, dass ihre Theorie auch im Zusammenhang mit dem neomarxistischen 68er-Denken gesehen werden muss. Diese Geisteshaltung bricht mit den Werten der europäischen Kultur, die als autoritäre Zwänge abgelehnt werden. Das Denken und Fühlen nach 68 richtet sich aus auf „Autonomie“ und die Befriedigung von egoistischen Bedürfnissen. Man grenzt sich vom Mitmenschen ab und entzieht sich der Verantwortung: die „Gesellschaft“ ist schuld … Das Normale wird als das Resultat von „Repression“ und als bürgerlich-krankhaft umgewertet. In Frankreich wie in Deutschland oder den USA hat die Linke neomarxistische Theorien und politische Strategien rezipiert und ausgearbeitet, die insofern vom klassischen Marxismus abrücken, als sie den Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft vom Produktionsbereich in den kulturellen Bereich ausweiten. Texte von Lukacs, Adorno, Weber und Marcuse u.a. wurden ins Französische übersetzt und publiziert.[10] Bestimmte Aspekte des neomarxistischen Denkens werden dann im postmodernen Denken bis ins äusserste Extrem verschärft. Zum Beispiel anerkennt das marxistische Menschenbild keine feste menschliche Natur; der Mensch sei das Resultat der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse. Postmodern wird nun der „Tod des Menschen“ in den Strukturen verkündet: Der Antihumanismus Lyotards und Foucaults besagt, dass „wo es spricht“, kein Ich mehr vorhanden ist.
3. Paul Feyerabend: Feyerabend war ein Wissenschaftskritiker und Erkenntnistheoretiker, der an der Universität in Berkeley und an der ETH Zürich lehrte. Er sah sich als anarchistischer Erkenntnistheoretiker, der den Menschen zur Befreiung von der starren Dogmatik der Wissenschaften und den einengenden Prinzipien der Vernunft verhelfen wollte. Aufgrund seiner relativistischen Sicht über die Wissenschaft, die er als eine Tradition unter anderen, wie z.B. die der Mythen und Märchen, einordnet, kann er den postmodernen Positionen zugeordnet werden. Wer die Verbindlichkeit und Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse anzweifeln will, beruft sich gerne auf Feyerabend. Er wird auch als Kronzeuge genannt, wenn die neuzeitliche Naturwissenschaft aufgelöst und durch post‑wissenschaftliche Verhältnisse ersetzt werden soll. Welsch ordnet Feyerabend in seiner Systematik postmoderner Positionen einem anonymen Postmodernismus zu. Das heisst, Feyerabend selber bezeichnet sich nicht als Vertreter der Postmoderne, wird aber von anderen Autoren aus systematischen Gründen dazugezählt. So gehört Feyerabend nach Welsch zu den Denkern des wissenschaftstheoretischen Relativismus. Er denke aus dem Bewusstsein einer unaufhebbaren Pluralität – dem postmodernen Grundbewusstsein – heraus.[11] Diese Sichtweise beinhaltet bei Feyerabend auch einen kulturellen Relativismus und einen Werterelativismus. Prinzipien seien Grabsteine, verkündet er. Wahrheit sei je das, was der Denkstil sage, was Wahrheit sei. Die Vernunft sei eine Tradition unter anderen und kein ausserhalb der Traditionen stehender Massstab. Wer ihr eine andere Funktion zuschreibt, wird von Feyerabend des „Ratiofaschismus“ bezichtigt.
4. Peter Sloterdijk: Sloterdijk hat ein bekanntes und vielgelesenes Kultbuch der achtziger Jahre: die „Kritik der zynischen Vernunft“ verfasst. Er ist ein postmodern denkender Philosoph und Essayist aus Deutschland. Sloterdijk gilt als ‘Alt-achtundsechziger’, war mal bei den Baghwans und liebäugelt mit dem buddhistischen und taoistischen Denken. Er sei ein namhafter Kritiker der neuzeitlichen Vernunft in Deutschland, und man dürfe Sloterdijk „durchaus der postmodernen Szenerie zurechnen“[12], schreibt H. J. Türk. „Er diffamiert die aufklärerische Vernunft als ‘zynische Vernunft’, die an allem Unheil der Moderne schuldig ist.“[13] In Welschs Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion wurde Sloterdijks Aufsatz „Nach der Geschichte“[14] aufgenommen, in dem er der Rede über die Postmoderne Wahrheitsgehalt attestiert, besonders, was das Geschichtsbild der Moderne betreffe. Die Postmoderne habe eine Aufklärung über die Selbstverabsolutierung der Moderne erbracht, die sich als eine endzeitliche Epoche verstanden habe. Die Vorsilbe des „post“ führe zu einem Spiel mit dem Unvorstellbaren und mache bereit zu einer Reise in eine Zukunft, die keine Moderne mehr sei.[15] Angesichts der Rede von der Postmoderne verfasst Sloterdijk das Büchlein „Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung“[16], in dem er der kopernikanischen Moderne vorwirft, den Selbstverständlichkeiten den Krieg zu bereiten und diese aufzulösen. Ein zu begrüssendes „Denken in postmoderner Position“[17] wäre nun, diese Sachlage zu erkennen. Eine alternative Kulturtheorie zu diesem „Krieg“, der der „Prozess der Moderne“[18] sei, würde die ästhetische Wahrnehmung ins Zentrum stellen. Ästhetische Theorie sei im Gegensatz zur „werkwütigen Moderne“ die „Wissenschaft vom Unterlassen“.[19] Postmodernes Denken solle die lebensweltlich bewährte Sinnlichkeit rehabilitieren[20]; im „hörenden Denken“ beispielsweise stecke „modernitätskritischer Sprengstoff“.[21] Sloterdijk definiert in postmoderner Manier eine „andere Vernunft“: eine „physiognomische“ oder „körperliche Vernunft“.[22] Bezüglich der Moral, die bei ihm unter den „Sekundärzynismen“[23] eingeordnet wird, vertritt er einen Werterelativismus „jenseits von gut und böse“.[24] Moralgefühl bedeute, sich in den Zwischenwelten gegenständiger Wertbereiche mit dem geringsten Ergebnis an Schaden hindurchzubewegen. Dieses wendige sich Hindurchwursteln ohne Moral und Verantwortungsgefühl wird z.B. von Lyotard als ein erwünschter Charakterzug der „Sveltezza“ (Geschmeidigkeit, Wendigkeit) beschrieben, um sich zwischen den heterogenen Sprachspielen der postmodernen Situation hindurchzuschlängeln. Welsch sieht in dieser Fähigkeit, zwischen unterschiedlichen Sinnsystemen übergehen zu können, ein Merkmal der postmodernen Identität.[25] Sloterdijks Ziel ist es, aus der abendländischen Tradition mit ihrer „zynischen Vernunft“ und verknöcherten „Gross‑Theorie“ durch eine „Verflüssigung der Subjekte“[26] auszusteigen.
Unsere Kategorien für postmodernes Denken werden, wie oben erwähnt, auf Texte dieser vier Autoren angewandt. Herausgearbeitet wird, ob diese Kategeorien in Texten dieser Autoren durch entsprechende Aussagen und Argumentationen inhaltlich gefüllt werden können. Neben dem „ob“ interessiert auch das „wie“: Welche Aussagen finden wir, und wie argumentieren die einzelnen Autoren? Lassen sich auch Gemeinsamkeiten aufweisen? Die Positionen dieser Autoren bezüglich postmodernen Denkens sollen einerseits systematisch dargestellt und andererseits auch einer kritischen Analyse unterzogen werden. Diese kritische Analyse erfolgt auf dem Hintergrund eines bestimmten Verständnisses der europäischen Geistesgeschichte und der neuzeitlichen Aufklärung. Es geht um leitende Begriffe der europäischen Philosophie, die philosophisch-anthropologische Voraussetzungen für die pädagogische Theorie bilden. Sie werden durch postmodernes Denken als hinfällig erklärt. Diese Infragestellung hat tiefgreifende Konsequenzen für die Pädagogik. Darnach zu fragen, ist eine weitere Intention dieser Arbeit, wovon der dritte, pädagogische Teil handelt.
Es fällt auf, dass diejenigen Begriffe und Werte aus der europäischen Kultur, die das postmoderne Denken dekonstruiert, genau die anthropologischen Grundlagen der pädagogischen Theorie und Praxis umfassen. Welches sind nun diese Begriffe und Werte?
Philosophisch-anthropologische Grundlagen pädagogischer Theorie
Das Thema wird im ersten Teil dieser Arbeit behandelt, um dann das postmoderne Denken davon abheben zu können.
Wir wollen bestimmte anthropologisch bedeutsame Begriffe und Werte der europäischen Bildungsphilosophie, wie sie massgebliche Philosophen und Denker aus der Geschichte der Philosophie und der Pädagogik verstanden haben, und die sich als konstitutive Voraussetzungen für eine dem menschlichen Wesen adäquate Herangehensweise der Pädagogik ergeben haben, herausarbeiten. Philosophische Anthropologie befasst sich mit der Frage nach dem grundsätzlichen Wesen und der Bestimmung des Menschen.[27] Zur philosophischen Lehre vom Menschen gehört auch die philosophische Ethik, die die Frage stellt,
„… ob sich allgemeine Regeln, Gesetze und Prinzipien für das menschliche Sollen und sittliche Wollen besonders beim einzelnen Menschen aufstellen lassen, sie untersucht aber auch die Beziehungen zwischen der Glückseligkeit und der sittlichen Vortrefflichkeit des Menschen, und sie stellt schliesslich die entscheidende Frage nach den sittlichen Werten und den Werten überhaupt, die der Mensch in seinem Sein und Denken zu respektieren habe (…).“ [28]
Die behandelten anthropologischen Voraussetzungen pädagogischer Theorie stellen Aspekte eines Bildes vom Menschen dar, das sich im Laufe der Geschichte als empirisch zutreffend erwiesen hat: die personale Auffassung des Menschen. Hierzu gehören die menschliche Vernunft, die Freiheit des einzelnen Menschen und seine selbstbestimmte Sittlichkeit und Tugend. Der Mensch wird als Sozialwesen betrachtet, der auf die mitmenschliche Beziehung ausgerichtet ist. Vernunft und Sprachlichkeit stellen vorzügliche Wesensmerkmale des Menschen dar, die ihn vom Tier unterscheiden. Verschiedene Denker aus der europäischen Geistesgeschichte haben diese Aspekte der menschlichen Natur erkannt, und versucht, sie differenziert zu beschreiben und in ihrer anthropologischen und lebenspraktischen Bedeutung zu erfassen – wobei durchaus ein unterschiedliches Verständnis zutage trat. Zur personalen Auffassung des Menschen hat auch die naturrechtliche Tradition beigetragen, die von einer unveränderlichen Natur des Menschen ausgeht, deren Merkmale universell sind. Aus der Erkenntnis einer universellen menschlichen Natur wurden in der Neuzeit die natürlichen Rechte jedes einzelnen als Mensch und als Individuum hergeleitet: die Menschenrechte. Wir legen unserer Arbeit die Auffassung zugrunde, dass es möglich ist, eine Ethik zu begründen, die in ihren Werten und Prinzipien der menschlichen Natur adäquat ist. In der europäischen Ethiktradition lassen sich schon seit der griechischen Philosophie solche anthropologisch fundierten Werte finden, die allgemeingültig sind: die „Werte des Menschseins“ (Hager). Dazu gehören Mitmenschlichkeit, Achtung der Würde der Person, Toleranz, Freiheit, Verbindlichkeit und Ehrlichkeit u.a.m.; es sind Werte, die in einem gegenseitigen Bedingungsgefüge stehen, und wovon keiner allein absolut gesetzt werden kann. So ist die Freiheit des einen nur durch die Respektierung der Freiheit des anderen möglich.
Das postmoderne Denken führt seinen Angriff genau auf diese philosophisch‑anthropologischen Voraussetzungen pädagogischer Theorie: Subjekt, Vernunft, Moral und Ethik, allgemeingültige Werte, Wissenschaft und Geschichtlichkeit. Die Pädagogik ist aber auf die Philosophie als grundsätzliches Nachdenken über Wesen und Bestimmung des Menschen angewiesen.
„Erziehung und Bildung, mit deren theoretischer Bewältigung es die Pädagogik zu tun hat, sind nach Auffassung des Verfassers (F.-P. Hager, d.V.) immer dadurch gekennzeichnet, dass sie den heranwachsenden Menschen im Lichte einer Grundvorstellung und Grundkonzeption dessen, was er sein soll, welches die Bestimmung des Menschen sei, dazu führen wollen, sich an den Grundwerten des Menschseins zu orientieren und im Aufblick zu diesen Grundwerten auch seine Auseinandersetzung mit der Welt zu gestalten. (…) Indem aber die Pädagogik eine Theorie des letzten Sinns von Erziehung und Bildung geben will, ist sie unweigerlich auf Philosophie angewiesen, welche die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen und damit auch nach seiner Bildsamkeit und Erziehbarkeit grundsätzlich stellt.“[29]
Es lässt sich unschwer feststellen, dass sich die Pädagogik von philosophischen Theorien inspirieren lässt, die z.B. eine bestimmte Weltsicht oder ein bestimmtes Menschenbild vermitteln. Pädagogische Theorie bezieht philosophische Überlegungen ein und adaptiert Begrifflichkeiten aus der Philosophie. So beeinflusst auch die postmoderne Philosophie die Pädagogik und bringt ihr Verständnis bestimmter pädagogisch relevanter Begriffe ein.
Konsequenzen postmodernen Denkens für die Pädagogik
Im dritten Teil der vorliegenden Arbeit wird dann auch nach den Konsequenzen postmodernen Denkens für die Pädagogik gefragt. Was geschieht mit der Pädagogik, wenn ihre philosophisch‑anthropologischen Grundlagen de(kon)struiert werden? Überlegungen dazu stehen am Anfang des pädagogischen Teils. Diese Frage stellen sich auch Erziehungswissenschafter in ihrer Auseinandersetzung mit dem postmodernen Denken. Die erziehungswissenschaftliche Debatte über faktische und potentielle Auswirkungen einer Rezeption postmodernen Denkens in der Pädagogik wird hier beleuchtet. Dabei soll auch untersucht werden, ob die Erziehungswissenschaft postmodernes Denken ebenfalls unter den von uns beschriebenen Kategorien subsumiert, und wie die einzelnen Vertreter der Profession argumentieren. Weiter werden einige postmoderne Konzepte für die Pädagogik vorgestellt. Anschliessend stellen wir postmoderne Tendenzen in der aktuellen pädagogischen Praxis dar und untersuchen ihre Merkmale. Nach den Schlussfolgerungen, die wir aus der Gesamtdarstellung des postmodernen Denkens und seiner Auswirkungen auf die Pädagogik ziehen, werden wir als Ausblick einige Überlegungen dazu anstellen, was den postmodernen Tendenzen in der Pädagogik entgegengehalten werden kann. Die im ersten Teil dargelegten Erkenntnisse über den Menschen, sein Wesen und über die universellen Werte des Menschseins bilden dazu eine Grundlage, die trotz allem Grund zu Optimismus bietet. Es ist möglich, destruktiven Tendenzen entgegenzuwirken, wenn man die philosophisch-anthropologischen Überlegungen und Erkenntnisse aus der europäischen Geistesgeschichte berücksichtigt und der Einsicht Taten folgen lässt.
Es ergibt sich folgender Aufbau der Arbeit:
Einleitung
Teil I: Philosophisch-anthropologische Grundlagen pädagogischer Theorie: Vernunft, Tugend und Freiheit bei wichtigen Denkern aus der europäischen Geschichte der Philosophie und der Pädagogik.
Teil II: Die postmoderne Philosophie
Teil III: Konsequenzen der postmodernen Philosophie für die Pädagogik
Ausblick
Philosophisch-anthropologische Grundlagen pädagogischer Theorie
Zur Entwicklung eines personalen Menschenbildes in der europäischen Bildungstradition
Vernunft, Tugend und Freiheit als Grundkonstanten eines personalen Menschenbildes
Wenn man darnach fragt, wodurch das Wesen des Menschen, die spezifisch menschliche Eigenart, sich auszeichnet, sind die Vernünftigkeit des Menschen und seine Freiheit hervorzuheben. Vernunft und Freiheit können auch als anthropologische Grundkonstanten bezeichnet werden. Der Mensch verschafft sich mit Hilfe seiner Vernunft Einsicht, reflektiert seine Handlungen und trifft freie Entscheidungen. Er ist nicht durch Instinkte oder Triebe determiniert wie die Tiere. In den Worten Herders: „Nicht mehr eine unfehlbare Maschine in den Händen der Natur, wird er sich selbst Zweck und Ziel der Bearbeitung.“[30] Der Mensch ist nach Hager ein sich selbst in Freiheit gestaltendes, geistige Werte erkennendes und kulturschaffendes Wesen.[31]
So nimmt die Beschäftigung mit den Fragen von Vernunft und Freiheit einen hervorragenden Stellenwert in der Geistesgeschichte des Abendlandes ein. Der Glaube an die Vernünftigkeit und Freiheit des Menschen ist, wie Hager betont, „… ein wesentlicher Aspekt der ethischen Botschaft oder des Werte-Vermächtnisses (…), das wir aus der europäischen Geschichte der Ethik oder aus der europäischen Bildungstradition entnehmen können.“[32] Vernunft und Freiheit sind zwei wesentliche Aspekte eines personalen und normativen Menschenbildes und stellen deshalb auch entscheidende Grundvoraussetzungen für Erziehung und Bildung dar.
„Von entscheidender Bedeutung für jedes normative Menschenbild, aber auch als Grundlage für jede Erziehung und Bildung scheint mir der Glaube an die Vernünftigkeit und Freiheit des Menschen zu sein, wie er uns schon im Philosophieren des Sokrates und Platons entgegentritt. Es ist genauer der Glaube an die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, eine geistige Ordnung der Welt, die auch für die Sittlichkeit des Menschen ihre Gültigkeit hat, erkennen zu können, sowie der Glaube daran, dass der Mensch mittels seiner Vernunft nicht nur in der Lage ist, eine sittliche Ordnung in sich selber (und in der Gesellschaft) zu etablieren, sondern auch imstande ist, die praktischen und die ethisch-politischen Probleme seines Lebens zu lösen. Die menschliche Vernunft, wie sie in der europäischen Geschichte der Ethik und der europäischen Bildungstradition zum Ausdruck kommt, vertraut darauf, dem eigenen menschlichen Leben eine ethisch und ästhetisch befriedigende Ordnung geben zu können.“[33]
Aufgrund seiner Vernunft ist der Mensch imstande zu erkennen, was gut für ihn ist, und welches die universellen ethischen Prinzipien sind, die er seinem persönlichen Leben und dem Zusammenleben im weiteren Lebenskreis, in Gesellschaft und Politik, zugrundelegen will. Als Vernunftwesen ist der Mensch fähig, in sich selber und in der Gesellschaft eine sittliche Ordnung zu errichten und die praktischen Probleme im mitmenschlichen Zusammenleben zu lösen. Gerade die Tatsache, dass der Mensch vernunftbegabt ist, ermöglicht es ihm, sein Leben in Freiheit zu gestalten. Er ist nicht abhängig von einer triebhaften Determinierung. So kann er sich dafür entscheiden, bestimmte Handlungen auszuführen oder sie zu unterlassen. Er kann sich auch für oder gegen eine verantwortungsvolle Lebensführung entscheiden. Aus diesen anthropologischen Grundannahmen ergeben sich bestimmte Konsequenzen für Bildung und Erziehung. Die europäische Geschichte der Ethik und die europäische Bildungstradition ist gerade auch dadurch charakterisiert, dass sie diese im wesentlichen klar erkannt und reflektiert hat.
„Mit dem Glauben an die Vernünftigkeit des Menschen ist im wesentlichen auch der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen verbunden sowie der Glaube an die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der Erziehung, welche von Anfang an vom Glauben an die Möglichkeit und die Sinnhaftigkeit des Lernens und der Bildung begleitet war.“[34] Mit dem Begriff des Glaubens bezeichnet Hager eine „Art Grundtendenz, eine gewisse ursprüngliche Neigung des in der europäischen Bildungstradition wirksamen Denkens.“[35] Die Verwendung dieses Begriffes in diesem Zusammenhang bedeutet nicht, dass in der Theorie der Bildung und in der ihr zugrundeliegenden Anthropologie nicht mit vernünftigen Argumenten operiert worden wäre, ganz im Gegenteil.[36]
Die Freiheit des Menschen stellt ein zweites Fundament anthropologischer Art in der europäischen Tradition von Bildung und Erziehung dar.
„Der Mensch ist dazu berufen, ein freies, sich selbst bestimmendes Wesen zu sein, und zwar in verschiedener Hinsicht. Freiheit bedeutet aber nicht Zügellosigkeit, Chaos und Entfesselung der Lüste und Triebe, sondern vernünftige Selbstbestimmung unter Respektierung einer sittlichen Lebensordnung sowie der Freiheit der anderen und der Verpflichtungen auch den Mitmenschen und der menschlichen Gesellschaft gegenüber.“[37]
Zwei Begriffe von Freiheit sind in der europäischen Bildungstradition immer wesentlich gewesen: einerseits der Begriff der Wahlfreiheit, der Freiheit der Entscheidung (zum Beispiel zwischen gut und böse) als Grundlage der Verantwortlichkeit des Menschen und andererseits „… der Begriff der Freiheit im ethisch-positiven Sinne der völligen inneren Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz.“[38] Die Bestimmung des Menschen zur Freiheit muss Grundlage für Erziehung und Bildung sein, so dass das „… Ziel jeder wahrhaft menschengemässen Erziehung immer die Freiheit und Mündigkeit des Menschen, seine Fähigkeit zu vernünftiger Selbstbestimmung gewesen ist und sein wird.“[39] Im Rahmen der europäischen Tradition hat Freiheit aber nie bedeutet, „… dass im Sinne etwa antiautoritärer oder antipädagogischer Konzepte der völligen Willkür, dem ungehemmten Ausleben der Triebe, Emotionen und Süchte bei den Unerwachsenen (…)“[40] und postmoderner Beliebigkeit, z.B. in den Wertorientierungen, Tür und Tor geöffnet worden wären, wie dies im Gefolge der 68er Kulturrevolution geschehen ist.[41]
Immer ist die Vorstellung leitend gewesen, dass das noch nicht zu voller Vernünftigkeit herangewachsene Kind zunächst auf gleichsam vorvernünftige Weise an die Respektierung einer Ordnung, die auch für es gilt, gewöhnt werden, und dass ihm erst beigebracht werden müsse, dem Willen und der Führung des Erziehers zu folgen. Erst auf dieser durch die Erziehung erwirkten Grundlage könne der Wille des erwachsenen Menschen frei sich selbst bestimmen und sich freiwillig dem von ihm selbst gewählten sittlichen und geistigen Gesetz unterwerfen, betont Hager.[42]
Der Gedanke der Selbst- und Fremderkenntnis spielt gerade in der Frage von Erziehung und Bildung eine grosse Rolle: Aus der Beantwortung der Frage ‘Was ist der Mensch?’, aus der Selbsterkenntnis, hat man seit je gehofft, die dem Menschen zuträglichen sittlichen Leitlinien für die Lebensführung gewinnen zu können. Bekannt ist die sokratische Forderung: „Erkenne dich selbst“ als Ausgangslage allen praktischen Handelns. Dass durch vertieftere Selbst- und Fremderkenntnis auch eine Weiterentwicklung der Ethik möglich wird, ist ein zentraler Gedanke der europäischen Ethik-Tradition.
Schon früh in der abendländischen Philosophie- und Ethikgeschichte stellte man sich Fragen zum Wesen des Menschen. Dabei wurde die Vernunft als spezifisch menschliches Vermögen erkannt, mittels dessen der Mensch Erkenntnisse gewinnen kann. Zudem kann er sich durch Vernunfttätigkeit Orientierung in den sittlich-moralischen Fragen und in den anderen Lebensbereichen verschaffen. Die Freiheit wurde ebenfalls als Merkmal des Menschen und seiner Lebenssituation erkannt, da der Mensch in der Lage ist, zu reflektieren, sich zu entscheiden und sich selber Richtlinien seines Handelns zu geben. Anthropologische Überlegungen und Beobachtungen ergaben, dass die Freiheit dem Menschen aus seiner Instinktungebundenheit erwächst – im Unterschied zum Tier. Den ersten Freigelassenen der Schöpfung nennt Johann Gottfried Herder den Menschen. Mit anderen Worten: Der Mensch verfügt über ein hohes Mass an Selbstbestimmung. Eine Integration von Vernunft und Freiheit im praktischen Leben ergibt sich, wenn das Individuum seine freie Selbstbestimmung der Orientierung durch die Vernunft unterstellt und zwar unter Berücksichtigung der Voraussetzungen der menschlichen Natur, also der natürlichen Bedürfnisse des Menschen. Nach Spaemann muss „… Freiheit sich zu ihren Naturbedingungen in ein ausdrückliches, sie respektierendes und kontrollierendes Verhältnis (…)“[43] setzen. Freiheit bedeutet also nicht etwa, dass man tun könne, was einem gerade beliebt. Der einzelne Mensch ist angewiesen auf seine Mitmenschen, auf befriedigende Beziehungen mit ihnen, und er gelangt nur in sozialer Kooperation zur vollen Entfaltung seiner Person. Der Mensch ist frei, wie Kant sagt, im Rahmen des Naturgesetzes sein eigenes Leben, seine mitmenschlichen Beziehungen und das öffentliche Leben nach Massgabe der Vernunft sittlich zu gestalten.[44]
Die beiden anthropologischen Grundbegriffe Vernunft und Freiheit wurden im Verlauf der gesamten europäischen Geistesgeschichte untersucht und diskutiert. In jeder Epoche erfuhren sie bestimmte historisch-kulturelle Ausgestaltungen und wurden von den grossen Denkern in je eigener Weise interpretiert. In den Beispielen einzelner Denker, den „Klassikern der Philosophie“ (Höffe), spiegeln sich denn auch „wichtige Stufen in der Entwicklung des abendländischen Geistes“[45] – was nicht in deterministischem Sinne gemeint ist, trugen doch die grossen Denker und Pädagogen mit ihrer Eigenleistung wiederum zur Weiterentwicklung der Grundfragen bei. Anhand der Beispiele der einzelnen Denker lassen sich die „… Herkunft jener Grundbegriffe, Methoden und Einstellungen (…), die oft genug – sei es unmittelbar oder als Negativfolie – unser Denken bis heute bestimmen.“[46] vergegenwärtigen. Trotz der sich wandelnden Auffassungen von Vernunft und Freiheit war man sich aber immer darin einig, dass diese Begriffe grundlegende Aspekte menschlichen Seins umfassen. Immer wieder wurde hervorgehoben, dass Vernunftfähigkeit und Vernunfterkenntis spezifisch menschliche Vermögen sind, die den Menschen qualitativ vom Tier unterscheiden. Der Grad der Freiheit des menschlichen Handelns wurde jeweils unterschiedlich eingeschätzt, es wurde aber selten ernsthaft zugunsten der Annahme einer willenlosen, instinkthaften Determiniertheit des Menschen auf den Freiheitsbegriff verzichtet. Was es in der heutigen Zeit mit der Auflösung des Personbegriffes auf sich hat, und ob gewisse Systemtheorien und postmodernistische Destruktionen den Freiheitsbegriff verabschieden, wird im nächsten Teil dieser Arbeit zu untersuchen sein.[47] Wird der Mensch aber, der europäischen Ethiktradition entsprechend, als Person aufgefasst, bedeutet das, dass er die Freiheit hat, sein Leben selbständig in menschenwürdiger Weise zu gestalten und damit Verantwortung seinen Mitmenschen gegenüber und für das gesellschaftliche Gemeinschaftsleben zu übernehmen. In der Neuzeit wurde es möglich, dass aus der naturgegebenen Freiheit des Menschen die Freiheitsrechte des Individuums abgeleitet und institutionell gesichert wurden. Was sich im Denken entwickelt hat, und als allgemeingültige Erkenntnis anerkannt wurde, konnte im Laufe der Zeit zur Wirklichkeit werden. Die Erklärung der Menschenrechte ist ein grossartiges Resultat dieser Entwicklung.[48]
Die Grundfragen der Philosophie, des argumentativen Denkens, über Mensch und Welt, haben die Griechen formuliert, denn sie waren die ersten, die an die Stelle des Mythos den Logos setzten: „… die Begründung durch eine Erzählung (über das Wirken der Götter, über den Anfang der Welt, über den Beginn menschlicher Gesellschaft …) wird abgelöst durch eine begrifflich-argumentative und daher allgemein kontrollierbare Begründung.“[49] Im Verlaufe ihres Nachdenkens und der Beobachtungen über das Sein, den Kosmos und seine grundlegenden Prinzipien, später auch über den Menschen, haben die Griechen die zentralen Begriffe geprägt und Methoden erfunden, „… sowie mit deren Hilfe Lösungen entwickelt, die wegen ihrer fundamentalen und umfassenden Bedeutung das Selbstverständnis und die Weltorientierung der Menschen entscheidend bestimmen sollten.“[50] Der vernunftgestützte, argumentative Diskurs ermöglicht das Nachvollziehen der eigenen Gedankengänge für andere und erlaubt es, Meinungen zu begründen, so dass ein Dialog entstehen kann. Über die verwendeten Begriffe darf keine Verwirrung herrschen, sie müssen zumindest innerhalb des gleichen Kulturkreises eine allgemeingültige Bedeutung haben. So stehen auch die Werte der Vernunft und der Freiheit in einer bestimmten Denk-Tradition, von der sich die postmoderne Sichtweise deutlich abgrenzt.[51]
Im Nachdenken über die Grundfragen der Philosophie gingen die griechischen Philosophen bereits davon aus, dass der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen ist, und dass er fähig ist, die Wirklichkeit zu erkennen (wie immer diese auch im Denken der verschiedenen Autoren aussah oder gewertet wurde). Die Frage, was gut ist für den Menschen, welche Lebensweise ihm zuträglich ist, und wie eine gerechte, sittliche Ordnung von Staat und Politik aussehen könnte, ist eine der Grundfragen von Philosophie und Ethik, die einer ständigen Weiterentwicklung und kritischen Auseinandersetzung bedarf, wozu die Einzelwissenschaften unverzichtbare Beiträge zu leisten vermögen. In der Tradition des Naturrechts finden wir interessante Beiträge zu dieser Frage, da hier versucht wird, eine Ethik des zwischenmenschlichen Zusammenlebens in den kleineren und grösseren Gemeinschaften auf den universellen Wesensmerkmalen des Menschen zu begründen.
Wir wollen nun die wichtigsten Auffassungen von Vernunft, Tugend und Freiheit durch die Philosophiegeschichte verfolgen, wie sie von bedeutenden Denkern der europäischen Tradition im Rahmen ihres Zeithorizonts herausgearbeitet und weiterentwickelt worden sind.
Griechische Philosophie
Platon: Vernunftherrschaft in der Seele als sittliches Ideal
In der griechischen Antike war der einzelne Mensch in den Staat und in den umfassenden Kosmos eingebunden und von religiösen Normen geprägt. „Erziehung und Bildung vollziehen sich im Aufblick zu einer übergreifenden göttlichen bzw. kosmischen Wirklichkeit und innerhalb eines gesellschaftlichen Rahmens, durch den die gültigen Massstäbe und Normen festgelegt sind.“[52] Ein von den übergreifenden gemeinschaftlichen Verbänden emanzipiertes Individuum existiert nicht. Die Einbindung des Menschen in eine selbstverständlich vorgegebene kosmische oder religiöse Ordnung mit der zentralen Geltung des Göttlichen für den Menschen prägte das Weltbild bis Ende des Mittelalters. In der griechischen Polis wurde der Bürger als Glied der politischen Gemeinschaft angesehen, in der eine Abgrenzung zwischen einem Privatbereich des Einzelnen und dem Kompetenzbereich des Staates fehlte.[53] Im klassischen Zeitalter entstand in der athenischen Polis das Ethos des Staatsbürgers, der aktiv und vollverantwortlich am öffentlichen Leben teilnimmt. Der Bürger entfaltet in der antiken Sicht seine Persönlichkeit innerhalb der Polis, denn die moralische Qualität des Einzelnen bemisst sich an seinem Einsatz für das Ganze. Das organische Ganze ist zugleich ein moralisches Gebilde. Oberste Norm des ethischen Verhaltens ist die Polis in ihrer Gesetzgebung. Die Ordnungsmacht der Polis allein vermag dem Einzelnen sittlichen und religiösen Halt zu geben. Der Mensch wird als ein „zoon politikon“ verstanden, als ein zur politischen Aktivität aufgerufenes Lebewesen.[54] Mit dem politischen und kulturellen Aufschwung der athenischen Polis gewinnt der einzelne Bürger eine grössere Bewegungsfreiheit, die aber noch nicht der modernen Vorstellung von der Freiheit des autonomen Individuums entspricht. So war zum Beispiel Platons Bezugssystem der griechische Stadtstaat. „Für ihn war es ein Axiom, dass das, was der Allgemeinheit nützt, auch jedem Einzelnen nützt, der Mitglied dieser Allgemeinheit ist. Der Staat ist für Platon, wie für die meisten griechischen Denker eine alles umfassende Lebensgemeinschaft, nicht ein von der privaten Lebenssphäre unterschiedener ‘Sektor des Öffentlichen’.“[55]
Welchen Begriff von Vernunft finden wir nun bei Platon, dem bedeutenden griechischen Denker, dessen Philosophie, wie oben schon deutlich wurde, das abendländische Denken nachhaltig geprägt hat, und der als erster eine systematische Theorie der Erziehung entworfen hat?
„Platon ist der erste, welcher im europäisch-abendländischen Kulturbereich eine systematisch konzipierte Erziehungslehre entworfen hat, er ist gleichzeitig auch der erste, welcher den Begriff der Philosophie in dem noch heute bekannten geschichtsmächtigen Sinne verwendet hat, bei dem sich zudem ein universales philosophisches System, wenn nicht der äusseren Gestalt, so doch dem inneren Gehalt nach findet.“[56]
Platons Anliegen war es, dem Kulturzerfall in der antiken Polis entgegenzuwirken, indem durch eine philosophisch begründete „Paideia“ der einzelne Bürger zu sittlicher Vortrefflichkeit herangebildet werden sollte. Gegenüber dem Relativismus, den Platon bei den Sophisten diagnostizierte, suchte er nach Denkinhalten, die nicht lediglich einer subjektiven Meinung entstammten, sondern einer objektiven Sphäre angehörten, die also Gegenstände des allgemeingültigen Wissens, unabhängig von jeglichem Wandel seien. So wurde er zum Schöpfer der Ideenlehre: Die Ideen als ewig existierende, wahre und vollkommene Urbilder der einzelnen sinnlichen Dinge stellten das allgemeine Wesen der Dinge in seiner Vollkommenheit und Gutheit dar. Die Menschen könnten sich nicht trotz unterschiedlicher Auffassungen über die Tugend über das Wesen der Tugend verstehen, wenn es nicht ein allgemeines Vorbild der Tugend gäbe. Nach Platon existieren ewige vollkommene Ideen der Sittlichkeit, denen der einzelne Mensch nachstreben kann und muss, wenn er sich zu sittlicher Vollkommenheit entwickeln will. So finden wir auch in der Idee des Menschen
„… alle Vollkommenheiten und menschlichen Vorzüge, das Insgesamt des Besten, wozu der Mensch fähig ist, und was wir im einzelnen Menschen nur allzu oft vermissen. Gleichzeitig aber repräsentiert diese Idee des Menschen auch die Einheit der menschlichen Natur und des allgemeinen Wesens des Menschen, insbesondere, wenn man sie mit der Vielheit der verschiedenen menschlichen Personen vergleicht.“[57]
In Platons Menschenbild finden wir schon den Gedanken einer einheitlichen menschlichen Natur, eines allgemeinen Wesens des Menschen, das – als biologisch-anthropologische Gegebenheit – unveränderlich ist. Von nachhaltiger Bedeutung für die Geistesgeschichte unserer abendländischen Kultur ist denn auch Platons Konzeption des Allgemeingültigen und ewig Wahren, die er in seiner Ideenlehre metaphysisch-rational begründet hat. Nach Hager ist diese philosophische Grundkonzeption eines Menschenbildes „… auf eine intellektuelle Grundanschauung des ewigen Wesens des Menschen (und seiner Bildung) ausgerichtet (…)“[58], wobei Platon diese Grundanschauung auf vernünftige Argumente abzustützen sucht. Dabei abstrahiert er noch von der historischen Bedingtheit und Wandelbarkeit des menschlichen Lebens. Im Zusammenhang unserer Diskussion der postmodernen Ablehnung eines allgemeingültigen Menschenbildes liegt Platons Bedeutung in dieser Konzeption und Begründung eines normativen Menschenbildes, ausgehend von einem „Wesen des Menschen“, das sich in bestimmten Grundzügen gleich bleibt.[59]
Platon hat eine rationale Sicht des Menschen in einem metaphysischen Sinne entwickelt, in welcher die Vernunft den Menschen zur Erfassung und zum Verständnis des wahren Wesens und des letzten Sinns allen Seins und alles Seienden befähigt. Es war dies der erste europäische Begriff von Vernunft. Er war rein metaphysisch konzipiert und wurde noch nicht mit empirischem Wissen in Zusammenhang gebracht, wie es dann in der Aufklärungsphilosophie versucht wurde.[60] Für Hager wird deutlich,
„… dass nur schon vom Standpunkt der Geschichte der Philosophie und vom Ursprung dieser Begriffe und ihrer griechischen Entsprechungen her betrachtet, die Begriffe der Vernunft und der Rationalität ein apriorisches Verstehen und Erkennen des wahren Wesens sowie des ewigen Wertes und Sinns aller Dinge und insbesondere des menschlichen Lebens in sich schliessen. Es gibt eine metaphysische Rationalität, Intellektualität und Vernünftigkeit, und auch in unserem Jahrhundert ist eine rationale Deutung des Menschen in metaphysischem Sinne sinnvoll vertretbar (…).“[61]
Bei Platon wird das apriorische Erfassen und Erkennen des wahren Wesens allen Seins durch die Vernunft dadurch möglich, dass die ewigen Ideen, die die Urbilder der einzelnen und vergänglichen Dinge sind, von der Seele des Menschen ursprünglich einmal geschaut worden sind, bevor sie sie in ihrer Inkarnation in den sterblichen Körper wieder vergessen hat. In den Ideen ist aber vorgezeichnet, welches die wahre Bestimmung der Menschen ist, und darum ist die Vernunft als das zur Ideenerkenntnis berufene Vermögen der richtige Führer des Menschen.[62] Es ist die Aufgabe der Erziehung, den Menschen der sittlichen Vollendung entgegenzuführen. Das pädagogische Wirken hat dabei der Natur, im Sinne der allgemeinen Menschennatur, Rechnung zu tragen.[63] Durch Erziehung und Bildung, die Paideia, werden die Seelen- und Körperkräfte des Menschen ausgebildet, wobei die Vernunft die Führung in der menschlichen Seele zu übernehmen hat, so dass sie gleich einem Wagenlenker, der die wilden Pferde lenkt, die Triebkräfte bändigt. Im idealen Menschen hat die Vernunft die unbedingte Führung und soll „… in ihrer Herrschaft über das leibseelische Ganze des Menschen wesentlich vom Willen unterstützt werden (…), welcher die Vernunft gegen den Ansturm der Begierden verteidigen soll (…).“[64] In seinem System der Paideia sieht Platon eine intensive pädagogische Betreuung des Kindes vor, die das Ziel einer Befreiung von der Herrschaft der Affekte hat und es zur sittlichen Vortrefflichkeit und „… in die Freiheit des selbstverantwortlichen, an ewiger Wahrheit orientierten Geistes (…)“[65] hinführen soll. Der Begriff der Freiheit bedeutet bei Platon und anderen griechischen Denkern, so auch bei Aristoteles, die Freiheit von Affekten und die freie sittliche Selbstbestimmung.
Die Bedeutung der Vernunft wird bei Platon auch in methodischer Hinsicht deutlich, da er sich bemüht, sein philosophisches Denken in vernünftiger Argumentation zu begründen und logisch aufzubauen. Wenn das Denken sich auf die Vernunft abstützt, und beginnt, auf seine methodischen Voraussetzungen zu reflektieren, indem „… einerseits die eigenen Verfahren auf ihre ‘Begründung’ hin überprüft und andererseits Mittel bereitgestellt werden, die ein ‘begründetes’ Argumentieren ermöglichen sollen (…)“[66], ist schon ein gutes Mass an vernünftiger Selbständigkeit[67] erreicht. Mit Platon und Aristoteles entdeckt das Denken nach Jürgen Mittelstrass „… ein für allemal im methodischen Vorgehen seine vernünftige Möglichkeit.“[68]
Eine nachhaltige Wirkung der Platonischen Philosophie für ein normatives Ideal der Sittlichkeit in der europäischen Tradition der Ethik ging von Platons Konzeption von den Kardinaltugenden aus. Nach Hager bildet die Lehre von den Kardinaltugenden eine „wesenhafte Konstante des normativen Menschenbildes in der europäischen Geschichte der Ethik“.[69] Platon „… expliziert hier (…) ein System von Tugenden in engem Zusammenhang mit der Aufbaustruktur der menschlichen Seele und des menschlichen Personseins überhaupt.“[70] Die vier vortrefflichen Tugenden: Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit sind auf die drei Schichten der Seele bezogen, wie sie Platon beschreibt: Vernunft, Wille und Begierden. Jede Tugend ist die spezifische Vortrefflichkeit eines dieser Seelenteile, und zwar ist die Weisheit die Vortrefflichkeit des vernünftigen Seelenteils, die Tapferkeit diejenige des muthaften Seelenteils, und die Besonnenheit ist die Übereinstimmung zwischen der Vernunft als herrschendem Prinzip der Seele und den unvernünftigen Seelenteilen, dass die Vernunft diese zu beherrschen habe. Die Gerechtigkeit ist das Tun des Seinigen, das heisst, Gerechtigkeit herrscht dann in der Seele, wenn jeder der Seelenteile die ihm wesenseigene Funktion ausübt: „… wenn die Vernunft auf Grund ihrer Erkenntnisse die Seele führt, der Wille mit seiner Kraft die Einsichten der Vernunft gegenüber dem Ansturm der Affekte durchsetzt, und die Affekte und Emotionen ihrer dienenden Funktion als Antriebskräfte der vitalen Energie nachkommen.“[71] Dieses System der vier Kardinaltugenden bildet, „… in seinem eigentlichen Sinn als Idee und Ideal aufgefasst, eine Art Urbild und Vorbild sittlicher Vortrefflichkeit für den Menschen, es umschreibt die ideale sittliche Höchstform des menschlichen Seins.“[72] Der Sinn dieser Höchstform sittlichen Seins, die durch die Kardinaltugenden erreicht wird, ist das „Ideal der vollkommenen Herrschaft der Vernunft über die Gesamtseele“.[73]
Aus einer auf diese Weise wohlgeordneten Seele entspringt das „gute Leben“. Es ist die Vollendung der menschlichen Natur. Das naturgemässe Leben ist das Leben menschlicher Vortrefflichkeit. Ein „gutes Leben“ ist ein im Einklang mit der natürlichen Ordnung des Menschen stehendes Leben, ein
„… aus einer wohlgeordneten oder gesunden Seele fliessendes Leben. Das gute Leben ist ganz einfach dasjenige, in welchem die Forderungen der natürlichen Neigungen des Menschen im höchstmöglichen Grade in angemessener Reihenfolge erfüllt werden. Es ist das Leben eines im höchstmöglichen Grade wachen Menschen, eines Menschen, in dessen Seele nichts brach liegt. Das gute Leben ist die Vollendung der Natur des Menschen. Es ist das naturgemässe Leben. Man darf hier die den allgemeinen Charakter des guten Lebens umschreibenden Regeln als ‘Naturgesetz’ bezeichnen. Das naturgemässe Leben ist das Leben menschlicher Vortrefflichkeit oder Tugend, das Leben einer ‘hochstehenden Person’ und nicht das Leben der Lust als solcher.“[74]
Das Ideal der Vernunftherrschaft im Menschen, das schon in der griechischen Antike von Platon anthropologisch-systematisch begründet wurde, ist nach Hagers Erachten in der europäischen Geschichte der Ethik bis auf den heutigen Tag gültig geblieben. Es ist zwar immer wieder neu durchdacht, ergänzt und differenziert worden, aber „… das Grundideal der Vernunftherrschaft in der Seele und das komplementäre Ideal der Freiheit der Seele von der Herrschaft der Affekte und Leidenschaften hat noch bis ins 17. Jahrhundert hinein seine Gültigkeit und Wirkung gehabt.“[75] Aufgrund tiefenpsychologischer Erkenntnisse ist es im 20. Jahrhundert möglich geworden, die menschliche Vernunft noch genauer zu bestimmen, nämlich als ein Vermögen des Menschen, das auch sein Gefühlsleben umfasst. Durch entsprechende Durchbildung seiner gefühlsmässigen Anteile und durch Einsicht in gewisse unbewusste Motive und Ziele kann der Mensch in seinem Fühlen, Denken und Handeln eine vernünftige, mitmenschliche Haltung einnehmen und etwelche störenden Affekte aufgeben.[76] So wurde der Gedanke der vernunftmässigen Beherrschung der Affekte dahingehend differenziert, dass der Einzelne durch Einsicht und Gefühlsschulung eine gesamthaft prosoziale Haltung erlernen und einüben kann. Hager weist daraufhin, dass das Scheitern irrationaler Ideologien und das Unglück, das geist- und vernunftfeindliche Herrschaftssysteme über die ihnen unterworfenen Menschen gebracht haben, ebenfalls, wenn auch auf indirekte Weise, die Wahrheit des Ideals der Vernunftherrschaft im Menschen bezeugen.[77]
Aristoteles: Lebenspraktische Tugendlehre
Der griechische Philosoph Aristoteles war ein Schüler Platons. Er verdient in unserem Zusammenhang Erwähnung, da er wie Platon zu den Begründern der klassischen Ethik gehört, die mit ihrer Tugendlehre einen wesentlichen Beitrag zur europäischen Ethik geleistet haben. Analog zu Platon beinhaltet Aristoteles‘ Menschenbild die Annahme einer universellen menschlichen Natur, und er schrieb dem Menschen auch eine Vernunftbegabung zu. Aristoteles definiert den Menschen als Vernunftwesen, als „animal rationale“, der im Gegensatz zu den Tieren kein Gefangener seiner Trieb-Instinktstruktur ist. Er ist dadurch der Belehrung zugänglich.[78]
Ethik, Politik und pädagogische Überlegungen wenden sich nun bei Aristoteles unmittelbar der Praxis zu. Er hat dem sittlichen Guten als dem ‘menschlichen Guten’, dem ‘praktischen Guten’, seine ethischen Untersuchungen gewidmet unter dem Aspekt, wie es im Menschen praktisch verwirklicht werden kann.[79] Das Ziel des menschlichen Lebens: die wahre Humanität, die vom Menschen zu verwirklichende Werthaftigkeit, soll im Zusammenhang mit den konkreten Gegebenheiten des menschlichen Lebens selbst gesehen werden.[80] Den Massstab für die ethische Untersuchung bildet bei Aristoteles nicht ein abstraktes Ideal des Guten, sondern der real tugendhafte Mensch.
Aristoteles betont, dass die Erziehung die Natur zu berücksichtigen habe. Von spezieller Bedeutung für Erziehung und Bildung ist die teleologische Sicht Aristoteles’ von der Natur. Eine bestimmte teleologische Struktur, die im Seienden angelegt ist, verwirklicht sich im Verlaufe der Entwicklung. Der Mensch – als natürliches Wesen – verwirklicht nach und nach seine Wesensform, die von Anfang an der Möglichkeit nach in ihm angelegt war. Die pädagogische „Kunst“ hat dabei die Aufgabe, der natürlichen Entwicklung zu folgen und sie nachzuahmen. Sie hat zu diesem Zweck das Gesetz der natürlichen Entwicklung zu erforschen und diese allenfalls zu ergänzen. Die Vernünftigkeit, als letzte und höchste Bestimmung des Menschen, ist nach Aristoteles nicht schon zu Beginn der menschlichen Entwicklung verwirklicht. Durch Gewöhnung müssen die Affekte zum Mittelmass zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig geformt werden. Das richtige Mass bestimmt die erkennende Vernunft. Die tugendhaften Haltungen werden gelernt, und zwar durch entsprechende Tätigkeiten: „… und zwar entsteht es aus dem häufigen Tun des Besonnenen und Gerechten.“[81] Die Affekte und Leidenschaften müssen in der aristotelischen Ethik nicht unterdrückt oder ausgemerzt werden, wie es dann die Stoa verlangt. Aristoteles scheint um die Bedeutung des Gefühlslebens zu wissen und es als einen Teil des seelisch-körperlichen Ganzen zu sehen. Gegenüber Sokrates, der behauptet habe, es gebe keine Unbeherrschtheit, wenn man (rein rational) um das Beste wisse, wendet er ein, man müsse vielmehr nach dem Affekt fragen. Denn der Unbeherrschte erhalte erst dann seine falsche Meinung, wenn er schon im Affekte sei.[82] Durch die Leidenschaft wird oft die rechte Einsicht verunmöglicht. Aristoteles anerkennt, dass es schöne und edle Begierden gibt, tadelnswert sei nur ihr Übermass. Verschiedene Lustempfindungen, Begierden und Schmerz sind bis zu einem gewissen Grade wünschenswert. So wird das Denken durch die aus ihm selbst entspringende Lust geradezu gefördert. Eine Leidenschaft kann das Verhalten des Menschen unterstützen, indem sie ihm die Kraft dazu gibt. Die Begierde nach Wissen trägt im Endeffekt zum Fortschritt in der Philosophie bei.
Bei Aristoteles ist die Vernunft das bestimmende und die Sinnlichkeit das bestimmbare Prinzip. Hierin liegt ein interessanter psychologischer Ansatz, weil daraus folgt, dass die ungeformten „Triebe“ des Menschen von der Vernunft in eine bestimmte Richtung geleitet werden können. Aufgrund der tiefenpsychologischen Forschungen im 20. Jahrhundert konnte diese Annahme dahingehend bestätigt und weiterentwickelt werden, dass z.B. die Sexualität als eine in die Charakterhaltungen eines Menschen eingebundene Bedürfnis-Struktur erkannt wurde, die auch Ausdruck seines Lebensstils ist.[83] Die sogenannten Triebe führen demnach weder ein untergründig eigenständiges Leben, noch lenken sie den Menschen und sein Handeln, wie es in triebdeterministischen Theorien behauptet wird.
Aristoteles unterscheidet ethische, praktische Tugenden (Tapferkeit, Besonnenheit, Gerechtigkeit) von dianoethischen, theoretischen Tugenden der Betrachtung und der Vernunft. Die ethischen Tugenden versöhnen gegensätzliche Affekte. Sie werden, wie oben erwähnt, durch Übung und Gewöhnung erworben. Solche Tugenden sind u.a. die Tapferkeit, die Besonnenheit, die Grosszügigkeit, die Gerechtigkeit und die Freundlichkeit. Die sittliche oder „rechte Vernunft“[84], welche die Tugenden auffindet, ist bei Aristoteles die Klugheit; sie ist praktisch ausgerichtet.
Die Kardinaltugend der Klugheit wird in der Praxis eingeübt und erworben. Sie verhilft im Abwägen der Gegebenheiten der konkreten Situation „… zu einem praktischen Urteil zu kommen, das angibt, wie das Gute unter diesen Umständen optimal verwirklicht werden kann. Sie ist insofern so etwas wie ein Gespür für das moralisch und situativ Richtige.“[85] Nach Anzenbacher spielt die Klugheit im Verständnis der klassischen Ethik eine wichtige Rolle für die Entscheidungsfin-dung in einer konkreten Situation. Als praktische Tugend lenkt sie die Handlung nicht einfach nach abstrakten allgemeinen Normen, ohne die konkrete Situation zu berücksichtigen. Klugheit stellt praktische Überlegungen an, ohne dadurch die Orientierung an ethischen Prinzipien zu verlieren.
„Die Theorie der Kardinaltugend der Klugheit will folgendes deutlich machen: Es geht im guten Handeln nicht darum, Situationen einfach als Fälle unter Normen zu subsumieren und situationsblind, ohne Rücksicht auf die zu erwartenden Folgen, moralische Grundsätze und Regeln zu befolgen. Vielmehr soll das moralische Urteil eine ausgewogene Synthese des Allgemeinen (Norm, Grundsatz, Regel) und des Besonderen (die komplex-kontingente Situation) sein. Die richtige Konkretisierung des moralisch Guten erfolgt also nicht situationsunabhängig, sondern im klugen Urteil erhält die Situation selbst normative Bedeutung.“[86]
Anhand dieser Definition der Rolle der Klugheit im ethischen Kontext, z.B. bei Aristoteles, zeigt sich klar, dass eine allgemeingültige Ethik nichts weniger als dogmatisch ist, wie es postmoderne Stimmen gerne behaupten. Auf bestimmte ethische Prinzipien sich stützend, muss die praktische Vernunft auch die konkrete Situation berücksichtigen, wenn sie klug urteilen will. Daraus können sich je nach Kontext die vielfältigsten Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten ergeben. Aristoteles betont, dass die so verstandene Klugheit zwar Wissen voraussetzt, darüber hinaus aber das praktisch eingeübte Gespür für die Situation fordert. „Ebenso impliziert sie Geschicklichkeit, also die Fähigkeit, die Mittel zur Erreichung eines Zwecks situationsgemäss zu bestimmen; entscheidend ist aber, dass sie nicht neutrale, sondern moralisch am Guten orientierte Geschicklichkeit ist im Unterschied zu jener Schlauheit, Gerissenheit und Raffinesse, die auch am moralisch neutralen oder bösen Zweck orientiert sein kann.“[87]
Sittlich massgebend ist das Ziel: Aristoteles bezieht die Zielgerichtetheit des menschlichen Handelns in erstaunlich präziser Weise ein. Diese geschilderte Geschicklichkeit, man könnte auch von einem scharfen Verstand sprechen oder von geübten praktischen Fähigkeiten, vielleicht auch von auf Erfahrung beruhender Intuition, gewinnt erst im Hinblick auf ihre Orientierung an einem guten oder schlechten Zweck ihre moralische Qualität. Vernünftiges Handeln bedeutet in der klassischen Ethik immer schon die Orientierung am sittlich Guten, im Unterschied zu einem rein pragmatischen Vorgehen. Niemals dürfte daher, wenn man das klassisch-ethische Verständnis von Vernunft auf heute überträgt, eine Drogenlegalisierung eine „vernünftige Drogenpolitik“[88] genannt werden. So verwundert es auch nicht, dass heute im Zuge derartiger Bestrebungen der Ethik-Begriff seines Gehaltes beraubt und umfunktioniert wird.
Nach Aristoteles gehört die sittliche Vernunft zu den dianoethischen Tugenden. Diese sind werthafte Modellformen der vernünftigen Fähigkeiten des Menschen und kommen nur durch Belehrung zustande. „Ethos“ (Gewöhnung) und „Logos“ (Belehrung) greifen bei Aristoteles in der Erziehung sinnvoll ineinander. So schafft die Erziehung in der Gewohnheitsbildung zu höheren Zwecken gleichsam eine zweite Natur. „… eine ethische Tugend ist dann erworben, wenn die sinnlichen Neigungen im betreffenden Praxisfeld vernunftmässig gestaltet sind, so dass das Gute leicht, gerne und mit Freude getan wird. Der Erwerb der Tugend erfolgt durch praktische Gewöhnung, also durch Einübung.“[89] Die Tugenden werden gemäss Aristoteles erworben, wobei es der Lenkung durch Lehrer bedarf. „… die Eigenschaften enstehen aus den entsprechenden Tätigkeiten. Darum muss man die Tätigkeiten in bestimmter Weise formen. Denn von deren Besonderheiten hängen dann die Eigenschaften ab. Es kommt also nicht wenig darauf an, ob man gleich von Jugend auf an dies oder jenes gewöhnt wird; es kommt viel darauf an, ja sogar alles.“[90]
Entscheidend ist also, ob die Tugenden schon von Kind an angewöhnt werden. Aus dieser Erkenntnis ergibt sich eine optimistische Ausgangslage für die Pädagogik und der höchste Anspruch an ihre Umsetzung in die Praxis. Wichtig ist für die Pädagogik, dass die Vernünftigkeit mit der Sittlichkeit verknüpft ist. In den dianoethischen Tugenden sind Wertbezüge angelegt, die in den vernünftigen Fähigkeiten des Menschen zum Ausdruck kommen und dem Handeln des Menschen eine Wertorientierung geben. Da Aristoteles in seinem Menschenbild die Zielgerichtetheit menschlichen Lebens, sein natürliches Streben nach Zwecken, miteinbezieht, kann er nun Sittlichkeit und Wertorientierung als der menschlichen Natur entsprechende Zwecke verstehen. So ist bei Aristoteles die menschliche Natur nicht nur gleichsam ein „Sein“, sondern auch ein „Sollen“, da der Mensch als lebendiges Wesen eben immer Zwecke und Ziele verfolgt. Für Welzel, der den Ertrag der aristotelischen Anthropologie für das Naturrecht auslotet, stellt die Aristotelische Verbindung von „Natur“ und „Zweck“ gewissermassen eine Brücke dar, „… auf der den formalen Rechtsprinzipien die materialen Inhalte in unbegrenzter Fülle zuströmen können. Idee, Zweck, Physis rücken zusammen, werden ein und dasselbe. Die ‘Natur’ ist die vollendete Wirklichkeit eines Gegenstandes, die in der Materie nur der Möglichkeit oder Anlage nach liegt und im Werdeprozess aktualisiert wird.“[91]
Das Naturgemässe ist immer der beste Zustand eines Dinges. „‘Das Naturgemässe muss man von den Dingen ablesen, die sich in ihrem natürlichen Zustande befinden, nicht von denen, die verderbt sind.’“[92] Die Verwirklichung der menschlichen Natur kann gelingen, sie kann aber auch verfehlt werden:
„Und doch hat das Vermögen in der menschlichen Natur, die verwirklicht werden soll, etwas Unveränderliches, Notwendiges, so dass die dem folgende Verwirklichung ‘gemäss der Natur’ ist, dagegen die dem zuwiderlaufende Verwirklichung ‘gegen die Natur’. Die unveränderliche Natur des Menschen, ihrem Vermögen nach, wird zum natürlichen Gesetz ihrer Verwirklichung. Es ergibt sich also: eine Unveränderlichkeit im Vermögen der Menschennatur als Prinzip, und eine Veränderlichkeit in der Auswirkung, Realisierung.“[93]
Diese Auffassung des Menschen ist auch im Verständnis des Menschen als Person, wie es spätere in der aristotelischen Tradition stehende Autoren, z. B. Thomas von Aquin, formuliert haben, enthalten. Die Naturrechtslehren, zu deren frühen Vertretern man Aristoteles zählen kann, weisen in diesem Sinne daraufhin, dass es gewisse ‘natürliche Neigungen’ oder Bedürfnisse gibt, die allen Menschen gemeinsam sind. Die Adlersche Tiefenpsychologie im 20. Jahrhundert nimmt die seit Aristoteles bestehende Tradition der teleologischen Sichtweise von der menschlichen Natur auf. Adler erarbeitet, darauf aufbauend, ein psychologisch und pädagogisch sinnvolles Verständnis des Menschen: das Individuum als eigenaktives, schöpferisches Wesen, das in der Beziehung zu seinen Erziehern seine natürliche Zielstrebigkeit zu einem unverwechselbaren, einmaligen Lebensstil ausgebaut hat.[94]
Exkurs: Zur Natur des Menschen
An dieser Stelle wollen wir auf den Begriff der ‘Natur des Menschen’ eingehen und definieren, was wir darunter verstehen, da dieser Begriff bei verschiedenen Autoren unterschiedliche Bedeutung hat. Die ‘Natur’ oder das ‘Wesen’ des Menschen sind nach unseren Begriffen die feststehenden natürlichen Gegebenheiten der menschlichen Konstitution, die immer und überall gleiche Eigenart der menschlichen Art oder in anderen Worten: die anthropologischen Konstanten. Das Wesen des Menschen ist das, was vor aller Kultur und aller Setzung konstant bleibt. Zur menschlichen Natur gehört die biologische Ausstattung des Menschen mit seiner Instinktoffenheit, Sprachbegabtheit und grossen Lernfähigkeit. Aus der Instinktungebundenheit des Menschen folgt seine Erziehungsbedürftigkeit und -fähigkeit. „Umweltgebunden und instinktgesichert – so können wir in vereinfachender Kürze das Verhalten des Tieres bezeichnen. Das des Menschen mag demgegenüber weltoffen und entscheidungsfrei genannt werden.“[95]
Die Lebensweise des Menschen ist sozial; er ist existentiell auf seine Mitmenschen angewiesen, so dass man sagen kann: der Mensch ist ein soziales Wesen, ein geselliges Wesen oder ein Gemeinschaftswesen. Er hat die Möglichkeit, zu denken, ein Bewusstsein über sich selbst und eine Vernunft auszubilden. Jeder einzelne Mensch entwickelt sich zu einem unverwechselbaren, einmaligen Individuum. Er muss aber zu den der menschlichen Natur entsprechenden gefühlsmässigen, kognitiven, praktischen und sozialen Fähigkeiten herangebildet werden. So stellt die menschliche Natur immer auch etwas zu Verwirklichendes in Anspruch, der Mensch wird erst durch Erziehung zum Menschen. In diesem Sinne verstanden, beinhaltet das Wesen des Menschen eine teleologische Komponente. In der menschlichen Natur sind „existentielle Zwecke“ (Messner) vorgegeben, als in jeweils individueller Ausformung zu erfüllende Aufgaben. Existentielle Zwecke des menschlichen Wesens sind unter anderem die Selbsterhaltung, die Selbstvervollkommnung, die Ausweitung der Erfahrung und des Wissens, die Fortpflanzung und die Erziehung der Kinder, die wohlwollende Anteilnahme am Wohlergehen der Mitmenschen und die gesellschaftliche Verbindung zur Förderung des allgemeinen Nutzens.[96] Die Aufgabe, dem Kind bei der Entwicklung seiner Persönlichkeit zur Vollmenschlichkeit behilflich zu sein, stellt die höchsten sittlichen und menschlichen Anforderungen an die Erzieher. In der Bewältigung der Aufgaben, die das Leben stellt, die eigene menschliche Natur zu verwirklichen, diese individuell auszugestalten und sich selber in den mitmenschlichen Beziehungen und in Erfüllung der gemeinschaftlichen Aufgaben sittlich zu vervollkommnen, stellt eine fortdauernde Lebensaufgabe für den einzelnen Menschen dar. Wenn man von der Natur des Menschen spricht, muss man demnach die menschliche Natur ‘der Möglichkeit nach’ und die menschliche Natur ‘der Wirklichkeit nach’ unterscheiden. Wenn wir von dem sprechen, was allen Menschen gemeinsam ist, verlieren wir nicht aus dem Auge, dass durch die Offenheit des Menschen bedingt, das Humane sich vielfältig ausprägt. „… eine Vielfalt, die in der Gewissheit einer wesentlichen inneren Einheit des Menschlichen verschiedene Möglichkeiten dieser verborgenen Einheit zur Erscheinung bringt (…).“[97] Gleichheit und Differenz sind zwei sich ergänzende Dimensionen beim Menschen.
Wie erkennen wir aber überhaupt, was die menschliche Natur ist? Der Sozialphilosoph und Ethiker Johannes Messner schreibt, dass wir die Natur des Menschen aus ihrer Wirkweise erkennen. Wie wir die Prinzipien der äusseren Welt aus ihren Wirkweisen erfassen, können wir auch „die Wirksamkeit des Naturgesetzes im Menschen“[98] anhand der menschlichen Verhaltensweisen beobachten. Natürlich besitzt die Natur im Menschen ihre eigene Wirkweise, die nicht dieselbe ist wie die der aussermenschlichen Natur.
Hier muss betont werden, dass mit diesem Begriff der Natur des Menschen seine biologische Konstitution und die Gegebenheiten seiner Existenzweise als Ganzes verstanden werden. Der Mensch wird nicht in eine sogenannte sinnlich-animalische, ‘naturhafte’ Seite des Menschen und eine geistige Seite des Menschen aufgeteilt, also das Geistige nicht aus der Naturhaftigkeit des Menschen herausgenommen. Der Mensch ist eine leiblich-geistige Einheit.
Wie den anderen Denkern der griechischen Klassik ging es auch Aristoteles um die Frage nach dem „guten Leben“, das bei ihm mit dem natürlichen Leben zusammenfällt. Leo Strauss formuliert den Kern von Aristoteles’ Überlegung, wie man die Unterscheidung von ‘gut’ oder ‘schlecht’ aus der menschlichen Natur herleiten kann: Wenn auch die kosmische Ordnung als indifferent gegenüber moralischen Entscheidungen angesehen werden muss, so kann doch die menschliche Natur, als von der allgemeinen Natur unterschieden, sehr wohl Grundlage für solche Entscheidungen sein. Es gibt menschliche Wünsche und Neigungen, die natürlich sind und solche, die aus Konventionen entstammen.
„Weiterhin müssen wir zwischen den menschlichen Wünschen und Neigungen unterscheiden, die mit der menschlichen Natur übereinstimmen und daher gut für den Menschen sind, und solchen, die zerstörend auf seine Natur oder Menschlichkeit einwirken und daher schlecht sind. Auf diese Weise stossen wir auf den Begriff eines Lebens, eines menschlichen Lebens, welches gut ist, weil es mit der Natur übereinstimmt.“[99]
Der Mensch hat also Neigungen und Wünsche, die ihm natürlich sind, heute würde man auch ‘natürliche Bedürfnisse’ sagen. Diese sind dem Menschen zuträglich, also gut für ihn und deren Zwecke und Ziele anstrebenswert. Andere, vermutlich unnatürliche Strebungen, sind dem Menschen nicht zuträglich oder schaden ihm sogar. Von den natürlichen Neigungen müssen solche unterschieden werden, die blosser Konvention entspringen. Man kann dieser Formulierung entnehmen, dass Wünsche und Bedürfnisse anerzogen oder gelernt werden können, und nicht alle ‘natürlich’, im Sinne von ‘dem Menschen zuträglich’, sind. Ein gutes Leben zu führen bedeutet für den Menschen, dass es mit seiner Natur übereinstimmt. Damit ist noch nichts über die materiale Bestimmung des ‘Guten’ gesagt. Diese inhaltlichen Bestimmungen des ‘guten’ Lebens ergeben sich aus der Sozialität des Menschen, woraus ihm Rechte und Pflichten gegenüber der menschlichen Gemeinschaft erwachsen. Auch gefühlsmässig ist der einzelne auf die anderen Menschen ausgerichtet. Bei seinen Handlungen bezieht sich der Mensch auf andere oder wird auf andere hingewiesen, gleichgültig ob eine Handlung ‘sozial’ oder ‘antisozial’ ist. Viele Autoren in der europäischen Philosophietradition nennen den Menschen ein geselliges Wesen oder ein Gemeinschaftswesen.[100] „Die Offenheit unserer Anlagen der Zuwendung stellt jeden Einzelnen, jede Generation wieder neu vor die Aufgabe, die Lösung für die sozialen Beziehungen zu finden, die Synthese von relativ konstanten Naturgegebenheiten und der jeweils einmaligen historischen Situation zu suchen.“[101]
Schlagen wir nun den Bogen zu unserem Thema von der Vernünftigkeit und der Freiheit des Menschen, ergibt sich nach Messner als Ansatzpunkt zum Verstehen der Natur des Menschen seine Vernünftigkeit. Schon seit den Anfangszeiten des uns bekannten Denkens des Menschen über sich selbst besteht darin allgemeine Übereinstimmung, befindet auch Messner.
„In der Tat besteht seit den Anfängen des uns bekannten Denkens des Menschen über sich selbst (z.B. in den eine weit in die Vorzeit zurückreichende Tradition übernehmenden Homerischen Dichtungen) allgemeine Übereinstimmung darüber, dass der Ansatzpunkt zum Verstehen der Natur des Menschen seine Vernunft ist: dass nämlich seine Natur als solche durch jene Verhaltensweisen charakterisiert ist, die von seiner Vernunft abhängig sind. Das so durch die Vernunft bedingte spezifisch menschliche Verhalten wird deshalb den Gegenstand der Erforschung des Naturgesetzes des Menschen bilden müssen: das arteigene Verhalten des Menschen, bedingt durch seine Selbstbestimmung und seine Verantwortung als Vernunftwesen.“[102]
Dass die Vernunft eine grundlegende Grösse für ein normatives Menschenbild darstellt, haben, wie gezeigt wurde, schon die griechischen Klassiker Platon und Aristoteles erkannt. Im traditionellen Tugendbegriff, dessen Kern dauerhaft gültig geblieben ist, wird die Vernunft als oberster Wert und leitendes Vermögen im Menschen im Hinblick auf seine Sittlichkeit bestimmt. Der Ethiker Horst Seidl formuliert den Gehalt des klassischen Tugendbegriffs folgendermassen:
„In der traditionellen Ethik wird seit Aristoteles das sittlich Gute als eine seelische Wirklichkeit im Menschen bestimmt, gemäss ihrem besten Vermögen, der Vernunft. Sie entfaltet sich in gewissen Tugenden, ‘Bestformen’, Haltungen der Seele, unter der Herrschaft des Geistes, das heisst des Willens und der Vernunft. In ihnen kommen alle Kräfte des Menschen, die leiblichen und die seelischen, die sinnlichen, affektiven und geistigen, zur Wirksamkeit und möglicherweise zur Vollendung, wenn sie vom Geist geführt werden, worin das Kriterium der Sittlichkeit liegt. Die Tugenden sind erworbene seelische, entscheidungsfähige Haltungen auf den verschiedenen Lebensgebieten – so zum Beispiel die Tapferkeit auf dem des Gefahrvollen, die Gerechtigkeit auf dem der zu verteilenden Güter, die Frömmigkeit auf dem religiösen Gebiet –, wobei das Sinnliche und Affektive durch gute Gewöhnung, unter der Leitung der Vernunft, so geformt sind, dass sie die Vernunft bzw. den Geist nicht behindern, sondern wirksam unterstützen bei der Erfüllung seiner Aufgaben. Die ganze Ethik dreht sich, wie schon Platon und Aristoteles feststellen, um die Bildung der Affekte, so dass wir Freude an dem haben, was die Vernunft als sittlich gut erkennt, und Schmerz an dem, was sie als schlecht beurteilt, nicht jedoch umgekehrt.“[103]
Das sittlich gute Leben macht dem Menschen natürlicherweise Freude, meinen die Vertreter der traditionellen Ethik. Es ist nämlich das dem Menschen und seiner Natur entsprechende Leben. Gefühl und Handlung stimmen überein. „Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist, ist auch für es das beste und genussreichste.“[104] Die Affekte müssen aber vorerst gebildet und geformt werden, und die Vernunft muss zur Erfüllung ihrer Aufgaben in der Welt Sachkenntnisse, aber auch Weisheit erwerben, betont Seidl, denn was „… nützt es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne, aber Schaden an seiner Seele nähme … Die Ethik kann dies nur bestätigen und die Weisheit als höchste Tugend anerkennen.“[105]
Zurück zu Aristoteles. Aristoteles befasst sich auch mit der Freiwilligkeit einer Handlung. Sie ist Bestandteil seiner Definition der Tugend. Er nennt dabei als Ursprünge einer unfreiwilligen Handlung nur äusseren Zwang und Unwissenheit. Bedeutsam ist nun Aristoteles’ Lehre vom Vorsatz oder der Entscheidung als Ursache einer Handlung. Die Entscheidung geht aus dem Zusammenwirken von Willen und Überlegung hervor, sie ist „‘überlegendes Streben’“[106], also ein freier, eigenaktiver Akt. Die Überlegung, als Leistung der praktischen Vernunft, richtet sich nur auf die Mittel zu den Zwecken. Im guten Menschen ist der Zweck selber „‘ein von Natur Gewolltes’“: „‘… und vielleicht zeichnet sich der Edle gerade dadurch am meisten aus, dass er in jedem einzelnen das Wahre erkennt, da er gleichsam Richtschnur und Mass dafür ist’“.[107] Andere hingegen schienen sich durch die Lust täuschen zu lassen. Die Tugend oder Schlechtigkeit liegt in unserer Macht, da wir uns für sie freiwillig entscheiden können, nachdem wir Überlegungen angestellt haben. „Da nun das Ziel Gegenstand des Wollens ist und die Dinge, für die man sich als Mittel zum Ziele entscheidet, Gegenstand des Überlegens, so erfolgen die entsprechenden Taten durch Entscheidung und freiwillig. Und darauf beziehen sich die Tätigkeiten der Tugenden. Also ist die Tugend in unserer Macht und ebenso die Schlechtigkeit.“[108]
Doch hat man es nur am Anfang in der Hand, durch entsprechende Aktivität tugendhaft zu werden. Sind die Charakterhaltungen einmal eingeübt und gefestigt, ist der Mensch so. Aristoteles meint über den Zügellosen und den Ungerechten: „Wenn sie es einmal geworden sind, haben sie es nicht mehr in der Hand.“[109] Aristoteles’ Überlegungen und Unterscheidungen bezüglich der Freiwilligkeit und Unfreiwilligkeit einer Handlung sind für die juristische Frage der Zurechnungsfähigkeit bei einer strafbaren Tat bedeutsam geworden.
Ein wichtiger Aspekt des verwirklichten Wesens des Menschen ist nach Aristoteles die Freundschaft. Sie stellt ein wechselseitiges Wohlwollen zwischen Menschen dar, das jeder dem anderen um seinetwillen und nicht um irgendwelcher Vorteile willen entgegenbringt. Jeder liebt am Freund die Tugend ebenso wie an sich selbst. „Dem Guten ist der Freund gleichsam ein ‘zweites Selbst’, weil er in ihm dasselbe wesenhafte Gute, Tugendvolle, erkennt wie in sich selber.“[110] Das Motiv des sich Wiedererkennens im Andern, bildet ein Herzstück der Ethik. Es findet sich auch in anderen Kulturen, z.B. in der jüdischen Ethik. So hebt auch Aristoteles bei Menschen, denen man auf Reisen begegnet, nicht die völlige Andersartigkeit hervor, wie es im heutigen „Denken der Differenz“ üblich ist, sondern ihre Ähnlichkeit mit uns selber, da alle Menschen zur gleichen Art gehören. Die Freundschaft wohnt aber den Wesen der gleichen Art gegenüber von Natur aus inne: „… und gegenseitig unter den Wesen von gleicher Art und vor allem bei den Menschen; darum loben wir besonders die Menschenfreundlichen. Man kann ja auch auf Reisen sehen, wie jeder Mensch dem anderen verwandt und freund ist.“[111]
Ein vollkommenes Leben kann der Mensch nach Aristoteles nur im Staat führen: „‘Darum haben alle Menschen von Natur in sich den Trieb zur Gemeinschaft; und der Mann, der sie zuerst errichtet hat, ist der Urheber der grössten Güter.’“[112] Nach Aristoteles ist der Mensch von Natur aus auf die Gemeinschaft bezogen, welche zu den höchsten Gütern für den Menschen gehört. Auf dieser anthropologischen Grundlage definiert er auch die Gerechtigkeit als soziale Tugend; denn sie ist eine Tugend, die sich auf andere bezieht. Weil der Mensch sie nicht nur für sich selbst, sondern auch gegenüber anderen ausübt, ist sie die vollkommenste Tugend. Es erhöht ihren Wert, dass sie eine Tugend ist, die praktisch angewendet wird. Die Tugend der Gerechtigkeit bezieht sich bei Aristoteles vor allem auf die Mitglieder der eigenen Polis.
„Die Gerechtigkeit ist die vollkommene Tugend, aber nicht schlechthin, sondern im Hinblick auf den anderen Menschen. Darum gilt die Gerechtigkeit vielfach als die vornehmste der Tugenden, und ‘weder Abendstern noch Morgenstern sind derart wunderbar’, und im Sprichwort sagt man: ‘In der Gerechtigkeit ist alle Tugend zusammengefasst.’ Sie gilt vor allem als die vollkommene Tugend, weil sie die Anwendung der vollkommenen Tugend ist. Vollkommen ist sie, weil der, der sie besitzt, die Tugend auch dem anderen gegenüber anwenden kann und nicht nur für sich. (…) Sie tut nämlich, was einem anderen zuträglich ist, sei es dem Regenten oder jenem, der derselben Gemeinschaft angehört. (…) der Beste [ist], wer die Tugend nicht nur gegen sich, sondern gegen den andern anwendet. Denn dies ist eine schwierige Aufgabe.“[113]
Gerade um des neuentdeckten mitmenschlichen Gehaltes der Gerechtigkeit willen spendet Aristoteles ihr das höchste Lob.
Ernst Tugendhat weist auf den wichtigen Beitrag des Aristoteles zur europäischen Ethik hin, den dieser in Anknüpfung an Platon mit seiner Tugendlehre geleistet hat. Durch die Tugendmoral erhalte die moderne Regelmoral eine notwendige inhaltliche Ergänzung.[114] Entscheidend für eine allgemeingültige Moral seien nämlich bestimmte Seinsweisen oder Haltungen, und der Begriff der Seinsweise „…entspricht dem traditionellen Begriff des Charakters, und für einen guten Charakter steht traditionell der Terminus ‘Tugend’.“[115]
Die Stoa
Die Stoa gilt als die einflussreichste philosophische Schule der Spätantike. Begründet wurde sie in Griechenland durch Zenon (340 – 260 v.Chr.), weitere Hauptvertreter waren Kleanthes und Chrysippos (alte Stoa). Später beeinflusste die stoische Philosophie die römische Aristokratie, Roms politische Führer und Juristen. Bekannt sind Marcus Tullius Cicero (gest. 43 v. Chr.), der kenntnisreichste und einflussreichste römische Vermittler der griechischen Philosophie und Kultur, Seneca (gest. 65 n. Chr.), der ehemalige Sklave Epiktet (gest. 130 n. Chr.) und der Philosoph auf dem Kaiserthron, Mark Aurel (gest. 180 n. Chr.), die alle die spätere Stoa vertreten.
Die stoische Philosophie will erstmals eine Lebensform begründen. Im Zentrum der Stoa steht daher das Bemühen um moralische Belange: die Ethik. Physik und Logik stellen in der stoischen Philosophie Vorstufen zur Ethik dar. Die stoische Ethik ist ganz auf die Praxis bezogen und befasst sich mit dem richtigen, vernunft- und naturgemässen Leben. ‘Gut’ ist für die Stoa das sittlich Gute, ‘schlecht’ das sittlich Schlechte. Das gute Leben wird ausschliesslich an der Sittlichkeit gemessen. Im stoischen Weltbild wird der Kosmos von einer göttlichen Allvernunft (göttlicher Logos) durchwaltet, die das Naturgesetz vorgibt und – ähnlich wie das Heraklitische Feuer – alles mit einer inneren Kraft erfüllt. Alle Dinge und Wesen, auch die Menschen, befinden sich innerhalb des Kosmos in einer hierarchisch gestuften Ordnung. Der Mensch ist bis in sein Innerstes von der Allvernunft durchdrungen, und seine menschliche Vernunft widerspiegelt diese als lebendiger, selbstbewusster Geist. Im stoischen Menschenbild ist der Mensch als Ganzheit Vernunft- und Naturwesen, denn alles Lebendige ist natürlich. Die Naturgesetzlichkeit, der alle Glieder des Kosmos unterworfen sind, gilt auch für den Menschen, er kann sie aber mit seiner Vernunft erkennen und sich bewusst darnach richten. Während das Tier instinktmässig gebunden ist, hat der Mensch die freie Wahl, sich für oder gegen die ihm zugedachte Ordnung zu entscheiden.[116] Am besten lebt der Mensch in Einklang mit der Naturgesetzlichkeit. „Die Natur sollen wir uns zur Führerin wählen, nach ihr richtet sich die Vernunft, ihre Ratschläge holt sie ein. Also ist ein wahrhaft glückliches und ein naturgemässes Leben ein und dasselbe.“[117] Und: „… bin ich – wie unter allen Stoikern üblich – für Übereinstimmung mit der Natur. Von ihr nicht abzuweichen, nach ihrem Gesetz und Vorbild sich formen zu lassen, darin besteht die Weisheit. Demgemäss ist ein Leben nur glücklich zu nennen, wenn es sich im Einklang mit der eigenen Natur befindet.“[118] Der Begriff „Übereinstimmung mit der Natur“ bezieht sich auch auf die eigene, menschliche Natur, an deren vorgegebenen Rahmen man sich halten muss, wenn man ein glückseliges Leben führen will. Nach Zenon nannten die Stoiker dieses Prinzip „in Übereinstimmung leben“.[119] Es kann darunter also ‘in Übereinstimmung mit der eigenen, menschlichen Natur und zugleich mit dem Naturgesetz zu leben’ verstanden werden, gemäss dem stoischen Weltbild von einem ganzheitlichen Kosmos. Das Innere des Menschen ist auch nach dieser göttlich-natürlichen Ordnung strukturiert.
Das Ziel des Menschen ist das tugendhafte Leben – die Tugend allein genügt nach der stoischen Weltanschauung zum Glück. „Darum also liegt in der Tugend das wahre Glück.“[120] Charakteristisch ist für die Stoa bekanntlich, dass sie das Glück allein ins Innere des Menschen verlegt und es von den äusseren Umständen unabhängig macht. Die inneren Vorstellungen und sittlichen Entscheidungen sind nach Epiktet dasjenige, was in unserer eigenen Macht steht. Unsere eigenen Eindrücke können wir richtig gebrauchen, nämlich „im Einklang mit der menschlichen Vernunftnatur“[121]. Zu den unserem Einfluss entzogenen äusserlichen Gütern zählt Epiktet Körper, Besitz, gesellschaftliches Ansehen oder Stellung.
Auf dem Wege der Verinnerlichung wird das Ideal der Freiheit auf die Spitze getrieben:
„‘Nur, was in unserer Gewalt steht, ist frei und uns zugehörig, alles andere ist gebunden und von fremden Faktoren abhängig. Nur wer dies beherzigt, erspart sich die seelischen Schmerzen, die mit dem Nichterreichen dessen, was er erstrebt, verbunden sind. Nur er ist, unabhängig vom Schicksal und von aller fremden Gewalt, ganz auf sich selbst gestellt und bleibt von jeder Beeinträchtigung seiner Glückseligkeit verschont.’“[122]
Der berühmte Spruch: „Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern ihre Urteile und Meinungen über sie.“[123] ist vor dem Hintergrund dieses stoischen Ideals der Unerschütterbarkeit gegenüber äusserlichem Geschehen zu verstehen. Epiktet entwickelte seine Auffassung von Freiheit wahrscheinlich nicht zuletzt aus seinem persönlichen Schicksal als Sklave.
„Für den Sklaven war die Freiheit nicht mehr und nicht weniger als die innere Unabhängigkeit vom äusseren Zwang, die Souveränität der Moral über die Niedertracht, das Bewusstsein der Menschenwürde in der Erniedrigung. Epiktet hat gewiss schon als Sklave gelernt, was zu seinem unverzichtbaren und unverlierbaren Besitz gehörte und worüber er trotz äusserer Bedrängnis frei verfügen konnte.“[124]
Allgemein ist in der Stoa die Gewinnung eines neuen Bereichs unantastbarer innerer Freiheit ein zentrales Thema. Die stoische Lebenshaltung entstand in einer gesellschaftlichen Situation, die gekennzeichnet war von einem Verlust der bürgerlichen Freiheit durch den Despotismus der Diadochen und durch die Willkürherrschaft der Cäsaren. So hat der Stoizismus dem Menschen eine Weltansicht geboten, die ihn von äusseren Gütern unabhängig zu machen und ihn ganz auf sein Inneres zu stellen suchte. „In dieser Lebensgrundstimmung des Ausgeliefertseins an übermächtige Gewalten konnten nur die Ablösung von allen äusseren Gütern und der Standpunkt der absoluten Autarkie der Tugend dem Menschen ein Reich eigener Verfügung retten.“[125] Seneca erachtet als das höchste Gut den menschlichen Geist, der sicher und unabhängig in sich ruht. „Das höchste Gut ist eine Gesinnung, die Zufälligkeiten verachtet, aber Freude an seiner Tugend findet. (…) Sie ist die Kraft eines ungebrochenen Geistes, mit Lebenserfahrung, voll ruhiger Tatkraft, die sich im Verkehr mit den Mitmenschen sehr umgänglich und fürsorglich zeigt.“[126] Die Begierden und Triebe sind zu verachten, sie machen den Menschen abhängig. Wer sich Lust und Schmerz hingibt, lässt sich von ihnen wie von Zwingherren knechten.
„Da darf es nur einen Ausweg geben: Unabhängigkeit gewinnen! Das aber kann nur gelingen, wenn man sich nicht um das Schicksal kümmert. Dann nämlich erwächst uns ein unschätzbares Gut: die sicher gegründete Ruhe und Erhabenheit des Geistes und nach überwundenen Schrecken eine grossartige, durch nichts zu vertreibende Freude, die aus der Erkenntnis der Wahrheit stammt, endlich Leutseligkeit und innere Gelöstheit, an denen man seine Freude haben wird, nicht wie an einzelnen Gütern, sondern wie an Abkömmlingen eines ureigenen Gutes.“[127]
Cicero relativierte allerdings diesen Standpunkt, indem er zu Recht darauf hinwies, dass dadurch alles praktische Handeln behindert würde: „‘Wenn zwischen den Dingen, welche zur Lebensführung gehören, gar kein Unterschied bestünde und keine Wertentscheidung mehr möglich wäre, würde das ganze Leben in Unordnung geraten.’“[128]
Durch die Betonung der inneren Freiheit beim Menschen gewinnt die Verantwortung vor der eigenen moralischen Instanz, dem Gewissen, an Bedeutung. Seneca beschreibt das Gewissen, die „conscientia“, als inneren Beobachter und Wächter alles dessen, was an Gutem und Schlechtem in uns ist, und er stellt dieses Urteilsvermögen über jedes äussere Urteil. „‘Ich will nichts um fremder Meinung, alles um meines Gewissens tun.’“ [129] Nach Welzel ist in diesem Gewissensbegriff die Selbständigkeit der subjektiven Moralität in einem für die Antike sonst unbekannten Grade enthalten und schon nahe an den Gedanken der „moralischen Autonomie, der freien Selbstbindung an den selbsterkannten sittlichen Wert“[130] herangeführt.
Die innere Freiheit wird nach stoischer Anschauung dadurch erreicht, dass der Mensch auf seinem Wege zur Tugend die Anfechtungen der Seele durch die Affekte überwinden muss. Das Ziel ist die Freiheit von Affekten, eine innere Gelassenheit und Leidenschaftslosigkeit („apatheia“). Es geht nun nicht mehr bloss um eine Mässigung und Versöhnung der Affekte wie bei Aristoteles, sondern um deren völlige Überwindung. Die Affekte werden als unvernünftige, naturwidrige Seelenbewegungen angesehen, die kognitiv strukturiert seien und Fehlurteile darstellten. Die vollendete sittliche Persönlichkeit, der stoische Weise, verfügt über alle Tugenden und ist von Affekten frei. Um an diesem Ziel seiner „natürlichen Bestimmung“ anzugelangen, muss der Mensch einen Entwicklungsprozess durchlaufen. Die Stoa legt grossen Wert auf die Selbsterziehung und gibt Hinweise und konkrete Ratschläge, auf welchem Weg das Ziel zu erreichen sei, der Mensch also innerlich frei werden könne. In seinem „Handbuch der Moral“ geht es Epiktet um die Befähigung des Menschen zu einem sittlichen, selbstbestimmten Handeln in konkreten Lebenssituationen. So sagt er zum Beispiel am Schluss seiner Ausführungen unter der sinnigen Überschrift „Wie lange wartest du noch?“:
„Du hast die philosophischen Lehren empfangen, die du anerkennen musst, und du hast sie anerkannt. Auf welchen Lehrer wartest du jetzt noch, um ihm die Aufgabe anzuvertrauen, deine moralische Besserung herbeizuführen? Du bist kein Kind mehr, sondern ein erwachsener Mann. Wenn du jetzt nachlässig und leichtsinnig bist, immer nur einen Vorsatz nach dem anderen fasst und es von einem Tag auf den anderen schiebst, an dir arbeiten zu wollen, dann wirst du, ohne es zu merken, keine Fortschritte machen, sondern als Durchschnittsmensch weiter dahinleben, bis du stirbst. Entschliesse dich endlich, wie ein erwachsener Mann zu leben, der auf seinem Weg vorankommt; und alles, was dir als das Beste erscheint, sei dir unverbrüchliches Gesetz.“[131]
Während das Kind noch einen Lehrer braucht, hat der Erwachsene sein sittliches Fortkommen selbst in der Hand, aber er selbst muss sich dazu entschliessen. Erforderlich ist eine tägliche harte Arbeit an sich selber, auf einem festen Willen beruhend, auch beschwerliche Hindernisse zu überwinden, um das Ziel der sittlichen Persönlichkeit zu erreichen.
Hager weist darauf hin, dass das Persönlichkeitsideal der Stoa das „erste ausgeformte Persönlichkeitsideal in der Geistesgeschichte“ darstellt: „… das Ideal der autonomen Persönlichkeit, die im Kern von allen Schicksalsschlägen unberührt bleibt und nur ihrem eigenen innnern Gesetz gehorcht.“[132] Der pädagogische Gehalt des stoischen Freiheitsbegriffs hat im Christentum und in der Neuzeit nachgewirkt, und zwar überall dort, wo die innerlich freie Persönlichkeit durch einen Bildungsweg zu ihrer Höchstform geführt werden soll.[133]
Ein weiterer geistesgeschichtlich fruchtbarer Gedanke der Stoa dreht sich um die „oikeiosis“, die Aneignung des Menschen in seinen Weltbezügen oder die Lehre von dem, was uns „zugehörig“ ist. Die oikeiosis, ein Grundbegriff der stoischen Anthropologie, bezeichnet die natürliche Hinwendung zu allem, was dem Individuum förderlich ist und zu seinem Wesen gehört. Daraus ergibt sich der Massstab für gutes und schlechtes Handeln. Es geht dabei um einen anthropologischen Grundgedanken: Jedes Lebewesen wird mit einer Selbstwahrnehmung geboren, aus der sich allmählich eine Art Zugehörigkeitsverhältnis zu sich selber entwickelt. Daraus entspringt die Selbstliebe, also der Selbsterhaltungstrieb. Er bezieht sich zunächst auf die Erhaltung der „ersten naturgemässen Dinge“ wie Gesundheit, Kraft, Sinnesschärfe etc. Aber schon beim Tier geht der erste Naturtrieb über das Individuum hinaus und schliesst die Liebe zu seinen Jungtieren mit ein.[134] „Erst recht bleibt beim Menschen als Vernunftwesen die Oikeiosis nicht bei der Selbsterhaltung stehen, sondern schliesst neben den Kindern auch sonstige Angehörige, Freunde und Bekannte ein und zieht immer weitere Kreise, bis sie die ganze Menschheit umschliesst.“[135] Die Oikeiosis ist das Motiv zur Herstellung sozialer Beziehungen, eine natürliche Ausrichtung auf die Gemeinschaft. Nun wird zum ersten Mal der Humanitätsgedanke angesprochen. In der Lehre von der Oikeiosis liegt die Wurzel der für die Stoa charakteristischen Humanitätsidee. Diese zeigt sich auch in der Anerkennung des Sklaven als gleichwertigem Mitmenschen, schon bei Chrysipp.
Es ist nach Hager „… eine grundlegende ethische Aufgabe, dieses Zugehörigkeitsgefühl, das naturgemäss dem eigenen Selbst gegenüber am grössten ist, auch in seiner Ausdehnung auf die Mitmenschen zu intensivieren.“[136] Die stoische Anthropologie und Ethik, die zunächst auf den Aufbau einer völlig autonomen, in sich ruhenden Persönlichkeit ausgerichtet schien, stellt mit der Lehre von der Oikeiosis Bezüge zum Mitmenschen und zur Gemeinschaft im weitesten Sinne her.[137] Die Oikeiosis ist „… die naturhafte Grundlage aller Gemeinschaftsbildung, sie bestimmt und treibt den Menschen naturhaft zur Gemeinschaft.“[138] Die Stoa ist der Auffassung, dass der Mensch eine natürliche Bestimmung zum Leben in der Gemeinschaft hat, ausgehend von der Selbstliebe, die sich schon früh im Leben zur Liebe zu den engeren Beziehungspersonen erweitert, um dann in weiteren Kreisen sich auszudehnen. „‘Die gegenseitige Schätzung der Menschen ist etwas Natürliches, so dass der Mensch dem Menschen, schon weil er ein Mensch ist, nicht fremd erscheint.’“[139] Es wird hier anscheinend keine künstliche Trennung zwischen den Interessen des Individuums und denen der Gemeinschaft gemacht: Ein wichtiger Gedanke für die Pädagogik, den man in der Neuzeit, z.B. bei Pestalozzi, wiederfindet: In seiner „Abendstunde eines Einsiedlers“ entfaltet Pestalozzi die Idee einer naturgemässen Entwicklung des Menschen von seinen nächsten Bezügen über immer weitere Kreise zurück zum Zentrum. Bei Rousseau findet sich der Gedanke des Mitleids als soziales ethisches Grundgefühl, das, aus der Selbstliebe hervorgegangen, sich auf die anderen Menschen ausweitet.[140]
Da der Bezug des Individuums zur Gemeinschaft ein wichtiges Element der stoischen Philosophie darstellt, wird auch über die Pflichten des Bürgers gegenüber anderen Menschen gesprochen. Diese haben ihren natürlichen Antrieb in der Oikeiosis. „Was ist nun die Pflicht eines Bürgers? Er sucht keinen persönlichen Vorteil und fasst keine Pläne, als ob er ein isoliertes Einzelwesen wäre, sondern genauso, wie die Hand oder der Fuss, wenn sie denken und die natürliche Organisation des Körpers begreifen könnten, sich nie anders bewegen oder ausstrecken würden als in Rücksicht auf das Ganze.“[141] Pflichten hat der Einzelne gegenüber seinen Familienmitgliedern, der Stadt gegenüber, wenn man ein Amt bekleidet, etc. Sie „… richten sich im allgemeinen nach unseren sozialen Beziehungen.“[142]
Epiktet sagt, dass die eigene sittliche Entscheidung darüber, was zu tun ist, unabhängig vom Verhalten des anderen der eigenen Vernunftnatur folgen müsse, sogar wenn man vom eigenen Vater geschlagen werde. Seneca betont die Fürsorglichkeit und die natürliche Pflicht, den Mitmenschen zu helfen (auch den Sklaven): „Es ist für mich ein Gebot der Natur, meinen Mitmenschen zu helfen; was macht es da aus, ob es Sklaven oder Freie, Freigeborene oder Freigelassene sind, ob sie ihre Freiheit dem Gesetz oder dem Wohlwollen ihrer Freunde verdanken? Wo immer du Menschen triffst, hast du Gelegenheit, hilfreich zu sein.“[143]
Die weltgeschichtliche Bedeutung der Stoa liegt vor allem in ihrer Wirkung auf das Christentum, aber auch viele Philosophen der Neuzeit sind von ihr beeinflusst, so z.B. Giordano Bruno, Descartes, Spinoza, Locke, Kant, Schiller, Goethe und andere. Nach Störig hat der Stoizismus dem Christentum den Boden vorbereitet mit seiner strengen asketischen Moral, seiner Geringschätzung der äusseren Güter, seiner Sicht von einem höchsten, das Weltgeschehen verkörpernden Wesen und mit dem Ideal einer alle Grenzen überschreitenden allgemeinen Liebe unter den Menschen.[144]
Zu den ideengeschichtlich bedeutsamsten Momenten zählt weiter die stoische Begründung überpositiver Gerechtigkeitsprinzipien in der Natur selbst, also das Naturrecht, auf das im Rahmen unseres Themas nicht näher eingegangen werden konnte. Auf dem Naturrecht beruht die enge Verbindung von Recht und Moral. Namentlich von Cicero wurden diese Gedanken aufgenommen und „… fanden in seinen Schriften Über das Gemeinwesen und Über die Gesetze Ausdruck und befruchteten nicht nur das römische Staats- und Rechtsdenken, sondern auch die Rechtslehre Augustins und damit die christliche Tradition.“[145]
Thomas von Aquin: Person, Vernunft und Tugend
Das augustinisch-mittelalterliche Weltbild und die geistesgeschichtliche Wende durch die Aristoteles-Rezeption
Thomas von Aquins Werk stellt eine Brücke zwischen Mittelalter und Neuzeit dar. Er lebte von 1225 bis 1274. Durch das Bekanntwerden der Schriften von Aristoteles im Europa des 12./13. Jahrhunderts ergab sich ein bedeutender Einschnitt im mittelalterlichen Weltbild. Man kann von einem eigentlichen geistesgeschichtlichen Wandel sprechen, zu dem Thomas von Aquin einen bedeutenden Beitrag geleistet hat.
„Der genannte geistesgeschichtliche Wandel hat seine Wurzeln in den beiden alternativen philosophischen Ansätzen und geistigen Grundhaltungen der antiken Philosophie, repräsentiert durch Plato und Aristoteles. Die ersten 1200 Jahre des abendländischen Christentums sind geprägt durch die Begegnung mit dem platonischen Denken in der Auslegung durch den Neuplatonismus, vermittelt vor allem durch Augustinus. Im Zentrum dieses Denkens steht die Idee. Sie ist die eigentliche Wirklichkeit, das wirkliche Sein, dem Werden und Vergehen entzogen. Als das schlechthin Bleibende ist sie selbst mit sich identisch und deshalb unabhängig von konkreter und empirisch wahrnehmbarer Verwirklichung und Vervielfältigung. Die Welt unserer Erfahrung ist demgegenüber eher Nichtsein als wirkliches Sein.“[146]
Das mittelalterliche Weltbild, in Theologie und Philosophie repräsentiert durch den Kirchenvater Augustinus, ist geprägt von einer Abwendung von der Wirklichkeit, die als eigentlich defizienter Modus angesehen wird. Das Natürliche und die Erfahrung werden minderbewertet. Alles Fühlen und Denken ist auf das Jenseits hingeordnet. Das Diesseits ist nur Abbild, nur Symbol und vorläufiger Hinweis auf das Eigentliche. Damit ist zwischen der Welt der Erfahrung und jener der Ideen ein Dualismus aufgebrochen, der letztlich nicht überbrückbar ist und sehr bald auch mit einer Wertung verbunden wird. Die Materie als Nichtsein und Prinzip der Vielheit wird zum Prinzip des Bösen. Diesem metaphysischen Dualismus korrespondiert in der Anthropologie ein radikaler Leib-Seele-Dualismus. Die präexistente Seele ist der eigentliche Mensch. Auch das Verständnis der Lehre von der Erbsünde führt zu einer Minderbewertung des Natürlichen und der Weltwirklichkeit bis hin zur Weltverachtung.[147] Augustinus war für das Christentum die überragende Autorität bis zur Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert. „Unter dem Einfluss des Augustinischen Supranaturalismus wurde die Allwirksamkeit Gottes so einseitig betont, dass auch das theologisch nötige und geforderte Mass an Eigenständigkeit und Freiheit, Eigeninitiative und Eigenwertigkeit des Menschen ständig bedroht war.“[148]
Der aristotelische Ansatz blieb dagegen zunächst sachlich nahezu ohne Wirkung. Durch seine Logik hatte Aristoteles jedoch in formeller Hinsicht nachhaltigen Einfluss auf den Gang des abendländischen Denkens, was durch die Vermittlung des Boëthius vor allem in der Ausbildung der scholastischen Methode seinen Ausdruck fand. Dieser Denkstil fand dann in Thomas von Aquin seinen Höhepunkt. Der Begriff Scholastik kann ganz allgemein als Bezeichnung für die Gestalt der Wissenschaft jener Zeit verwendet werden. Ein dreifaches Anliegen kommt darin zur Geltung:
1. Die Hochachtung vor der Tradition und der Autorität. Wer Wissenschaft betreiben will, muss lernen und sich Wissen aneignen. Dies bedeutete damals vor allem, sich mit Texten zu beschäftigen, diese zu kompilieren und zu interpretieren.
2. Dazu kommt das eigentlich Neue: das Bewusstsein, dass sich echte Aneignung von Wissen nur in geistiger Auseinandersetzung vollziehen kann. Es braucht dazu die ratio, die Vernunft als kritische und unterscheidende Instanz, die nun zunehmend an Bedeutung gewinnt.
3. Mit der Rezeption und der kritischen Auseinandersetzung verbindet sich die Weitergabe des Wissens als drittes Anliegen der Scholastik. „Nicht mystische Vereinigung und subjektive Vervollkommnung stehen im Vordergrund, sondern objektive Wissensvermittlung. Lernender Rückgriff auf das Wissen der Vergangenheit, kritische Auseinandersetzung sowie systematische Verarbeitung und lehrendes Weitergeben, das sind die Grundelemente und Anliegen mittelalterlicher Scholastik.“[149]
Von Thomas von Aquin wurde in der klassischen Form der „quaestio disputata“ das Bemühen um systematische Methodik in der geistigen Auseinandersetzung voll ausgebildet. Die quaestio disputata ist bei Thomas Ausdruck des arbeitenden und nach Wahrheit suchenden Geistes. In der Argumentation wird das Wissen der Vergangenheit kritisch aufgenommen und das pro und contra diskutiert, wobei zugleich die Problematik schärfer herausgearbeitet wird. Das Problem wird anschliessend vertieft, der Lösungsvorschlag begründet und eine Entscheidung getroffen. Abschliessend bezieht Thomas Stellung zu den einzelnen Argumenten. Beachtenswert ist, dass dabei die gegnerischen Argumente nicht einfach pauschal zurückgewiesen und verworfen werden. Thomas bemüht sich vielmehr sorgfältig, auch bei der abgelehnten Meinung Aspekte der Wahrheit aufzudecken.[150]
In diesem scholastischen Wissenschaftsbemühen steckt nun schon der Kern einer Veränderung des Weltbildes. Es geht um das Verhältnis von Wissen und Glauben, von Theologie und Philosophie. So wandte sich z.B. Petrus Damiani im 11. Jahrhundert gegen diesen neuen Weg, Theologie zu betreiben, indem er behauptete, die reine Philosophie sei eine Erfindung des Teufels; den Gesetzen der Logik komme vor Gott keine Gültigkeit zu. Eine Zwischenstellung nahm in dieser Auseinandersetzung Anselm von Canterbury ein, der eine neue Verhältnisbestimmung zwischen Wissen und Glauben vornahm, indem er, beide Extreme meidend, der ratio einen festen Platz im Bereich des Glaubens zuwies. Anselm verblieb aber noch in der geistigen Grundhaltung des Augustinus, denn der Glaube hat bei ihm Priorität vor der Vernunft. Die Vernunft bedarf der Reinigung durch den Glaubensakt. Die Kontroversen setzten sich im 12. Jahrhundert fort.
In dieser Entwicklung stellt das Bekanntwerden der metaphysischen Schriften des Aristoteles um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert einen Einschnitt dar, da von ihnen aus ein entscheidender Anstoss für die Veränderung des augustinisch-mittelalterlichen Weltbildes ausging. Das neue Wissen um Aristoteles stand im Mittelpunkt tiefgreifender Veränderungen des geistigen Klimas in Europa. Mit der Rezeption dieses griechischen Philosophen und Wissenschafters kam ein neues Interesse an inhaltlich orientierten Wissenschaften wie Astronomie, Physik und Medizin auf, was für die Theologie eine Konfrontation mit „wissenschaftlichen Inhalten eigenen Rechts“ bedeutete.[151] Man wandte sich wieder der Welt und ihren Sachverhalten zu und wollte wissen, wie es sich mit den einzelnen wirklichen Dingen verhält. Aristoteles steht „… dieser Welt und ihrer Wirklichkeit ohne Vorbehalte gegenüber. Im Erkennen geht er vom konkreten Einzelnen, von dieser Welt aus. Die mit den Sinnen erfahrbare Realität der Dinge ist nicht nur Verweis, Zeichen, Symbol oder Metapher, sondern Wirklichkeit eigener Würde und eigener Wertigkeit.“[152]
Die Kirche sah in diesem Umbruch des Weltbildes, in der Hinwendung zur diesseitigen Wirklichkeit und der sinnlichen Erfahrung, wie auch in der sich anbahnenden Emanzipation der kritischen Vernunft eine Bedrohung der Religion und ihrer Macht. Sie verbot daher die Lektüre der metaphysischen Schriften des Aristoteles.
Dies war der geistesgeschichtliche Hintergrund, in den Thomas von Aquin hineinwuchs. Es war sein grosses Verdienst, die ratio und die fides, Vernunft und Glauben, in einer Synthese zusammenzubringen und zu versöhnen. Damit gelang ihm eine Vermittlung der überlieferten Tradition mit dem Neuen. Thomas war Schüler von Albertus Magnus, der sich als Anhänger des Augustinus und als Naturwissenschafter verstand. Methodisch vertraute Albertus der genauen Beobachtung und auch schon dem Experiment. Es ging ihm um die Begründung von Erfahrungswissen: Das empirische Wissen sollte nicht nur die Phänomene beschreiben, sondern sie auch aus ihren Ursachen erklären. Zwar unterliegt für Albertus als Theologe die Welt der Vorsehung Gottes, der aber nur die natürlichen Ursachen auf ihre Eigenwirksamkeit hin bewegt. Daher können diese ohne Bezug auf Gott in sich selbst erforscht werden. Darin liegt ein entscheidender Neuansatz des mittelalterlichen Denkens, der auf die neuzeitliche Wissenschaft hinweist. Alberts Anliegen war es jedoch, wie auch dasjenige von Thomas von Aquin, die neue Weltsicht mit der theologischen Tradition zu vermitteln.[153]
Die Theologie und die Philosophie sind gemäss Thomas von Aquin Wissenschaften. Methodologisch geht die Philosophie umgekehrt wie die Theologie vor, indem sie die Dinge in ihrem eigenen Sein betrachtet. Erst zuletzt wird Gott aus ihnen erkannt. Philosophie ist Vollzug der Vernunft als solcher. Die Vernunft bezieht sich hier auf die Welt und ihre Ursachen. Die Philosophie besteht aus einer Vielfalt in sich selbständiger Wissenschaften wie Logik, Grammatik, Physik, Ethik, Ökonomik u.a. Wenn die Theologie die Welthaftigkeit des Menschen in ihren Glauben einbeziehen will, bedarf sie der Ergänzung durch das weltliche Wissen. Darum erkennt Thomas von Aquin die Selbständigkeit der Philosophie in ihren Prinzipien, in ihren Gegenständen und in ihren methodischen Verfahren voll an.
Erstmals wird von Thomas eine Trennung von Philosophie und Offenbarungstheologie konsequent vollzogen: „In der Spätantike und im Frühmittelalter ist der Philosophie ein Eindringen in die letzten Geheimnisse des Glaubens zugestanden worden. Thomas betont dagegen, dass es der natürlichen Vernunft unmöglich sei, die innersten Geheimnisse des Offenbarungsglaubens zu erkennen.“[154] Die eigentlichen Offenbarungswahrheiten können von der Philosophie nicht erfasst werden. „Sie werden nur im Glauben aufgrund der Offenbarung Gottes zuteil. Diese Glaubenswahrheiten stehen deswegen nicht im Widerspruch zur Philosophie. Sie sind nur dem Kompetenzbereich der natürlichen Vernunft entzogen (…).“[155] Die Trennung von Philosophie und Theologie hat für die Geschichte der Bildung und Erziehung Folgen, die nach Hager nicht hoch genug veranschlagt werden können: „Die Emanzipation der weltlichen Wissenschaften aus der theologischen Bevormundung ist angebahnt.“[156]
Von Aristoteles übernimmt Thomas die ganzheitliche Sicht des Menschen als Einheit von Vernunft- und Sinnenwesen. Der Mensch ist Leib und Seele, die gegenseitig voneinander durchdrungen sind. Die tätige Vernunft ist das höchste Vermögen der Seele. Weil diese durch ihr Wesen den Leib formt, ist auch die tätige Vernunft mit dem Leib des einzelnen Menschen wesenhaft vereint. Die grosse Bedeutung, die Thomas der Vernunft als einem Wesensmerkmal der menschlichen Art zumisst, das unabhängig von seiner Religionszugehörigkeit besteht, wird deutlich in seinem Bemühen um eine Verständigung zwischen Christen und Heiden. In seiner „Summa contra Gentiles“ stellt er die Gesetze für einen Dialog mit den Heiden auf. Für die „Ungläubigen“ kann nicht die Autorität des Alten oder Neuen Testaments herangezogen werden, sondern allein die universelle Vernunft stellt die Grundlage für die Verständigung dar und kann vermitteln. In der Auseinandersetzung mit anderen Lehrmeinungen wiederum dürfen nicht persönliche Sympathien oder Antipathien den Ausschlag geben, sondern nur die sachlichen Argumente. Thomas sagt dazu:
„Bei der Entscheidung für oder gegen eine Lehrmeinung darf der Mensch sich nicht von Liebe oder Hass gegen den leiten lassen, der eine solche Meinung aufstellt, sondern allein von der sicheren Wahrheit. Daher sagt [Aristoteles], man müsse sie alle lieben, nämlich die, deren Meinung wir annehmen, und die, deren Meinung wir ablehnen. Alle nämlich haben sich um die Erforschung der Wahrheit bemüht und somit uns geholfen. Dennoch muss man sich von denen überzeugen lassen, bei denen mehr Gewissheit ist, das heisst der Meinung derjenigen folgen, die mit grösserer Gewissheit die Wahrheit getroffen haben.“[157]
Diese eindrücklichen Überlegungen über die Achtung vor dem Andersdenkenden und das redliche Ringen um Gewissheit – wohlgemerkt im Zeitalter der Scheiterhaufen und blutigen Verfolgungen von „Ketzern“ – verweisen auf den Gedanken der universellen Toleranz und damit schon in die Neuzeit hinein.
Der Person-Begriff bei Thomas von Aquin
In einer Reihe öffentlicher Disputationen verteidigt Thomas gegen den Dualismus der Augustinisten die Personalität des Menschen, die Substanzeinheit von Leib und Seele. Traditionell wurde seit Aristoteles der Mensch definiert als „Lebewesen, das Vernunft hat.“ Parallel zu dieser Definition des Menschen bildet sich erstmals bei Boëthius die Definition der Person heraus als „‘Individuelle Substanz von vernünftiger Natur’“.[158] Thomas übernimmt diese Bestimmung der Person von Boëthius. Person ist nach Thomas „… ein ‘subsistens in natura intellctuali’, also eine bestimmte Natur, nämlich die ‘würdigste’ von allen, zusammen mit einer gewissen Existenzweise, die ebenfalls an Würde alle anderen übertrifft, nämlich das ‘per se existere’.“[159] Die Person ist durch eine besondere Würde ausgezeichnet, denn sie hat eine ausgezeichnete Weise des In-Sich-Selbst-Seins „… in der Fähigkeit zu immanenten Akten wie Erkennen und Wollen, also in der dadurch eröffneten Sphäre der Wahrheit und Freiheit.“[160] Die Person existiert und handelt durch sich selbst. „Freiheit ist somit das entscheidende Merkmal, das die Person zum ‘perfectissimum in tota natura’ macht. Diese Freiheit wiederum hat ihre Wurzel in der Vernunft.“[161] Mit der Definition der Person als „individuelle Substanz vernünftiger Natur“ tritt der einzelne Mensch als Individuum in den Blick, denn die Person ist „… nichts anderes als der Mensch, als Individuum betrachtet. Wir haben es also mit ein und derselben Realität zu tun, den einzelnen Menschen, die einmal als Artvertreter unter dem allgemeinen Aspekt der Spezies Mensch betrachtet werden können, zum anderen aber als Individuum in ihrer konkreten Existenz.“[162] Die Person ist gekennzeichnet durch ihre Freiheit zu eigenverantwortlichem Handeln, eine Auffassung, die dem Menschenbild bestimmter Postmodernisten eines triebgesteuerten, von unbewussten Strukturen determinierten Menschen entgegensteht.
Die Freiheit des Menschen, wie Thomas sie in seinem Verständnis von der menschlichen Person begründet, ist eng verbunden mit der Ethik:
„Person ist für ihn ein Wort, welches eine hohe Würde zum Ausdruck bringt. Sie bezeichnet die individuelle Einheit und Ganzheit des Menschen. (…) in der Seele und Leib umfassenden Selbständigkeit und Selbsttätigkeit der Person erscheint der Mensch als unteilbares Einzelwesen von besonderem Rang. Die Person ist Herr ihrer Akte und handelt durch sich selbst, während alles andere eher ‘getan’ wird. Von daher ist die Person ‘das Vollkommenste in der ganzen Natur’, nämlich das ‘Für-Sich-Bestehende vernunftbegabter Natur’. Die Person ist die höchste Form des Selbstandwesens, der Subsistenz.“[163]
Der einzelne Mensch ist eine unteilbare Ganzheit und in seiner Individualität einmalig. Er kann sich in seiner konkreten Existenz verwirklichen. Jede Person ist „Für-Sich-Bestehend“, selbständig und handelt durch sich selbst. Der Einzelne ist „Herr seiner Akte“, ein zu freiem und verantwortlichem Handeln fähiges, geistbegabtes Subjekt. Deshalb kommt der Person eine hohe Würde zu.
Im Begriff der Person bei Thomas kommt eine neue Auffassung des Menschen zum Ausdruck, die sich von derjenigen von Antike und Mittelalter wesentlich unterscheidet. Da war der einzelne Mensch noch Teil eines Ganzen, des Kosmos oder der gottbestimmten Welt, und hatte keinen Wert für sich. Er erlebte sich nicht selbstbestimmt, sondern von der göttlichen Vorsehung und dem Schicksal abhängig. „Die spätmittelalterliche Welt (…) ruhte in sich selbst und in ihrem Sinn, und der Einzelne, das Individuum, war prozessualer Teil eines prozessualen und sinnvollen Ganzen, das er und das ihn auch nur so begriff.“[164] Eine persönliche Freiheit des Einzelnen gab es noch nicht, denn es gab auch noch kein Bewusstsein von der individuellen Persönlichkeit jedes Menschen.
„Eine auf ‘Persönlichkeit’ ruhende und allein aus ihr heraus zu definierende persönliche Freiheit war undenkbar und nicht existent – es gab sie nicht. Das zögerliche und fast keusche Aufkeimen eines wie immer gearteten menschlichen Persönlichkeitsbewusstseins barg schon den Sprengsatz in sich, der eine solchermassen geschlossene und in sich selbst befriedete Welt einmal explodieren lassen (…) musste.“[165]
Der Begriff der Freiheit wird in der Tugendlehre des Thomas bedeutsam: Seine Ausführungen zur subjektiv-moralischen Seite der Sittlichkeit enthalten einen grossen Fortschritt, auch gegenüber der aristotelisch-stoischen Tradition. Das Gewissen ist die letzte subjektive Instanz des menschlichen Handelns; es entscheidet über den Wert der subjektiv-moralischen Seite einer Handlung. Es darf kein Befehl einer Autorität oder eines weltlichen oder kirchlichen Vorgesetzten befolgt werden, wenn das subjektive Gewissen ihn als schlecht beurteilt. Eher soll der Gläubige die Exkommunikation auf sich nehmen! Damit begründet Thomas die moralische Autonomie, ein „Höhepunkt im Entwicklungsprozess um die Herausbildung des auf sittliche Autonomie gegründeten Persönlichkeitsbegriffs“.[166] Das volle Gewicht der Gewissensautonomie zeigt sich in Thomas’ Lehre vom irrenden Gewissen. Sogar das irrende Gewissen hat subjektiv-verpflichtende Kraft, wenn es sich schuldlos irrt. Dies gilt selbst für Glaubensangelegenheiten: Wer aufgrund eines irrenden Gewissens von der Schlechtigkeit des Glaubens an Christus überzeugt ist, der ist in seinem Gewissen verpflichtet, sich vom christlichen Glauben fernzuhalten.[167] Eine wahrhaft mutige Schlussfolgerung zu jener Zeit!
Somit gelangt der Einzelne zu seiner Tugend erst durch den Gebrauch seiner Freiheit. Die Tugend qualifiziert den Menschen und verleiht ihm eine Kompetenz, die ihn persönlich kennzeichnet. Diese Qualifikation oder Disposition, wie Thomas sagt, bringt den Menschen in eine bestimmte Verfassung, die ihn auf das Gute ausgerichtet sein lässt. Das gute Handeln ist also nicht von der äusseren Situation abhängig, sondern ein „Habitus“ im Innern des Menschen, eine bleibende Handlungsbereitschaft. „Tugend besitzt erst, wer im Kern seiner Person mit dem Guten eins geworden ist. In ihr erreicht der Mensch eine Identität mit sich selbst, weil alle seine Kräfte durch sie in eine bestimmte Richtung gelenkt werden.“[168] Hier zeigt sich schön die personale Auffassung des Menschen bei Thomas: Der Mensch ist eine Einheit in sich selbst und somit fähig, konsequent selber gesetzte Ziele anzustreben. Die Selbstbestimmung durch die Tugend kann als höchste Form der Selbstbestimmung angesehen werden. Tugend bedeutet Selbstverwirklichung in Freiheit. Darunter versteht Thomas aber keinesfalls subjektive Beliebigkeit. Im Gegenteil weist er auf die anthropologischen Notwendigkeiten hin, die sich aus den allgemeinen Strukturen des Menschseins ergeben. Das Naturgesetz gibt die Grundlage für das freie Handeln ab, doch wie wir uns zu unserem Endziel in Beziehung setzen, auf welchen Wegen wir es verwirklichen wollen, für was wir es halten, das ist unsere persönliche Freiheit. Thomas geht davon aus, dass alle Menschen wissen: Das Gute muss getan werden. Das ist die Grundlage der praktischen Vernunft. Die Grundaufgabe des Menschen besteht deshalb darin, „… die vielen begrenzten Teilverwirklichungen in die ihnen angemessene Beziehung zum unbegrenzten Guten an sich selbst zu bringen. Unter diesem Anspruch steht ein durch Vernunft ausgezeichnetes Wesen. Es ist sein Wesensgesetz. Von ihm her müssen alle anderen Gesetze her bestimmt sein. Thomas nennt es auch: Die Regel der Vernunft.“[169]
Theologisch mündet die Tugendlehre des Thomas von Aquin in die drei vom Geist Gottes geoffenbarten Tugenden des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Gott wirkt im Menschen durch seinen Geist, aber nicht ohne die Zustimmung des Betreffenden, also nicht ohne die Freiheit des Einzelnen.[170]
Der Mensch ist bei Thomas in die natürliche Weltordnung eingegliedert und steht unter deren Gesetzen: der lex aeterna, der lex naturalis und der lex humana. Jedes Wesen hat eine naturhafte Hinneigung zur Verwirklichung des „Guten“, das ihm durch die lex aeterna eingeprägt ist. Durch seine Vernunft nimmt der Mensch am ewigen Weltgesetz teil. Das bedeutet, dass er seine Urteilskraft einsetzen muss. Die lex naturalis – die der Natur des Menschen entsprechenden Prinzipien – ist Norm der Vernunft. Die von den Menschen gesetzten Gesetze (lex humana) müssen vom Naturgesetz abgeleitet sein und dürfen ihm nicht widersprechen. Die lex humana ergänzt die allgemeinen Vorschriften des Naturgesetzes nach den speziellen Anforderungen hin.
„Nur soweit das positive Gesetz aus dem Naturgesetz (…) abgeleitet ist, hat es Gesetzeskraft (ratio legis) und verpflichtet den Untertanen im Gewissen. Dagegen ist ein Gesetz, das vom Naturrecht abweicht, kein wahres Gesetz (keine lex legalis), sondern eine Gesetzesverkehrung (legis corruptio). Es verpflichtet nicht im Gewissen, darf aber zur Vermeidung von Anstoss und Verwirrung befolgt werden.“[171]
Die Unterscheidung zwischen Naturrecht und gesetztem Recht, die schon Aristoteles vornahm, gibt den Rahmen für die Gestaltung der Gesetze im Staat vor. Die Gesetze müssen sich daran orientieren, was dem Menschen zuträglich ist. So hat auch die Politik auf ethischen Grundsätzen zu beruhen. Den Staat begreift Thomas daher als sittliche Grösse. Thomas bestimmt das oberste Naturgesetz in der Vorschrift: „Tue das Gute, meide das Böse!“ was gleichbedeutend ist mit der Formel: „Handle vernunftgemäss“. Wie Aristoteles bezieht sich Thomas auf die menschliche Natur, um die Inhalte dieses „Guten“ zu gewinnen. „‘Alles, wonach der Mensch eine natürliche Neigung hat, begreift die Vernunft naturgemäss als gut und das Gegenteil als schlecht. Nach der Ordnung der natürlichen Neigungen richtet sich die Ordnung der naturrechtlichen Vorschriften.’“[172]
Wesentlich für den Menschen als Vernunftwesen ist seine natürliche Hinneigung zur Wahrheitserkenntnis und zum Gemeinschaftsleben. Er ist von Natur ein geselliges und politisches Wesen, das sich selbst zum Leben nicht genügt und darum von Natur zur Freundschaft mit anderen gewiesen ist: „‘homo homini amicus et familiaris’“.[173] Der Kernbegriff der Politik bei Thomas ist daher das Gemeinwohl (bonum commune). „Es ist unmöglich, dass der Mensch gut sei, ausser er stehe im rechten Bezug zum gemeinen Wohl.“[174] Der Staat ist Bedingung zur Realisierung des Gemeinwohls. Er ist eine mit der Natur des Menschen gegebene Notwendigkeit und keine blosse Notordnung aufgrund der Sündhaftigkeit des Menschen. Er umfasst die Güter, die der Mensch braucht, die er zu produzieren vermag, oder die er in kontemplativer Freude geniessen kann. Für den Einzelnen ergeben sich Aufgaben für das gerechte Handeln in der Gesellschaft und zur Hilfestellung an in Not Geratene in gegenseitiger Verbundenheit mit den anderen. Die tätige Nächstenliebe im christlichen Sinn engagiert sich für das Gemeinwohl, das auch die theoretischen Interessen des Menschen umfasst.
Der Person-Begriff, wie ihn Thomas von Aquin fasste: das vernunftbegabte Individuum, das zu freiem, sittlich-verantwortlichem Handeln fähig ist, ist in seinem Kern wissenschaftlich gültig geblieben. In der Neuzeit wandte man sich speziell der empirischen Erforschung der menschlichen Natur zu und setzte sich mit den Fragen der Entwicklung zur selbstbestimmten sittlichen Persönlichkeit auseinander. Vernunft und freie Selbstbestimmung wurden als zentrale Werte für Erziehung und Bildung anerkannt. Das Personalitätsprinzip besagt, dass Ursprung, Träger und Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen die menschliche Person ist und sein muss, die von ihrem Wesen selbst her des gesellschaftlichen Lebens bedarf.[175] Die Freiheiten der einzelnen Person und ihre Rechte müssen im Staat gesichert werden, um die Würde der menschlichen Person zu schützen und ein friedliches und gerechtes Zusammenleben zu ermöglichen. Gerade die Umsetzung der ideellen Freiheit der Person in rechtlich abgesicherte faktische Freiheit durch die Verfassungen der neuzeitlichen Staaten, stellt einen ungeheuren Fortschritt in der Geschichte der Menschheit dar.
Im Historischen Wörterbuch der Philosophie werden als Schlüsselbegriffe zur personalen Auffassung des Menschen genannt: „Vernunftnatur, Individualität, Nichtmitteilbarkeit, Substantialität, Würde.“[176] Wie das Gefühlsleben und die Sinnlichkeit des Menschen von seiner gesamten Personalität durchdrungen sind, kommt an folgender Stelle des Artikels „Person“ im Handbuch Theologischer Grundbegriffe schön zum Ausdruck:
„Leidenschaften, Triebimpulse, das ganze Gefühlsleben steigen aus dem durch und durch personierten Naturgrund des Menschen auf und sind deswegen spezifisch menschlich, weil sie von der personalen Ganzheit umfangen und eingeschmolzen sind. Aus ihrer Dynamik speisen sich noch unsere höchsten geistigen Vollzüge. Diese sind von qualitativ höherem Rang. Sie können aber von den naturbedingten Lebensäusserungen des Menschen nicht dadurch abgehoben werden, dass man sie nur als personentsprungen ansieht. Träger und Quellmitte des vollmenschlichen Lebens ist unaufhebbar die Person. Die Auseinanderreissung von Individuum und Person wirkt sich besonders verzerrend und verhängnisvoll im geschlechtlichen Bereich aus. Das Geschlechtliche wird als ‘ganz unpersönlich’ abgeschrieben (…). In Wirklichkeit durchstimmt auch das Geschlechtliche die Person in ihrer Ganzheit und Tiefe und kann darum nicht aus der personalen Verantwortung entlassen werden. Ebenso tritt der Mensch in das mitmenschliche Zusammen, in jede Art von Gemeinschaft, von der Ehe und Familie bis zum Staat, nicht nur als Individuum ein, wodurch er nur ein durch jeden andern Ersetzbarer wäre. Die Gemeinschaft muss menschliches Antlitz tragen, weil der Mensch, der immer Person ist, in ihr steht und sein Personales in sie einbringt.“[177]
Als Person ist der einzelne Mensch weder Rollenträger noch Ergebnis eines Prozesses und auch nicht ein Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse. Er ist durch sich allein existierend und bestimmt sich selbst zum Handeln. Die personale Auffassung des Menschen betont die freie sittliche Selbstbestimmung jedes Einzelnen und seine Verantwortung für sein eigenes Leben. Da jeder Mensch in zwischenmenschlichen Beziehungen mit anderen Menschen verbunden ist, ist es seine Pflicht, in Ehe, Familie und gesellschaftlicher Gemeinschaft Verantwortung für das Wohlergehen seiner Mitmenschen zu übernehmen. Die Würde der Person wird auch daran ersichtlich, dass jedes Individuum sich auf seine persönliche Weise und in seiner Einmaligkeit im zwischenmenschlichen Zusammenleben einbringt und durch keinen anderen Menschen ersetzbar ist.
Zur klassischen Tugendmoral
Repräsentativ für den klassischen Tugendbegriff sind die Ethiken von Platon, Aristoteles und Thomas von Aquin. Platons Lehre von den Kardinaltugenden (Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit) wurde für die ganze tugendethische Tradition richtungsweisend. Die Tugend (arete) ist im Verständnis der klassischen Ethik ein erworbener Habitus, der zu bestimmten wertvollen Tätgkeiten qualifiziert. Sie bedeutet, wie schon erwähnt, eine „… Bestform der Seele derart, dass sie eine aus natürlichen Anlagen erworbene Haltung der Seele ist.“[178] Darin liegt der anthropologisch bedeutsame Gedanke, dass der Bereich der sinnlichen Lust-Unlust-Motivation, der unsere Leidenschaften, Gefühle und Affekte umfasst, nach der Auffassung von Platon und Aristoteles nicht bloss Resultat naturkausaler Mechanismen ist. Der sinnliche Bereich hängt in einer besonderen Weise mit den geistigen Fähigkeiten des Menschen zusammen: unsere Neigungen sind auch abhängig von unserem Willen. Deshalb kann der Mensch den Raum seiner Neigungen gestalten und erziehen. Insofern ist die Gestaltung der Sensualität ein moralisches Problem. Der moralisch Vollkommene, also der Tugendhafte, hat seine Sensualität so gestaltet und erzogen, dass er das Gute gerne tut und keine pflichtwidrigen Affekte mehr auftreten. Platon hat dieses Verhältnis von Vernunft und Sinnlichkeit mit dem eines Wagenlenkers zu seinen Pferden verglichen. Aristoteles unterscheidet, wie oben erwähnt, Vernunfttugenden und Gewöhnungstugenden. Die Gewöhnungstugenden sind „… vorsätzliche Haltungen der Seele zum Handeln, welche zwischen extremen Affektbewegungen so die Mitte halten, wie sie die praktische Vernunft bestimmt.“[179] Die Tugend zeigt sich als Mitte zwischen unendlich vielen Abweichungen nach zwei Lastern hin, z.B. die Tapferkeit zwischen Feigheit und Tollkühnheit.
Die Vernunfttugenden sind höherwertig als die Gewöhnungstugenden und haben für sie konstitutive Bedeutung. Als Haltungen der Vernunft geben sie letzteren Leitung und Ziel wie auch Erfüllung. Es gibt zwei Tugenden der Vernunft: die Tugend der praktischen Vernunft ist die Klugheit, welche die Formung der Gewöhnungstugenden lenkt, indem sie die richtige Mitte zwischen den Affekten bestimmt. Die Tugend der theoretischen Vernunft ist die Weisheit, die auf die umfassenden Ursachen aller Dinge, im Letzten auf das Göttliche, gerichtet ist. Sie gehört zum letzten Zweck allen Bemühens der Klugheit, der sich nur in der theoretischen, betrachtenden Tätigkeit der Geistseele erfüllt.[180] Die Tugenden hängen also so zusammen, „… dass die Gewöhnungstugenden den Vernunfttugenden als ihrem Leit- und Erfüllungsprinzip untergeordnet sind, und innerhalb der Vernunfttugenden die Klugheit wiederum der Weisheit als ihrem Erfüllungsprinzip (…).“[181]
In den Tugenden als den Bestformen der Seele „… kommen alle Kräfte des Menschen, die leiblichen und seelischen, die sinnlichen, affektiven und geistigen, zur Wirksamkeit und möglicherweise zur Vollendung, wenn sie vom Geist geführt werden, worin das Kriterium der Sittlichkeit liegt.“[182] Der Vernunft obliegt es, die Affekte so zu gewöhnen und zu formen, dass sie die Vernunft wirksam bei der Erfüllung ihrer Aufgaben unterstützen. „Die ganze Ethik dreht sich, wie schon Platon und Aristoteles feststellen, um die Bildung der Affekte, so dass wir Freude an dem haben, was die Vernunft als sittlich gut erkennt, und Schmerz an dem, was sie als schlecht beurteilt, nicht jedoch umgekehrt.“[183] Diese Freude ist eine natürliche Folge des rechten Tuns.
Das Anliegen der klassischen Ethik, eine moralische Lebensgestaltung zu ermöglichen, führte
„… zu wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Versuchen, Tugenden zu unterscheiden und architektonisch zu ordnen. Wir sprechen insofern von Tugendtafeln. Da der klassische Tugendbegriff darauf abzielt, Vernunft und Sinnlichkeit in praktischer Absicht aufeinander zu beziehen, liegt den Tugendtafeln zumeist ein anthropologischer Ansatz zugrunde. Die Differenzierung und Ordnung der Tugenden als Habitualitäten der Praxis erfolgt auf der Basis der Unterscheidung diverser geistig-vernunfthafter und sinnlich-animalischer Fähigkeiten des Menschen. Moralische Vollkommenheit im Sinne von Tugendhaftigkeit erhält so die Bedeutung einer umfassenden und harmonischen Vollendung des ganzen Menschen.“[184]
Tugendhaftigkeit erwächst demnach aus der ganzen Persönlichkeit des Menschen in ihrer gesamthaften sittlichen Vollendung. Fühlen und Denken sind im Einklang. Als Habitualitäten der Praxis bestimmt, sind die Tugenden bei Aristoteles im aktiven Tun, als „Tätigsein der Seele“, gegenüber den Mitmenschen, im Staate, aber auch gegenüber sich selber, zu lernen und zu verwirklichen.
Thomas von Aquin „… entfaltet seine Normenethik auf der Basis einer Architektonik von Grundtugenden, in welcher das tugendethische Denken von Platon und Aristoteles mit der christlichen Tradition verbunden ist.“[185] Er definiert zwei Tugendebenen: Auf der ersten Ebene stehen die vier Kardinaltugenden als moralische Tugenden. Die moralische Vollkommenheit soll den ganzen Menschen in der Einheit seiner geistigen und sinnlichen Kräfte vollenden. Auf der zweiten Ebene geht es um die sogenannten theologischen Tugenden, durch die Gnade Gottes dem Menschen geschenkt und die moralischen Tugenden vollendend: Glaube, Hoffnung und Liebe. Thomas integriert die aristotelischen Polistugenden in sein Werk, fasst aber das Sittlich-Normative weniger als etwas auf, was in den sozialen Kontexten eingebettet und auffindbar ist, sondern weist es dem Rahmen der Naturrechtsethik zu. Hierzu arbeitet er eine Theorie der „lex naturalis“ aus.
Neuzeit und Aufklärung
Einleitung
Mit dem Begriff der Neuzeit wird allgemein ein Epochenumbruch gegenüber dem Mittelalter bezeichnet, der durch mannigfaltige und tiefgreifende Veränderungen in verschiedenen Lebensbereichen bewirkt wurde, so dass im europäischen Abendland ein neues Weltbild entstand. Es seien im folgenden die wichtigsten Entwicklungen genannt:
Durch die Entdeckungen neuer Kontinente und das Kennenlernen anderer Völker und Kulturen mit den unterschiedlichsten Sitten und Gebräuchen wurde der geistige Horizont erweitert und das christliche Weltbild relativiert. Die Entwicklung der naturwissenschaftlichen Methode (Galilei, Newton) revolutionierte die Wissenschaft, und die neuen Erkenntnisse der Astronomie und der Physik veränderten das Weltbild. Der Mensch löste sich ab vom mittelalterlichen Dogmatismus der Kirche und stellte sich selber in den Mittelpunkt des Denkens. Er wollte sich nur noch auf seine eigene Vernunft verlassen, selber forschen und selber urteilen. Die Ablösung von der Autorität der tradierten Überlieferung erforderte eine neue Grundlegung von Moral und Sittlichkeit, die nun im Rückgriff auf die menschliche Natur begründet wurde. Der Mensch wurde als sittlich autonom definiert. In der Neuzeit anerkannte man die Freiheit als der Menschenwürde zugehörig, und jeder Mensch sollte von nun an auch in äusserer Freiheit leben können. Dazu musste die Freiheit des Einzelnen durch das Recht gesichert werden. Es entstanden die ersten rechtsstaatlichen Verfassungen, und die Gewaltenteilung im Staat wurde eingeführt. Die Religions- und Bürgerkriege sollten beendet werden, damit Frieden herrsche. Naturrechtliche Überlegungen führten zur Forderung nach Toleranz unter den Religionen, da alle Menschen das gleiche Recht auf Achtung als Mensch haben. Die Erkenntnis der natürlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen wurde in der Erklärung der Freiheits- und Menschenrechte verankert und rechtskräftig gemacht.
Wolfgang Röd bezeichnet den Zeitraum des 17. Jahrhunderts als „Epochenschwelle“, da ungeachtet des Weiterwirkens traditionaler Elemente in der Philosophie „… die Verschiebungen der Interessen, die Veränderungen der theoretischen wie der praktischen Grundeinstellung und damit die Modifikationen der Kriterien der Wahrheit und des Wertes (…)“[186] so deutlich seien, dass es als legitim erscheint, ihn so zu bezeichnen und den Beginn der modernen Philosophie hier anzusetzen.
Mit dem Vertrauen auf die autonome menschliche Vernunft und auf die Möglichkeit, durch Vernunfterkenntnis und Erfahrung die Wirklichkeit zu erkennen, wie auch auf die „vernünftige Selbständigkeit“ (Mittelstrass) des Individuums, entstanden Voraussetzungen für die Pädagogik, die vielfältige Konsequenzen in sich trugen. Die Frage der Heranbildung der menschlichen Vernunft wurde nun – da man von der Vernunftfähigkeit jedes Menschen ausging – von praktischem Interesse für die Pädagogik. Das aufklärerische Menschenbild beinhaltet die Vernunftfähigkeit und Erziehbarkeit, aber auch die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen als pädagogisch bedeutsame anthropologische Faktoren. Der Erziehungsgedanke und die Fragen der Erziehung des Individuums erhielten einen zentralen Stellenwert in der Aufklärungsphilosophie und -Pädagogik. So wurde das „siècle des lumières“, das 18. Jahrhundert, auch das „Pädagogische Jahrhundert“ genannt. Jean-Jacques Rousseau ist die Hervorhebung des Eigenwertes der Kindheitsphase im Leben des Menschen zu verdanken. Dass nun eine Erziehung zum sittlich autonomen Individuum und zum verantwortungsbewussten Staatsbürger erforderlich sei, und wie eine solche aussehen könnte, beschäftigte die Philosophen und Pädagogen der Aufklärung besonders. Denn die rechtlich verankerte Freiheit des Individuums und die demokratischen Rechte und Pflichten erfordern, dass der Bürger dazu fähig ist, diese in gegenseitiger Achtung wahrzunehmen und die Belange des Gemeinwesens selbständig mitzugestalten. Die Einführung einer allgemeinen Volksbildung als unabdingbare Grundlage dafür wurde damit zu einem wichtigen Postulat der Aufklärungsphilosophie und -Pädagogik.
Leitgedanken der Aufklärung
Im folgenden werden die wichtigsten Leitgedanken der neuzeitlichen und vor allem der Aufklärungsphilosophie in fünf Punkten, die sich auf unseren Themenkreis der christlich-abendländischen anthropologischen und sozialen Werte beziehen, zusammengefasst. Es sind diejenigen Vorstellungen und ‘Konzepte’, von denen sich das postmoderne Denken abheben will. Anschliessend werden wir auf diese Aspekte des neuzeitlichen und aufklärerischen Menschen- und Weltbildes anhand einzelner repräsentativer Philosophen und Pädagogen genauer eingehen. Wir werden dabei sehen, dass die grossen Themen der abendländischen Geistesgeschichte – Vernunft, Freiheit, Sittlichkeit und Ethik, Natur und Wesen des Menschen, Möglichkeit der Erkenntnis – weitergeführt wurden, jedoch eine spezifisch neuzeitliche Begründung erhielten.
1. Im Zentrum des neuzeitlichen und des aufklärerischen Denkens steht die Befreiung der menschlichen Vernunft – und damit des Menschen – zu sich selber. Hager definiert die philosophische Aufklärung wie folgt:
„Aufklärung, und insbesondere philosophische Aufklärung, ist (nach den Intentionen derer, die geschichtlich die Aufklärungsphilosophie begründet und fortgeführt haben), Befreiung der menschlichen Vernunft zu sich selber. Der Aufklärung liegt der Entschluss des sich philosophisch erwachsen und mündig fühlenden Menschen zugrunde, über alle Gegenstände und Probleme des menschlichen Lebens selber nach Vernunft zu urteilen und sich in der Führung seines Lebens sowie in der seiner Lebensführung zugrundeliegenden Weltanschauung nicht mehr durch die vorgefasste Meinung anderer Menschen und durch die Autorität bloss geglaubter Traditionen und überlieferter Institutionen leiten zu lassen.“[187]
Hierin zeigt sich ein Begriff der menschlichen Vernunft, der spezifisch neuzeitlich ist: die autonome Vernunft, die selber erkennt und urteilt und sich von keiner geglaubten Autorität mehr abhängig macht. Auch die Herausbildung der autonomen Vernunft wird thematisiert: ‘autonom’ muss nicht automatisch ‘asozial’ heissen. Mittelstrass bezeichnet diesen Entschluss, die eigene Lebensführung selbst in die Hand zu nehmen, als „Wunsch nach einer vernünftigen Selbständigkeit“, der in der neuzeitlichen Aufklärung in einem Masse öffentlich geworden sei, wie er es zuvor niemals gewesen ist.[188] Mit dieser vernünftigen Selbständigkeit ging einher, dass alle bloss geglaubten Meinungen und Vorurteile untersucht und auf ihren Wahrheitsgehalt und auf ihre Übereinstimmung mit der Wirklichkeit geprüft werden sollten. Auch dazu erschien die menschliche Vernunft als geeignetes Instrument. Man versuchte die Grenzen der Vernunfterkenntnis und die Bereiche, die vernünftigem Denken zugänglich sind, zu bestimmen. Das denkende Subjekt wird zur Grundlage der Welt und zum Zentrum aller Werte.
Rückblickend und zusammenfassend bestimmt Kant das eigentliche Wesen und die Grundintention des Aufklärungsdenkens so, dass jeder einzelne selbstverantwortliche Mensch „… sein eigenes kritisches Denken ganz auf sich selbst stellen, (…) die Erkenntnisse seiner menschlichen Vernunft zum obersten Richter über alle Wahrheit machen und (…) diese mündige Vernunft auch auf die Lösung aller praktischen Probleme und in der Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zu Gott anwenden [wolle].“[189]
Der Mensch sollte von nun an lernen, eigenständig zu denken und sich von der Bevormundung durch die Autorität der Kirche und ihres Dogmas lösen. In seinem Urteil soll er sich nicht mehr auf bloss geglaubte Tradition abstützen. Die Freiheit des Einzelnen, selbst zu denken und seine Meinung auch öffentlich äussern zu dürfen, musste aber überhaupt erst ermöglicht werden. Noch wurden Politiker, Schriftsteller und Philosophen für ihre öffentlich geäusserte unabhängige Meinung hart bestraft. Manche Aufklärungsphilosophen wurden eingekerkert, befanden sich auf der Flucht oder mussten im Exil leben. Ihre Bücher wurden zum Teil öffentlich verbrannt, ihre Projekte, wie z. B. die Enzyklopädie, hintertrieben. Die Enzyklopädisten wurden gar als Sektierer diffamiert. Mit der Forderung nach Freiheit der Meinungen erwirkten die Aufklärer das Menschenrecht der Meinungs- und Gewissensfreiheit. „Gerade die Freiheit, sich öffentlich über seine neue Sicht des menschlichen Seins besonders in seinem Verhältnis zum Absoluten äussern zu dürfen, wird (…) von den Aufklärungsdenkern immer wieder gefordert.“[190] stellt Hager fest. Kant schreibt in seiner berühmten „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung ?“: „Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heissen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen.“[191]
Sich seines eigenen Verstandes und der eigenen Vernunft zu bedienen, ist wohl die eigentliche Leitidee des aufklärerischen Denkens. Dass die Freiheit des Individuums, auch im gesellschaftlichen Bereich von seiner Vernunft öffentlich Gebrauch zu machen, im Staat rechtlich verankert wurde, ist das Verdienst der neuzeitlichen Aufklärung. Dies bedeutet einen ungeheuren Fortschritt gegenüber dem Mittelalter mit seiner Praxis der Religionskriege und der grausamen Verfolgung und Vernichtung Andersgläubiger. Mit den Freiheitsrechten des Individuums ist eine wichtige Grundlage für den Rechtsstaat geschaffen worden.
2. In der Neuzeit tritt der Mensch in den Mittelpunkt des Interesses. Der Mensch selber gewinnt ein erstrangiges Interesse als Gegenstand der philosophischen Forschung. Dadurch erlangen wieder die praktischen Fragen des menschlichen Lebens an Bedeutung. Insbesondere wendet man sich in der Aufklärung der Erforschung der Natur des Menschen zu. Alexander Popes berühmtes Wort: „‘The proper study of mankind is man’“[192] gibt das Erkenntnisinteresse und Leitmotiv der Aufklärung zutreffend wieder. Deshalb spielen in der Aufklärungsphilosophie neben der Erkenntnislehre die philosophische Anthropologie und darunter besonders die Ethik, sowie die Rechts- und Staatsphilosophie, eine grosse Rolle,
„… denn eine in erster Linie auf den Menschen als Gegenstand philosophischer Forschung gerichtete Bewegung darf nicht nur das Wesen menschlicher Erkenntnis ergründen, sondern muss ein Bild vom Wesen des Menschen im Ganzen entwerfen und vor allem bestimmen, was der Mensch als Einzelner und in der Gesellschaft zu sein und zu sollen hat, d.h. was für ihn Gut und Böse, Recht und Unrecht ist.“[193]
Nun gewinnt der Mensch einen Wert in sich selber. Damit hängt zusammen, dass die Individualität der einzelnen Menschen stärker in den Vordergrund tritt und philosophisch und literarisch thematisiert wird. Universelle autonome Vernunft und freie Selbstbestimmung sind Grundmerkmale des neuzeitlichen Menschenbildes. Der Mensch gibt sich selbst das sittliche Gesetz seines Handelns aufgrund seiner Einsicht in die existentiellen Zwecke der menschlichen Natur (Messner). Er kann durch Vernunfteinsicht erkennen, was ihm und seinen Mitmenschen im Rahmen der menschlichen Natur zuträglich ist, und was ihm schadet. Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen wird als oberstes Prinzip in der Erklärung der Menschenrechte verankert. Die naturrechtliche Idee der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen „… bestätigt noch die in der Aufklärungsphilosophie herrschende Voraussetzung vom Selbstwertcharakter jedes einzelnen Menschen.“[194]
Die eine Gesellschaft konstituierenden Werte sollen solche sein, die der menschlichen Natur entsprechen. Diese ist durch genaues Beobachten ihrer Äusserungen erkennbar und kein Mysterium. Die natürliche Verfassung des Menschen kann nach Voltaire durch die natürliche Vernunft ohne jedes Glaubensgeheimnis erkannt werden. Aus der allen Menschen gemeinsamen menschlichen Natur ergeben sich bestimmte universelle Werte. Die wichtigsten von ihnen wurden in den Menschenrechtserklärungen und in den Verfassungen der demokratischen Staaten als verbindlich niedergelegt. Die Aufklärer befassten sich speziell mit den Fragen der Ethik, die ein gerechtes und glückliches Zusammenleben ermöglichen sollte. Gemäss dem Menschenbild vieler Aufklärer, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, hielt man ein Zusammenleben in einer gerechten und friedlichen Ordnung durchaus für möglich: auf der Grundlage der gemeinsamen natürlichen Wertordnung lässt sich ein Konsens finden. Die Interessen des Einzelnen und das Gemeinwohl sind miteinander zu vereinbaren. Besondere Beachtung schenkte man dabei den Rechten des freien Individuums gegenüber dem Staat. Der Einzelne soll sich nicht mehr dem Staat oder einer anderen Autorität unterordnen müssen. Bezüglich der Fragen der Gesellschaft wurde auf die Vernunfteinsicht in die zuträglichen Werte des menschlichen Miteinander vertraut. Der Mensch kann sich in Freiheit an ein sittliches Gesetz binden und seinem Leben eine sittliche Orientierung verleihen. Gleichermassen ist es auch möglich und erforderlich, Regeln für das Leben im Staat zu erarbeiten, die ethisch fundiert sind, und die für jeden gelten. Massgebliche Aufklärungsdenker, wie z.B. John Locke, begründeten ihre politische Philosophie auf naturrechtlichen ethischen Grundlagen.
3. Mit den Fortschritten in den Wissenschaften ergab sich ein Optimismus in bezug auf den geistigen und gesellschaftlichen Fortschritt überhaupt. Man wandte sich der Erforschung der diesseitigen Ursachen der Naturphänomene zu und bemühte sich, von der reinen Spekulation Abstand zu nehmen. Das Experiment hielt Einzug in die Naturwissenschaften, womit zum ersten Mal hypothetisch angenommene Zusammenhänge empirisch überprüfbar wurden. Der Mensch der Neuzeit erhoffte sich, von nun an Herr über die Naturvorgänge werden zu können, und zwar in dem Sinne, dass er Naturkatastrophen und Seuchen nicht mehr hilflos ausgeliefert sein werde. Es fand auch wirklich ein enormer Fortschritt in der Lebensqualität durch medizinische, technische und andere wissenschaftliche Entwicklungen statt.[195]
Verschiedene Aufklärungsphilosophen versuchten, den Fortschritt im Verlauf der Geschichte zu beschreiben, indem sie die Entwicklung der Kultur und der Wissenschaften näher beleuchteten. So stellte d’Alembert nach einer Hochblüte der Kultur in der Antike und einem Niedergang während des Mittelalters, das von Aberglauben und unfruchtbarer Spekulation über metaphysische Dinge beherrscht gewesen sei, ein Wiederaufleben der Künste und der Philosophie seit der Renaissance fest. „Die ganze Entwicklung der Kultur seit der Renaissance von einer Erneuerung der Gelehrsamkeit über ein Wiederaufleben der schönen Künste bis hin zum Triumph der Philosophie steht bei d’Alembert ganz eindeutig unter der Leitidee des geistigen Fortschritts (progrès de l’esprit) (…)“ [196]
Die neue Autonomie des philosophisch-wissenschaftlichen Denkens ermöglichte eine zunehmende Verselbständigung des Individuums. In diesem Zusammenhang muss auf eine Aussage von Bacon eingegangen werden, die als „Wissen ist Macht“ zitiert wird. Dies bedeutet, wenn man Bacon im logischen Zusammenhang interpretiert, dass die Abhängigkeit des Menschen von ihm vorgesetzten Glaubensinhalten oder Vorurteilen in dem Masse abnimmt, als er sich durch eigenes Wissen ein unabhängiges Bild machen kann. Bacon propagiert die Befreiung des Menschen von verschiedenartigen Vorurteilen, die seine Sicht trüben. Dadurch verliert der Mensch zum Beispiel seine jahrtausendealte Furcht und den Schrecken vor Naturkatastrophen: einerseits durch rationale Erklärung ihrer wirklichen Ursachen, andererseits auch aufgrund ihrer besseren Bewältigung mittels naturwissenschaftlichen Wissens. Viele Katastrophen können durch wissenschaftliche Erkenntnisse vermieden werden, man denke nur an die Missernten, die zu furchtbaren Hungersnöten führten. Eine geistige Befreiung ergibt sich ebenfalls durch Wissenserweiterung: Vormals glaubte man ja ängstlich, dass die Ursache von Katastrophen die Rache der Götter oder die Gottesstrafe für begangene Sünden sei. Man kann also den Ausdruck „Wissen ist Macht“ in diesem historischen Zusammenhang durchaus als Erweiterung des geistigen und physischen Handlungsspielraums, als „(Selbst-)Ermächtigung“ verstehen.
4. In der Neuzeit und im Aufklärungszeitalter wandte man sich vermehrt den Fragen der Pädagogik zu. Ziel der Pädagogik waren gemäss dem neuzeitlichen Menschenbild die Heranbildung der autonomen Vernunft beim jungen Menschen und die Erziehung und Bildung zum selbstverantwortlichen und sittlichen Individuum. Die Aufklärungsphilosophen bezogen in ihren Überlegungen diese Fragen mit ein. Durch geeignete Bildung und Erziehung sollte die angestrebte Emanzipation des Individuums gewährleistet werden. Auch die vielfältigen ethnologischen Kenntnisse aus Reisen in fremde Länder und Erdteile und sich daran anschliessende anthropologische Überlegungen trugen das Ihre zur Grundlegung der neuzeitlichen Pädagogik bei. Durch die Entdeckungen von fremden Völkern und Kulturen ergaben sich sowohl Einblicke in die Verschiedenartigkeit der Sitten und Bräuche, als auch Hinweise auf allen Menschen gemeinsame Merkmale.
Man erkannte, dass Erziehbarkeit und Vernunftfähigkeit anthropologische Grundgegebenheiten und Voraussetzungen für die Erziehung sind. Gegenüber dem mittelalterlichen Hineinwachsenlassen des Kindes in seine familiäre Umgebung betonte man nun die Erziehungsbedürftigkeit des Kindes. Der berühmte Fall des Victor von Aveyron und andere Bespiele von sogenannten Wolfskindern zeigten, dass das Kind durch Erziehung erst zum Menschen werden muss. Viele Denker gingen davon aus, dass der Mensch von Natur aus vervollkommnungsfähig ist. Mit der Erkenntnis der hervorragenden Bedeutung der Erziehung für die Entwicklung des Kindes wurde der Weg gebahnt für die Grundlegung der Pädagogik als selbständige Wissenschaft.
Jean-Jacques Rousseau befasste sich eingehend mit der Erziehungsfrage und legte mit seinem „Emile“ eine umfassende Erziehungskonzeption vor: eine theoretisch fundierte und bis ins Konkrete ausgearbeitete systematische Erziehungslehre für das Kindes- und das Jugendlichenalter. Rousseau entdeckte die Eigenwertigkeit der Kindheitssphase im Leben des Menschen; ein Befund, der durch die wissenschaftliche Anthropologie und die Entwicklungspychologie bestätigt worden ist. In Kindheit und Jugend ist das noch unreife Menschenkind angewiesen auf die Betreuung und Anleitung durch seine Erziehungspersonen, damit es zu einem sittlich und geistig autonomen Individuum heranwachsen kann. Der Gang der Erziehung folgt nach Rousseau dem Gang der natürlichen Entwicklung des Kindes.
Nach der Auflösung der ständischen Gesellschaft mit ihren privilegierten und benachteiligten Schichten und aus der naturrechtlichen Anerkennung der Freiheit und Gleichheit aller Menschen war es für die Aufklärer nur konsequent, dass auch jeder Mensch gleichen Anspruch auf Bildung und Erziehung habe. Der Gedanke der allgemeinen Volksbildung kam auf, der zur Einführung der Volksschule führte. Der Bürger sollte ja auch eine demokratische Gesellschaft eigenverantwortlich mittragen können und brauchte dazu eine fundierte Allgemeinbildung. Der französische Philosoph und Politiker Antoine de Condorcet legte der französischen Nationalversammlung Schulpläne vor, die als Gründungsurkunden der modernen Bildungsplanung und Schulorganisation gelten. Seine Konzeption der „instruction publique“ ist anthropologisch-geschichtlich sowie philosophisch-politisch auf der Idee des Menschen als eines freien und vernünftigen Wesens begründet. Freiheit und Gleichheit sollen von nun an für alle ein „‘tatsächliches Gut’“ werden, wenn „… ‘freie Menschen bei sich selbst die Mittel finden werden, die letzte und schändlichste ihrer Ketten (…) zu zerbrechen.’“[197] Diese Kette ist nämlich ihre Unwissenheit.
Johann Heinrich Pestalozzi vertiefte etwas später die aufklärerische Idee der Volksbildung zum Gedanken einer allseitigen Menschenformung. Alle, ohne Ausnahme, müssen zu Menschen im vollen Sinne erzogen werden. „Dass die allgemeine, reine Menschenerziehung Pflicht der Gesamtheit gegenüber allen ihren Gliedern ist, stellt er (…) in eindringlichster Weise dem Gewissen seiner Zeit (und dem Gewissen der Menschheit überhaupt) vor.“ [198]
5. Die Freiheit des Individuums, die von den Aufklärungsphilosophen so emphatisch gefordert wurde, wurde erst in der Neuzeit zur Wirklichkeit. Erst von da an kann man von einer verwirklichten Freiheit sprechen, als Frieden, Freiheit und Toleranz in den staatlichen Verfassungen verankert und rechtlich gesichert worden sind. Denn wenn „… überhaupt etwas, dann vermögen die rechtlichen Institutionen Schutz und Freiheit zu gewährleisten.“[199] Diese Einsicht wurde zu einer der wesentlichen Grundlagen des Verfassungsstaates. Die Grundlegung des freiheitlichen Verfassungsstaates mit seiner Gewaltenteilung geschah erst in der Neuzeit.
Sir Edward Coke, oberster englischer Richter im England des 16. Jahrhunderts und der bedeutendste Rechtsgelehrte seiner Zeit, war als Politiker treibende Kraft der Petition of Rights. Damit wurde der König auf die Respektierung des Verfassungsrechts festgelegt. Coke schrieb, dass das Recht gewissermassen „‘künstliche Vernunft’“ sei,
„… die wohl zu unterscheiden sei von der subjektiven Vernunft des einzelnen. Das Recht sei nämlich der Niederschlag von unendlich viel mehr Studium, Beobachtung und Erfahrung, als ein einzelner, ja als eine ganze Generation denkbarerweise erwerben könnte. (…) Für Coke ist das Recht also das Ergebnis eines geschichtlichen Fortschritts. Das Recht ist verwirklichte Vernunft, weil jede Einzelheit, jede Regel in der Kooperation von Generationen erwogen, an der Erfahrung überprüft, immer von neuem ergänzt und verbessert worden sei.“ [200]
„Verwirklichte Vernunft“ ist das Recht auch in dem Sinne, dass es auf obersten Prinzipien basiert, die Naturrecht sind. Gesetztes Recht muss sich am Naturrecht orientieren, wie schon Aristoteles feststellte. Coke erstrebte übrigens mit Gesetzesvorlagen die Abschaffung der Folter. Im Absolutismus gab es auch schon Menschenrechte als Idee, die aber erst im Laufe der Zeit zur Wirklichkeit im Recht wurden. Auf die Achtung der Würde des Menschen hat ja schon Thomas von Aquin grossen Wert gelegt – wie es dem Naturrechtsdenken entspricht. Der naturrechtliche Grundsatz, der dem Gedanken von Freiheit und Gleichheit zugrunde liegt, heisst denn auch: „Jeder Mensch hat kraft seines blossen Menschseins Anspruch auf Achtung seiner Menschenwürde.“[201] Die Achtung der Würde der Person muss jedoch auch rechtlich abgesichert sein, wenn Sicherheit und Freiheit gewährleistet bleiben sollen. Erst dann kann man sich wirklich frei fühlen und in der Öffentlichkeit frei nach eigenem Urteil handeln. Kriele weist darauf hin: „Der Mensch geht (aber) nur dann aufrecht und nicht mit gekrümmtem Rückgrat, wenn er sich auf dem festen Grund gesicherter Rechte bewegt und nicht untertänigst um die Gewährung oder Beibehaltung von Toleranzen bitten muss.“[202]
Die Verwirklichung der Freiheit durch den Rechtsstaat der Neuzeit und seine demokratischen Institutionen hat sich als gewaltiger Fortschritt in der europäischen Geschichte erwiesen.
Vernunft, Freiheit und Selbstbestimmung: Das Menschenbild der neuzeitlichen Moderne
Das freie und selbständige Individuum bei Montaigne
Der Schriftsteller Michel de Montaigne (1533 – 1592) gilt als der „grosse Vorläufer der Pädagogik der Neuzeit“.[203] In seinen „Essais“, in denen Montaigne von seinem eigenen Innenleben, seiner persönlichen Subjektivität ausgehend andere Menschen beobachtet und verschiedene Themen des alltäglichen Lebens bespricht, erfasst er auf eindrückliche Weise die Individualität des einzelnen Menschen. Diese „Wendung auf das eigene Ich“[204] ist charakteristisch für das neue Menschenverständnis. Wie in einem Brennspiegel ist bei Montaigne der Geist von Humanismus und Renaissance eingefangen. Durch Studium, weite Reisen und öffentliches Wirken erwarb er sich einen tiefen Einblick in die verschiedenen Sitten der Völker und in das Fühlen und Denken der Menschen seiner Zeit. Montaigne war „… ein durch und durch weltlicher Geist, kritisch, skeptisch, von Vorurteilen frei – so steht er dem Hexenglauben mit souveräner Verachtung gegenüber.“ [205] In den Mittelpunkt seines Denken hat Montaigne den Menschen gestellt, ganz wie es dem wiederauflebenden humanistischen Interesse der Renaissance entsprach. „Der Mensch der Renaissance, befreit von vielerlei Bindungen und im Bewusstsein ungeahnter neuer Räume und Möglichkeiten, hält inne, reibt sich die Augen und schaut in den Spiegel, um das Rätsel seiner selbst zu ergründen. Was ist der Mensch? Was ist unser Leben?“[206] Montaigne nahm eine skeptische Haltung gegenüber allen traditionellen Gültigkeiten ein und suchte den Menschen auf sein eigenes Denken und auf selbständiges Urteilen hinzuführen.
„Wer sich von der schädlichen Macht des Herkommens freimachen will, wird vielerlei entdecken können, was als unbezweifelbar hingestellt wird und was doch weiter keine Begründung hat als den weissen Bart und die Altersrunzeln, die damit verbunden sind. Man kann diese Maske abreissen, wenn man das Mass der Wahrheit und der Vernunft an die Dinge anlegt; aber wer das unternimmt, wird zunächst ein Gefühl haben, als wenn seine bisherige Art zu urteilen vollständig über den Haufen geworfen würde; später wird er jedoch merken, dass sein Urteil nun auf viel sicherer Basis ruht.“ [207]
Von der Macht der Autorität soll sich der Mensch lösen und nur noch das akzeptieren, was der Überprüfung an den Massstäben der Wahrheit und der Vernunft standhält. Damit will Montaigne das Urteil auf eine neue, sichere Grundlage stellen. Das neuzeitliche Individuum bildet sich sein unabhängiges Urteil aufgrund seiner autonomen Vernunft. Die Urteilsfähigkeit des Individuums zu ermöglichen, erachtet Montaigne daher als wichtige Erziehungsaufgabe. So empfiehlt er, dem Schüler verschiedene Meinungen über eine Sache vorzulegen und diesen sich sein eigenes Urteil darüber bilden zu lassen: „… er möge auswählen, wenn er kann; wenn nicht, so bleibe er im Zweifel! Nur die Verrückten sind ihrer Sache stets gewiss und können in jedem Fall entscheiden. … Wenn er die Meinungen des Xenophon oder des Plato durch eigene Erwägungen annimmt, werden es nicht mehr die ihren, sondern seine eigenen sein.“[208]
Montaigne versuchte, das reichhaltige Innenleben eines individuellen Menschen zu ergründen. So entdeckte hier „… das Individuum erstmals in radikaler Weise sich selbst.“[209] Wenn der Mensch die platonische Lebensregel beherzigen soll, „Tue das Deine und erkenne dich selbst“, müsse er wohl „… merken, dass er sich zunächst klar darüber werden müsste, was er ist und was ihm eigentümlich ist. Wer diese Selbsterkenntnis besitzt, nimmt nicht mehr ‘das Fremde’ für ‘das Seine’; mehr als alles andere zieht ihn dann die Beschäftigung mit seinem Ich und die Kultivierung seines Ich an (…).“[210] Durch die Selbsterkenntnis erlangt das Individuum Selbständigkeit und Freiheit von der Autorität der Überlieferung. Es erkennt dann selber, was „das Seine“ ist, und was demgegenüber nicht seinem eigenen Interesse dienlich ist. Montaigne nimmt damit eine antike Lebensweisheit auf, die mit dem Namen des Sokrates verbunden ist: Der Mensch muss, um richtig handeln zu können, erst überhaupt wissen, wer er ist. Typisch neuzeitlich ist aber die Zuwendung zur Individualität bei Montaigne, die er in seinen Essays durch die Darstellung seiner persönlichen Gefühle und Motive, „einiger Züge meines Wesens und meiner Gemütsart“[211], zu ergründen sucht.
Es ging ihm darum, zu erfassen und darzustellen, was das Individuum als solches wertvoll macht. Montaigne machte sich in diesem Zusammenhang ausführliche Gedanken über die Erziehung des Individuums, die dem neuen Menschenbild mit seiner Beachtung und Betonung der Individualität jedes einzelnen Menschen gerecht werden sollte. Der grosse Einfluss der Erziehung schon in der frühen Kindheit auf die Charakterbildung war ihm bewusst. „Ich finde, dass alle bösen Charakterzüge auf Gewohnheiten zurückgehen, die wir in der frühesten Jugend angenommen haben und dass deshalb die Ammen vielleicht die wichtigste Erziehungsaufgabe zu erfüllen haben.“[212] Die Wurzeln von Tyrannei oder Grausamkeit seien schon beim kleinen Kind zu finden und verstärkten sich durch Gewohnheit, wenn die Eltern nicht „… sich alle Mühe geben, den Kindern den Abscheu gegen die Fehler, zu denen sie neigen, beizubringen: sie müssen deren innere Hässlichkeit fühlen lernen, damit sie sich nicht nur im äusseren Handeln, sondern vor allem in der Gesinnung vor ihnen hüten; schon der Gedanke an einen Betrug muss ihnen zuwider sein, ganz gleich, welche Maske er trägt.“[213] Interessant ist hierbei, dass die emotionale Dimension in der Erziehung einbezogen wird. Aus reinem Moralisieren und verstandesmässigem Rationalisieren kann keine dauerhafte innere Haltung resultieren. Das Gefühl des Kindes muss angesprochen werden – wahre sittliche Gesinnung braucht eine gefühlsmässige Verankerung.
Erziehungsziel wurde nun die „umfassende Bewusstwerdung der eigenen Möglichkeiten und ihre Verwirklichung.“[214] Gefordert war eine allseitige Ausbildung der eigenen Kräfte, die durch intellektuelle Bildung, Leibeserziehung und moralische Erziehung erzielt werden sollte. Höchstes Erziehungsziel bildete der gediegene Charakter, der aus freiem Ermessen Gutes tut. Der freie, unabhängige Weltmann war das Persönlichkeitsideal Montaignes. Die Erziehung diente der Vorbereitung aufs Leben, damit dieser in der Lage war, sich gesittet, lebenspraktisch und gewandt zu verhalten. In tätiger Auseinandersetzung mit der Welt verwirklicht sich in Montaignes Sicht die individuelle Persönlichkeit. Durch vernünftige Auswahl des Wissensstoffes muss der Verstand so geformt werden, dass er dem praktischen Handeln – dem neuzeitlichen praktischen Interesse gemäss – gewachsen ist. Diesem Ziel diente als neue Lernmethode die Selbsttätigkeit des Zöglings.
Das denkende Subjekt als Voraussetzung aller Gewissheit bei Descartes
Der französische Philosoph und Mathematiker René Descartes begründete im 17. Jahrhundert das neuzeitliche philosophische Denken. Die von ihm vertretene rationalistische Philosophie stellte sich die Aufgabe, die zahlreichen Ergebnisse der noch jungen neuzeitlichen Wissenschaften systematisch zusammenzufassen und den Wissenschaften selbst das metaphysische Fundament zu schaffen, dessen sie noch zu bedürfen schienen. Dabei stützte sich Descartes auf „… die Annahme einer einheitlichen, mit der Form der Wirklichkeit übereinstimmenden und daher zu apriorischen allgemeinen und objektiv gültigen Urteilen befähigten Vernunft (…)“.[215] Descartes’ Philosophie wirkte tief auf das Denken der Neuzeit ein und bildete eine der Wurzeln der Aufklärungsphilosophie des 18. Jahrhunderts.
„Das philosophische Denken Descartes’ hat einen tiefgreifenden Einfluss auf die gesamte geistig-kulturelle Entwicklung der Neuzeit ausgeübt. Descartes gilt als der Begründer der neuzeitlichen Philosophie überhaupt. Die Subjektivität des neuzeitlichen Standpunktes findet hier eine exemplarische Ausprägung, so dass wir den indirekten Einfluss des französischen Denkers, der sich auch als Mathematiker und Naturwissenschaftler ausgezeichnet hat, nicht unterschätzen dürfen.“[216]
Descartes will die Philosophie auf eine neue Grundlage stellen, die eine sichere Basis allen Denkens abgeben solle, die bis anhin noch gefehlt habe. Da Descartes annimmt, dass alle Wissenschaften ihre grundlegenden Prinzipien von der Philosophie entlehnen, seien auch die Wissenschaften noch nicht sicher fundiert. In der Philosophie gebe es nämlich „… nicht, eine Sache, die nicht umstritten und mithin zweifelhaft sei (…).“[217] Auch in den Sitten der Völker, die er auf seinen Reisen kennengelernt hatte, fand er nichts, dessen er sich sicher sein konnte, „… und bemerkte hier gewissermassen eine ebenso grosse Verschiedenheit wie vorher zwischen den Meinungen der Philosophen.“[218] Descartes wollte sich daher und aus seiner Erfahrung von der Unergiebigkeit theoretischer Studien für den praktischen Nutzen nur mehr auf das verlassen, was er mit seiner eigenen Vernunft geprüft habe.
Descartes’ Vertrauen auf die Vernunft beruht einerseits darauf, dass er der Tradition folgt, die jeden Menschen von Natur aus mit Vernunftfähigkeit ausgestattet sieht. Hingegen entwickelt Descartes die Grundlagen für einen neuen Vernunft- und Subjektbegriff, der als symptomatisch für die neuzeitliche Moderne gilt: Die Vernunft wird auf sich selbst gestellt und damit mündig. Durch die Befreiung von allen geglaubten Vorurteilen und Irrtümern kommt die Vernunft zu sich selbst und wird damit zu sicherem Urteil fähig. Im Laufe seines Lebens habe der Mensch viele Vorurteile übernommen, die ihm die Sicht verdunkeln würden. „… dass unsere Urteile fast unmöglich so rein und so fest seien, wie sie gewesen sein würden, wenn wir vom Augenblick unserer Geburt an den vollen Gebrauch unserer Vernunft gehabt hätten und stets nur durch sie geleitet worden wären.“[219] Eigenständiges Denken wird erst möglich, wenn man der eigenen Vernunft folgt und sich nicht mehr auf ungeprüfte Meinungen der Autoritäten und der Tradition abstützt. Hiermit macht sich das Individuum geistig selbständig. Aus der Respektierung der Individualität gewinnt die subjektive Perspektive an Bedeutung, die im neuzeitlichen Denken erkannt und berücksichtigt wird. Das neuzeitliche Denken bezieht sich sowohl auf allgemein gültige Tatsachen und Wahrheiten wie es auch die Subjektivität berücksichtigt. Es ist daher verfehlt, pauschalisierend zu sagen, in der neuzeitlichen Moderne hätte ein „Einheitsdenken“ vorgeherrscht.[220]
Descartes ging es bei seiner Suche nach Gewissheit um Wahrheit und Objektivität, also um die Fundierung allgemeingültiger erster Prinzipien der Philosophie. Dazu bildete er eine Methode aus, die einen sicheren Gang der Vernunft anleiten sollte: die Methode des universellen Zweifels. Descartes führte dem Leser diese Methode in seiner „Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs“ aus rein persönlicher, subjektiver Sicht vor, da er sie niemandem aufzwingen wollte:
„… was meine persönlichen Ansichten sämtlich betrifft, die ich bis jetzt in meine Überzeugung aufgenommen, ich nichts besseres tun könnte, als sie einmal abzulegen, um dann nachträglich entweder andere, die besser sind, oder auch sie selbst wieder an ihre Stelle zu setzen, nachdem sie von der Vernunft gerechtfertigt worden. Und ich glaubte fest, dass es mir dadurch gelingen würde, mein Leben viel besser zu führen, als wenn ich nur auf alte Grundlagen baute und mich nur auf Grundsätze stützte, die ich mir in meiner Jugend hatte einreden lassen, ohne jemals zu untersuchen, ob sie wahr wären.“[221]
Descartes’ gesuchte grundlegenden Prinzipien sollten in erster Linie von lebenspraktischem Nutzen sein und so auch im moralischen Bereich eine sichere Orientierung gewährleisten.
Als wichtige Regel der Erkenntnis gilt Descartes, nur das als wahr zu anerkennen, das sich seinem Geist so „klar und deutlich“[222] darstellen würde, dass er keine Möglichkeit hätte, daran zu zweifeln. Dabei mass er den Sinneseindrücken keine unmittelbare Erkenntniskraft zu. Indem er die rein rationale Erkenntnis der anschaulichen Erkenntnis überordnete, folgte er der platonisch-ausgustinischen Tradition des Rationalismus. Der Gang des methodischen Zweifels führte Descartes zu dem, was sich seiner Ansicht nach am Schluss als feste Wahrheit erwiesen hatte: dass er, der hier denke, „irgend etwas sein müsse“: „‘ich denke, also bin ich’“[223]. Sogar wenn er keinen Körper hätte, könnte er sich nicht vorstellen, dass er nicht wäre – erst wenn er aufgehört hätte, zu denken, wäre er nicht mehr.
„Ich erkannte daraus, dass ich eine Substanz sei, deren ganze Wesenheit oder Natur bloss im Denken bestehe und die zu ihrem Dasein weder eines Ortes bedürfe noch von einem materiellen Dinge abhänge, so dass dieses Ich, das heisst die Seele, wodurch ich bin, was ich bin, vom Körper völlig verschieden und selbst leichter zu erkennen ist als dieser und auch ohne Körper nicht aufhören werde, alles zu sein, was sie ist.“[224]
Die Grundlage aller Gewissheit findet Descartes also im denkenden Subjekt selber. Im Zweifel hat sich die Selbstgewissheit des zweifelnden Denkers erwiesen. Im Bewusstsein seiner selbst konstituiert sich das neuzeitliche Ich. Die Dinge der Aussenwelt und die Vorstellungen werden in bezug auf dieses Ich gedacht, das Subjekt der Vorstellungen ist. Was sich im Denken des Subjekts als klare und deutliche Idee präsentiere, sei wahr. Dass Descartes das Bewusstsein seiner selbst zum Ausgangspunkt nahm, „… bedeutete eine Revolution auf dem Gebiet der Philosophie.“[225] Descartes machte das Individuum „… zum Angelpunkt seiner Philosophie. ‘Ich sehe deutlich, dass es nichts gibt, was ich leichter erkennen kann als mein eigenes Selbst.’“[226]
In obenstehender zentraler Stelle aus Descartes’ philosophischem Denken zeigt sich sein Rationalismus auch in einem zweiten Aspekt: Das denkende Ich, die Seele, wird nämlich völlig losgelöst vom Körper gedacht, als rein geistige, immaterielle Substanz. Der Körper dagegen ist endliche Materie: „res cogitans“ versus „res extensa“. Descartes setzte mit dieser Zweisubstanzenlehre einen Dualismus von Körper und Geist, der den Kern des Menschenbildes der neuzeitlichen idealistischen Denktradition bildet. Die aristotelisch-thomistische Tradition hatte dagegen den Menschen als personale Einheit von Körper und Geist betrachtet, was den heutigen empirischen Erkenntnissen der Humanwissenschaften eher entsprechen dürfte.
Trotzdem darf die grosse Bedeutung Descartes’ nicht unterschätzt werden, die darin besteht, dass er die Voraussetzung der Erkenntnis in den eigenständig denkenden Menschen hineinverlegt. So schreibt Hager: „Seit Descartes erhoffte sich die philosophische Vernunft, durch Besinnung auf sich selbst in sich selbst eine unmittelbare Quelle der Gewissheit zu finden und von dieser Quelle aus die sämtlichen Probleme des menschlichen Erkennens grundsätzlich lösen zu können.“[227] Damit kommt aber dem Menschen selbst in seinen Beziehungen zur Welt und zu Gott eine zentrale Bedeutung zu. Der einzelne Mensch ist es selber, der die Fragen stellt und nach der Wahrheit forscht, auch auf sittlich-moralischem Gebiet, um ein selbstbestimmtes Leben führen zu können. Die Erkenntnis der Wahrheit ist dem Menschen durch sich selbst zugänglich. Ob er richtig von falsch unterscheiden kann, liegt in seiner Hand und ist nicht mehr, wie vorher angenommen wurde, von aussermenschlichen Faktoren, wie z.B. der göttlichen Gnade, abhängig. Durch eigene Vernunfttätigkeit vermag der Mensch „… Regeln für die Leitung seines Verstandes und seiner Erkenntnis in den Wissenschaften aufzustellen, das heisst nach einer Methode, bzw. methodischen Prinzien zu verfahren, die ihm den Zugang zur Wahrheit erleichtern.“[228] Dass jeder einzelne sich Gewissheit verschaffen kann, wenn er methodisch vorgeht, bedeutet ein grosses Stück geistiger Befreiung.
Die Wissenschaften, deren erste Prinzipien Descartes auf sichere Grundlagen stellen will, haben das praktische Ziel, das Leben der Menschen zu verbessern und angenehmer zu machen. Vor allem von der Medizin erhofft sich Descartes enscheidende Erleichterungen, so auch die Verlängerung der Lebenszeit der Menschen. „Und das ist nicht bloss wünschenswert zur Erfindung unendlich vieler mechanischer Künste, kraft deren man mühelos die Früchte der Erde und alle deren Annehmlichkeiten geniessen könnte, sondern vorzugsweise zur Erhaltung der Gesundheit, die ohne Zweifel das erste Gut ist und der Grund aller übrigen Güter dieses Lebens.“[229] Sich durch die Erforschung der Naturgesetzlichkeiten zu „Herren und Eigentümern der Natur zu machen“[230], dieses Ziel der Wissenschaften, steht bei Descartes ganz im Dienste des Allgemeinwohls.[231]
Was bedeutet nun die Entdeckung der Grundlage aller Gewissheit im denkenden Subjekt für die Pädagogik? Sie führt zum Postulat nach Entfaltung aller Kräfte und Vermögen des menschlichen Subjekts. Das neuzeitliche Subjekt hat zur Aufgabe, sich selbst kennenzulernen, um von da aus zur Erkenntnis der Welt fortzuschreiten. Die pädagogischen Bemühungen wollen dem Menschen dazu verhelfen, sein Inneres, seine Willensregungen und Gefühle, sowie seine Erkenntniskräfte kennenzulernen und optimal zu entfalten.
Die Philosphie Descartes’ bildet eine der theoretischen Wurzeln der Aufklärungsphilosophie. Sie war in einem sehr allgemeinen Sinne schon echtes Aufklärungsdenken als Descartes „… sich konsequent weigerte, die historisch gewachsenen und überlieferten Lehrmeinungen besonders der scholastischen Philosophie einfach als verbindlich hinzunehmen und zu übernehmen.“[232] In seiner Intention des methodischen Zweifels deutet sich bereits ein Grundzug aufklärerischen Denkens an. Der Aufklärungsdenker übernimmt nur das an Ansichten, was er als unerschütterlich gewiss und als wohlbegründet anerkennen kann. Wie oben dargelegt, hat Descartes im eigenen Ich, das zweifelt und denkt und damit unzweifelhaft existiert, die Quelle aller Gewissheit gefunden. Auch der Erkenntnistheorie der Aufklärungsphilosophie im engeren Sinne mit ihrem Ahnherrn John Locke liegt diese Hoffnung zugrunde, durch Wendung des Denkens ins denkende Ich die evidente Grundlage aller Gewissheit zu finden. Bei Locke geht die Erkenntnis nun aber von der Erfahrung aus.
John Locke: Freiheit, Gleichheit und Vernunft
Befreiung der Vernunft von metaphysischer Spekulation und empiristische Erkenntnistheorie
Der englische Philosoph und Staatsmann John Locke gilt als der Begründer der europäischen Aufklärungsphilosophie. Seine wichtigsten Werke erschienen gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Mit der Art und Weise, wie Locke „… den zentralen Gegenstand der Philosophie und die Grundintentionen und Grundauffassungen des menschlichen Denkens bestimmt, [hat er] eine grosse Nachwirkung nicht nur in der englischen Auf klärungsphilosophie über Berkeley bis hin zu Hume, sondern auch in der französischen Aufklärungsphilosophie von Voltaire bis hin zu Didérot und Condillac gehabt (…).“ [233]
In seinem erkenntnistheoretischen Werk „Versuch über den menschlichen Verstand“ geht Locke dem Ursprung, der Gewissheit und dem Umfang des menschlichen Erkennens nach. Woher kommen die Ideen und Vorstellungen der Vernunft, war seine Frage. Wie weit reicht menschliches Erkennen, und wie erhält man Gewissheit? Lockes erkenntniskritische Fragestellung knüpft an Descartes’ methodischen Zweifel an, der zum Ziel hatte, nichts ungeprüft zu übernehmen. Im Unterschied zu Descartes nimmt nun aber Locke von metaphysischer Spekulation Abstand und bereitet damit den Boden für die metaphysische Skepsis des 18. Jahrhunderts. Locke versucht „… mittels Erforschung des Verstandes und der Vernunft durch sich selbst die menschliche Vernunft vor einem Sichverlieren in metaphysischer Spekulation zu bewahren(…)“[234]: ein typisches Anliegen der Aufklärungsphilosophie. Die Vernunftkritik solle den Menschen insbesondere vor einem Sichverlieren in religiösen Phantastereien bewahren, die Locke für unnütz und den Verstand verwirrend hält. Durch Untersuchung der Reichweite des menschlichen Erkennens und der menschlichen Vernunft soll „… die Vernunft vor allem zum Studium des Menschen und zur Bewirkung der menschlichen Glückseligkeit angeleitet werden, (…).“[235] Die Vernunft soll also zur Fähigkeit herangebildet werden, den Menschen und seine Bedürfnisse erforschen zu können und Regeln für ein glückliches Zusammenleben zu finden, die dem „Gesetz der [menschlichen] Natur“[236] entsprechen. Das Aufklärungsdenken hielt die Vernunft durchaus für tauglich zur Lösung der Probleme des menschlichen Lebens.
„In der Tat gibt es nach Locke auf Sachgebieten der Philosophie und des grundsätzlichen Nachdenkens des Menschen, welche für die Sittlichkeit und das Wohlergehen, ja das Glück der Menschen entscheidend sind, eine durchaus solide und sogar wissenschaftlich fundierte Möglichkeit des Erkennens. So geht Locke davon aus, dass im Bereiche der Ethik, welche Bestimmungen über Sittlichkeit und Glückseligkeit des Menschen aufstellt, eine demonstrative Gewissheit des Erkennens möglich ist, welche derjenigen der Mathematik nahekommt und vergleichbar ist.“[237]
Im Laufe seiner Beschäftigung mit dem menschlichen Verstand und der Vernunft kam Locke auf den Gedanken, dass Ideen und Vorstellungen dem Menschen nicht angeboren sind. Die Ideen entstehen seiner Ansicht nach aus der Erfahrung. So setzte er der rationalistischen Tradition des abendländischen Denkens eine von der Erfahrung ausgehende Erkenntnistheorie entgegen: den empiristischen Ansatz. Darin eingeschlossen ist aber auch die gedankliche Verarbeitung und Reflexion der Erfahrung.
„Diese neue Fundierung der menschlichen Erkenntnisgewissheit auf Erfahrung, die Einschränkung des Geltungsbereiches apriorischer Vernunfterkenntnis und die Skepsis und Zurückhaltung gegenüber der spekulativen Metaphysik machen einen Grundzug aller auf Erkenntnistheorie ausgerichteten Aufklärungsphilosophie aus und sind so ein Wesensmerkmal des historischen Aufklärungsdenkens des ausgehenden 17. und des 18. Jahrhunderts.“[238]
Die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit im Rechtsstaat
Im Zentrum der Lockeschen Überlegungen steht der Mensch als Person und seine Menschenwürde. Die Menschen sind von Natur aus frei und einander gleichgestellt. Dass die Freiheit und Gleichheit als natürliche Rechte aller Menschen – auch der Sklaven![239] – im Staat verankert werde, ist Lockes grösstes Anliegen. So überlegt er in seinen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“, „… in welchem Zustand sich die Menschen von Natur aus befinden“[240], d.h. „bevor“ sie sich zu politischen Gesellschaften zusammengeschlossen haben. Anhand der Idee eines ursprünglichen „Naturzustandes“ versuchten Aufklärungsdenker wie Hobbes, Locke, Rousseau u.a. die Natur des Menschen, wie sie vor aller zivilisatorischen Beeinflussung sei, herzuleiten. Von diesem Naturzustand ausgehend beschrieben sie, wie ihrer Ansicht nach die Entwicklung zum Gesellschaftszustand, so wie er zu ihrer Zeit bestand, verlaufen sei. Locke nahm an, dass die frei und gleich geborenen Menschen in wechselseitiger Übereinkunft einen „Gesellschaftsvertrag“ geschlossen hätten, um politische Gemeinschaften zu bilden. Durch den Vertrag hätten sie sich gegenseitig ihrer Rechte auf den Schutz und die Freiheit ihrer Person und ihres Eigentums versichert.[241]
Das Postulat der Gleichheit hatte zur Konsequenz, dass der Herrscher auch an das Gesetz gebunden werde: Macht und Rechtssprechung sind unter den Bürgern wechselseitig. Bei Willkür und Amtsmissbrauch durch die Regierenden hätten die Bürger das Recht, ihre Vertreter abzusetzen, da diese dadurch den Vertrag gebrochen hätten. Dies bedeutete eine klare Absage an den Absolutismus. Gleichheit heisst gleiche Freiheit für jeden: die Gesetze gelten allgemein. Damit waren die Sklaven als Menschen gleichgestellt. Das war ein grosser Fortschritt, denn im englischen Verfassungsstaat hatte bisher die Freiheit nur für die Freien gegolten.
„Es musste erst der naturrechtliche Anspruch ‘eines jeden, der Menschenantlitz trägt’, hinzutreten, damit es zur Abschaffung der Sklaverei und auch zur Ermöglichung sozialstaatlicher Tendenzen kommen konnte. Die Institutionen der Freiheit bedurften der Ergänzung um die Idee der Gleichheit, genauer um die Idee des gleichen Anspruchs eines jeden Menschen auf Freiheit. Die Verschmelzung von Verfassungsstaat und Naturrecht erst schuf die revolutionäre Kraft, die in Richtung auf gleiche Freiheit wirkte, d.h. auf Gleichberechtigung innerhalb des Verfassungsstaates, auf allgemeines Wahlrecht, auf sozialstaatliche Impulse, auf Schaffung der realen Voraussetzungen für die Freiheit eines jeden.“ [242]
Locke trug mit seinem Werk grundlegende Bausteine für den Rechts- und Verfassungsstaat bei, in welchem die Freiheiten aller Individuen rechtlich gesichert werden. Das Recht des Individuums, Herr über seine eigene Person und sein eigenes Leben, wie auch über sein Eigentum zu sein, ist unveräusserlich: sein natürliches Recht. Wer es ihm zu nehmen versucht, verstösst gegen das Naturrecht. In einprägsamer Art beschreibt Locke die natürliche Freiheit und Gleichheit aller Menschen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Leben im Staat:
„… müssen wir erwägen, in welchem Zustand sich die Menschen von Natur aus befinden. Es ist ein Zustand vollkommener Freiheit, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.
Es ist darüber hinaus ein Zustand der Gleichheit, in dem alle Macht und Rechtssprechung wechselseitig sind, da niemand mehr besitzt als ein anderer: Nichts ist einleuchtender, als dass Geschöpfe von gleicher Gattung und von gleichem Rang, die ohne Unterschied zum Genuss derselben Vorteile der Natur und zum Gebrauch derselben Fähigkeiten geboren sind, ohne Unterordnung und Unterwerfung einander gleichgestellt leben sollen (…).“ [243]
Die Gesetze im Staat müssen auf diesen naturrechtlichen Grundlagen der Freiheit und Gleichheit und der Würde der einzelnen Person beruhen und diese garantieren. Der Zustand der Freiheit, merkt Locke weiter unten an, ist aber „kein Zustand der Zügellosigkeit“[244]. Im „Naturzustand“ herrscht nämlich ein „… natürliches Gesetz, das jeden verpflichtet. Und die Vernunft, der dieses Gesetz entspricht, lehrt die Menschheit, wenn sie sie nur befragen will, dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll.“[245] Jeder Mensch ist verpflichtet, die Freiheit des anderen zu achten und respektieren, er darf keinen schädigen. Dies lehrt ihn seine Vernunft.
Die angeborene Freiheit des Menschen muss durch den gewaltenteilenden Rechtsstaat geschützt werden, fordert Locke. Dadurch soll nun – und das ist eine grossartige Errungenschaft der Aufklärung – auch die äussere Freiheit des einzelnen Menschen gesichert werden. Die Freiheit wird nun zum ersten Mal zur Wirklichkeit, ermöglicht durch das Recht. Die staatliche Gewalt muss an das allgemeine Wohl gebunden werden, so dass der Zweck der staatlichen Gewalt zugleich ihre Grenzen bestimmt. Sie erstreckt sich genau so weit, als es das allgemeine Wohl erforderlich macht. Zur Sicherung der Gerechtigkeit im Staat erachtete Locke die Gewaltenteilung als unabdingbare Voraussetzung. Das Gleichgewicht und die gegenseitige Kontrolle von Legislative, Exekutive und Judikative sichert das Volk vor der Willkür einzelner Amtsinhaber. Locke ging so weit, dass er das Recht auf Amtsenthebung bei Machtmissbrauch forderte:
„Das Volk soll Richter sein. Wer sonst nämlich sollte der Richter sein, ob sein Vertrauensmann oder Abgeordneter richtig handelt und entsprechend dem Vertrauen, das man in ihn gesetzt hat, als derjenige, der ihn abordnete und deswegen auch immer die Macht behalten muss, ihn aus seinen Ämtern zu entfernen, wenn er sich in seinem Vertrauen getäuscht sieht?“ [246]
Nach der Einschätzung von Strömholm ist Locke der erste Autor, der klar feststellt, dass alle Prinzipien der Betätigung hoheitlicher Gewalt in einer Gesellschaft, sowie auch die Ausführungsmethoden, auf der Herrschaft des Rechts beruhen müssen. Schon vor Locke hätten viele Denker die Bedeutung der Gesetze als Fundament einer gerechten Gesellschaft erkannt, und die rechtliche Argumentation beruhte auf einer Tradition in der europäischen Geschichte. Doch Lockes „kraftvolles, konsequentes und überzeugendes Plädoyer“[247] für eine Gesellschaft, in der auch der Gesetzgeber an das Gesetz gebunden ist und die Freiheitsrechte des Individuums zu respektieren hat, fand einen so starken Widerhall in ganz Europa, dass es in verhältnismässig kurzer Zeit Wirklichkeit wurde: es ist die in Lockes Werken entwickelte Idee des Rechtsstaates. Auch auf die zu gründenden Vereinigten Staaten von Amerika hatte Lockes Werk entscheidenden Einfluss. Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung mit ihren Menschenrechten ging von der von Locke herausgestellten natürlichen Freiheit und Gleichheit aller Menschen aus.
Vernünftige Selbstbestimmung im Rahmen der menschlichen Natur: Das neuzeitliche Menschenbild
Bei John Locke haben wir schon einen aufklärerischen Vernunftbegriff. Die Vernunft muss, um erkenntnisfähig zu sein, von den Vorurteilen und traditionellen Dogmen befreit werden. Sie soll sich nicht mit Fragen herumschlagen müssen, die ihren Erkenntnisbereich übersteigen. Jeder einzelne Mensch ist mit Vernunft begabt und kann selber seine Vernunft zu Rate ziehen, um eigenverantwortlich zu handeln. Vernunft und Naturgesetz (die Gegegebenheiten der menschlichen Natur) fallen zusammen. Der Mensch kann sich durch Vernunft Einsicht in das Naturgesetz verschaffen, d.h. in die natürlichen Rechte und Pflichten des menschlichen Zusammenlebens. Nach Locke sind die Inhalte der Vernunfterkenntnis, wie wir gesehen haben, nicht angeboren, sondern die mündige Vernunft muss in der Erziehung erst herangebildet werden (siehe weiter unten). Der Einzelne handelt als selbstbestimmte Person, die ihr eigenes Leben und das der Gesellschaft nach gegenseitig vereinbarten Regeln gestalten kann. Nicht nur zur Selbsterhaltung ist der Mensch verpflichtet, sondern er hat auch die Verantwortung, für die allgemeine Einhaltung der Natur- und Vernunftgebote zu sorgen!
Im gleichen Zusammenhang entfaltet Locke seine Auffassung von der Sozialität des Menschen im Anschluss an den Theologen Richard Hooker: Aus der natürlichen Gleichheit aller Menschen erwächst die „Grundlage für jene Verpflichtung zur gegenseitigen Liebe unter den Menschen“[248]. Auf dieser wiederum bauen die Pflichten auf, die sie einander schuldig sind.
„Der gleiche natürliche Beweggrund hat die Menschen zu der Erkenntnis gebracht, dass es ihre Pflicht sei, die anderen ebensosehr zu lieben wie sich selbst, denn sie sahen, dass gleiche Dinge auch das gleiche Mass haben müssen. Wenn ich wünschen muss, aus der Hand eines jeden Menschen soviel Gutes zu empfangen, wie es ein jeder in seinem Herzen nur wünschen kann, wie könnte ich auch nur eine teilweise Erfüllung meines Wunsches erwarten, wenn ich nicht selbst darauf bedacht bin, den gleichen Wunsch auch einem anderen Menschen zu erfüllen, den er zweifellos hegt, da wir von einer Natur sind? (…) Mein Verlangen also, von denen, die von Natur aus meinesgleichen sind, so stark wie möglich geliebt zu werden, legt mir die natürliche Pflicht auf, ihnen genau dieselbe Zuneigung entgegenzubringen. Welche verschiedenen Regeln und Vorschriften die natürliche Vernunft aus dieser Gleichheit zwischen uns und denen, die sind wie wir, für die Lebensführung aufgestellt hat, ist jedem bekannt.“ [249]
Es lohnt sich, bei diesem Zitat etwas zu verweilen, finden wir doch darin wichtige Grundzüge der Lockeschen Ethik, die auf dem naturrechtlichen Denken aufbauen. In einer Gemeinschaft haben die Menschen nicht nur Rechte, sondern auch gegenseitige Pflichten, die natürlich begründet sind. Aus der natürlichen Gleichheit der Menschen leitet Locke ab, dass was mir zukommt, auch dem anderen zukommen soll. Wenn ich geliebt werden will, muss ich auch den anderen lieben und ihm Gutes tun. Da die Menschen von gleicher Natur sind, haben alle die gleichen Grundbedürfnisse; so zum Beispiel, geliebt zu werden. Das Ideal von der Gegenseitigkeit der Zuneigung beruht also auf der natürlichen Angewiesenheit jedes Menschen auf Zuneigung (einem Naturgesetz). Der Mensch hat eine natürliche Neigung zur Gesellschaft.[250] Die praktischen Regeln für das Zusammenleben können aus vernünftiger Überlegung gewonnen werden, denn gewisse allgemeine Grundprinzipien der Lebensführung gelten für alle, die gleicher Natur sind. Der Begriff „Gleichheit“ darf aber nicht so verstanden werden, als würde Locke die individuellen Unterschiede zwischen den Menschen negieren. Der Personbegriff, der bei Locke im Sinne der naturrechtlichen Tradition zu verstehen ist, bedeutet ja gerade, dass jeder Mensch ein unverwechselbares, einmaliges Individuum ist. Lockes sozialethisches Anliegen beinhaltet also neben der Verankerung der Freiheit und der Gleichheit der Menschen im Rechtsstaat auch die Sorge um die gefühlsmässigen Voraussetzungen des Zusammenlebens und ihre Verwirklichung. Erst durch gegenseitige, tätige Mitmenschlichkeit im Wissen um die Gleichartigkeit meines Nächsten werden Freiheit und Gleichheit in den zwischenmenschlichen Beziehungen zum Leben erweckt.
Heute wird den Vertretern der Aufklärung oft einseitiger Individualismus vorgeworfen. Es wird aber gerade bei Locke klar, dass die Rechte und Freiheiten des Individuums nur in Gegenseitigkeit und Kooperation, die auf der Achtung der Gleichwertigkeit des Anderen beruhen, verwirklicht werden können. Die Sorge um die ethischen Belange ist Locke, wie wir gesehen haben, ein vordringliches Anliegen. Die Interessen von Individuum und Gemeinschaft oder der verschiedenen Individuen untereinander sind keine Gegensätze oder Widersprüche, die unmöglich miteinander zu vereinbaren sind. Die naturrechtliche Ethik, auf die sich viele Aufklärungsdenker implizit – z.B. über die Vermittlung durch John Locke – oder auch explizit abstützen, beruht auf einem Menschenbild, das die Sozialität und die Individualität des Menschen integriert. Eine echte Gemeinschaft besteht aus eigenständigen Individualitäten und ist keine absolute Grösse für sich, wie es etwa im Kollektivismus gefordert wird. Das Individuum wiederum findet seine Selbstvervollkommnung im mitmenschlichen und gesellschaftlichen Rahmen.
Um zu Locke zurückzukehren: Zu erwähnen ist nicht zuletzt seine berühmte Stellungnahme für religiöse Toleranz, die er vor dem Hintergrund von politischen Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Anglikanern verfasste. In seinen „Briefen über Toleranz“ plädiert er für eine friedfertige Gesinnung unter Christen. Die dogmatischen Differenzen der Konfessionen hätten keinen vernünftigen Grund. Der Regierung sollte überhaupt kein Mitspracherecht in Glaubensangelegenheiten zukommen. „Wenn die staatliche Obrigkeit über die durch den Staatszweck bedingten Aufgaben nicht hinauszugehen hat, dann darf sie sich nicht in Fragen einmischen, die die Weltanschauung betreffen. (…) Die Zugehörigkeit zu Religionsgemeinschaften muss daher immer freiwillig sein.“[251] Damit eröffnet Locke den Privatbereich des Glaubens: Die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sind Privatsache und dürfen nicht vorgeschrieben werden. Nach Locke muss auch der Austritt aus der Kirche stets möglich sein. Das Menschenrecht der Glaubensfreiheit gebietet dies. Als gemeinsame Grundlage für den christlichen Glauben sollen genügen: einerseits der Glaube an Christus und andererseits einige moralische Gebote und Verbote aus den Evangelien, die sich mit dem rationalen Naturrecht decken oder ihm zumindest nicht widersprechen. Mit anderen Worten erachtet Locke diejenigen religiösen und moralischen Prinzipien als vernünftig und praktisch anwendbar, die der (gottgegebenen) menschlichen Natur und ihren Bedürfnissen und Zwecken entsprechen. Sie stellen daher, wie oben gezeigt wurde, allgemeingültige Prinzipien der Sittlichkeit dar.
Lockes Gedanken über Erziehung
Eine bedeutsame anthropologische Gegebenheit stellt bei Locke die Vernunftfähigkeit jedes Menschen dar. Der Vernunft misst er eine wichtige Rolle für die Lebensgestaltung im Kleinen wie im Grossen zu. Sittliche und geistige Selbstbestimmung zu einem „Leben gemäss der Würde und dem hohen Rang eines vernunftbegabten Wesens“[252] ist das Ziel der Erziehung. Als Grundlage dazu muss der junge Mensch vor allem zu einer inneren Haltung der Tugend erzogen werden. Der tugendhafte und lebenskluge Gentleman verfügt über Gewandtheit im Umgang und gute Manieren. Wichtig ist, sich selbst und den anderen nützlich zu sein: die Tugend muss sich im praktischen Leben bewähren. Kenntnisse zu lernen ist auch notwendig, steht aber nicht an vorderster Stelle im Lehrplan. In Lockes „Gedanken über Erziehung“ geht es noch um die Erziehung des jungen Gentleman, also des höheren Standes, durch einen Privatlehrer und noch nicht um eine allgemeine Volkserziehung oder Volksschule.
Locke legt allergrössten Wert auf die Erziehungsfrage: „Der Gegenstand ist von so grosser Bedeutung, eine richtige Erziehung bringt so allgemeinen Nutzen (…).“[253] Er erwähnt in seiner Schrift über alles Standesmässige hinaus auch viel Allgemeines über Mensch und Erziehung und gibt praktische Ratschläge. Aufgrund Lockes Erkenntnistheorie, die besagt, dass der menschliche Geist zuerst wie eine unbeschriebene Tafel, ohne angeborene Ideen und sittliche Grundsätze sei, gewinnt die Erziehung die entsprechend grosse Bedeutung. Dies bringt er gleich zu Anfang seiner „Gedanken“ zum Ausdruck, wenn er schreibt: „… und ich darf wohl sagen, dass von zehn Menschen, denen wir begegnen, neun das, was sie sind, gut oder böse, nützlich oder unnütz, durch ihre Erziehung sind. Sie ist es, welche die grossen Unterschiede unter den Menschen schafft. Die kleinen oder nahezu unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr bedeutende und dauernde Folgen (…).“ [254]
Locke erkennt, dass die Kindheit eine Lebenszeit ist, in der das Kind eine Prägung erfährt, die für sein weiteres Leben bedeutsam sein wird. Er darf damit als einer der ersten „Entdecker“ der Kindheit als eigenständiger Lebensphase gelten. Mit den Fragen von Kindheit und Erziehung werden sich auch die französischen Aufklärer beschäftigen, wobei dann Rousseau eine systematische Erziehungslehre verfasst, in der er sorgfältige Überlegungen anstellt, was das Kind in der Kindheitssphase (und in der Jugend) an Erziehung braucht.
Die Achtung vor der Würde der Person, die im Naturrecht zentral ist, findet in der Achtung vor der Individualität des Kindes, seiner individuellen Besonderheiten, Anlagen und Neigungen ihre Entsprechung. Jedes Individuum hat das natürliche Recht, dass seine individuellen Anlagen durch Erziehung zur vollen Entfaltung gebracht werden. Wenn der Erzieher seinen Zögling genau beobachtet, wohin er strebt und was seiner Individualität angemessen ist, kann er dessen Eigencharakter gerecht werden und ihn dort fördern, wo er es braucht.
Die Vernunftfähigkeit des Menschen und seine Bestimmung zur Freiheit sind die anthropologischen Grundvoraussetzungen für die Erziehung bei Locke. Die Erziehbarkeit des Kindes liegt darin begründet, dass es mit einer natürlichen Ausrichtung auf den Mitmenschen ausgestattet ist. Dem Kind ist es nicht gleichgültig, ob seine Mitmenschen seine Handlungen billigen oder missbilligen – es strebt darnach, seinen „guten Ruf“[255] zu wahren. Hier kann der Erzieher ansetzen und es mit Lob und Tadel auf die rechte Bahn lenken. Da das Kind bei seiner Geburt noch schwach und hilflos und seine Vernunft noch nicht reif ist, müssen die Eltern die allergrösste Sorgfalt auf die Fürsorge und Erziehung ihrer Kinder verwenden. Locke spricht von einer Erziehungspflicht der Eltern. Wir finden die interessanten Ausführungen zu diesem Thema in einem Kapitel in den „Zwei Abhandlungen“, wo er die elterliche Gewalt umreisst.
„… die alle als unmündige Kinder geboren wurden, schwach und hilflos, ohne Wissen und Verstand. Um jedoch diesen Mängeln ihres unvollkommenen Zustandes abzuhelfen, bis sie durch fortschreitendes Wachstum und Alter von selbst behoben wurden, hat das natürliche Gesetz Adam und Eva und nach ihnen alle Eltern dazu verpflichtet, ihre Kinder, die sie gezeugt haben, zu erhalten, zu nähren und zu erziehen (…).“[256]
Bei Geburt sind die Kinder noch unmündig und haben keinen Verstand und kein Wissen. Sie sind völlig angewiesen auf die Pflege durch die Eltern. Mit fortschreitendem Alter jedoch werden sie zunehmend selbständiger, so dass sie der Hilfe durch die Erwachsenen immer weniger bedürfen. Die Verpflichtung für die Eltern, ihre Kinder nicht nur zu ernähren, sondern auch zu erziehen, ist eine durch die Elternschaft gegebene natürliche Pflicht. Locke spricht auch von einer Fürsorgepflicht. Die Leitung durch die Eltern „… ist jedoch nur vorübergehend. Die Fesseln dieser Unterwerfung gleichen den Windeln, mit denen sie während der Hilflosigkeit ihrer frühen Kindheit gewickelt und geschützt werden. Alter und Vernunft lockern sie, je grösser die Kinder werden, bis sie schliesslich ganz wegfallen, und der Mensch der eigenen freien Leitung überlassen wird.“ [257]
Das Ziel der Erziehung ist also die Freiheit der eigenen Selbstbestimmung. Die Entwicklung der Vernunft mit zunehmendem Alter lässt das Kind immer freier werden. Man kann also sagen, dass die Kinder zwar frei geboren werden, aber die Fähigkeit zu freier Selbstbestimmung erst erlernen müssen. Zuvor muss ein anderer das Kind leiten; der Verstand des Vaters ist stellvertretend, bis es seinen eigenen Verstand entwickelt hat. Die Unabhängigkeit des Menschen, sagt Locke, wie auch seine Freiheit, nach seinem eigenen Willen zu handeln, beruht auf seiner Vernunft. Dem Kind schrankenlose Freiheit einzuräumen, bevor es seine Vernunft entwickelt hat und genügend Kenntnisse besitzt, bedeutet, es einem Zustand preiszugeben, den man nur als erbärmlich bezeichnen kann:
„Ihm schrankenlose Freiheit einzuräumen, bevor er Vernunft besitzt, die ihn leitet, bedeutet nicht, ihm das Privileg seiner Natur, nämlich frei zu sein, gewähren, sondern man würde ihn unter das Vieh ausstossen und ihn einem Zustand preisgeben, der ebenso erbärmlich ist und so tief unter dem eines Menschen steht wie der des Tieres. Eben das legt den Eltern Autorität in die Hände, während der Minderjährigkeit über ihre Kinder zu regieren. Gott hat es ihnen zur Aufgabe gemacht, diese Sorgfalt auf ihre Nachkommen zu verwenden. Er hat ihnen dafür die geeigneten Neigungen, nämlich zärtliche Hingabe und Liebe, ins Herz gelegt, um diese Gewalt zu mildern und sie, wie es seine Weisheit geplant hat, zum Wohl der Kinder anzuwenden, solange diese es nötig haben, unter ihr zu stehen.“ [258]
Locke schreibt diese Zeilen mit viel Mitgefühl: Dem Menschenkind, dem es durch mangelnde Sorgfalt seiner Eltern in ihrer Erziehungsaufgabe oder durch ein falsch verstandenes Verständnis von Freiheit nicht vergönnt war, zu seiner Bestimmung einer wirklichen, auf mündiger Vernunft beruhenden Freiheit zu gelangen, ist es später nicht möglich, ein menschenwürdiges Leben zu führen. Damit die Eltern aber ihre Macht dem Kinde gegenüber nicht ausspielen und Härte anwenden, haben sie Gefühle der Zärtlichkeit ihren Nachkommen gegenüber mitbekommen. Ihre Autorität sollen sie zum Wohle der Kinder gebrauchen. Locke ist vielleicht zu optimistisch, wenn er weiter meint, dass die Gefahr, die Eltern könnten ihre Macht mit zu grosser Strenge gebrauchen, wohl nur sehr gering sei.[259] Dies spricht aber nicht gegen die Notwendigkeit der Erziehung! Locke hat eben schon zu seiner Zeit beobachtet, dass viele Kinder allzu sehr verzärtelt und verwöhnt werden und berät daher in seinen „Gedanken über Erziehung“ die Eltern, wie sie ihre Kinder körperlich und geistig kräftigen und fördern können.
Der Erwachsene wird also nach einer gelungenen Erziehung fähig, durch Vernunfttätigkeit Einsicht ins natürliche Gesetz zu gewinnen und sich dadurch selbst zu bestimmen. Damit ist gemeint, dass der Rahmen der menschlichen Natur nicht überschritten werden kann. Trotzdem ist dies kein Verlust an Freiheit oder Selbstbestimmung. Der menschlichen Art sind bestimmte Voraussetzungen und Charakteristika ihrer Existenzweise von Natur aus gegeben. Sie finden unter anderem in Vernunft und Geistigkeit wie auch in tätiger Mitmenschlichkeit ihren Ausdruck. In diesem Sinne bestimmt Locke die Frage der Vereinbarkeit von „Gesetz“ und „Freiheit“ näher:
„Auch wenn es noch so oft missverstanden werden mag, es ist nicht das Ziel des Gesetzes, die Freiheit abzuschaffen oder einzuschränken, sondern sie zu erhalten und zu erweitern. Denn bei sämtlichen Geschöpfen, die zu einer Gesetzgebung fähig sind, gilt der Grundsatz: Wo es kein Gesetz gibt, da gibt es auch keine Freiheit. Freiheit nämlich heisst aber nicht, wie uns gesagt wird, eine Freiheit für jeden, zu tun, was ihm gefällt – (denn wer könnte schon frei sein, wenn ihn die Laune jedes anderen tyrannisieren dürfte?) –; sondern eine Freiheit innerhalb der erlaubten Grenzen jener Gesetze, denen er untersteht, über seine Person, seine Handlungsweise, seinen Besitz und sein gesamtes Eigentum zu verfügen und damit zu tun, was ihm gefällt, ohne dabei dem eigenmächtigen Willen eines anderen unterworfen zu sein, sondern frei dem eigenen zu folgen.“[260]
Die Verwirklichung von Freiheit und Gleichheit durch die Volksschule bei Condorcet
Der französische Philosoph, Naturwissenschafter und Politiker Antoine de Condorcet arbeitete an der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte mit, in der die Prinzipien von Freiheit und Gleichheit, von Volkssouveränität und Gesetzesherrschaft verkündet worden sind. In der Menschenrechtserklärung wurden Feststellungen über die menschliche Natur und die sich aus den Gegebenheiten der menschlichen Natur ergebenden natürlichen Rechte des freien Individuums niedergelegt. Die in der „Erklärung“ verkündeten Menschenrechte wurden in der Zeit der französischen Revolution auch auf ihre pädagogischen und schulpolitischen Konsequenzen hin durchdacht. Neue, auf der Natur des Menschen, also philosophisch‑anthropologisch begründete Fundamente für das politische Gemeinwesen, für Erziehung und Schule entstanden. Condorcet gehörte zu deren hervorragenden Theoretikern.
„Unter pädagogischer Fragestellung hebt er sich von seinen Zeitgenossen ab, weil er in besonderer Klarheit und auf der Höhe nicht nur der französischen, sondern darüber hinaus der europäischen Aufklärung die regulativen Prinzipien für ein Schulwesen konzipiert, das den Anforderungen einer demokratischen Gesellschaft genügen soll.“[261]
Condorcet legt den Plan einer „instruction publique“ (öffentliches Unterrichtswesen) vor, der auf eine konsistente anthropologisch-philosophische Grundlage abgestützt ist. Endlich sollen Freiheit und Gleichheit für alle ein „‘tatsächliches Gut’“ werden, „‘dessen sie sich zu freuen wissen, und dessen Wert sie kennen.’“[262] In der Erklärung der Menschenrechte werden nach Condorcet die unveränderlichen Prinzipien der natürlichen Gerechtigkeit und die „‘wesentlichen Rechte des Menschen’“[263] ausgesprochen. Da die Menschen frei und mit gleichen Rechten geboren werden, wie es im ersten Artikel heisst, ist der Zweck jeder politischen Vereinigung die Bewahrung der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte – so der zweite Artikel. Wenn der Staat aber dieses ursprüngliche Recht des Menschen auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung garantieren muss, ist für Condorcet darin auch das Recht auf Unterricht und Bildung miteingeschlossen.
Die politische Gleichheit zu einer wirklichen zu machen, ist das erste Ziel des Unterrichtswesens. So fordert Condorcet den Abbau aller Bildungsprivilegien, um die Vervollkommnung der Fähigkeiten und die Bildung für jeden zu gewährleisten. Das wichtigste Mittel, um die Ungleichheiten in den konkreten Lebensverhältnissen zu überwinden, ist für ihn die Volksbildung. Diese schliesst auch die Berufsausbildung und die Erwachsenenbildung mit ein. Mit Condorcet beginnt die moderne Erwachsenenbildung, die Bestandteil der éducation permanente in einer sich wandelnden Gesellschaft der wissenschaftlichen, politischen und gewerblichen Revolution ist. Schon damals also der Hinweis auf die sich wandelnde Gesellschaft, die eine ständige Weiterbildung verlangt. Der grundlegende Unterschied zu heutigen Schulreformern besteht aber darin, dass Condorcet nicht die allgemeinverbindlichen Inhalte des Lernens abschaffen will, weil man – wie heute behauptet wird – sowieso nicht wissen könne, was später gebraucht werde, und die Aktualität des Lernstoffs zunehmend verfalle – ganz im Gegenteil! Permanente Weiterbildung ist für Condorcet eine Aufgabe, die politische Bildung und berufliche Bildung einschliesst.
Weil die Vernunft universell und für jedes denkende Wesen dieselbe ist, vermag sie gemäss Condorcet Differenzen des sozialen Status hinter sich zu lassen. Durch allgemeinen öffentlichen Unterricht wird es möglich, jeden Bürger so gut zu fördern und sein Bildungsniveau derart zu heben, dass er in seinen verschiedenen Lebensbereichen sich selbst verwirklichen und auch zu einem befriedigenden Zusammenleben im Staat beitragen kann: so z.B. im Bereich der staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, in der Familie und in seiner beruflichen Tätigkeit.
Welches ist nun Condorcets Argumentation, die er seinem Plan für eine allgemeine Schulbildung zugrundelegt? Im „Premier mémoire“ seiner „Cinq mémoires sur l’instruction publique“[264] formuliert er die Ziele der Volksschule und begründet diese. Wir greifen im folgenden die bereits angetönten, auf anthropologischen Überlegungen beruhenden Grundlegungen auf und beschränken uns auf einige zentrale Punkte:
Die freie politische Selbstbestimmung setzt die geistige Autonomie jedes Bürgers voraus. Er soll nicht mehr von Aberglauben und Vorurteilen abhängig sein, und auch nicht von Meinungen und politischen Doktrinen, die ihm aufgeschwatzt oder sonstwie vorgesetzt werden. Seine Vernunft und sein Verstand müssen zum eigenständigen Denken und Urteilen herangebildet werden. Damit jeder zukünftige Bürger in den Genuss einer solchen Erziehung kommen kann, braucht es einen allgemeinen öffentlichen Unterricht: die Volksschule. Condorcet schildert in ergreifenden Worten, wie erst geistige Autonomie wirkliche Freiheit garantiert. Die Gesellschaft braucht für das Volk ein öffentliches Unterrichtswesen als Mittel, um die Gleichheit der Rechte erst wirklich werden zu lassen: „Vainement aurait-on déclaré que les hommes ont tous les mêmes droits; vainement les lois auraient-elles respecté ce premier principe de l’éternelle justice, si l’inégalité dans les facultés morales empêchait le plus grand nombre de jouir de ces droits dans toute leur étendue.“[265] Wenn die geistige Ungleichheit trotz der politischen Gleichberechtigung bestehen bleibt, ist es den meisten Menschen nicht möglich, von ihren Rechten wirklich zu profitieren. Wer etwa nicht rechnen oder nicht schreiben kann, ist real abhängig von jemandem, der besser unterrichtet worden ist als er, und er ist gezwungen, ständig auf diesen zurückzugreifen, führt Condorcet weiter aus. Der Ungebildete ist denjenigen nicht ebenbürtig, die in ihrer Erziehung Kenntnisse erhalten haben. Wer z.B. die Gesetze nicht kennt, die das Eigentumsrecht regeln, ist nicht in der Lage, davon so zu profitieren, wie derjenige, der diese kennt. Kommt es zu einer Diskussion über diese Fragen, kämpfen sie nicht mit gleichen Waffen. Jeder muss so gut gebildet werden, dass er seine Rechte selber ausüben kann, ohne sich blind der Führung anderer unterwerfen zu müssen. Die Ungleichheit des Unterrichts ist einer der hauptsächlichsten Ursprünge der Tyrannei, stellt Condorcet fest. In den Jahrhunderten der Unwissenheit habe sich zur Tyrannei der Macht eine schwache und unbestimmte Aufklärung („des lumières faibles et incertaines“[266]) gesellt, die nur auf wenige Klassen konzentriert war. Priester, Juristen, auch Mediziner, verfügten über das geheime Wissen und waren nicht weniger die Herren der Welt als die bewaffneten Krieger. Condorcet denkt hierbei an die Zeit der alten Ägypter oder Inder, als die Kasten mit dem Wissen um die Geheimnisse der Religion oder der Natur den grausamsten Despotismus über die Völker ausgeübt hätten, den man sich nur vorstellen könne. Nun sei zwar die Gefahr gebannt, dass sich ein geheimes Wissen in einer erblichen Klasse oder in einer exklusiven Körperschaft konzentrieren könne, wodurch ein unüberbrückbarer Abstand zwischen zwei Teilen desselben Volkes bestehe. Aber:
„… ce degré d’ignorance ou l’homme, jouet du charlatan qui voudra le séduire, et ne pouvant défendre lui-même ses intérêts, est obligé de se livrer en aveugle à des guides qu’il ne peut ni juger, ni choisir; cet état d’une dépendance servile, qui en est la suite, subsiste chez presque tous les peuples a l’égard du plus grand nombre, pour qui dès lors la liberté et l’égalité ne peuvent être que des mots qu’ils entendent lire dans leurs codes, et non des droits dont ils sachent jouir.“[267]
Unwissenheit liefert die Menschen Scharlatanen aus, die sie verführen wollen. Ohne dass sie ihre eigenen Interessen verteidigen können, müssen sie sich blind Führern anvertrauen, die sie nicht beurteilen und nicht auswählen können. Dieser sklavische Zustand besteht immer noch für die meisten der Völker, für die die Freiheit und die Gleichheit nichts als Wörter sind, die sie in ihren Erklärungen lesen, aber keine Rechte, die sie wirklich ausüben können.
Eine weitere Ungleichheit, die die Bevölkerung in mehrere Klassen unterteilt, und der ein allgemeiner Unterricht abhelfen kann, resultiert aus ihrer Erziehung. Der Sohn der Reichen und der Sohn der Armen gehören nicht zur gleichen Klasse, wenn sie einander nicht durch den Unterricht angenähert werden. Die gepflegten Kinder lernen feinere Sitten und reinere Tugenden, und ihre Laster sind weniger hässlich. Im moralischen Bereich existiert also eine reale Ungleichheit, die auch gerechte Gesetze nicht beheben können.
Je mehr die Menschen durch die Erziehung fähig werden, ihre Vernunft richtig zu gebrauchen, die Wahrheiten, die man ihnen präsentiert, zu ergreifen und die Irrtümer zu durchschauen, desto eher ist eine Nation in der Lage, sich gute Gesetze, eine weise Regierung und eine wahrhaft freie Verfassung zu geben. Es sei also eine noch zu erfüllende Aufgabe für die Gesellschaft, folgert Condorcet, allen die Mittel zur Verfügung zu stellen, um die Kenntnisse, die ihnen ihre Intelligenz und die Zeit, die sie zum Lernen aufwenden können, zu erwerben erlauben. Wenn die Unterschiede, bedingt durch die natürlichen Anlagen und die aufgewendete Lernzeit, nicht zur Unterwerfung des einen unter den anderen führen, wenn mehr Lernzeit eine Unterstützung für die Schwachen bedeutet, sind diese Unterschiede nicht ungerecht. Condorcet spricht sich hier gegen eine Nivellierung aus falsch verstandener Gleichheit aus: Unterschiede in den Begabungen und in den Lebensweisen sollen nicht unterdrückt werden, auf dass alle davon profitieren können.
Gesamthaft gesehen ist Condorcet der Meinung, dass es den öffentlichen Unterricht zur Vervollkommnung der menschlichen Art braucht. Wie alle Aufklärer ist er von der Vervollkommnungsfähigkeit des Menschen überzeugt. Die zivilisierten Nationen hätten sich aus der Barbarei und Unwissenheit schon ein grosses Stück herausgearbeitet. Durch die Entdeckung weiterer Sachverhalte und Wahrheiten werde sich die menschliche Art weiterentwickeln. Bis anhin habe nur eine kleine Zahl von Individuen in ihrer Kindheit einen Unterricht erhalten, durch den sie alle ihre natürlichen Talente entwickeln konnten. „Rien ne répare le défaut de cette éducation première, qui seule peut donner et l’habitude de la méthode, et cette variété de connaissances si nécessaire pour s’élever dans une seule a toute la hauteur que naturellement on pouvait se flatter d’atteindre.“[268] Auf diese frühe Erziehung muss nach Condorcet grossen Wert gelegt werden. Es gehe darum, eine Form der öffentlichen Erziehung zu finden, die kein Talent unbemerkt lasse, und die jedem Kind die gleiche Hilfe und Unterstützung zukommen lasse, die vormals nur den Reichen vorbehalten gewesen war. Die individuellen Unterschiede im Denken und im Interesse lassen die verschiedensten Entdeckungen erwarten. Der eine Teil des Unterrichts versetzt einfache Menschen in die Lage, von den Erfindungen der Genies zu profitieren, und sie anzuwenden, und ein anderer Teil desselben Unterrichts hat zum Ziel, die Begabteren auf ihrem Weg zu unterstützen. Der öffentliche Unterricht beruht also auf dem Gedanken der Chancengleichheit, wie wir es heute nennen würden, und er bezieht dabei Unterschiede in den Begabungen durchaus mit ein. Condorcet fordert, dass darauf individuell eingegangen und jeder in seinen Fähigkeiten gefördert werde.
Didaktische Konzepte gehören ebenso zum Condorcetschen Schulmodell wie seine Gedanken zur Gliederung des Schulwesens insgesamt. Aus der Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten und Neigungen ergibt sich auf der Ebene der Schulstruktur die Gliederung des modernen Schulwesens in verschiedene Schultypen, die sich bis heute als sinnvoll erwiesen hat. „Condorcet weist der Schule eine neue Funktion zu. Unter dem Leitbild der (sozialen) Gerechtigkeit soll sie Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen einen Weg öffnen, der ihrer Qualifikation und Bildungsfähigkeit entspricht. Die Schule soll nicht nur allen die gleiche Chance geben (…).“[269] Das von Condorcet entworfene „aufgeklärte“ Grundmodell für ein öffentliches Unterrichtswesen bildet bis heute den ursprünglichen Bezugsrahmen für die Schulsysteme der modernen Staaten.[270]
Interessant ist, dass Condorcet die Frauen in seiner Grundlegung für ein öffentliches Schulwesen miteinbezieht, was damals einen grossen Fortschritt in der Frage der Gleichwertigkeit der Geschlechter bedeutete. Gleichheit heisst für Condorcet auch gleichen Unterricht für Mädchen und Knaben. „L’instruction doit être la même pour les femmes et pour les hommes“.[271] Die Mütter müssten in der Lage sein, zu beurteilen, wie ihre Kinder unterrichtet werden und fähig sein, ihnen auch zuhause weiterzuhelfen – die Väter seien ja ausser Haus beschäftigt. Gerade die Kinder der armen Bürger bräuchten auch zuhause Hilfe beim Lernen für die Schule. Anders sei es nicht möglich, auch in der Erziehung diese Gleichheit zu errichten, die zur Aufrechterhaltung der Menschenrechte nötig sei. Es könne sich nämlich innerhalb der Familie eine Ungleichheit ergeben, wenn die Mütter keine Schulbildung hätten.
„D’ailleurs, on ne pourrait l’établir pour les hommes seuls, sans introduire une inégalité marquée, non seulement entre le mari et la femme, mais entre le frère et la sœur, et même entre le fils et la mère. Or, rien ne serait plus contraire a la pureté et au bonheur des mœurs domestiques. L’égalité est partout, mais surtout dans les familles, le premier élément de la félicité, de la paix et des vertus. Quelle autorité pourrait avoir la tendresse maternelle, si l’ignorance dévouait les mères a devenir pour leurs enfants un objet de ridicule ou de mépris?“ [272]
Wie die Gleichheit überall das erste Element des Glückes, der Tugend und des Friedens ist, so ist sie es vor allem in der Familie.
Condorcets Gedanken und Grundlegungen zur Volksbildung sind im Denken der deutschen Klassik weitergeführt worden: Kant spricht sich für eine Menschenbildung aus, die auf die „‘Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt’“ angelegt ist, und Wilhelm von Humboldt erhebt den Anspruch auf einen „‘allgemeinen Schulunterricht’, der auf den Menschen überhaupt geht, auf die Hauptfunktionen seines Wesens’.“ [273]
Der Erziehungsgedanke in der französischen Aufklärung
Der Begriff der Aufklärung selber trägt schon einen pädagogischen Impuls in sich: Es gilt, die Menschen aufzuklären über ihre natürlichen Freiheiten und Rechte und ihnen die Erkenntnisse der Wissenschaften zugänglich zu machen, um dadurch die Vernunft von ihrer bisherigen Abhängigkeit von Vorurteilen und Aberglauben zu befreien. So verstanden sich die „Philosophes“ als Aufklärer der Nation. In ihren Werken und Schriften diskutierten sie die brennenden Fragen der Zeit, vor allem den Absolutismus und seine unterdrückerischen Praktiken, aber auch den geistigen Zustand der Menschen, geprägt von Jahrhunderten der kirchlichen Indoktrination und des Aberglaubens. Durch die Verbreitung der wissenschaftlichen Erkenntnisse aus den verschiedensten Bereichen, wie z.B. Astronomie, Medizin, Biologie, Chemie oder Mathematik sollte das Volk von seiner Unwissenheit befreit werden. Prototyp dafür war die berühmte, von Didérot und d’Alembert herausgegebene „Enzyklopädie“: „L’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers“, ein breitangelegtes gemeinschaftliches Werk von Wissenschaftern der verschiedensten Fachbereiche. Jeder trug aus seinem Spezialgebiet das Wesentliche in möglichst einfacher und allgemeinverständlicher Sprache bei. Die Darstellung der Erkenntnisse bezog Technik und Handwerk wie auch die Künste mit ein. Die Enzyklopädie gehört zu den herausragenden kulturellen Leistungen der Aufklärung, zu der sich grosse Denker des 18. Jahrhunderts, wie Voltaire, d’Holbach, d’Alembert, Didérot und Rousseau, aber auch heute weniger bekannte engagierte Autoren zusammengefunden haben, die durchaus verschiedene Standpunkte innerhalb des gemeinsamen aufklärerischen Programms vertraten. Didérot formuliert in seinem Artikel „Enzyklopädie“ das Anliegen des Werkes:
„Tatsächlich zielt eine Enzyklopädie darauf ab, die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen, mit denen wir zusammenleben, und es den nach uns kommenden Menschen zu überliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei; damit unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern gleichzeitig auch tugendhafter und glücklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben.“[274]
Eine wichtige Grundlage der allgemeinen Bildung ist nach Ansicht der Aufklärer, über Kenntnisse in den verschiedenen Wissenschaften und Künsten zu verfügen. Durch den Erwerb von Wissen und Bildung soll auch die Tugendhaftigkeit der Menschn verbessert und das Glück der Nachkommen gesteigert werden, erhofft sich Didérot. Mit anschaulichen und kunstvollen Illustrationen versehen, wurde die Enzyklopädie zu einem prächtigen Werk, Ausdruck einer fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen Menschen der verschiedensten Wissens- und Tätigkeitsbereiche – trotz vielfacher Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Mitarbeitern. Standhalten mussten die Autoren auch einer ständigen Propaganda gegen ihre Person und das Werk durch eine Welle von diffamierenden Broschüren und Pamphleten und dem Verbot der Veröffentlichung. Mit 17 Textbänden, 11 Bänden Kupfertafeln, fünf Supplementbänden und zwei Indexbänden fand das Werk im Jahre 1780 nach 35 Jahren Arbeit seinen Abschluss.[275]
Die Aufklärung ist begeistert vom Gedanken, den Menschen durch Vermittlung von Wissen und Hinführung auf sein eigenes kritisches Denken und seine sittliche Verantwortung als Bürger geistig mündig zu machen und moralisch zu bessern. So ist auch in einem allgemeinen Sinne
„… jedes Denken aufklärerisch, welches sich ganz auf die eigenen Möglichkeiten des Erkennens besinnen, sich in seinem selbstbegründeten und eigenverantwortlichen Bemühen auf keine fremde Autorität, keine höhere Macht, keine bloss geglaubte Tradition abstützen, alle Meinungen und Ansichten kritisch überprüfen und von dem aus, was als gesichert erkannt wird, auch die praktischen Probleme des menschlichen Lebens im Lichte neu gewonnener ethischer Prinzipien bewältigen will. Wenn man von diesem allgemeinen Begriff der Aufklärung als dem Entschluss, in allem nur die eigene menschliche Vernunft walten zu lassen, ausgeht, dann wird man sofort erkennen, dass Aufklärung eine ständige Aufgabe und ein ständiges Problem der Kulturgeschichte der Menschheit ist, und dann wird man auch die dauernde Aktualität der Aufklärungsthematik anerkennen. (…) Die Aufklärung in des Begriffes allgemeiner Bedeutung bildet eine ständig weiterwirkende Grundtendenz des europäischen Denkens.“[276]
Die Lehre von John Locke, dass die Ideen dem Menschen nicht angeboren seien, und dass der Mensch von Natur aus vervollkommnungsfähig sei, verweist in Konsequenz auf die Frage nach dem Einfluss und der Bedeutung der Erziehung. Dazu macht Locke eine grundlegende Aussage, die von der französischen Aufklärung aufgenommen wurde: neun Zehntel aller Menschen seien das, was sie sind, nur durch ihre Erziehung: „… und ich darf wohl sagen, dass von zehn Menschen, denen wir begegnen, neun das, was sie sind, gut oder böse, nützlich oder unnütz, durch ihre Erziehung sind. Sie ist es, welche die grossen Unterschiede unter den Menschen schafft. Die kleinen oder nahezu unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr bedeutende und dauernde Folgen (…).“[277]
Damit erahnt Locke die grosse Bedeutung der Kindheit für das Leben eines Menschen. In dieser Zeit gewinnt das Kind die ersten und entscheidenden Eindrücke, die sich später (positiv oder negativ) auswirken werden. Angedeutet ist hier auch, dass es von der Sicht des Erwachsenen aus gesehen minime Einwirkungen oder Erlebnisse sein können, die auf die zarte Kinderseele einen nachhaltigen Eindruck machen.
Mit der neuen Sicht über den Menschen, die in den Schriften der französischen Aufklärung begründet und breit diskutiert wird, ist ein pädagogischer Optimismus verbunden. Der Mensch hat sein Schicksal nun selber in der Hand, da er seine Vernunft zu Rate ziehen und alle Meinungen kritisch prüfen kann. Der Einzelne gibt sich selber die Orientierung seines Handelns, indem er sich mittels seiner Vernunft Einblick in die natürlichen Gesetze der menschlichen Existenzweise verschafft. Er selber kann sich überlegen, ob er das Gute oder das Böse wählen will – sein Schicksal ist nicht durch göttlichen Willen vorbestimmt. Aufgabe ist es deshalb für jeden einzelnen, sich Wissen und Bildung zu erwerben, um sein Leben selbständig gestalten zu können.
Das optimistische Menschenbild kommt bei Voltaire, dem Haupt der französischen Aufklärungsphilosophie, vor allem in seinem Frühwerk gut zum Ausdruck. In seinen „Remarques sur les Pensées de M. Pascal“ setzt Voltaire sich mit dem Mystiker Pascal[278] auseinander, dessen Menschenbild vom Glauben an die Erbsünde des Menschen geprägt ist. Der Mensch sei irrational und unerforschlich in seinem Wesen, so Pascal, und unfähig zur sittlichen Selbstbestimmung. In der Widerlegung des Irrationalismus und Pessimismus Pascals fand Voltaire die Begründung seines aufklärerischen Menschenbildes: Der Mensch ist nicht grundsätzlich böse und zerrissen – man darf nicht vom aktuellen menschlichen Verhalten auf die menschliche Natur schliessen. Die Fehler, die Pascal der menschlichen Natur zur Last legt, sind in Wirklichkeit nur diejenigen einzelner Menschen. Die natürliche Verfassung des Menschen kann durch natürliche Vernunft ohne jedes Glaubensgeheimnis bestimmt werden. „Die Menschheit ist kein Rätsel, wie Sie sich das vorstellen (…).“[279] Da der Mensch nicht durch eine Erbsünde verdorben ist, hat er die prinzipielle Möglichkeit, sich selbst durch seine Vernunft in Freiheit sittlich zu bestimmen. Der Mensch besitzt eine Selbstliebe, die ihn zu seiner Selbsterhaltung motiviert, und er hat Leidenschaften, die aber nicht böse sind. Dafür zu sorgen, dass die Leidenschaften in geordnete Bahnen gelenkt werden, ist nach Voltaire die Aufgabe der Religion. Mittels der Vernunft kann der Mensch seinen Handlungen eine Führung verleihen. Dass der Mensch über eine natürliche Fähigkeit zur Selbstliebe verfügt, ist eine zentrale Auffassung des aufklärerischen Menschenbildes. Die Selbstliebe ist nach Voltaire kein Gegensatz zur Gottesliebe und kein Zeichen des sündigen Abfalls von Gott oder Zeichen einer Selbstverherrlichung. Die Selbstliebe unterstütze geradezu die Liebe zu den anderen Menschen. Eine Gesellschaft könne sich nicht ohne die Selbstliebe bilden und auch ohne sie nicht weiterbestehen. Die französischen Aufklärer sind der Ansicht, dass die Liebe zu den Mitmenschen von der Liebe zu sich selber ausgehe. Nur wenn ein Mensch sich selber liebe, könne er auch den anderen lieben. Auch das Mitleid mit anderen ergebe sich erst über die Erfahrung mit eigenem Schmerz oder Leiden. Dem liegt ein erfahrungsorientierter Ansatz zugrunde: die Ideen und Vorstellungen sind nicht angeboren, was auch für den sittlich‑moralischen Bereich gilt. Sie entstammen der eigenen Erfahrung.
Allgemein bejahen die Aufklärer die Lebenslust und das irdische und sinnliche Vergnügen des Menschen. Schon die Auseinandersetzung mit der natürlichen Aussenwelt sei mit Lustempfindung verbunden, schreiben sie. Nach Voltaire ist der Mensch wesenhaft in seinem Denken, Wahrnehmen und Fühlen auf die ihn umgebende Aussenwelt ausgerichtet. Er bezieht ja auch alle geistigen Gehalte aus der Aussenwelt, und so ist sein Interesse an den Aussendingen nur natürlich, da er auf sie angewiesen ist. Der Mensch hat demnach auch seine vornehmliche Bestimmung darin, „… auf diese Aussenwelt sozial handelnd und sie wissenschaftlich bewältigend einzuwirken.“[280] Oder in den Worten Voltaires: „Der Mensch ist geboren für die Aktion, wie das Feuer nach oben strebt und der Stein nach unten.“[281]
Auf diesem aufklärerischen philosophisch-anthropologischen Hintergrund ergibt sich die Bedeutung der Erziehung für den Menschen: Voltaire misst der Erziehung grossen Einfluss zu, da der Mensch auf die Aussenwelt hin ausgerichtet ist und von ihr alle Eindrücke empfängt. Auch in moralischer Hinsicht lernen die Menschen alles. „Man lehrt die Menschen alles, Tugend und Glaube.“[282] Es gebe sehr wenige wirklich originelle Menschen, da fast alle unter dem Einfluss von Brauch und Erziehung denken und fühlen würden.[283] Es liessen sich aber trotzdem in der grossen Zahl der Menschen, die durch gleiche oder ähnliche Erziehung geprägt sind, feine individuelle Unterschiede der Gangart und des Verhaltens bemerken.[284] Hager resümiert zu Voltaires aufklärungsphilosophischer Auffassung von der Bedeutung der Erziehung:
„Wir finden bei Voltaire jenes fast unbegrenzte Vertrauen auf die Möglichkeiten der Erziehung gerade auch in moralischer und religiöser Hinsicht, wie es für viele Vertreter der Aufklärungsphilosophie kennzeichnend ist, so für Locke, der ja auch in der Erkenntnislehre für Voltaire anregend und vorbildlich gewesen ist, (…) und später für Helvétius, der ausführt, dass die Erziehung beim Menschen alles zu bewirken vermag, wobei er freilich die normale und gesunde Disposition des Durchschnittsmenschen voraussetzt.“[285]
Dass Voltaire keine angeborenen Ideen annimmt, bedeutet aber keineswegs, dass er einem erzieherischen oder moralischen Relativismus anhängt. Er geht davon aus, dass alle Menschen über die gleichen Grundlagen der Moral verfügen, nämlich über einen Begriff von Recht und Unrecht. Überall wo sich die Menschen zu Gesellschaften zusammengeschlossen hätten, hätten sie auch die elementaren Grundsätze der Moral angewandt, ansonsten eine Gesellschaft gar keinen Bestand gehabt hätte. Voltaire greift dabei auf das Wissen über die Verhaltensweisen und Sitten der verschiedenen Völker zurück, mit denen man sich aufgrund der Berichte von Reisenden in der Aufklärung gerne beschäftigte, um Antworten auf die anthropologischen Fragen zu gewinnen. So schreibt er über die universellen Grundbegriffe der Moral:
„Natura est semper sibi consona; die Natur ist stets sich selber gleich. Das Gesetz der Schwerkraft, das auf ein Gestirn wirkt, wirkt auf alle Gestirne, auf die gesamte Materie; so wirkt auch das Grundgesetz der Moral gleichmässig auf alle bekannten Nationen. Es gibt tausend Unterschiede in den Auslegungen dieses Gesetzes unter tausend Verhältnissen; aber der Grundgedanke besteht unverändert, und dieser Grundgehalt ist die Idee von Recht und Unrecht.“[286]
Der Begriff der Gerechtigkeit sei ein universeller Gedanke; alle Gesellschaften unterschieden Recht von Unrecht. Nur was den Inhalt betrifft, also, was man jeweils als recht oder unrecht ansehe, sei unterschiedlich. Erworben hätten wir die Idee der Gerechtigkeit durch Gefühl und Vernunft. Voltaire betont, dass die Moral dermassen universal sei, dass er alle Philosophen die gleichen Grundsätze der Moral, nämlich Gerechtigkeit und Tugend, lehren sehe, obwohl sie von den Prinzipien der Dinge alle verschiedene Anschauungen hätten.[287] Ein wichtiger Gedanke: Trotz differenter Weltanschauungen sind gemeinsame ethische Grundprinzipien möglich. Nach Hager stützen sich tatsächlich die wichtigen Moralsysteme unseres Kulturkreises, wie sie im Verlauf der Geschichte wirksam gewesen waren oder es noch sind, auf dieselben Grundprinzipien der Moral.[288] Voltaire zählt dazu die Achtung gegenüber den Eltern, das Verbot von Meineid, Verleumdung und Mord und das Gebot, Geliehenes zurückzugeben. Unsere Vernunft ist in der Lage, diesen Begriff der Gerechtigkeit, ohne den keine Gesellschaft bestehen kann, im Verlauf ihrer Entwicklung auszubilden.
Die Heranbildung der menschlichen Vernunft zur Urteilsfähigkeit und zur Einsicht in moralische Sachverhalte erachtet die Aufklärung daher auch als zentrale erzieherische Aufgabe. Erziehung bringe dem Menschen nicht nur Kenntnisse und Fähigkeiten bei, sondern beziehe sich „… gerade auch auf so wichtige Gebiete wie die Sittlichkeit, die Lebensklugheit, aber auch Fragen der Religion (…).“[289] Die Menschen haben wohl grundlegende Anlagen für Sittlichkeit und Vernünftigkeit in sich, diese können sich aber nur entwickeln, sagt Voltaire, wenn durch die Erziehung von erfahreneren Menschen in Kindheit und Jugend die richtigen Massnahmen getroffen worden sind.
Bei Helvétius wird der Glaube an den grundlegenden und tiefgreifenden Einfluss der Erziehung auf den Menschen am deutlichsten. Er sagt:
„Wenn ich nachweisen könnte, dass der Mensch wirklich nur das Produkt seiner Erziehung ist, dann habe ich den Völkern ohne Zweifel eine grosse Wahrheit entdeckt. Sie würden dann nämlich wissen, dass sie das Werkzeug für ihre Grösse und ihre Glückseligkeit in den eigenen Händen haben, und dass es sich nur darum handelt, die Wissenschaft von der Erziehung zu vervollkommnen, um glücklich und mächtig zu werden.“[290]
Der Mensch ist das, was die Erziehung aus ihm macht, denn er hat keine angeborenen Ideen und wird unwissend geboren. Charakterunterschiede sind nach Helvétius Resultate verschiedener Erziehung oder unterschiedlicher Lebensumstände. Zur Erziehung gehören auch die Einwirkungen der Umgebung oder der Einfluss, den die Art der Regierung auf die Menschen ausübt. Talente oder Begabungen lassen sich aus der auf ein Spezialgebiet verwendeten Aufmerksamkeit erklären. Gleiches oder ähnliches Verhalten dagegen entspringt der Ähnlichkeit der Lage etwa bei einer Volksgruppe und demnach aus der Ähnlichkeit der erzieherischen Umgebung. Alles, was den Menschen zum Menschen macht, d.h. seine wichtigsten Qualitäten, seine Bildung und seine Sittlichkeit, welche beide seine menschliche Glückseligkeit ausmachen, gehen nicht auf angeborene individuelle Eigenschaften zurück. Dies war damals eine revolutionäre Feststellung, denn damit wurde es den privilegierten Schichten unmöglich, sich auf einen exklusiven ererbten Anspruch auf Bildung zu berufen, um ihre Position zu bewahren. Es war ja eine der Grundlagen des Aristokratismus, zu behaupten, dass nur eine Minderheit, eine Elite der Besten, aufgrund vererbter natürlicher Anlage, an der menschliche Einwirkung nichts ändern könne, das wahre Menschentum in seiner höchsten Vollendung repräsentiere. Ein grosser Schritt hin zur realen Gleichheit war nun in der Erkenntnis der grossen Bedeutung der Erziehung durch die Aufklärungsdenker gemacht. Das heisst, „… wenn man nur dem Menschen die für seine Menschwerdung unerlässliche pädagogische Betreuung zuteil werden lässt, dann im Grunde genommen alle Menschen, d.h. all jene, welche der Möglichkeit nach wesenhaft zu Menschen berufen sind und ihrem Wesen nach Menschen sind, auch die Vollendung ihrer Menschlichkeit in Wissen und Sittlichkeit erreichen können.“[291] In diesem Sinne wandte sich die „Enzyklopädie“ an alle. Die Aufklärer waren aber auch scharfe Kritiker der Kolonialisierungspolitik der absolutistischen Staaten und setzten sich für die Befreiung der Sklaven ein.
Grossen Wert legt Helvétius deshalb auf das Studium des Menschen und die Entwicklung einer Wissenschaft von der Erziehung. Die Wissenschaft vom Menschen solle sogar zu einem Teil der Staatskunst werden, denn die Politiker könnten erst dann gute Gesetze geben, wenn sie den Menschen kennen würden. „Die Philosophen sollten also immer mehr die Tiefe des menschlichen Gemüts ergründen, um dort alle seine Bewegungsprinzipien zu finden. Der Minister sollte aus diesen Entdeckungen Nutzen ziehen und sie der Zeit, dem Ort und den Umständen gemäss glücklich anwenden.“[292] Vorerst sei indessen sicher, dass man die wahren Grundsätze der Erziehung noch nicht kenne. Die Macht der Erziehung sieht Helvétius aber nicht absolut: „Man bilde sich indessen nicht ein, dass man aus allen Menschen, die überhaupt imstande sind, eine Erziehung zu erhalten, geniale Leute machen kann, zu welchem Grad von Vollkommenheit man auch immer die Erziehung bringen vermag.“[293] Wenn es mit Hilfe der Erziehung gelänge, den Geist der Bürger anzuregen und ihre Gemüter für die Menschlichkeit und ihren Geist der Wahrheit zu öffnen, um schliesslich aus ihnen Leute mit Geist und Verstand zu machen, sei das alles, aber das sei auch schon genug.
Helvétius’ Erziehungsgedanke beruht auf der anthropologischen Konzeption, dass alle Menschen von allgemein guter Konstitution gleiche geistige Anlagen haben. Wie Locke und Voltaire geht er davon aus, dass alle Ideen des Menschen aus der Erfahrung der Sinne entstammen, wobei bei Locke die Reflexion des Bewusstseins auf seine eigenen Operationen darüber hinausgeht.[294] Helvétius schliesst aus seinem Sensualismus, dass das gesamte Denken und der Geist auf dem sinnlichen Empfindungsvermögen und auf dem Gedächtnis beruhen, zusammen mit einer bestimmten körperlichen Organisation des Menschen.
„Gerade darum vermag die Erziehung, d.h. sowohl die direkte pädagogische Einwirkung als auch die Organisation einer für die geistige Entwicklung günstigen Umgebung alles am Menschen, weil der Geist des Menschen alle seine Ideen aus den Sinnen empfängt, weil er mit all seinen Operationen auf der Empfänglichkeit der Sinne und ihrer Organe basiert, und weil auch das Gedächtnis und Urteil letzten Endes nichts als Sinneswahrnehmung (…) sind. Der Geist selbst ist etwas Erworbenes und nichts Angeborenes (wie etwa in der platonischen Anthropologie), und genau aus diesem Grunde vermag die Erziehung nach Helvétius alles über den Menschen.“[295]
Wenn die Erziehung aber einen solchen Einfluss auf das Kind ausübt, ist es die ethische Pflicht der Erzieher, die Erziehung menschlich zu gestalten und dem Zögling die bestmöglichste Erziehung und Bildung zukommen zu lassen und ihn seiner Selbstvervollkommnung und Glückseligkeit zuzuführen. Helvétius meint, dass wir in der mitmenschlichen Beziehung dem anderen gegenüber wohlwollend gesinnt sein sollten, vor allem in der Beziehung zu uns nahestehenden Menschen. Das Studium der menschlichen Natur liefert gemäss Helvétius Erkenntnisse über das, was das Kind braucht, damit es sich zu einem glücklichen Menschen entwickeln kann. Dazu ein Beispiel zur moralischen Erziehung: Der Erzieher muss von der Empfindungsfähigkeit des Kindes ausgehen, um es Mitgefühl mit anderen zu lehren. „Da er (der Mensch, d. V.) ohne Ideen, ohne Laster und ohne Tugenden geboren wird, ist alles, auch die Menschlichkeit, etwas Erworbenes; er verdankt dieses Gefühl seiner Erziehung.“[296] Menschlichkeit lernt das Kind, wenn man es schon von der Wiege an daran gewöhnt, sich mit einem Unglücklichen zu identifizieren. Wenn es diese Gewohnheit angenommen hat, wird es sich auch vom Schicksal der weiteren Menschheit anrühren lassen. Es wird auch gerne einem Unglücklichen zu Hilfe kommen. So verbindet sich die Idee des Glücks in einer guten Erziehung mit der der Wohltätigkeit. Diese wiederum bringt uns Achtung und Ansehen der Mitmenschen ein, ein Vergnügen, nach dem der Mensch als geselliges Wesen natürlicherweise strebt. Helvétius beklagt, dass die moralische Erziehung, die den wichtigsten Teil der Erziehung darstelle, die vernachlässigste sei.[297] Die Gerechtigkeit ist nach seiner Ansicht der „Keim aller Tugenden“. „Weil es nämlich von dem Augenblick an, in dem sich die Menschen, um ihr Glück zu sichern, zu einer Gesellschaft zusammengeschlossen haben, gerecht ist, dass jeder durch seine Güte, seine Menschlichkeit und seine Fähigkeiten, so viel wie er kann, zum Glück eben dieser Gesellschaft beiträgt.“[298] Die Erziehung soll demnach im Kinde vor allem die Gefühle der Mitmenschlichkeit und Güte wecken – Gefühle, die ihm selber wohltun und es mit anderen Menschen mitfühlen lassen. Auf dieser Gefühlsgrundlage wird es auch als Erwachsener gerne und spontan helfen und mit Tatkraft an den Belangen der Gemeinschaft mitarbeiten. Oben geschildertes Beispiel ist ein Versuch Helvétius’, wie man eine solche Erziehung in der Praxis aufbauen könnte.
Auch D’Holbach begründet die „menschliche oder natürliche Moral“ aus der geselligen Natur des Menschen und seiner Lebensweise im sozialen Verband. Die Moral ist aus den ständigen Beziehungen zu schöpfen, durch welche die Mitglieder einer Gesellschaft untereinander verbunden sind. „… es ist für jeden vernünftigen Menschen völlig klar und bewiesen, dass in Gesellschaft lebende Wesen das Verlangen nach Gerechtigkeit haben, dass sie die Wohltätigkeiten schätzen müssen, dass sie dazu bestimmt sind, einander zu helfen, mit einem Wort, dass sie gezwungen sind, tugendhaft und der Gesellschaft nützlich zu sein, um in ihr glücklich und zufrieden zu leben.“[299]
Obwohl dies eher rationalistisch anmutet, bezieht D’Holbach auch das Gefühlsmässige beim Menschen mit ein. Ähnlich wie Aristoteles fordert er, dass der Mensch seine Leidenschaften in eine sozial nützliche Richtung lenke. Man solle „die Leidenschaften der Menschen im Sinne des öffentlichen Wohls lenken“[300] und sie so zum Glück der Gesellschaft beitragen lassen, statt zu versuchen sie zu vernichten, denn sie gehörten zum Wesen der menschlichen Natur.
Die Erziehung muss – weil der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist – die Menschen lehren, die Beziehungen zu erkennen, die zwischen ihnen bestehen und die Pflichten, die sich aus diesen Beziehungen ergeben. Die Erziehungsbemühungen sollen von der Regierung Unterstützung erhalten, indem ihre moralischen Inhalte mit Hilfe von Gesetzen, Belohnungen und Strafen verstärkt werden.[301]
Derjenige unter den Aufklärungsdenkern, welcher eine ganze Erziehungskonzeption auf dem Hintergrund bestimmter anthropologischer Grundannahmen durchdacht und systematisch aufgebaut hatte, war Jean-Jacques Rousseau. Er hat sich bezüglich der Möglichkeiten der erzieherischen Einwirkung auf den Zögling skeptischer gezeigt als z. B. Helvétius, indem er der natürlichen Eigenentwicklung des Kindes eine dominierende Rolle im Entwicklungsprozess zumass. In seinem berühmten Erziehungsroman „Emile oder Über die Erziehung“ entwirft er ein Konzept einer individuellen und naturgemässen Erziehung eines vor der (entarteten) Gesellschaft geschützten Kindes und Jugendlichen. Das Werk war „… der Rettung des einzelnen Menschen vor kultureller und zivilisatorischer Depravation und seiner Emporbildung zu wahrer Sittlichkeit und Humanität gewidmet.“[302] Drei Faktoren bewirken bei Rousseau die Erziehung des Emile: die Natur (natürliche Eigenentwicklung der inneren Organe und Fähigkeiten), die Menschen (direkte pädagogische Einflussnahme) und die Dinge (der Erwerb eigener Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit der natürlichen Aussenwelt). Die pädagogische Einwirkung durch den Erzieher beschränkt sich in den Kindheitsjahren auf die indirekte oder „negative Erziehung“, welche die natürliche Eigenentwicklung des Zöglings möglichst unangetastet sich entfalten lässt. Die Erziehung hat nach Rousseau die individuell bestimmte Grundnatur jedes Menschen zu respektieren und in ihrer Eigengesetzlichkeit nachzuvollziehen: „Das Ziel der Erziehung? Es ist das Ziel der Natur selber (…).“[303] Und:
„Lasst die Kindheit im Kinde reifen! (…) Wie nützlich diese Methode ist, zeigt sich bei den besonderen Anlagen des Kindes, die man genau kennen muss, um zu wissen, welche sittliche Lebensordnung ihm angemessen ist. (…) Wer vorsichtig ist, belauscht demnach die Natur, beobachtet genau den Zögling, ehe er ihm das erste Wort sagt. Erlaubt seinem Charakterkeim, sich frei zu zeigen! Legt ihm keinerlei Zwang auf, um ihn besser kennenzulernen!“[304]
Die direkte menschliche Einwirkung im Erziehungsprozess tritt in einer ersten entscheidenden Phase des Bildungsganges zurück zugunsten der Eigenentwicklung des Zöglings. Trotzdem erkennt man hinter der für Emile ‘vorbereiteten’ Umgebung und den im voraus arrangierten pädagogisch anregenden Situationen deutlich die Hand des lenkenden Erziehers. Der ganze Erziehungsgang ist sorgfältig durchdacht und geplant, jede Lernsituation verfolgt ein bestimmtes pädagogisches Ziel.
Neu und fortschrittlich war an Rousseaus Erziehungskonzept, dass er der Lebensphase der Kindheit ihren Eigenwert zuerkannte und entwicklungspsychologische Überlegungen anstellte. Rousseau forderte zum Studium der Kindheit auf, zu beobachten, was die kindliche Eigenart eigentlich ausmacht und das „Wesen“ Kind kennenzulernen.
„Man kennt die Kindheit nicht: mit den falschen Vorstellungen, die man von ihr hat, verirrt man sich um so mehr, je weiter man geht. Die Klügsten bedenken nur, was Erwachsene wissen müssen, aber nicht, was Kinder aufzunehmen imstande sind. Sie suchen immer nur den Mann im Kind, ohne daran zu denken, was er vor seinem Mannsein war. Gerade das habe ich am eingehendsten studiert, damit man aus meinen Beobachtungen auch dann noch lernen kann, wenn meine Methode phantastisch und falsch wäre. Vielleicht habe ich schlecht erfasst, was nötig ist; aber das Wesen, auf das wir einwirken müssen, glaube ich genau gesehen zu haben. Fangt also damit an, eure Schüler besser zu studieren, denn ihr kennt sie bestimmt nicht.“[305]
Hier wird erstmals, stellt Hager fest, vollumfänglich die Eigenständigkeit des kindlichen Lebensalters von der Erziehung berücksichtigt. Das Kind wird nicht nur auf das Erwachsensein vorbereitet, sondern zum „selbständigen Genuss der Freude seines kindlichen Daseins“[306] geführt. Die verschiedenen Entwicklungsphasen in Kindheit und Jugendalter beinhalten ihre eigenen Charakteristika, Aufgaben und Lernziele. Verpasstes ist später schwer nachzuholen, was durch die entwicklungspsychologische Forschung des 20. Jahrhunderts bestätigt worden ist. So kann ein Zehnjähriger, der noch nicht lesen gelernt hat, dies nur mit grösster Anstrengung nachholen und braucht bei weitem länger dazu als ein Erstklässler. Wenn aber ein Zwölfjähriger noch nicht sprechen kann, ist die Chance, dies zu lernen vorbei, wie es das Beispiel des „Wildkindes“ Victor von Aveyron gezeigt hat. Denn ausser der mangelnden menschlichen Beziehung, die es zur Menschwerdung braucht, fehlt ihm auch die notwendige neurophysiologische Entwicklung der Sprachzentren des Gehirns, die sich durch den Sprachvorgang in der frühen Kindheit ergibt.
Zurück zu Rousseau: Trotz der Betonung der natürlichen Eigenentwicklung des Zöglings in den ersten Jahren ist die Erziehung durch den Erzieher bei Rousseau von entscheidender Bedeutung. Der Jüngling insbesondere wird durch die Erziehung direkt angesprochen und betreut. Ihm wird die Lehre der Wahrheit in philosophischer und religiöser Hinsicht zuteil und die Gerechtigkeit aufgezeigt; er wird zur Sittlichkeit erzogen – nach Rousseau die eigentliche Erziehung.
Aufklärerisch ist an den philosophisch-anthropologischen Grundannahmen von Rousseaus Erziehungskonzept, dass das, was das Kind in der Erziehung braucht, der Natur des Menschen entsprechen muss. Im Menschen sind allgemeinmenschliche Fähigkeiten wie die Selbstliebe oder die Vervollkommnungsfähigkeit angelegt, und er entwickelt im Laufe seiner Kindheit individuelle Eigenarten. Mit seiner Annahme vererbter Anlagen, die sich in der Kindheit „natürlich“ entfalten, wendet sich Rousseau hingegen von der sensualistisch-materialistisch geprägten Aufklärung ab. Die Erziehung ist bei Rousseau zwar auch von grosser Bedeutung, kann aber gerade in den ersten Kindheitsjahren nicht so viel bewirken gegenüber der Eigenentwicklung der natürlichen Anlagen. Rousseau ist einerseits auch Sensualist wie viele französische Aufklärer, nimmt aber andererseits das intellektuelle Urteil des Menschen von der Determinierung durch die Sinnlichkeit aus.
„Das intellektuelle Urteil ist selbst Ausdruck der unsterblichen seelisch-geistigen Grundnatur des Menschen, welche mit Selbstliebe und Mitleid, mit moralischem Gefühl (dem Gewissen) und dem Willen eine selbständige in sich ruhende Einheit bildet, die nicht einfach von der Erziehung als einem gleichsam technischen Machen her bewirkt und aufgebaut werden kann, sondern vielmehr durch sie noch als unabhängig von jeder bloss äusserlichen erzieherischen Einwirkung bestehend vorausgesetzt werden muss.“[307]
Überwinder der Aufklärung ist Rousseau auch insofern, als er für die Erziehung des Gefühls und des Herzens im Jugendalter wieder auf die Religion zurückgreift, allerdings auf eine „natürliche“ Religion, die die Basis aller Sittlichkeit ist und in einem vernunftmässig begründeten Glauben an ein alles aufs Beste lenkendes Wesen dem Menschen den letzten Halt gibt. Rousseau lässt aber seinen Vicaire Savoyard im „Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars“[308] auch immer wieder
„… betonen, dass das sittliche und religiöse Schicksal des Menschen in seine eigene Hand gelegt ist, dass er sich über seine höhere geistige Natur zu den ewigen Wahrheiten aufschwingen kann, dass er in seinem Gewissen eine angeborene und untrügliche moralische Instanz in sich trägt und dass er sich mit seiner allgemeinmenschlichen Religion der Vernunft und des Herzens über Sektierertum sowie religiösen Fanatismus und kirchliche Unduldsamkeit noch erheben kann.“[309]
Der Mensch als freies Wesen kann sein Leben selber gestalten, wobei er in der Stimme seines Gewissen einen sicheren Führer hat, schreibt Rousseau.
Konsequenzen der aufklärerischen philosophisch-anthropologischen Grundannahmen für die Pädagogik
Welches sind nun die Konsequenzen für die Pädagogik, die sich aus den philosophisch-anthropologischen Grundannahmen der Aufklärungsphilosophie ergeben?
Pädagogisch fruchtbar wurde die Grundüberzeugung der Aufklärung, nämlich dass der Mensch erziehungsbedürftig und vernunftfähig ist. Die „eine, mit sich identische und in allen menschlichen Subjekten ansprechbare Vernunft“[310] ist die Voraussetzung dafür, um Erziehung und Unterricht auf eine rationale und allgemeingültige Grundlage zu stellen. Die Ansprechbarkeit des Kindes in seiner Vernunft und in seinem Gefühl ermöglicht die pädagogische Einflussnahme. Die Einsicht über die universelle menschliche Natur zog die Einsicht in die Eigenart des „Wesens“ Kind mit seinen kindlichen Bedürfnissen nach sich. Jedes Kind wiederum ist eine einmalige Individualität, welche im persönlichen Fühlen und Denken und in den je eigenen Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt. So liegt eine tägliche Aufgabe des Lehrers darin, zu versuchen, jedes einzelne Kind zu verstehen, sich einzufühlen und gleichzeitig auch die Gemeinsamkeiten der kindlichen Eigenart und des Allgemeinmenschlichen in der Schulklasse zur Geltung zu bringen.
Die von einigen Aufklärungsdenkern, z.B. D’Holbach, hervorgehobene gesellschaftliche Lebensweise des Menschen, seine soziale Natur, muss von der Pädagogik berücksichtigt werden, wenn der Mensch zur Vollmenschlichkeit herangebildet werden soll. Mitmenschliche Gefühle können in Familie und Schule ausgebildet und gepflegt werden: durch vielfältiges Erleben der Verbundenheit mit anderen, durch gegenseitige Hilfe, durch versöhnendes Gespräch statt Streit etc.
Die menschliche Natur gibt die Vervollkommnungsfähigkeit des einzelnen Menschen frei: darin ist der pädagogische Optimismus begründet. Die „perfectibilité“ wird als ein Grundzug des menschlichen Wesens angesehen, z.B. bei Rousseau. Auch hieraus erwächst eine hohe ethische Aufgabe für den Erzieher: das Kind nach seinen besten Kräften immer wieder zu fördern, damit es alle seine Kräfte und Fähigkeiten gut ausbilden kann. Gerade auch die moralische Vervollkommnungsfähigkeit des einzelnen Menschen kann zum Fortschritt der Gesellschaft beitragen, da die Moral in Gesellschaft und Politik neben dem wissenschaftlichen Fortschritt bis heute vernachlässigt worden ist. Es war dies schon damals ein bedeutender Kritikpunkt der Aufklärungsphilosophen wie Voltaire oder Rousseau.
Die Erziehungsbedürftigkeit des Kindes und die natürliche Gleichheit der Menschen begründet die Notwendigkeit eines allgemeinen öffentlichen Unterrichts, um diese Gleichheit zu verwirklichen und alle Menschen durch die Erlangung geistiger Unabhängigkeit mittels Erziehung und Unterricht frei zu machen. Antoine de Condorcets Plan einer „Instruction publique“, den er für das revolutionäre Frankreich ausarbeitete, der „Bericht über die allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichts“[311] resultierte aus den aufklärerischen Gedanken der Gleichheit und Freiheit aller Menschen. Der Unterrichtsplan orientiert sich an der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und basiert auf heute noch gültigen naturrechtlichen Grundlagen, wie dem Menschenrecht auf Bildung und Erziehung.
Erziehung zur Mitmenschlichkeit bei Pestalozzi
Zu Pestalozzis Werk und Wirken
Der grosse Schweizer Pädagoge Johann Heinrich Pestalozzi stellte sein Leben ganz in den Dienst der Verbesserung des Elends der armen Bevölkerung. Er nahm sich der Erziehung ihrer Kinder an, um sie nicht nur körperlich zu versorgen, sondern sie auch zu wahrem Menschentum zu bilden.[312] Pestalozzi gründete eine Armenanstalt, leitete später ein Waisenhaus in Stans mit gegen 80 Waisen- und Bettelkindern und wirkte als Lehrer und Seminarleiter an der Lehrerausbildungsstätte in Yverdon, die Weltberühmtheit erlangte. In seinen Schriften beschäftigte er sich mit den vielen Fragen, die sich ihm aus seinem pädagogischen Wirken heraus stellten, und die ihn immer wieder auf die grundlegende Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen verwiesen. In der pädagogischen Wirklichkeit stellte sich Pestalozzi als mitfühlendem und sein Handeln reflektierendem Erzieher die Frage ‘Was ist der Mensch?’ jeden Tag aufs neue. Der Mensch, das Wesen des Menschen und seine moralische Verbesserung durch Erziehung und Bildung bildete das Zentrum von Pestalozzis Überlegungen. In zwei anthropologisch ausgerichteten Werken, der „Abendstunde eines Einsiedlers“ und „Meine Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“ beschäftigte er sich mit der Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen. Die „Nachforschungen“ gelten als Pestalozzis philosophisches Hauptwerk, in den Jahren 1794 bis 1797 entstanden. Seine Schriften kreisten immer auch um den politischen Zusammenhang seiner Zeit, geprägt von der Französischen Revolution und ihren Unruhen und den Fragen nach Verfassung und Demokratie. So war es Pestalozzi ein grosses Anliegen, zur Bildung des einzelnen Menschen zum sittlich verantwortungsvollen Mitbürger in einer Demokratie beizutragen. Sein Herz schlug für die benachteiligten Schichten der Bevölkerung, denen es aus Armut und geistig-moralischer Verwahrlosung herauszuhelfen galt. Pestalozzi versuchte, durch Erziehung zur Selbsthilfe den Einzelnen zu befähigen, sich eine ökonomische und berufliche Existenzgrundlage aufzubauen. So brachte er den Kindern neben dem allgemeinen Wissen auch ganz praktische Fertigkeiten des täglichen Lebens bei und legte grossen Wert auf die Berufsbildung im Jugendalter.
Die Lösung der gesellschaftlichen Frage geht bei Pestalozzi im Kern vom Individuum aus, das durch Bildung und Erziehung zum verantwortungsvollen Mitbürger und zu echtem Menschentum emporgebildet werden soll, um dann im Staat einen positiven Beitrag leisten zu können. „Freiheit und Gleichheit als Resultate eines theoretischen Kalküls erschienen ihm hohl; sie mussten vielmehr im Leben des Einzelnen konkret werden.“[313] Pestalozzi setzte sich aber durchaus auch für wirtschaftliche Reformen ein, die das Los der Bedrückten erleichtern sollten. Den Weg zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse sah er aber nicht vom Staat her, sondern durch die Erziehung und Bildung des Individuums zu sittlicher Veredelung, denn Staat und Gesellschaft bestehen aus den einzelnen Bürgern. Pestalozzi glaubte nicht wie Rousseau, dass das Gesamtniveau des Menschseins in ethischer Hinsicht durch eine ideale Verfassung und einen gerechten Gesellschaftsvertrag gehoben werden könne.[314] So geht es ihm nie um die Propagierung einer bestimmten Staats- oder Gesellschaftsform. Gesellschaft hiess nach Pestalozzi noch lange nicht gelebte Gemeinschaft: ein gesellschaftlicher Zustand ist noch kein sittlicher Zustand.[315] „Allein vom sittlichen Willen des einzelnen Menschen, von der Bejahung des Sittengesetzes durch den einzelnen Menschen aus, ist eine aktive Durchdringung des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen mit Sittlichkeit möglich.“[316] Aufgabe des Staates und seiner Gesetze ist es nach Pestalozzi, den Rahmen zu schaffen und dafür zu sorgen, dass Kultur und Bildung entfaltet werden, und jeder einzelne zur naturgemässen Entwicklung seiner Humanität gefördert werde. Der menschlichen Natur zu wahrer, harmonischer Vollendung zu verhelfen, das ist aber das eigentliche Werk der Erziehung: „Es ist für den sittlich, geistig und bürgerlich gesunkenen Weltteil keine Rettung möglich als durch die Erziehung, als durch die Bildung zur Menschlichkeit, als durch die Menschenbildung!“[317]
In obigen allgemeinen Ausführungen zu Pestalozzis Werk und Wirken, die keinesfalls Einblick in sein gesamtes, reichhaltiges Werk geben konnten, scheint seine anthropologische Konzeption im Ansatz durch. Nach einer kurzen Zusammenfassung seines Menschenbildes werden wir uns vor allem mit zwei wichtigen Themen aus Pestalozzis Überlegungen beschäftigen, die aus seiner Verbindung mit dem aufklärerischen Gedankengut erwachsen sind, aber in gewisser Hinsicht über die Aufklärung hinausweisen. Es handelt sich um Pestalozzis Betonung der emotionalen Dimension im menschlichen Seelenleben, die auch in der Erziehung des Kindes angesprochen werden soll. Pestalozzi ist dadurch ein wertvoller Beitrag zum Menschenbild der Neuzeit gelungen, dass er die gefühlsmässige Dimension beim Menschen in die Diskussion einbringt und für die erzieherische Praxis fruchtbar macht. Die mitmenschliche Beziehung, in der das Gefühlsleben des Menschen zum Tragen kommt, gewinnt bei Pestalozzi eine grundlegende Bedeutung für die Erziehung. Davon ausgehend legt Pestalozzi sein Augenmerk auf den Verlauf der frühkindlichen Mutter-Kind-Beziehung und betont, dass diese die Grundlage für die weitere Entwicklung des Kindes bildet. Schon in diesen ersten Lebensjahren wird der Grundstein für die Sittlichkeit gelegt: in der Gemütsbildung des Kleinkindes. Damit ist Pestalozzi seinen Zeitgenossen weit voraus: Er hat die entwicklungspsychologischen Erkenntnisse über die Mutter-Kind-Beziehung im Säuglingsalter, z.B. von René Spitz und John Bowlby, schon vorweggenommen. Heinrich Roth, ein Herausgeber von Pestalozzis Schriften, schreibt dazu:
„Über die grundlegende Bedeutung der Kleinkind- und Vorschul-Erziehung wird heute viel geredet und geschrieben. Was aber längst Erkenntnis ist, bleibt in weiten Kreisen unserer Gesellschaft unbeachtet. So kommt es, dass die ersten Lebensjahre für ungezählte Kinder in allen Gesellschaftsschichten verlorene Jahre sind, ein Chancen-Verlust, der später schwerlich, wenn überhaupt wieder gutzumachen ist.
Wer trägt die Verantwortung? Aus welchen Händen soll alles das kommen, was unsere Jugend von den ersten Lebensjahren an zu einem gesunden Wachstum und zur menschenwürdigen, vollen Entfaltung ihrer Anlagen und ihrer Mitmenschlichkeit nötig hat?
Eindringlich hebt Pestalozzi die entscheidende Rolle der Mutter in der Erziehung des Kindes hervor (…). Bittend und beschwörend wendet er sich an die Mutter und zeigt ihr bis ins einzelne das Grosse ihrer täglichen Aufgabe als Beschützerin und Erzieherin – und als erste Lehrerin ihrer Kinder.“[318]
In seinen „Briefen über die Vorschul-Erziehung“ wendet sich Pestalozzi an die Mütter, um ihnen in ihrer anspruchsvollen Aufgabe behilflich zu sein: „Die grosse Sache, mit der wir uns hier befassen, ist die seelische Entwicklung des Kindes, und das grosse Mittel ist das Wirken der Mütter.“[319]
Pestalozzis anthropologische Konzeption
Nun aber zuerst zu Pestalozzis philosophisch-anthropologischen Grundannahmen über das Wesen des Menschen, wie er sie in seinen „Nachforschungen“ entfaltet hat:
Pestalozzi unterscheidet drei verschiedene Zustände in der Entwicklung der Menschheit, die zugleich drei Grundzüge im Wesen des Menschen darstellen: Den Naturzustand, den gesellschaftlichen Zustand und den sittlichen Zustand. Hierbei knüpft er an die Denker der Aufklärung an, insbesondere an Rousseau, die versuchten, die Natur des Menschen aus der vorgestellten menschheitsgeschichtlichen Entwicklung zu ergründen. Im menschlichen Seelenleben wirken nach Pestalozzi diese drei Zustände zusammen und werden nur zu ihrer klaren Erfassung voneinander getrennt beschrieben. Der Naturzustand ist analog zur „tierischen Natur“ des Menschen, die seine Triebe und Sinnlichkeit beinhaltet. Im Naturzustand ist der Mensch das Werk der Natur. Während in „Lienhard und Gertrud“ zum Teil dieser tierische Teil des Menschen als ein verdorbener dargestellt wird, vertritt Pestalozzi in den „Nachforschungen“ auch den Standpunkt, dass der Mensch ursprünglich friedlich und wohlwollend war. Im gesellschaftlichen Zustand sind die zwischenmenschlichen Beziehungen im Unterschied zum Naturzustand durch eine Rechtsordnung geregelt, welche Gewalt und Willkür des Kampfes der Menschen gegeneinander einschränkt. Der gesellschaftliche Zustand ist aber immer noch eine Fortsetzung des Krieges aller gegen alle mit anderen Mitteln. Der sittliche Zustand, die sittliche Durchbildung von Individuum und Gesellschaft, geht allein vom sittlichen Willen des Individuums aus. Der einzelne Mensch hat es in der Hand, sich selber zu veredeln, indem er ausgehend von seinen nächsten Beziehungen in echter Hingabe an den andern tätig wird.
„Unser Geschlecht bildet sich wesentlich nur von Angesicht zu Angesicht, nur von Herz zu Herz menschlich. Es bildet sich wesentlich nur in engen, kleinen, sich allmählich in Anmut und Liebe, in Sicherheit und Treue ausdehnenden Kreisen. Die Bildung zur Menschlichkeit, die Menschenbildung und alle ihre Mittel sind in ihrem Ursprung und in ihrem Wesen ewig die Sache des Individuums und solcher Einrichtungen, die sich eng und nahe an dasselbe, an sein Herz und an seinen Geist anschliessen.“[320]
Die mitmenschliche Beziehung, d.h. die Art und Weise wie schon die nächsten und engsten Beziehungen gestaltet werden, wie z.B. die Mutter mit ihrem Kind umgeht, ist der Ausgangspunkt der sittlichen Veredelung jedes einzelnen und daraus hervorgehend des Menschengeschlechts. In Hagers präziser Formulierung wird deutlich, dass der Mensch erst auf dem Weg zur Sittlichkeit auch zu wahrer Freiheit im Sinne seiner Menschenwürde gelangen kann:
„Die sittliche Kraft im einzelnen Menschen, alle Dinge dieser Welt gänzlich nur im Gesichtspunkt, was sie zu seiner inneren Veredelung beitragen, vorzustellen, führt den Menschen auf den Weg zur wahren Freiheit. Allein von dieser radikal unabhängigen und durch tierische Natur und gesellschaftlichen Zustand in keiner Weise determinierten Sphäre aus ist eine Durchdringung des Staates mit Sittlichkeit möglich. Sittliche Volkskultur entsteht nach Pestalozzi nicht durch gesellschaftliche und staatliche Einrichtungen, sondern in engen Kreisen, durch die menschliche Begegnung zwischen Individuen, wie überhaupt Bildung zur Sittlichkeit und Menschlichkeit Sache des Individuums ist.“[321]
Das oberste Ziel aller Erziehung und Bildung bei Pestalozzi ist es demnach, das Kind zur sittlichen Persönlichkeit heranzubilden, wobei auch die Religion miteinbezogen wird: „Das Christentum ist für Pestalozzi ganz Sittlichkeit (…).“[322]
Gefühlsbildung und die Mutter-Kind-Beziehung
Wie sieht nun nach Pestalozzi der Weg zur Gefühlsbildung des Menschen aus?
Wie oben ausgeführt, misst er dabei der Mutter und ihrer Aufgabe der Kindererziehung grossen Einfluss zu. Anfang aller Menschenbildung ist die Gemütsbildung, denn
„Am Anfang seines menschlichen Seins steht sein Gemüt. In ihm liegt der heilige Kern der reinen Entfaltung aller sittlichen, geistigen und physischen Kräfte. (…) Die Bedeutung dieses Anfangszustandes ist unermesslich. Der Mensch muss sich nicht tierisch lebendig, er muss sich menschlich beruhigt entfalten. Und diese Gemütsruhe ist die erste Grundlage der naturgemässen Entfaltung aller unserer Kräfte. (…) Das Eigentliche seines Wesens fordert das Stillegen seiner tierischen Kräfte, damit das Menschliche seines Seins sich ungestört entfalte. Dadurch wird das Bedürfnis nach einem mütterlichen Einfluss, einer mütterlichen Sorgfalt und Kunst auf die Entfaltung der menschlichen Kräfte entschieden ins wahre Licht gesetzt.“[323]
Pestalozzi fordert eine Erziehung, die der Natur des Menschen entspricht. So macht er sich immer wieder über die „Naturgemässheit in der Erziehung“ Gedanken. „Das Wesen der menschlichen Natur, woraus die Form der Entwicklungsweise quillt, deren der Mensch bedarf, ist unerschütterlich und ewig. Sie ist das ewige und unerschütterliche Fundament der Erziehungskunst.“[324] Das Menschenkind braucht eine Betreuung, die sich ganz anders gestaltet als diejenige eines Tieres. Seine Gemütsbildung erfordert zuallererst die mütterliche Liebe und ihre ruhige Zuwendung. „Die Mutterliebe, die mütterliche Zuneigung ist die mächtigste Kraft in der frühen Erziehung.“[325] Pestalozzi nennt die mütterliche Betreuung des Kleinkindes Wohnstubenerziehung. Die Mutter-Kind-Beziehung wird später ausgeweitet zum Vater und den Geschwistern, zu Gott, den Freunden und Bekannten. Immer wieder sucht Pestalozzi den Müttern ans Herz zu legen, dass sie vor der grössten und schönsten Aufgabe stehen. „Erziehung ist die höchste und grösste Aufgabe des Menschen. Sie ist das Höchste, weil es dabei um die Würde des Menschen geht. Zur Menschenwürde führen kann aber nur, wer selbst innere Würde hat.“[326] Die Eltern müssen immer auch an sich selber arbeiten.
Aus der Dankbarkeit des Kindes seiner Mutter und ihrer Fürsorge gegenüber entsteht das erste Gefühl der Liebe beim Kind. Die kindlichen Grundkräfte der Liebe und des Vertrauens müssen von der Mutter immer von neuem ermutigt und gestärkt werden, sonst lassen sie wieder nach. Die Mutter wird auch darauf achten, dass sie sich von ihrer Zuwendung zum Kind nicht durch schlechte Laune oder das Gefühl der Belästigung ablenken lässt, mit anderen Worten, dass sie ihre eigenen Stimmungen nicht am Kind auslässt.
Gefühlsmässig verankerte Sittlichkeit
Die moralische Erziehung hat ihre Grundlage in der Gemütsbildung des Kindes, schon bevor es verstandesmässige Einsicht haben kann, denn der Verstand entwickelt sich erst später. Dies ist eine wichtige psychologische Erkenntnis Pestalozzis, die über eine gewisse Tendenz der Aufklärung zum Rationalismus hinausgeht.
„So gewiss es ist, dass die Sittlichkeit eben sowohl eine reine, geläuterte Einsicht des Geistes als ein durch die Liebe erhobenes Herz zu ihrem Fundament hat, so gewiss ist ebenso, dass die Liebe als Entfaltungsmittel der Sittlichkeit beim Mutterkind der Einsicht vorhergeht und sich in ihm lange vor ihr entfaltet. – Es ist gewiss, die Sittlichkeit entkeimt aus der unentfalteten sinnlichen Liebe.“ [327]
„Von allen menschlichen Neigungen verdienen ohne Zweifel jene am meisten Ermutigung, die das Gemüt beleben und im Herzen einen edlen Eifer erzeugen für alles was wahrhaft vortrefflich ist. Diese Erwägung ist von hoher Wichtigkeit für die sittliche Erziehung. Sie sollte die Grundlage für unsern Erziehungsplan sein.“[328] Alle Anlagen des Kindes sollen harmonisch entwickelt werden, ungeachtet der sozialen Schicht, der ein Kind entstammt. „Jedes Kind ist mit gemeinsamen menschlichen Anlagen ausgestattet, die allen gemeinsam sind und die Grundlage aller menschlichen Kräfte bilden.“[329] Niemand hat das Recht, dem Kind die Gelegenheit vorzuenthalten, alle seine Anlagen zu entwickeln und es in eine bestimmte berufliche Richtung zu drängen. Hierbei geht es Pestalozzi um die Anerkennung eines Menschenrechts:
„Dieses umfasst die rechtmässigen Ansprüche aller Gesellschaftsschichten auf eine allgemeine Verbreitung brauchbarer Kenntnisse, auf eine sorgfältige Entwicklung des Verstandes und auf eine verständnisvolle Pflege der körperlichen, der geistigen und der sittlichen Anlagen. Man spricht umsonst von Freiheit, wo der Mensch nervlich erschöpft ist, wo sein Verstand nicht geübt und seine Urteilskraft vernachlässigt ist, vor allem aber da, wo sich der Mensch seiner Rechte und Pflichten als sittliches Wesen nicht bewusst ist.“[330]
Nur nebenbei bemerkt wird heute Pestalozzis Pädagogik oft unter die Schlagworte ‘Kopf, Herz und Hand’ subsumiert. Wer weiss aber, dass Pestalozzi mit „Herz“ die Sittlichkeit meint, und mit der Förderung der Kräfte des Herzens die sittliche Bildung gemeint ist?
Interessant ist, dass Pestalozzi dem psychischen Befinden der Menschen seiner Zeit viel Aufmerksamkeit schenkt. In „Lienhard und Gertrud“ schildert er einfühlsam wie das soziale Elend in den Wohnstuben, in den Familien, sich auch auf den gefühlsmässigen Zustand der Menschen auswirkt, und wie sie unter ihrer geistig-seelischen Verrohung und Verwahrlosung leiden. Familien werden zerstört, z.B. durch den Alkohol und seine Folgen für die menschlichen Beziehungen. Dem möchte Pestalozzi abhelfen – im Bewusstsein, dass die Erziehungskunst noch einer gewaltigen Entwicklung bedarf. „Betrachtet man den einzelnen Menschen, so regt sich der Wunsch, die Erziehung möge etwas zu seinem Lebensglück beitragen. Das Gefühl des Glücks entsteht nicht durch äussere Umstände. Es ist ein Gemütszustand, das Erlebnis der Übereinstimmung mit sich selbst und mit der Umwelt.“ [331]
Innere und äussere Freiheit bedingen sich gegenseitig. Die Erziehung und Bildung des Volkes zu beruflicher Tüchtigkeit und gefühlsmässig verankerter Sittlichkeit muss auch durch staatliche Massnahmen gefördert werden. Die Lehrer bedürfen einer sorgfältigen Ausbildung für ihre schwierige Aufgabe der Menschenbildung.
„Das häusliche Leben muss aus seiner inneren Verödung befreit und in seiner Kraft und Reinheit wieder hergestellt, in seinem Recht wieder anerkannt werden. Überdies: Die Schulen des Volkes müssen zu gereiften und wirksamen Bildungsstätten erhoben werden. Die Menschenbildung, die Erziehungskunst muss der Natur näher gebracht und auf dem Weg der elementarischen Förderung zu einer wissenschaftlich begründeten Kunst ausgestaltet werden.“[332]
Die grosse Bedeutung des Lehrers und Erziehers bei Pestalozzi
In seinem Stanser Brief erzählt Pestalozzi von seiner Arbeit mit den körperlich und seelisch verelendeten und vernachlässigten Kindern, der er sich mit allen seinen Kräften als wahrhafter Pädagoge hingab. Indem er darauf vertraute, dass in jedem Kind ein positiver Ansatz steckte, den es zu entdecken und zu fördern galt, liess er sich vom elenden Zustand der Kinder nicht entmutigen. Mit unendlicher Geduld, mit Güte und Freundlichkeit gewann er die Herzen der Kinder für sich und steckte sie mit seiner Begeisterung an.
„Ich vertraute auf die Kräfte der menschlichen Natur, die Gott auch in die ärmsten und vernachlässigsten Kinder gelegt hat; denn frühere Erfahrung hatte mich schon lange belehrt, dass diese Natur mitten im Schlamm der Rohheit, der Verwilderung und der Zerrüttung die herrlichsten Anlagen und Fähigkeiten entfaltet, und ich sah diese lebendige Naturkraft auch bei meinen Kindern, mitten in ihrer Rohheit, allenthalben hervorbrechen.“ [333]
Pestalozzi beschreibt in beredten Worten sein Engagement für seine Schutzbefohlenen, das erst geraume Zeit später Früchte trug, da diese verwilderten und misstrauischen Kinder nicht so leicht zu einem Menschen Zutrauen fassen konnten.
„Ich war von Morgen bis Abend sozusagen allein in ihrer Mitte. Alles, was ihnen an Leib und Seele Gutes geschah, ging aus meiner Hand. Jede Hilfe, jede Handbietung in der Not, jede Lehre, die sie erhielten, ging unmittelbar von mir aus. Meine Hand lag in ihrer Hand, mein Auge ruhte auf ihrem Auge. Meine Tränen flossen mit den ihrigen, und mein Lächeln begleitete das ihrige. Sie waren ausser der Welt, ausser Stans; sie waren bei mir, und ich war bei ihnen. Ihre Suppe war die meinige, ihr Trank war der meinige. (…) Waren sie gesund, so stand ich in ihrer Mitte; waren sie krank, so war ich an ihrer Seite. Ich schlief in ihrer Mitte. Ich war am Abend der letzte, der ins Bett ging, und am Morgen der erste, der aufstand.“ [334]
Die Stelle tönt fast etwas poetisch, vielleicht auch etwas gefühlsduselig für heutige Leser. Schön kommt dennoch zum Ausdruck, dass es die Persönlichkeit des Lehrers und Erziehers ist, die wirkt. Pestalozzi lebt mit seinem ganzen Gefühl mit diesen Kindern mit und hilft ihnen weiter, wo er kann. Bevor er mit Lehren beginnt, will er eine Gefühlsstimmung in den Kindern wecken, die sie für die Regeln und die Ordnung des Zusammenlebens überhaupt erst aufmerksam und geneigt macht. Pestalozzi schildert hier am praktischen Beispiel, wie er die Grundlage zur Sittlichkeit legt. Es kam zuerst darauf an,
„… die Kinder durch die ersten Gefühle des Beisammenseins und in der ersten Entwicklung ihrer Kräfte zu Geschwistern zu machen, das Haus in den einfachen Geist einer grossen Haushaltung zusammenzuschmelzen und auf der Basis eines solchen Verhältnisses und der aus ihm hervorgehenden Stimmung das rechtliche und sittliche Gefühl allgemein zu beleben.“ [335]
Durch seine Zuwendung und die Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse vermochte Pestalozzi die Kinder in ihrem Innern zu stärken und ihnen in der Beziehung Sicherheit zu geben. Anschliessend brachte er ihnen verschiedene Fertigkeiten bei, damit sie das aufkeimende Wohlwollen in ihrem Kreise auch selber ausüben konnten. Erst später sprach er zu ihnen über Gut und Böse und lehrte sie die Begriffe, die er konkret an tägliche Vorkommnisse anknüpfte. Die Kinder schöpften mit der Zeit Hoffnung auf ein schöneres Leben. „Über alles erhob sie die Aussicht, nicht lebenslänglich elend zu bleiben, sondern einst unter ihren Mitmenschen mit gebildeten Kenntnissen und Fertigkeiten zu erscheinen, ihnen nützlich werden zu können und ihre Achtung zu geniessen.“ [336]
Nicht um Macht und Berühmtheit zu erlangen bildet sich der Mensch bei Pestalozzi, sondern um seinen Mitmenschen nützlich sein zu können. Darin besteht wahre Sittlichkeit und die grösste Befriedigung im Leben: „Die grösste Befriedigung, die der Mensch erlangen kann, ergibt sich daraus, dass er in hervorragendem Masse befähigt ist, sich andern nützlich zu erweisen.“[337] Über ein Jahrhundert später wird ein grosser Tiefenpsychologe des 20. Jahrhunderts, Alfred Adler, diesen Sachverhalt folgendermassen ausdrücken:
„Der Mensch, der die Aufgabe des menschlichen Lebens erfolgreich bewältigt, handelt, als ob er uneingeschränkt und aus freien Stücken anerkennt, dass der Sinn des Lebens Anteilnahme an anderen und Zusammenarbeit mit ihnen sei. Er scheint bei allem, was er tut, vom Gedanken an das Wohl seiner Mitmenschen geleitet zu sein, und wo er auf Schwierigkeiten trifft, sucht er sie durch Mittel zu überwinden, die mit den Interessen der Menschheit in Einklang stehen.“[338]
Die optimistische Zukunftsvision Pestalozzis, dass es möglich sei, den Zustand der Menschheit durch Erziehung und Bildung grundlegend zu verbessern, ist noch nicht eingelöst. Wir stehen nach wie vor vor der Aufgabe, das Wesen des Menschen und die Individualität des einzelnen Kindes immer genauer zu erfassen und die Kunst der Erziehung dieser Einsicht entsprechend zu gestalten. Pestalozzi schrieb:
„Es besteht also die Möglichkeit, dem Kreislauf ein Ende zu machen, in welchem sich die Menschheit zwischen den Übeln der Barbarei und der Erschlaffung herumtreibt: Sie besteht darin, die Menschen einer inneren Veredlung näher zu bringen durch eine religiös-sittliche, staatsbürgerliche und intellektuelle Bildung, die dem Wesen des Menschen entspricht.“[339]
Anthropologisch fundierte Werte aus der europäischen Ethiktradition
Als instinktungebundenes und weltoffenes Wesen (Portmann) ist der Mensch darauf angewiesen, sich selber eine Orientierung für seine Lebensführung zu geben. Im Rahmen der Tradition, in die er hineinwächst, bestehen bereits solche Wertorientierungen in Form von moralischen und ethischen Prinzipien, Sitten und Gebräuchen. Jedes Individuum steht vor der Aufgabe, diese kennenzulernen und zu überprüfen, welche tradierten Werte dem Menschen wesensgemäss sind und ein humanes Zusammenleben ermöglichen, und welche existierenden Normen, Sitten oder Institutionen einem solchen nicht dienlich sind. Der Mensch ist fähig, ethische Werte zu erkennen, das heisst, zwischen förderlichen und schädlichen, gesunden und kranken, positiven und negativen Tendenzen im Leben zu unterscheiden. Immer wertet der Mensch, er kann gar nicht anders, als den Dingen aus seiner Umgebung Bedeutung zu verleihen. So schreibt Nietzsche, ‘Mensch’ heisse ‘der Schätzende’.[340] Im Laufe der Geschichte hat die Menschheit Orientierungen zur Lebensführung entwickelt, die sich im Zusammenleben bewährt haben. Unter dem Begriff ‘Werte’ sollen in diesem Sinne positive Werte verstanden werden. „Menschliches Leben ist unmittelbar geknüpft an Sinngebung und Wertsetzung, und es gehört zu den wesentlichen Charakteristika des Menschen, dass er wertsetzend zu seiner Wirklichkeit Stellung nimmt und handelnd in sie eingreift.“[341]
Welche Handlungen sind nun ‘gut’ und welche ‘schlecht’? Was gibt uns den Massstab zur Beurteilung menschlichen Handelns? Wie gelangen wir zur Erkenntnis des Guten? Diese Frage beschäftigte die Menschen schon seit eh und je. Es sind die grundlegenden Fragen der Ethik, und sie gehören zu den ältesten Fragen der Philosophie. Schon in der Antike begannen die Denker nach einem allgemeingültigen Massstab zu suchen, an dem man verschiedene Lebensweisen und verschiedene Normensysteme messen kann. Und dies gerade weil ihnen aus Reiseberichten bekannt war, dass Werte und Lebensweisen in hohem Masse kulturabhängig sind. Heute wird die Wahrheitsfähigkeit von ethischen Sätzen aus der europäischen Kultur, die sich in der Lebenspraxis bewährt haben, weil sie dem menschlichen Wesen entsprechen, vehement bestritten. Das Wort ‘gut’ sei immer relativ, abhängig vom Kulturkreis, von der Epoche, der gesellschaftlichen Schicht oder von der Meinung des Einzelnen. Kein neues Argument also, wenn man sich in der Geschichte auskennt. Kulturvergleiche zeigen aber auch, dass die menschlichen Gemeinsamkeiten viel grösser sind, als uns auf den ersten Blick auffällt. Nur schon die Tatsache des Zusammenlebens im sozialen Verband, das für die menschliche Daseinsweise konstitutiv ist, gilt für alle Kulturen und Gesellschaften. Daraus ergeben sich bereits die grundlegenden Konsequenzen für eine Werteorientierung: ‘gut’ ist, was zu einem gedeihlichen Zusammenleben beiträgt. Wohl in allen Gesellschaften sind zum Beispiel die Eltern bestrebt, ihren Kindern nichts Schlechtes anzutun und sie nach bestem Wissen und Gewissen aufzuziehen, gemäss den Sitten ihrer Tradition. Spaemann meint dazu: „Die Gemeinsamkeiten zwischen den moralischen Vorstellungen in verschiedenen Epochen und Kulturen sind nämlich viel grösser, als wir gemeinhin sehen. Wir unterliegen häufig einfach einer optischen Täuschung. Die Unterschiede fallen uns stärker auf, weil uns die Gemeinsamkeiten selbstverständlich sind.“[342] Und weiter:
„Für den, der eine Einsicht besitzt in das, was der Mensch ist, werden zum Menschen gehörige allgemeine moralische Gesetze natürlich trivial sein. Und dass ihre Befolgung für die menschliche Gattung nützlich ist, das ist ebenso trivial. Wie sollte denn für den Menschen eine Norm einsichtig sein, deren Befolgung allgemeinen Schaden herbeiführen würde? Was sollte denn für den Menschen nützlicher sein, als das, was seinem Wesen entspricht?“[343]
Es gibt also universale Werte, einen gemeinsamen ethischen Massstab. Er ergibt sich aus der menschlichen Natur, ihrer Bindung an die Wirklichkeit und aus der Würde der Person. Heitger schreibt: „Die im Denken- und Wertenlernen angesprochene Aufgabe setzt die philosophische Frage nach einer Anthropologie voraus, die dem Menschen die Kompetenz zur Begründung von Geltungsansprüchen zur Legitimation von Entscheidungen im Werten zuspricht (…).“[344] Gerade die europäische Philosophie- und Ethiktradition zeichnet sich dadurch aus, dass das Nachdenken über Werte und Normen von Anfang an an die Frage nach dem Wesen des Menschen geknüpft worden ist. Die auf dem Wesen des Menschen begründeten Werte und Normen sind allgemeingültig.
Hager hat anhand von Diltheys Kritik an der Allgemeingültigkeit von Werten die Argumente untersucht, die für einen Werterelativismus zu sprechen scheinen. So nahm Dilthey an, dass die Geschichte der Moral ein Durcheinander ganz verschiedener Ethiken sei, die sich sogar widersprechen würden. Deshalb habe sich jede inhaltliche Formel über den letzten Zweck des menschlichen Lebens als historisch bedingt erwiesen. Kein moralisches System habe bisher allgemeine Anerkennung gefunden. Hager kommt demgegenüber aufgrund seines detaillierten systematischen Studiums der Geschichte der Ethik zum Schluss, dass gerade die Geschichte der Moral zeigt, dass sehr wohl ein einheitlicher Zusammenhang besteht.
„Wäre nun allerdings die Geschichte der Ethik ein Chaos sich radikal widerstreitender und sich bekämpfender ethischer Systeme und Moralgrundsätze, so könnte man aus ihr Belege gegen die Allgemeingültigkeit ethischer Formeln oder Werte entnehmen, aber gerade ein genaueres Studium der Geschichte der Ethik zeigt, dass, jedenfalls was die europäisch‑abendländische Geschichte der Moral betrifft, viele der aufgetretenen Systeme der Ethik sich innerlich ähneln oder gar gleichen, dass hier ein einheitlicher Zusammenhang vorliegt, durch welchen gewisse ethische Grundwahrheiten geschützt und gestützt werden (…).“[345]
Das historistische Argument für den Werterelativismus wird auch im postmodernen Denken wieder aufgegriffen, wie wir weiter unten darlegen werden. Demgegenüber betont Hager, dass gewisse ethische Grundwahrheiten und überdauernde Werte anthropologisch fundiert sind. Aus der europäisch‑abendländischen Tradition des grundsätzlichen Nachdenkens der Philosophie über die Werte des Menschseins ergeben sich einige wesentliche Grundzüge eines normativen Menschenbildes, die eine „… Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen können, die sie über den Charakter bloss relativer Werte und Normen deutlich hinaushebt.“[346] Welches ist nun nach Hager ein wesentlicher Aspekt des Werte‑Vermächtnisses aus der europäischen Bildungstradition? Es ist der Glaube an die Vernünftigkeit und die Freiheit des Menschen, der eine Grundlage für jedes normative Menschenbild und die Erziehung und Bildung bildet. Die menschliche Vernunft ist fähig, eine geistige Ordnung der Welt, die auch für die Sittlichkeit des Menschen ihre Gültigkeit hat, zu erkennen. Mittels seiner Vernunft ist der Mensch auch in der Lage, sowohl eine sittliche Ordnung in sich selber als auch in der Gesellschaft zu errichten und die praktischen und die ethisch politischen Probleme seines Lebens zu lösen.[347] Vernünftigkeit und Freiheit sind – wie oben gezeigt wurde – zwei Gegebenheiten der Menschennatur, welche schon früh erkannt wurden. Aus diesen anthropologischen Grundannahmen ergeben sich bestimmte Konsequenzen für die Pädagogik, die ebenfalls in der europäischen Bildungstradition reflektiert und im wesentlichen klar erkannt worden sind: „Mit dem Glauben an die Vernünftigkeit des Menschen ist im wesentlichen auch der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen verbunden sowie der Glaube an die Sinnhaftigkeit und Notwendigkeit der Erziehung, welche von Anfang an vom Glauben an die Möglichkeit und die Sinnhaftigkeit des Lernens und der Bildung begleitet war.“[348] Der Begriff Glaube bedeutet in diesem Zusammenhang eine Art Grundtendenz des in der europäischen Geschichte der Ethik wirksamen Denkens. Die grosse Bedeutung der europäischen Vernunfttradition zeigt sich auch im Bemühen um vernünftige Argumentation in der philosophischen Auseinandersetzung mit ethischen Fragen. Neben der Vernunft stellt Hager die Freiheit als wichtige Gegebenheit im Wesen des Menschen heraus. Der Glaube an die Freiheit des Menschen bildet eine zweite anthropologische Grundlage der Erziehung in der europäischen Bildungstradition und ein zweites Fundament anthropologischer Art in der europäischen Ethik. Der Mensch ist dazu berufen, ein freies, sich selbst bestimmendes Wesen zu sein. Freiheit bedeutet jedoch nicht Zügellosigkeit, sondern vernünftige Selbstgestaltung unter der Respektierung einer sittlichen Lebensordnung und der Freiheit der anderen und der Verpflichtungen den Mitmenschen gegenüber.[349]
Erst in der Neuzeit ist der Aspekt der Freiheit beim Menschen der Diskussion zugänglich geworden. Während der Mensch sich vorher als eingebunden in eine göttliche Weltordnung und ein vorbestimmtes Schicksal erlebte, trat der einzelne nun als freies, sich selbst bestimmendes Wesen hervor. Freiheit bedeutet aber immer vernünftige Selbstgestaltung und Verantwortung den Mitmenschen gegenüber. So hat der Mensch die Freiheit, zwischen ‘gut’ und ‘böse’ zu wählen, also seinen Handlungen eine sittlich‑moralische Orientierung zu geben.
Benning verweist im Zusammenhang mit dem ethischen Charakter der menschlichen Existenz auf die Aufgabenhaftigkeit, die ihr innewohnt. Der Mensch lebt in einer Wirklichkeit, und er hat die Aufgabe, sie zu gestalten.
„Indem der Mensch an der Wirklichkeit arbeitet und sie gestaltet, gewinnt er seine menschliche Existenz. Der Mensch hat ‘sein ganzes Sein gerade von der Wirklichkeit und ihren Bindungen her. Diese Bindungen, das ist er selbst durch und durch. Und seine ethische Aufgabe, seine Aufgabe als Persönlichkeit, ist (…) alle diese Bindungen anzuerkennen und zu erfüllen. (…) Darin gewinnt er seine Freiheit als Personwirklichkeit.’“[350]
Es kommt darauf an, wie der Mensch seine engeren menschlichen Beziehungen, das Zusammenleben im grösseren Umkreis und auch den Umgang mit der Natur gestaltet. Sittlichkeit, folgert Benning, erwachse aus der menschlichen Entscheidungssituation. „Der Mensch lebt in der Entscheidung zur Wirklichkeit; Wirklichkeit und Mensch durchdringen sich wechselseitig.“[351] Diese existentielle Gebundenheit des Menschen an die Realität, mit der er verbunden und damit immer wieder zur Stellungnahme, zur Antwort aufgefordert ist – die etymologische Bedeutung von Verantwortung – entspricht dem, was Portmann in den Begriff der „Weltoffenheit“ gefasst hat.
Damit kommen wir zu einem zentralen postmodernen Thema, der Behauptung, es gebe keine Realität oder Wirklichkeit. Es gebe – im Sinne des radikalen Konstruktivismus – nur verschiedene Wahrnehmungsweisen oder „Wirklichkeiten“. Dabei werden auch die geltenden Werte relativiert, die höchstens für eine Teilwirklichkeit gelten würden oder gänzlich subjektiv seien. Tatsächlich stehen wir heute vor der Situation einer Wertekrise, bedingt durch die Infragestellung der bisher geltenden Werte aus unserer europäischen Kultur. Hager diagnostiziert in der heutigen Tagesaktualität einen Relativismus der Werte, einen Wertezerfall oder ein Wertechaos, was „… nur allzuoft hinter dem Überhandnehmen von Gewalt in der Realität und in den Medien, hinter der Rücksichtslosigkeit und Brutalität des Lebenskampfes und hinter der Gewissenlosigkeit der Politik und Kriegführung steht.“[352] Er sieht diesen Zustand im tiefsten und eigentlichen als Ausdruck einer geistigen Entwicklung und Bewegung.
„Weil auf philosophischer, wissenschaftstheoretischer und ethischer Ebene, das heisst auch auf der Ebene der ethischen Theorie, sich gewisse grundlegende Wandlungen der Einstellung zu den Werten abgespielt haben, deshalb ist auch in der Praxis des Alltagslebens nicht nur eine Unsicherheit im Bewusstsein der Werte, sondern auch ein Handeln in Opposition zu allen Werttraditionen des christlichen Abendlandes, ein Wertechaos und eine Relativierung der Werte feststellbar.“ [353]
Diese geistige Entwicklung nahm ihren Ausgang schon im letzten Jahrhundert mit dem historischen Relativismus Diltheys, wie auch mit dem Angriff auf die platonisch‑christliche Wertetradition durch Friedrich Nietzsche mit seinem Programm der „Umwertung aller Werte“. Heute wird diese Tendenz wiederum gestützt durch die postmodernen Epigonen der 68er-Ideologie, deren Programm ebenfalls die Zerstörung der geltenden Werte, aber auch der Vernunfttradition überhaupt ist.
Aus der Sicht der Pädagogik erweist sich dieses Problem als ein besonders Gefährliches, geht es dabei doch um die ethische Grundlegung der Pädagogik selbst und um die Frage der Werteorientierung in der Erziehung. So schreibt Benning: „Das Problem des sogenannten Wertwandels und der Wertkrise ist ein für die Jetztzeit besonders herausragendes und dringliches Proprium einer pädagogischen Ethik.(…) Weite Bereiche des Erzieherischen sind von der Wertrelativierung betroffen.“[354] Die Rede von der Bedingtheit der Werte und Normen ist schon tief ins Denken der Bevölkerung eingedrungen mit der Folge einer Verunsicherung der Erzieher in bezug auf die Verbindlichkeit von Werten. ‘Gut ist, was für mich stimmt’, lautet heute der Slogan. Es gehe um die Befriedigung der persönlichen Bedürfnisse, um Selbstverwirklichung ohne Rücksicht auf das Wohl des Anderen propagieren Medien, Feministinnen und ‘fortschrittliche’ Lehrer‘berater’. Eine egozentrische Lebensphilosophie hat sich verbreitet; Werte sind nur noch subjektiv gültig und jederzeit wieder verwerfbar. So vermeinen auch viele Erzieher heute, es genüge, das „… für sie subjektiv Vertretbare aus der Vielzahl von Werten auszuwählen, ohne deren objektive Dringlichkeit zu beachten, oder aber sie vollziehen nur eine Teilidentifikation mit den ihnen pädagogisch vorgegebenen Werten in einer ‘Pädagogie des halben Herzens’.“[355] Werteorientierte Erziehung meint dagegen
„… eine Erziehung, die an Werten orientiert ist, die Richtlinien und Beispiele gibt für ein Leben als Person und in der Gemeinschaft und die auch noch in den Krisen des Lebens die Hoffnung bereithält. Leitziel einer werteorientierten Erziehung ist darum der sich an Werten orientierende, schöpferische Mensch, der sein Leben verantwortlich gestalten und den Anforderungen in Familie, Staat und Gesellschaft, in Kirche und Beruf gerecht werden kann. Die Erziehungsziele einer wertorientierten Erziehung sind dabei an bleibenden pädagogischen Werten ausgerichtet.“ [356]
In diesem Sinne gehen wir davon aus, dass die grundlegenden, dem Menschen wesensgemässen Werte allgemeingültig, überdauernd und rational begründbar sind. Bezogen auf die Pädagogik betont auch Hager, dass erzieherisches Handeln als solches notwendigerweise immer an Werten orientiert ist. Erziehung ist unmöglich ohne ein werthaft bestimmtes Ziel der Erziehung und ohne eine grundlegende Orientierung der Werte, von denen sie sich leiten lässt. Wenn der ganze Bereich der Werte- und Sinnaspekte aus der wissenschaftlichen Pädagogik ausgeschlossen wird, also wenn es von den Werten keine Wissenschaft mehr geben kann, ist auch eine Pädagogik als Wissenschaft vom erzieherischen Handeln nicht mehr möglich. Sollte die Orientierung an gültigen und verbindlichen Werten ‘abgeschafft’ werden, dürfte dies schwerwiegende Folgen haben. Wenn nämlich in einer Kultur eine Generation heranwächst, der die für das menschliche Zusammenleben notwendigen – weil im Humanum begründeten – Werte fehlen, ist der Bestand der Kultur schon schwer gefährdet.
Was sich in der Geschichte des abendländischen Kulturkreises für die Gestaltung des zwischenmenschlichen Zusammenlebens bewährt hat, findet heute Bestätigung in den Erkenntnissen der Humanwissenschaften über die soziale Natur des Menschen. Werte wie Mitmenschlichkeit, Gemeinsinn, Verantwortungsgefühl, Hilfsbereitschaft, Eigenständigkeit, Gewaltlosigkeit, Achtung vor der Würde des anderen und Toleranz sind jenseits von Modernismen, politischen Verhältnissen oder Zeitgeisteinflüssen gültig. Sie können in der Erziehung an die junge Generation vermittelt werden und sind als emotional verankerte Fähigkeiten Bestandteil der individuellen Persönlichkeit. Als Grundeinstellungen leiten sie das Verhalten und liegen der individuellen Sinngebung des Lebens zugrunde, wobei der Einzelne diese auf seine ganz persönliche Art ausgestaltet.[357] Werteorientierungen sind nicht unveränderlich, sie müssen aber sorgfältig an der menschlichen Natur, an der gegebenen historischen Situation und an den jeweils andersgearteten Anforderungen der jeweiligen Wirklichkeit gemessen werden. Dies hat nichts zu tun mit einer Anpassung an die ‘Normativität des Faktischen’, wie zum Beispiel neomarxistische Konzepte es verlangen, die die Normen und Werte unserer Kultur als „Herrschaftsmittel“ verneinen[358] und diese dem sich vollziehenden gesellschaftlichen Wandel gegenüber als veraltet denunzieren – getreu nach der marxistischen Formel: „Das Sein bestimmt das Bewusstsein.“ Wenn es heute heisst: „Die Gesellschaft ist im Wandel, also muss auch die Schule sich wandeln“, ist dies eine Scheinlogik. Hierbei wird die normative Dimension nicht offen zur Diskussion gestellt: Wie ist dieser gesellschaftliche Wandel zu bewerten? Wohin führt er? Welches ist die pädagogische (und nicht die politische) Aufgabe der Schule als Bildungsinstitution angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen? Wenn eine konkrete soziale Verfasstheit zur Legitimation ethischen Verhaltens dient, gibt Ladenthin zu bedenken, wäre in einer „Unrechtsgesellschaft“ auch solches Verhalten „… nicht nur gerechtfertigt, sondern auch ‘gerecht’ und moralisch richtig wie gut, das den (Unrechts-)Normen dieser Gesellschaft Geltung verschafft.“[359] Dies zur Situation des umsichgreifenden Werterelativismus in unserer Gesellschaft.
Wie hat nun die postmoderne Philosophie mit ihrer Verkündigung des „Endes der grossen Erzählungen“ zu diesem Zustand beigetragen? Diese Frage soll uns im Teil III dieser Arbeit beschäftigen, wobei wir der Erörterung die oben dargelegte Bedeutung der Werte aus der abendländischen Kultur zugrunde legen und die Aussagen der postmodernen Autoren daran messen. Die Konsequenzen für die Pädagogik werden dabei bereits ersichtlich, bedürfen aber einer anschliessenden expliziten Diskussion.
Wissenschaft
Postmoderne Vorwürfe an die Wissenschaft
Im folgenden werden – aus systematischem Grund – die hauptsächlichen Vorwürfe von postmoderner Seite an die Wissenschaft aufgeführt. (Ausführlich dargestellt und diskutiert werden sie im Kapitel „Wissenschaftsfeindschaft“.)[360] Was im allgemeinen Verständnis unserer Kultur Wissenschaft bedeutet, und wie die neuesten Entwicklungen der Wissenschaften aussehen, kann anschliessend davon abgehoben werden.
1. Die Wissenschaft sei von einem Herrschaftsstreben motiviert und übe Macht aus. Der Wille zum Wissen sei ein Wille zur Macht. Die „Wahrheitswirkungen“ einer Wissenschaft seien Machtwirkungen. Die Wissenschaften seien in Wirklichkeit Machtinstrumente. Indem sie mit rationalen Verfahren gewonnenes Wissen als allgemeingültig ausgeben würden, grenzten sie die anderen „Sprachspiele“ wie Märchen, Mythen und Legenden aus. Wissenschaft grenze alles aus, was sich nicht den Massstäben der Vernunft unterwerfen lasse und übe dadurch Gewalt aus. Feyerabend unterstellt den einzelnen Wissenschaftern, dass sie Machtpositionen anstrebten oder mit den Mitteln der Wissenschaft „niedrige Instinkte“ befriedigten, wie die „Sucht“ nach Klarheit und Objektivität.
2. Wissenschaft sei ein Diskurs unter vielen, eine Meinung unter anderen, ein Sprachspiel. Die wissenschaftlichen Aussagen seien gleichwertig mit Mythen, Meinungen, Märchen (Feyerabend). Es gebe keine universellen Massstäbe für die einzelnen Sprachspiele oder Traditionen; jedes Sprachspiel gelte für seinen eigenen, lokal und zeitlich begrenzten Bereich. Eine transparadigmatische Rationalität wird von den postmodernen Auffassungen nicht anerkannt. Lyotard scheint den Wissenschaften trotzdem eine spezielle Bedeutung zuzumessen – nur gelte es heute, ihren „postmodernen Charakter“ anzuerkennen: Sie habe ihr Interesse nun den Paralogien, Brüchen und Differenzen zuzuwenden, da das Wissen seinen universellen Charakter verloren habe.
3. „Anything goes“: Der bekannte Slogan von Feyerabend besagt im engeren Sinn, dass wissenschaftliches Vorgehen keiner bestimmten Methode unterworfen werden dürfe. Im weiteren Sinn propagiert Feyerabend damit einen Freiheitsbegriff, der losgelöst von „umfassenden Massstäben“ und „Vernünftigkeitsidealen“, alle Lebensformen als gleichwertig ansieht. Auch zwischen Traumwelten und Wirklichkeit wird nicht unterschieden; beide seien gleich real. Über wissenschaftliche Resultate könne somit nur ein basisdemokratischer Prozess befinden. In klassenkämpferischem Pathos fordert Feyerabend von den Wissenschaftlern, sich dafür einzusetzen, die jeweils schwächere Seite zur Stärkeren zu machen. Mit dem postmodernen Verzicht auf sachliche Begründungen und Objektivitätskriterien läuft diese Vorstellung auf das „Recht des Stärkeren“ hinaus.
4. Ablehnung der Humanwissenschaften und der Anthropologie: Das postmoderne Menschenbild leugnet die Existenz einer menschlichen Natur. Es gebe „den Menschen“ nicht (Foucault). Die Antihumanisten unterstellen der Anthropologie, den Menschen Normen aufzuzwingen, wie sie zu sein und zu leben hätten. Ideologiekritisch wird hinter den Humanwissenschaften „die Macht“ vermutet, die einseitige und befangene Untersuchungen anstellen lasse. Nach Sloterdijk sei die moderne Medizin mit ihren Apparaten der Spionage vergleichbar, da sie die Patienten mit Sonden bis in sein Körperinneres ausspioniere. Erkenntnisse der Humanwissenschaften werden relativiert und historisiert, wobei nach Foucault sich die Lage in der Neuzeit immer schärfer zugespitzt habe, da die Humanwissenschaften – im Gegensatz etwa zur Folter – subtil wirken und eingreifen würden, so dass heute die Menschen bis in ihr Innerstes diszipliniert seien.
Was ist Wissenschaft?
Es gibt unzählige Definitionen dafür, was Wissenschaft ist. Ganz allgemein definiert Hubert Markl Wissenschaft als „ … das durch Erfahrung geleitete Verfahren, zuverlässiges Wissen zu erlangen und zu bewahren, sonst nichts.“[361] Was Wissenschaft ausmacht, ist einzig und allein „… die Begründungspflicht ihrer Aussagen, die Überprüfbarkeit ihrer Behauptungen, die Zuverlässigkeit, mit der ihre Argumente wiederholten Tests standhalten.“[362] Es gibt also bestimmte Kriterien, denen gewonnenes Wissen standhalten muss, damit die Erkenntnisse als gesichert gelten können. Diese Kriterien oder Massstäbe sind universell gültig, da sie sich bewährt haben. Im Unterschied zu politischen Ideen, die „ … einen überzeugenden Einfluss über grosse Volksmassen gewinnen können, nur deswegen, weil sie dem vorherrschenden Interesse der Menschen dienen oder wenigstens zu dienen scheinen, breiten wissenschaftliche Ideen sich nur aus, weil sie wahr sind. Es gibt objektive und endgültige Kriterien, die über die Richtigkeit einer naturwissenschaftlichen Behauptung entscheiden.“[363] Die Entscheidungen über richtig und falsch hängen nicht von einer menschlichen Autorität ab. Die Antwort gibt die Natur selbst, schreibt Werner Heisenberg.
Nach Mittelstrass ist Wissenschaft eine besondere Form der Wissensbildung, eben die wissenschaftliche Wissensbildung. Davon unterscheidet z.B. Lyotard ein „narratives Wissen“, das aus Erzählungen, die weitergegeben werden, stammt, und das nicht begründungspflichtig ist. Mittelstrass beschreibt Wissenschaft als ein Handeln unter einer Vernunftperspektive, das „ … als ein Teil jener Arbeit des Menschen begriffen werden muss, mit der dieser über seine Natur als eines Bedürfniswesens hinaus an einer zweiten Natur, seiner Natur als eines Vernunftwesens, baut.“[364] Zur wissenschaftlichen Wissensbildung gehören Theorien, Methoden und bestimmte Rationalitätskriterien, denen Theorien und Methoden unterliegen. Die wichtigsten Kriterien sind: Reproduzierbarkeit, Nachprüfbarkeit, Intersubjektivität, sprachliche Klarheit und Begründung. Diese Kriterien sollen die Objektivität der wissenschaftlichen Erkenntnisse garantieren und damit Wissenschaft von Meinung unterscheidbar machen. Mittelstrass: „Werden derartige Kriterien verletzt, werden Wissenschaft und Meinung ununterscheidbar.“[365] Wenn manche die jüngste Entwicklung der Menschheit unter dem Einfluss der wissenschaftlich-technischen Zivilisation mit dem freien Fall aus dem 30. Stockwerk vergleichen, zeigt sich gerade hier der Unterschied zwischen Wissenschaft und Glauben deutlich, so Markl: „Beten ist gut, aber ein Fallschirm könnte auch nicht schaden, und den erwarten wir aus gutem Grund eher von wissenschaftlicher Einsicht und technischem Fortschritt als von der Rückkehr zu mythisch-stabilisierenden Weltbildern.“[366]
Wissenschaft ist in den modernen, wissenschafts- und technikgestützten Gesellschaften selbst Teil der Kultur, obwohl sie aus dem allgemein üblichen Begriff der Kultur als Theater, Kunst, Unterhaltung u.a. oft ausgeklammert wird. „Zur kulturellen Form (der modernen Gesellschaften, d.V.) gehören auch die Wissenschaften, sofern sie Ausdruck des rationalen Wesens des Menschen sind.“[367] Dies gerate heute in Vergessenheit, einerseits weil die Wissenschaften ihre kulturellen Elemente verkümmern lassen, andererseits weil Kultur nur mit den obengenannten Bereichen identifiziert werde. Wissenschaftliche Rationalität als Teil der Kultur ist auch Teil der Bildung, hält Mittelstrass fest. Bildung trägt zur Identitätsfindung des Individuums mit seiner Welt bei. In einer rationalen, durch Wissenschaft bestimmten Welt muss eine vernünftige Identität des einzelnen Wissenschaft mit einschliessen. „Voraussetzung ist allerdings, dass sich die Wissenschaft selbst wieder als Teil eines (…) Systems der Sittlichkeit und das heisst auch als Lebensform, zu begreifen versteht.“[368] Tendiert aber die Wissenschaft dazu, sich dem wirtschaftlichen Produktionsprozess anzugleichen und zu unterwerfen, wird ein „produktorientiertes, technisches Denken zum Wesen auch der wissenschaftlichen Arbeit“, entfremdet sie sich dem Leben und löscht den „Wissenschaftler als forschendes Subjekt“ weitgehend aus.[369] Nun plädiert aber Mittelstrass dafür, diese Entwicklungen nicht einfach als gegeben hinzunehmen – etwa im Sinne eines entpersönlichten Prozessdenkens – sondern er weist darauf hin, dass es immer noch einzelne „Köpfe, nicht Betriebseinheiten oder Kollektive sind, die den wissenschaftlichen Fortschritt in Gang halten.“[370]
Die Wissenschaft und ihre Anwendungen sind heute aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken. Werfen wir einen Blick um uns, können wir schon in den Geräten des alltäglichen Gebrauchs die verschiedensten Produkte wissenschaftlich-technischer Verfahren erkennen. Erkenntnisse aus der Medizin, aus der Biologie, der Psychologie etc. tragen zu unserer Gesundheit und zu unserem Wohlbefinden bei. Wir profitieren heute enorm von den durch Wissenschaft und Technik erreichten Fortschritten, wie Hermann Lübbe anhand einiger Beispiele verdeutlicht:
„Es ist für die moralische Verfassung der Industriegesellschaft durchaus wichtig, unter dem Druck ihrer aktuellen Schwierigkeiten sich die mit ihr verbundenen, in keiner früheren Geschichtsepoche erreichbar gewesenen Lebensvorzüge nicht ausreden zu lassen, aus deren Evidenz die Dynamik industriegesellschaftlicher Evolution einzig erklärbar ist. Wohlfahrt, das Ende physisch korrumpierender Arbeit, die Befreiung von der Angst vor dem Hunger, die Anhebung des durchschnittlichen Gesundheitsniveaus, die Absenkung der Säuglingssterblichkeitsrate insbesondere und die Anhebung der Zahl der Jahre durchschnittlicher Lebenserwartung, die soziale Freisetzung zu Chancen der Selbstbestimmung, insbesondere die Ausweitung disponibler Lebenszeitanteile, die Erhebung von Freiheiten in den Status gemeiner Bürgerrechte (…) – diese einzig im Kontext der modernen Zivilisation erreichbar gewordenen Lebensvorzüge sind durch die Schwierigkeiten, in die wir zivilisationsabhängig inzwischen geraten sind, nicht als Illusionen erwiesen.“[371]
Die neuzeitliche Wissenschaft
Mit der Entwicklung der Wissenschaften wird seit der Neuzeit die Idee des Fortschritts verbunden: Die Erkenntnisse der Wissenschaft über die Natur und die technischen Anwendungen sollen das Los der Menschheit verbessern, Kriege und Seuchen vermindern helfen und zu mehr Wohlstand führen. Dies war das berühmte Programm Bacons, das heute als naiv fortschrittsgläubig angesehen wird. „Sein Ziel war die Durchsetzung einer neuen Wissenschaftspolitik, die die Forschung orientiert an Zielen der menschlichen Wohlfahrt und den Forschern Institutionen zur Verfügung stellt, die ihnen erlauben, zusammenzuarbeiten und Ergebnisse zu akkumulieren.“[372] Das Wissen wird seit dem 17. Jahrhundert erstrebt, weil es ein Mittel darstellt, um die Lebensbedingungen des Menschen zu verbessern. Bacon sagt „‘von den wahren Zielen der Wissenschaft’, ‘dass wir sie erstreben zum Wohle und zum Nutzen für das Leben.’“[373] Gern wird ja Bacons Dictum „Wissen ist Macht“ zitiert, um damit die neuzeitliche Wissenschaft zu diskreditieren. Der Mensch hätte, um durch Wissen mehr Macht zu erlangen, begonnen, die Natur zu zerstören. Die Umweltschäden werden direkt diesem sogenannten Baconschen Programm und der ihm folgenden technisch-instrumentellen Stossrichtung zugeschrieben. Lothar Schäfer widerspricht dieser Bacon-Interpretation: der obengenannte Ausspruch werde Bacon fälschlicherweise zugeschrieben. Es gehe ihm darum, dass man die Wirkmechanismen der Natur erfassen lerne, um durch angewandte Wissenschaft und Technik Güter hervorzubringen, die dem Hunger ein Ende machen würden. „Wenn der Mensch nur über das richtige Wissen verfügt (das aber wird ihm quasi automatisch zufliessen, wenn er sich nur der experimentell-induktiven Methode bedient, meint Bacon) und es gezielt einsetzt, dann kann er die Natur anregen, Früchte hervorzubringen ohne Grenzen und ohne Mühen.“[374] Lübbe zitiert die betreffende Baconsche Aussage im Original: „‘Tantum possumus quantum scimus.’“[375] ‘Wissen ist Macht’ sei davon die deutsche Popularversion. „Der Sinn dieser Formel ist: Stärker als alle Herrschaftsmacht, die nichts als Macht von Menschen über Menschen bliebe, wird jene Macht sein, in der wir, auf der Basis ihrer Erkenntnis, der Realität technisch mächtig geworden sein werden.“[376] Bacons utopischer Entwurf ist am Gegensatz von politischer Herrschaft einerseits und wissenschaftlich-technischer Macht andererseits orientiert. In seiner Utopie „Neu-Atlantis“ beschreibt Bacon eine ideale Gesellschaft, in der materieller Wohlstand herrscht und die wissenschaftlich-technische Kultur mit Humanität verbunden ist. „Die dort dargestellte Gesellschaft ist nicht von einem ständigen Kampf um die Macht geprägt, sondern von Güte Wohlwollen und Weisheit (…).“[377] Die Wissenschaftler in Neu-Atlantis sind sich ihrer Verantwortung bewusst: die Forscher reflektieren ihre Ergebnisse immer daraufhin, inwieweit sie zum allgemeinen Wohl einen Beitrag darstellen – und nur solche Resultate werden veröffentlicht. Im Widmungsschreiben seines „Novum Organum“ an König James, wo Bacon seine Ziele der Naturforschung vorbrachte, stellte er eine „‘generelle Ermahnung an alle’“ voran: „‘that they perfect and govern it in charity. For it was for lust of power that the angels fell, from lust of knowledge that man fell; but of charity there can be no excess, neither did angel or man ever come in danger by it.’“[378] Naturforschung muss nach Bacon von der Grundhaltung der Nächstenliebe geprägt sein, also moralisch guten Zwecken dienen. Er warnt hier explizit davor, Wissenschaft als Mittel zur Macht zu betreiben. Diese Ermahnung Bacons hätte nach Schäfer eine bessere philosophische Ausarbeitung verdient. Dass Bacon sich hier so beiläufig und kurz gefasst habe, habe es den Kritikern der Moderne leichter gemacht, Bacon als „… einen rohen Advokaten rein instrumentellen Denkens zu denunzieren, für den schliesslich die Übermächtigung der Natur zu einem Selbstzweck wurde. Jedoch zeigen die Äusserungen Bacons, dass die Produktion von Gütern für unsere materiellen Bedürfnisse, wie Wohnung, Ernährung, medizinische Vorsorge, etc. übergriffen wird von der Caritas, der Sorge um die Humanität (…).“[379]
Die Methode der eliminativen Induktion dagegen, die Bacon entworfen hat, ist von der Naturwissenschaft gar nie übernommen worden. Nach Schäfer müssen grundlegende Unterscheidungen in die Naturwissenschaft eingebracht werden, die Bacon noch vernachlässigt hat: die Unterscheidung zwischen vernünftiger Naturnutzung und Raubbau an der Natur, sowie zwischen guten und schlechten Technologien. Bacons Naturbegriff war noch der einer unzerstörbaren, sich selbst regenerierenden Potenz. „Im Hintergrund des aufklärerischen Naturnutzers lauert immer noch die alte Vorstellung von den unendlichen Gaben der Grossen Göttin der Natur, die man sich nun aus eigener technologischer Kraft aneignen kann.“[380] Bacon konnte die Industrialisierung noch nicht vorhersehen, in der die Ausbeutung der Natur mit der Unterjochung von Menschen einherging. Ein Industrieproletariat wurde geschaffen, das vom Unternehmertum abhängig war, und der erwirtschaftete Gewinn wurde nicht zum Wohle aller Menschen eingesetzt. Nur ein Teil konnte sich daran bereichern. Heute gilt es nach Schäfer zu bedenken, dass unter dem Stichwort der „ökologischen Krise“ nicht das Baconsche Ideal als Ziel der wissenschaftlichen Bestrebungen aufgegeben werden dürfe, sondern die Art und Weise der Eingriffe in die Natur einer Revision unterzogen werden müsse.[381]
Postmodern wird behauptet, das Paradigma der neuzeitlichen Wissenschaft sei die subjektzentrierte Unterwerfung der Natur als Objekt der Beherrschung.[382] Es ist aber falsch, zu glauben, die vorindustrielle Gesellschaft hätte im Frieden mit der Natur gelebt – eine Annahme, die die früheren Verhältnisse romantisch verklärt. Am Beispiel des Schwarzwaldes veranschaulicht Lübbe diesen Tatbestand: Dieser sei bis ins 18. Jahrhundert ein „… verelendeter, nämlich holzknappheitsbedingt ausgebeuteter Wald mit tiefen Erosionsschäden an den Hängen und verschotterten Talböden – eine in nicht unerheblichem Umfang kulturverwüstete Gegend (…)“[383] gewesen. Der schöne Erholungswald heute sei dagegen ein Produkt moderner Verwaltung. Und dies hätte sich nur machen lassen, da die Holzknappheit durch die industrielle Kohleförderung kompensiert worden sei. „Kurz: Die Technik moderner Montanindustrie hat den Wald gerettet.“ [384]
Wissenschaft ist immer nur Mittel zum Zweck: Wie und wofür sie angewendet wird, muss unter ethischen Gesichtspunkten bedacht und demokratischer Kontrolle unterworfen werden. Markl schreibt:
„Da Wissenschaft also ein Mittel zum Zweck ist – nämlich das Mittel zu zuverlässigen Erkenntnissen über die Welt und zu vernünftiger Lebensführung – und nicht Zweck an sich, geschweige denn höchster Lebenszweck, wird es auch nicht verwundern, dass dieses Mittel uns in so ganz konträren Zusammenhängen gegenübertritt, edelsten Absichten ebenso verbunden wie menschenverachtenden Untaten zu Diensten.“[385]
Die Freiheit der Forschung, der Suche nach Erkenntnis, muss trotzdem immer gewährt bleiben: die Wissenschaftsfreiheit.
„Wissenschaftsfreiheit bedeutet, dass dem, der Erkenntnis sucht, alle Fragen erlaubt sind, dass ihn kein Glaubens- oder Bekenntnisgebot beschränkt, dass niemand, nicht einmal die Staatsmacht, anordnen kann, was als wahr zu gelten hat. Die Wissenschaft muss alles fragen, alles bezweifeln, alles prüfen dürfen, was ihren rationalen Untersuchungsmethoden zugänglich ist. Einzig und allein durch diese völlige Freiheit kann sichergestellt werden, dass die Wirklichkeit der Welt, soweit sie menschlichem Erkennen überhaupt zugänglich ist, zutreffend erkannt werden kann.“[386]
Dies heisst aber nicht, dass der Wissenschaft alles erlaubt sei, oder dass sie dem Menschen vorschreiben könne, wie er zu leben hat. Daraus, dass man etwas weiss und kann, darf nicht folgen, dass man auch das tun soll, was man kann (Prinzip der Machbarkeit).
„Dies ist nichts Neues, es galt, seitdem ethische Normen Geltung beanspruchen – die moderne Wissenschaft erfordert daher nicht etwa eine neue Ethik, die dies zum neuen Grundsatz zu machen hätte. (…) Aus freier wissenschaftlicher Erkenntnis folgt demnach überhaupt nicht die Freiheit beliebiger praktischer Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Jede Praxis des Handelns bedarf ihrer Rechtfertigung durch moralisch vertretbare Gründe.“[387]
Die Wissenschaft ist nach Markl in das Wertesystem der Menschenwürde eingeordnet, in welchem Freiheit, Verantwortung und Wissenschaft grundlegende Beziehungsstücke sind: Sie geben dem Begriff der Menschenwürde Gehalt. Markl ist der Meinung, dass sie „… vielleicht sogar die wesentlichen Pfeiler sind, auf denen Menschenwürde ruht.“
Wenn die negativen Folgen ungehemmter Eingriffe in die Natur auch unübersehbar sind, lassen sich die durch wissenschaftliche Erkenntnisse erreichten Verbesserungen und Fortschritte nicht wegdiskutieren. Die rationale Wissenschaft verdankt ihre Existenz letztlich ihrem Erfolg, wie Prigogine/Stengers in Anlehnung an Popper vermerken:
„Die Eignung der wissenschaftlichen Methode beruht allein auf den erstaunlichen Übereinstimmungen, die sie zwischen unseren theoretischen Hypothesen und den experimentellen Antworten entdeckt. Zwar ist die Wissenschaft ein riskantes Spiel, doch scheint sie Fragen entdeckt zu haben, auf welche die Natur in konsistenter Weise antwortet. Dieser Erfolg der abendländischen Wissenschaft stellt eine historische Tatsache dar, die a priori nicht vorherzusehen war, die aber, nachdem sie eingetreten ist, nicht mehr umgangen werden kann.“[388]
Ein grundlegendes Charakteristikum der Neuzeit war das Aufkommen der experimentellen, theoriegeleiteten Naturwissenschaft, die „wissenschaftliche Revolution“. In dieser Periode erschien „… eine neue Autorität, die von der christlichen Religion und Philosophie oder von der Kirche völlig unabhängig war, die Autorität der Erfahrung, der empirischen Tatsache.“[389] Im Unterschied zu Altertum und Mittelalter begann sich die Wissenschaft der Praxis zuzuwenden. Aus der schon länger bestehenden Tradition des Handwerks mit seinen praktischen Zielen und der theoretisch ausgerichteten Tradition der aristotelisch-scholastischen Schulen entwickelte sich die Wissenschaft der Neuzeit. Descartes verpflichtete die Wissenschaft darauf, sichere Grundlagen des Wissens für alle Lebensbereiche zu schaffen. Er forderte die Grundlegung in einer Metaphysik als Voraussetzung für die einzelnen Wissenschaften. Galileo Galilei war es aber, der den Aufbau der neuen Wissenschaft entwickelte und darin die beiden Traditionen der Werkstätten und der ‘Schulen’ miteinander verband. „Die historische Leistung Galileis, von der hier die Rede ist, lässt sich dabei auch in der Wendung wiedergeben, dass in dieser Galileischen Physik mathematische Vernunft (Theorie) und technische Fertigkeit (Erfahrung) zum ersten Mal ein festes Bündnis eingehen.“[390] Galilei dachte über die mechanischen Bewegungen des Pendels oder eines fallenden Steins nicht nur nach, sondern untersuchte durch Experimente quantitativ, wie diese Bewegungen stattfanden. Das Ergebnis war eine neue Physik, in der Theorie und Experiment methodisch miteinander verbunden sind, „… und die erstmals gesicherte Aussagen über die (physikalische) Welt erlaubt.“[391] Der grosse Wert, der auf die Erfahrung gelegt wurde, führte langsam zu einer anderen Auffassung über die Wirklichkeit. „Während im Mittelalter das, was wir heutzutage die symbolische Bedeutung einer Sache nennen, in einer gewissen Weise ihre primäre Wirklichkeit war, verwandelte sich die Wirklichkeit in das, was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen können.“[392] Wir können experimentieren und herausfinden, wie die Dinge wirklich sind. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts zeigten dann, dass der Rahmen einer „naiven materialistischen Denkweise“[393] erweitert werden musste.
Nach Prigogine/Stengers ist die experimentelle Methode bestimmend für den von der neuzeitlichen Wissenschaft eingeleiteten Dialog mit der Natur. Die mit Hilfe des Experiments befragte Natur wird zwar vereinfacht und zuweilen verstümmelt.
„Das nimmt ihr jedoch nicht ihre Fähigkeit, die Mehrzahl der Hypothesen, die wir uns ausdenken können, zu widerlegen. Einstein hat bemerkt, dass die Natur auf die Fragen, die man ihr stellt, meistens mit ‘nein’ und gelegentlich mit ‘vielleicht’ antwortet. Der Wissenschaftler tut nicht einfach, was er will, und er kann die Natur nicht dazu zwingen, lediglich das zu sagen, was er hören möchte. Es ist ihm zumindest auf lange Sicht nicht möglich, seine innigsten Wünsche und Erwartungen auf sie zu projizieren.“[394]
Dies gilt notabene auch für die als ideologieabhängig bewerteten humanwissenschaftlichen Untersuchungen: Deren Resultate sind überprüfbar. Und weiter Prigogine/Stengers:
„Für uns ist der experimentelle Dialog eine unverlierbare Errungenschaft der menschlichen Kultur. Er gewährleistet, dass die Natur bei der Befragung durch den Menschen als ein unabhängiges Wesen behandelt wird. Er sorgt zugleich dafür, dass die wissenschaftlichen Resultate mitteilbar und reproduzierbar sind. Wie beschränkt auch immer man die Natur sich äussern lässt – wenn sie sich einmal geäussert hat, kann es keinen Streit mehr geben: die Natur lügt nie.“[395]
Menschliche Natur und Wissenschaft
Wissenschaft ist nichts vom Menschen völlig Losgelöstes, seinem Leben Entgegengesetztes. Wenn Sloterdijk die sogenannt kalte Rationalität der Wissenschaft dem konvivialen Wärmestrom gegenüberstellt, und erstere gar als lebensfeindlich hinstellt, sind das Konstrukte.[396] Nicht nur, dass der Mensch lebensnotwendig auf wissenschaftliche Forschung angewiesen ist, er ist selber von seinem Wesen her ein „Wissenschaftler“. Da der Mensch im Gegensatz zum instinkt- und umweltgebundenen Tier „weltoffen“ und „entscheidungsfrei“ (Portmann) ist, muss er sich durch ständiges Lernen und Forschen in sozialer Kooperation den unterschiedlichsten Umgebungen und Umständen anpassen.[397]
„Homo sapiens das ist (…) eine Lebensform, die nicht nur mehr als jede andere befähigt ist, Wissen zu erlangen, sondern zugleich auch unstillbar wissbegierig ist und die von Natur aus für die Bewältigung ihres Daseins auf beides gleichermassen angewiesen ist: Wissen erlangen zu wollen und Wissen erlangen zu können. (…) er (der wissbegierige Mensch, d.V.) will verstehen, wie und wann und wo es sich ereignet, woher es kommt, wozu es dient, warum es so ist, (…). Wenn man den Unterschied zwischen Tier und Mensch auf einen einzigen Begriff bringen will, dann ist es das Wort ‘warum’. Der Mensch fragt. Nicht fragen ist unmenschlich. Kurzum: Man kann behaupten, dass der Wissenschaftler der Prototyp des ganz normalen Menschen ist. Begründungspflichtig ist nicht, wer sein Leben mit wissenschaftlicher Forschung verbringt, sondern wer wider alle menschliche Natur darauf verzichtet, es zu tun, gerade so, als sei die ganze menschliche Evolution spurlos an ihm vorbeigegangen.“[398]
Der Natur des Menschen entspricht es, sich ein Bild von der Welt zu gestalten, das ihm Übersicht und Klarheit gibt. Albert Einstein sagt, dass dies der Maler, der Dichter, der Philosoph und eben auch der Naturforscher, jeder in seiner Weise tue. „In dieses Bild und seine Gestaltung verlegt er den Schwerpunkt seines Gefühlslebens, um so Ruhe und Festigkeit zu suchen, die er im allzu engen Kreis des wirbelnden und persönlichen Erlebens nicht finden kann.“[399]
Im wissenschaftlichen Arbeitsprozess, in der Konzentration und Vertiefung in eine Sache bringt sich der Forscher wiederum mit seinem ganzen Gefühlsleben ein. Gerade die Liebe zum Gegenstand – und nicht etwa die feindselige Distanz zum „Objekt“ – macht den wirklichen Wissenschafter aus.[400] Aus einer gefühlsmässigen Vertiefung in ein Problem auf dem Hintergrund von Wissen und Erfahrung entspringen oft die fruchtbarsten Ideen. Albert Einstein vergleicht den Gefühlszustand, in dem es gelingt, mit Geduld und Ausdauer grosse wissenschaftliche Leistungen zu erbringen, mit dem eines Verliebten. „Der Gefühlszustand, der zu solchen Leistungen befähigt, ist dem des Religiösen oder Verliebten ähnlich; das tägliche Streben entspringt keinem Vorsatz oder Programm, sondern einem unmittelbaren Bedürfnis.“[401]
Entwicklungen in den Naturwissenschaften nach der Ablösung des mechanistischen Weltbildes im 20. Jahrhundert
Das Weltbild der klassischen Naturwissenschaft war auf den Gesetzen der Newtonschen Dynamik begründet. Die Natur wurde als ein stabiles, geschlossenes System angenommen, dessen Grundprinzipien mit den Begriffen der Masse, Beschleunigung und Trägheit beschrieben werden konnten. Newton formulierte die Grundgesetze der Bewegung. Man ging von berechenbaren und vorhersagbaren Erscheinungen aus. „Die grossen physikalischen Theorien beschrieben eine Welt, in der die Zeit und das Werden keine Rolle spielten.“[402] Trotzdem war der Physik Newtons ein grosser praktischer Erfolg beschieden. Innerhalb gewisser Grenzen, z.B. bei kleinen Geschwindigkeiten, sind ihre Gesetze anwendbar oder anders ausgedrückt, sie stellen einen Grenzfall der erweiterten physikalischen Theorie dar. Prigogine/Stengers bezeichnen den Erscheinungstag von Newtons „Principia“ als einen der grössten Tage in der Menschheitsgeschichte. Newtons fundamentale Begriffe werden noch heute benutzt.[403]
„Welche Bedeutung hat heute – nach der Feldtheorie, der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik – die Newtonsche Synthese? (…) Auf der mikroskopischen Ebene wurden die Gesetze der klassischen Mechanik durch die der Quantenmechanik ersetzt. Auch auf der Ebene des Universums hat die relativistische Physik die Newtonsche Physik abgelöst. Dennoch bleibt diese der natürliche Bezugspunkt. Ausserdem bildet die Newtonsche Dynamik in dem von uns definierten Sinne, d. h. als Beschreibung deterministischer, reversibler, statischer Trajektorien, noch immer den Kernbestand der Physik.“[404]
Wenn man die klassische Mechanik im Kuhnschen Sinne als ein Paradigma bezeichnen würde, müssten die Erkenntnisse der Quantenphysik, der Relativitätstheorie oder der Chaostheorie dieses klassische Paradigma vollständig ersetzt haben. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Die beiden „Paradigmen“ sind nicht einfach inkommensurabel. Und damit komme ich auf einen diesbezüglichen Vorwurf von postmoderner Seite an die Wissenschaft: Nach der Einführung der Quantentheorie, der Relativitätstheorie und weiterer Erkenntnisse, die das mechanistische Weltbild infragestellten und anfangs des 20. Jahrhunderts eine Krise auslösten, sei die Wissenschaft selber in Frage gestellt. Sie habe zumindest ihr Wesen verändert. Indem sie nicht mehr zuverlässige Vorhersagen liefern könne, sei ihre Bedeutung zu relativieren. Lyotard schreibt, dass der gegenwärtige Stand des wissenschaftlichen Wissens durch die „Krise des Determinismus“ gekennzeichnet sei.[405] Das Katastrophenmodell reduziere alle kausalen Prozesse auf einen einzigen: den Konflikt. Oder: „In der mathematischen, physikalischen, astrophysikalischen und biologischen Theorie häufen sich die Paradoxe (…).“[406] Lyotard schliesst aus diesen Veränderungen physikalischer und anderer Theorien, dass sich nun die Wissenschaft für die „… Unentscheidbaren, für die Grenzen der Präzision der Kontrolle, die Quanten, die Konflikte unvollständiger Information, die ‘Frakta’, die Katastrophen und pragmatischen Paradoxa (…)“ interessiere und damit eine „postmoderne Wissenschaft“ geworden sei.[407] Diese verändere den Sinn des Wortes „Wissen“ und lege ein neues Legitimitätsmodell vor, das der „als Paralogie verstandenen Differenz“.[408] Lyotards wissenschaftstheoretische Überlegungen zum Stand der Naturwissenschaften entstammen der Sicht eines Philosophen, er selber ist kein Naturwissenschafter. Was bedeuteten die Veränderungen des naturwissenschaftlichen Weltbildes aber für Naturwissenschafter selbst? Wir zitieren Prigogine/Stengers:
„Die von der Physik bevorzugten stabilen und periodischen Gegenstände haben ausgedient als beispielhafte Modellvorstellungen, von denen ausgehend wir die Welt, in der wir leben, umfassend verstehen können; sie gelten vielmehr als aussergewöhnliche Objekte in einer Welt, die grundsätzlich instabil und im Werden begriffen ist. Die Denkweise, die sich auf diese Gegenstände gestützt und bezogen hatte, berücksichtigte nicht die irreversible, offene Zeit, die den Hintergrund unserer Erfahrung und unserer empirischen Erkenntnis bildet. Heute können wir die entsprechenden physikalischen Theorien als singuläre Grenzfälle einer erweiterten physikalischen Theorie begreifen, für die eine Welt im Werden und eine Welt, in der die Irreversibilität und das Zufällige eine wesentliche Rolle spielen, etwas Sinnvolles ist.“[409]
Die Irreversibilität, die bislang schon als Eigenschaft des Lebens verstanden wurde, wurde auch als Eigenschaft der Materie erkannt. Für die Befragung der Natur bedeuten die neuen Erkenntnisse, dass „… dieser Dialog ein subtiles Spiel mit der Natur ist, von der wir nicht mehr von vornherein sagen können, wessen sie fähig ist.“[410] Das Universum ist reich an potentiellen Überraschungen, was aber nicht heisst, dass die Wissenschaft nun abdanken müsste. Immer noch und umso differenzierter kann die Wissenschaft die Natur beschreiben und auch für bestimmte Bereiche genaue Vorhersagen machen. Immer noch gelten die Gesetze von Ursache und Wirkung, gerade in für unser Alltagsleben relevanten Bereichen, z.B. für die Wirkung von Rauschgiften oder die Funktionsweise eines Autos.
Zum Schluss nochmals Prigogine/Stengers zum Problem des Verhältnisses von „neuer“ und „klassischer“ Wissenschaft: Sie zeigen anhand des Beispiels der meteorologischen Erscheinungen, die als ein typischer Fall eines instabilen, scheinbar zufallsbedingten Phänomens gelten, dass bei Klimaveränderungen Einfachheit und Komplexheit auf einzigartige Weise ineinandergreifen. Mit der Entdeckung von fraktalen Attraktoren gewinnen wir ein besseres Verständnis der Welt, in der wir leben. Und nicht nur das, es werden Lösungen für Probleme möglich, die bisher ungeklärt waren. Auch in diesem Bereich gibt es die „merkwürdige Idee einer Vorhersage des Unvorhersagbaren“[411].
Wo stehen wir heute? Prigogine/Stengers meinen, dass wir einer neuen Synthese entgegengehen, „einer neuen Naturauffassung“.
„Jede grosse Epoche der Wissenschaft hat ein bestimmtes Modell der Natur entwickelt. Für die klassische Wissenschaft war es die Uhr, für die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, der Epoche der industriellen Revolution, war es ein Motor, der irgendwann nicht mehr weiterläuft. Was könnte für uns das Symbol sein? Wir stehen vielleicht den Vorstellungen Platons näher, der die Natur mit einem Kunstwerk verglich. Statt die Wissenschaft durch den Gegensatz zwischen Mensch und Natur zu definieren, sehen wir in der Wissenschaft eher eine Kommunikation mit der Natur.“[412]
Die postmoderne Philosophie
Das postmoderne Denken
Das folgende Kapitel gibt eine Einführung in den Begriff des postmodernen Denkens, seine historische Einordnung und inhaltliche Bestimmung. Inhaltlich können die Grundzüge des postmodernen Denkens durch wenige Hauptkategorien erfasst werden. Sie werden in diesem Kapitel eingeführt. Im weiteren werden vier Philosophen vorgestellt, die das postmoderne Denken repräsentieren. Es sind Jean-François Lyotard und Michel Foucault aus dem französischen Sprachraum und Paul Feyerabend und Peter Sloterdijk aus dem deutschsprachigen Gebiet. Aus ausgewählten Werken dieser Autoren werden im folgenden Teil II über die postmoderne Philosophie die Kategorien postmodernen Denkens herausgearbeitet und inhaltlich gefüllt. Wir beschränken uns bei der Bestimmung des postmodernen Denkens auf seine Charakteristika in der Philosophie, da zwischen philosophischen Überlegungen zum Welt- und Menschenbild und den pädagogischen Theorien einer bestimmten Zeit eine Verbindung besteht, indem von der Philosophie her wesentliche Einflüsse auf die Pädagogik ausgehen.[413] Dies ist auch beim postmodernen Denken der Fall.
Der Begriff „Postmoderne“
Allgemein wird der Beginn der Postmoderne-Diskussion in der Philosophie mit dem Erscheinen des Buches „Das postmoderne Wissen“[414] von Jean-François Lyotard im Jahre 1979 angesetzt. Lyotard führte den Begriff „Postmoderne“ in die Philosophie ein. „Das postmoderne Wissen“ war eine Gelegenheitsarbeit für den Universitätsrat der Regierung von Quebec, in der Lyotard die Frage nach den Veränderungen für das Wissen klären sollte, die unter dem Einfluss der neuen Informations-Technologien zu erwarten seien.[415] Es gilt als Grundlagenwerk der deutschsprachigen philosophischen Postmoderne-Diskussion, und Lyotards Charakterisierung des postmodernen Denkens oder postmodernen Bewusstseins wird allgemein als repräsentativ angesehen.[416] Deshalb soll im folgenden Lyotards Begriff der „Postmoderne“ kurz eingeführt werden. Lyotard bezeichnete die Verfassung heutigen Wissens, wie sie sich anhand der Wissensentwicklungen im 20. Jahrhundert ergeben habe als „postmoderne Verfassung“. Im Gegensatz zum neuzeitlichen Wissen, das noch die Form der Einheit gehabt habe, sei die heutige, postmoderne Verfassung der Wissenschaft nach den wissenschaftstheoretischen Innovationen Einsteins, Heisenbergs und Gödels von einem Interesse an radikaler Pluralisierung, Unentscheidbarkeiten und Paralogien und von einer diskontiniuierlichen Entwicklung gekennzeichnet. Es handle sich um eine radikale Transformation der Kultur. Die Wissenschaft könne heute nicht mehr auf eine „grosse Erzählung“ zurückgreifen, um sich zu legitimieren. Die „grossen Erzählungen“ oder „Meta-Erzählungen“, die Lyotard verabschiedet, sind die „Dialektik des Geistes“ (Idealismus), die „Hermeneutik des Sinns“ (Historismus) und die „Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts“ (Aufklärung, Marxismus). Diese übergreifenden legitimierenden Leitideen oder Systeme seien hinfällig geworden und mit ihnen alles, was irgendwie eine „Totalität“ verkörpere, so auch das aufklärerische Fortschrittsdenken. Im postmodernen Paradigma existieren nach Lyotard nur noch eine unendliche Vielzahl heteromorpher „Sprachspiele“: Ideen, Diskurse, Werte, Meinungen, Lebensformen, und lokal und zeitlich begrenzte Institutionen, die in ihrer Verschiedenartigkeit nicht miteinander verbunden, ja ausdrücklich auf einen Dissens hin angelegt sind. Auch die Wissenschaft löse sich in verschiedene „Sprachspiele“ auf; und auch hier wird der Akzent auf Diskontinuitäten, Brüche und auf den „Dissens“ gelegt.[417] Die Allgemeingültigkeit wissenschaftlicher Erkenntisse wird postmodern als „Meta-Erzählung“ relativiert. Wolfgang Welsch bezeichnet diese Auflösung der Fundamente der neuzeitlichen Wissenschaft und der allgemeinverbindlichen Werteordnung der christlich-abendländischen Kultur als „radikale Pluralität“[418], die er als positive Chance begreift. Dieses „Pluralisierungskonzept der Postmoderne“ habe „scharfgeschnittene und auch aggressive Züge“[419]. So ist für ihn das entscheidende Merkmal postmodernen Denkens die radikale Pluralität.
„Das Ende der grossen, vereinheitlichend-verbindlichen Meta-Erzählungen gibt dem Faktum und der Chance einer Vielzahl begrenzter und heteromorpher Sprachspiele, Handlungsformen und Lebensweisen Raum. Dieser Perspektive gilt es, zuzuarbeiten. Die Zustimmung zur Multiplizität, ihre Verbuchung als Chance und Gewinn, macht das ‘Postmoderne’ am postmodernen Bewusstsein aus.“ [420]
Welsch verwendet den Ausdruck „postmodernes Bewusstsein“, um damit auszudrücken, dass es sich um eine eigentliche Bewusstseinsveränderung gegenüber den geistigen Grundlagen der christlich-abendländischen Tradition, und damit auch des neuzeitlichen Denkens, handelt. Die Pluralität der Postmoderne schlage auf Elementarfragen durch. „Sie ist nicht mehr durch den Boden einer gemeinsamen Übereinstimmung getragen und entschärft, sondern tangiert die Definition noch eines jeden solchen Bodens. Gerade das macht das Dramatische und Prekäre [!] der Postmoderne aus und bezeichnet einen ihrer wesentlichen Unterschiede von der Moderne.“ [421]
Auch für Lyotard ist postmodernes Denken vor allem eine Bewusstseinshaltung, ein Geisteszustand, und weniger eine historische Kategorie. „… ‘postmodern’ soll (…) einfach einen Gemüts- oder vielmehr Geisteszustand bezeichnen.“[422] charakterisiert Reese-Schäfer Lyotards Postmoderne-Begriff. Und: „Postmodern ist das Bewusstsein, das keine Versöhnung zwischen den verschiedenen Sprachspielen erwartet.“[423] Der Titel von Huyssen/Scherpes Sammelband mit Aufsätzen zur Postmoderne-Diskussion weist auf die kulturverändernde Perspektive hin: „Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels.“[424]
Obschon Lyotard die Postmoderne nicht historisch einordnen will, da historische Periodisierungen nur innerhalb des obsoleten neuzeitlichen Denkens gemacht würden, kann man das postmoderne Denken durchaus schon historisch einordnen, denn es hat wesentlich den Zeitgeist der letzten zwanzig Jahre bestimmt. Man denke z.B. an die Umdeutung der Familie zu „Formen des Zusammenlebens“, die alle möglichen Varianten umfassen sollen („Sprachspiele“) oder an den grassierenden Werterelativismus. Darauf wird später noch zurückzukommen sein.
Folgender Kampfruf von Lyotard wird allgemein als charakteristisch für die postmoderne Gesinnung zitiert:
„Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt. Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen, das Phantasma der Umfassung der Wirklichkeit in die Tat umzusetzen. Die Antwort darauf lautet: Krieg dem Ganzen, zeugen wir für das Nicht-Darstellbare, aktivieren wir die Differenzen, retten wir die Differenzen, retten wir die Ehre des Namens.“[425]
Ein Denken, das ein „Ganzes“ annimmt, wie postmodern z.B. der Bezug auf universelle Werte bezeichnet wird, ein Denken auch, das den Anspruch auf Wahrheit stellt (sogar wenn er empirisch begründet ist), sei totalitär, führe zum Terror. Die Begriffe „Ganzes“ oder „Einheitsdenken“ sind schwammig und pauschalisierend und werden der Sache nicht gerecht: Zum Aufklärungsdenken zum Beispiel trugen Philosophen und Pädagogen mit ganz unterschiedlichen Auffassungen bei, wie z.B. Voltaire, Locke oder Rousseau, verschiedene Strömungen flossen ein, Widersprüche blieben bestehen. Die Aufklärung hat ja gerade das Individuum und seinen Wert betont, in Überwindung der Abhängigkeit des Menschen von der Autorität geglaubter Tradition. Damit wurde die Individualität gewissermassen aus dem „System“ befreit. Man wollte von nun an auf das eigene „Ich“ und die eigene Vernunft abstellen: Ich bin es, der denkt und zweifelt. Die „Ehre des Namens“ zu „retten“ war gerade ein vorzügliches Anliegen der neuzeitlichen Philosophie und der Aufklärungsphilosophie. Höffe charakterisiert die Moderne als ausgesprochen „polyphon“, also mehrstimmig. Wer sich von einem einseitigen Bild der Epoche der Aufklärung löse, „… entdeckt in dieser Zeit auch die Anfänge, sogar weit mehr als die Anfänge für eine Vielfalt von Bekenntnissen und Religionen, von Werten, gesellschaftlichen Gruppen und von wirtschafts- sowie politikbestimmenden Kräften.“[426] Deshalb
„… können wir das Projekt der Moderne nicht länger als eine Homophonie interpretieren. Für die neuerdings wieder beliebten Schuldzuweisungen, für die ‘Irrwege der Vernunft’ (Feyerabend 1989) oder für die Fehlentwicklung der modernen Philosophie (Lyotard), ist es zwar einfacher, wenn man als melodieführend nur eine einzige Stimme anerkennt. Die Gefahren der Moderne lassen sich dann leicht aus der falschen Leitmelodie erklären. Wie sieht es jedoch aus, wenn es die eine Leitmelodie gar nicht gibt und die Moderne in einer Polyphonie besteht?“ [427]
Andererseits, aber nicht im Widerspruch dazu, hat man sich im Laufe der europäischen Geschichte auf die Geltung gewisser Werte geeinigt, von denen die Erfahrung gezeigt hat, dass sie dem Wohle des einzelnen wie der Allgemeinheit zuträglich sind. Ihre Allgemeinverbindlichkeit unterdrückt nicht die Rechte des Individuums. In der Menschenrechtserklärung wurden die Freiheitsrechte des Individuums allgemeinverbindlich festgelegt.
Lyotard zieht jedoch eine direkte Linie zwischen allgemeinverbindlichen und -gültigen Wertorientierungen, der Abstützung auf eine erfassbare Wirklichkeit, auf Konsens und Versöhnlichkeit („Meta-Erzählungen“) und dem Terror der totalitären Systeme des 20. Jahrhunderts. Allem Universellen wird Totalitarismus unterstellt, der das Individuelle durch das „Einheitsdenken“ unterdrücke und ausgrenze, z.B. durch „die eine absolute Wahrheit“. „Brutal gesprochen, möchte ich sagen, dass ein Wort das Ende des modernen Vernunftideals ausdrückt, das ist: Auschwitz.“[428] Dem muss entgegengehalten werden, dass die Greueltaten des dritten Reiches nichts mit Vernunft zu tun hatten. Es ist unzulässig, eine derartige Verbindung zu konstruieren. Auschwitz ist das Resultat eines Handelns wider Vernunft und Ethik, auf irrationaler Grundlage beruhend, trotz der vordergründig rationalen Planung. Eine für Verbrechen instrumentalisierte Rationalität darf nicht mit Vernunft verwechselt werden.[429]
Systematische Kategorien für das postmoderne Denken
Die Stossrichtung der postmodernen Geschichtsinterpretation ist eindeutig gegen die Aufklärung und ihre Errungenschaften gerichtet: Vernunft, Freiheit und Wissenschaft. Diese „Ideen“, die Idee der Freiheit zum Beispiel, haben in der Moderne legitimierenden Wert, weil sie allgemeine Gültigkeit besitzen, sagt Lyotard. Sie sind richtungsweisende Ideen. Doch das „Projekt der Moderne“ (Habermas), nämlich die Emanzipation der Menschheit durch Verwirklichung der universellen aufklärerischen Werte, sei unwiederbringlich zerstört, behauptet Lyotard. „Meine Annahme besteht dagegen darin, dass das Projekt der Moderne (die Verwirklichung der Universalität) nicht aufgegeben, vergessen, sondern zerstört, ‘liquidiert’ worden ist.“ [430]
Es ergibt sich daraus als entscheidender Grundzug des postmodernen Denkens – trotz aller Dementierungsversuche – ein Bruch mit der Neuzeit und ihrer geistesgeschichtlichen Grundlagen. Wo jedoch die Postmoderne als Weiterführung der Moderne bezeichnet wird, ist damit die avantgardistische Moderne innerhalb der Kunst anfangs des 20. Jahrhunderts gemeint. Diese richtete sich, z.B. in der Form des Surrealismus oder des Dadaismus, gegen die traditionellen und bürgerlichen Werte: Ästhetik statt Ethik. Persönlichkeiten unterschiedlichster Art traten damals „… unter dem Banne des Zauberworts Dada (…) zu einem Generalangriff auf die bürgerliche Kultur an.“[431]
Welsch siedelt die Postmoderne inhaltlich in der Nähe dieser künstlerischen Moderne des 20. Jahrhunderts an: „Denn die Postmoderne setzt sich zwar entschieden von der Neuzeit, sehr viel weniger hingegen von der eigentlichen Moderne ab. Nach‑neuzeitlich ist sie gewiss, nach‑modern aber kaum, sondern eher radikal modern.“[432] Und: „… die Postmoderne verabschiedet nur [!] die Neuzeit (…).“[433] In ähnlich kulturkämpferischer Stossrichtung wie die avantgardistische Moderne hebt auch die Postmoderne auf eine neue Ästhetik ab.
‘Liquidiert’ wird im postmodernen Denken damit zusammenhängend auch die Auffassung vom Menschen als vernunftbegabter, freier und sich selbst bestimmender Person. Lyotard will „Das Vorurteil widerlegen, das sich in ihm (dem Leser, d.V.) über Jahrhunderte von Humanismus und ‘Humanwissenschaften’ hinweg fest gesetzt hatte: dass es nämlich den ‘Menschen’ gibt, die ‘Sprache’, dass jener sich dieser ‘Sprache’ zu seinen eigenen Zwecken bedient (…).“[434] Die postmoderne Philosophie leugnet eine allen Menschen gemeinsame Natur und konstruiert ein (widersprüchliches) Menschenbild von identitätslosen, je nach Kultur grundlegend verschiedenartigen Wesen, die von unbewussten Trieben und vorgegebenen Sprachstrukturen beherrscht würden. Foucault drückt den postmodernen Antihumanismus – unsere erste Kategorie postmodernen Denkens – in der Formel des „Todes des Menschen“[435] aus. Was zählt, sind die zugrundeliegenden Strukturen, oder auch die „Diskurse“, die Erkenntnisformen und Weltsicht prägen, die mal so und mal anders sind, und nicht die von Menschen gemachte „Geschichte“. Menschen sind nach Foucault durch und durch Produkte dieser „Diskurse“, die in der neuzeitlichen Geschichte immer subtilere Machtmechanismen darstellten, so dass wir automatenähnlich nach verinnerlichten Disziplinierungs-Normen handeln würden. Den Humanwissenschaften wird im antihumanistischen Register Unterdrückungsfunktion zugeschrieben, indem sie die ihnen äusserlichen Diskurse ausgrenzen würden und Helfershelfer der normschaffenden Macht seien (oder diese darstellten). Sie schrieben seit der Neuzeit vor, was als Norm gelte, so wie man sich früher auf absolute religiöse oder metaphysische Prinzipien berufen habe. Die wissenschaftliche Vernunft habe instrumentellen Charakter, eben qua Ausschliessungsfunktion anderer Sprachspiele, z.B. des Mythos. Hier verbinden sich zwei weitere Kategorien postmodernen Denkens, nämlich die Wissenschaftsfeindschaft und der Angriff auf die Vernunft. Wie die Wissenschaftsfeindschaft bei Foucault zum Ausdruck kommt, ist oben bereits umrissen worden. Auch Feyerabend löst die Wissenschaft auf, indem er sie zu einer Meinungsfrage umdeutet. Die Wissenschaft sei totalitär, da sie Herrschaft ausübe. Feyerabend verneint die wissenschaftliche Methode als adäquaten Zugang zur Erfassung der Wirklichkeit, wobei er die Existenz einer objektiv erfassbaren Wirklichkeit schon gar nicht anerkennt.[436] Demgegenüber konstruiert er eine Welt voller subjektiver Wirklichkeiten, auch Märchen und Mythen umfassend, die er „Traditionen“ nennt.[437] Zur Verdeutlichung: eine Phantasiereise zum Mond stellt er als genauso wirklich dar, wie einen realen Mondflug. Feyerabend sieht seine Position als einen „erkenntnistheoretischen Relativismus“[438] an, die umgangssprachlich als Feyerabends „anything goes“[439] bekannt geworden ist.
Die postmoderne Philosophie macht der neuzeitlichen Wissenschaft und ihrem Forschungsanliegen, Mensch und Natur immer besser verstehen zu lernen, und zu diesem Zweck auch Experimente durchzuführen, den Prozess. Welsch sieht in der neuzeitlichen Wissenschaft, wie sie Descartes begründet habe, den Hauptstrang des neuzeitlichen Denkens. Die philosophische „Konzeption der Moderne“[440] beginnt mit Descartes, wie allgemein anerkannt ist. Für Welsch ist inhaltlich das Neue „… die exakte Wissenschaft, die mathesis universalis, die systematische Weltbeherrschung, die wissenschaftlich-technische Zivilisation – also die zu uns führende Linie.“[441] Welsch will dabei vor allem bei Descartes‘ Rede von den Menschen als ‘maîtres et possesseurs de la nature’ einhaken.[442] Mit Descartes habe die Krise der Gegenwart angefangen, indem die Wissenschaft zur Beherrschung der Natur angetreten sei und die Vernunft einen instrumentellen Charakter angenommen habe, wie auch schon Adorno/Horkheimer gesehen hätten. „Auch diese haben es so gesehen, dass mit Descartes ein Grundtypus instrumenteller Vernunft die Herrschaft antritt und dass die Neuzeit der Zusammenhang dieser Herrschaft ist.“[443] Nach Lyotard habe Descartes in seinem „Discours“ die „… Anstrengung des Ichs, alle Gegebenheiten zu beherrschen, sich selbst inbegriffen …“ bekannt. Es sei ihm um „Beherrschung und Besitz der ‘Natur’“[444] gegangen. Der Begriff „maître“ wird von diesen Kritikern als Herr‑Sein im Sinne des Beherrschens interpretiert. Er bedeutet aber auch „Meister“: derjenige, der sein Metier souverän beherrscht. Diese Bedeutung sei etymologisch gesehen sogar primär, schreibt Höffe; es handelt sich um einen Kompetenzbegriff.[445] Weiter wird behauptet, Descartes habe seine „mathesis universalis“ als Einheitsmethode entworfen, die allen Wissenschaften aufgezwungen werden sollte. „Man kann insgesamt sagen, dass die Neuzeit im gleichen Mass, in dem sie radikal neu ansetzt, auch unerbittlich vereinheitlichend, universalisierend, totalisierend ist.“[446] Descartes’ Anliegen war es aber, überhaupt eine wissenschaftliche Methode zu finden, mit der man zu einer sicheren Erkenntnis gelangen konnte.[447] Er suchte nach einer Philosophie, die anders als die Scholastik auf evidenter Wahrheit beruht, nach einer Methode, mittels derer die systematische Gewinnung neuer Erkenntnisse möglich werden sollte. Philosophie und Wissenschaft sollten einen sicheren Boden erhalten. Selbstverständlich wurden Descartes’ Vorschläge seither ergänzt und revidiert. Sein Projekt, die einzelnen Wissenschaften in einem hierarchischen Gesamt-System unterzubringen, wie es Descartes’ Baum der Philosophie darstellt, wurde fallengelassen. Es versteht sich von selbst, dass man in den unterschiedlichen Einzelwissenschaften spezifische Methoden verwendet, so dass man nicht von einer „Einheits-Methode“ sprechen kann. Der an die neuzeitliche Naturwissenschaft geknüpfte Gedanke des Fortschritts hat nichts von seiner Gültigkeit eingebüsst. In Anbetracht dieser Überlegungen stellt sich die Frage, wozu die Denker der Postmoderne auf Descartes’ „Methode“ so zugespitzt reagieren, und ob sie nicht die wissenschaftliche Vorgehensweise an sich ablehnen.
Sloterdijk behauptet, dass die wissenschaftliche Rationalität geradewegs in der Atombombe kulminiere, womit sie sich als „zynische Vernunft“ entpuppt habe.[448] Hiermit ist der postmoderne Angriff auf die Vernunft angesprochen. Welsch erachtet diesen als ein zentrales Kennzeichen postmodernen Denkens. Die eine Vernunft wird verabschiedet, da sie unterdrückerisch fungiere und die anderen „Erkenntnisformen“ und Denkarten ausgrenze, indem sie sich als oberste Instanz setze. Wie oben bereits dargestellt, setzt Lyotard Auschwitz als das „Ende des modernen Vernunftideals“. Foucault spricht von der Vernunft als „Folter“[449], die den Zwang zur Unterordnung unter die „Norm“ bedeute. Lyotard möchte postmodern nicht nur vernünftig argumentieren müssen, sondern auch Paralogien und Paradoxa verwenden können, als verschiedene Sprachspiele mit gleichem Recht auf Geltung wie die vernünftige Argumentation. Die „progressive Emanzipation der Vernunft“ verabschiedet Lyotard als Meta-Erzählung der Moderne.[450] Wellmer beschreibt die postmoderne Stimmung gegenüber dem menschlichen Vernunftvermögen wie folgt: „In der modernen Naturwissenschaft hat die objektivierende, systematisierende und instrumentalisierende Vernunft ihren klassischen Ausdruck gefunden; aber auch die Wissenschaften vom Menschen lassen sich, wie Foucault gezeigt hat, in diese Ordnung einbeziehen.“[451]
Da die postmoderne Philosophie anthropologische Konstanten nicht anerkennt, verneint sie auch die positive Bedeutung der Vernunft für den Menschen. Mit Vernunft wurde ja immer eine spezifisch menschliche Fähigkeit bezeichnet, die diesen vom Tier unterscheidet: über sich selbst und seine Handlungen reflektieren zu können. Vernünftig zu handeln bedeutete in der klassischen Tugendethik, sachbezogen und im Sinne des Allgemeinwohls zu handeln. Postmodern wird nun die Vernunft als Orientierungsmassstab mit universeller Geltung relativiert. Auch die Vernunft sei nur noch ein Sprachspiel unter anderen, man könne nicht mehr allgemeingültig sagen, was vernünftig sei und sich auf die Vernunft berufen.
Dies führt uns zu einem vierten, in seinen Folgen weitgreifenden Kennzeichen postmodernen Denkens: Dem Relativismus, der als Pluralismus ausgegeben wird. Lyotard behauptet, dass die verschiedenen „Sprachspiele“ unvereinbar miteinander seien und jedes auch ganz anders sein könnte, wenn die „Sätze“ anders beendet würden als sie es gerade werden. Im postmodernen Sprechen und Handeln gebe es keine universelle Regel mehr. Wer im „Widerstreit“[452] auf Einigung besteht, auf Verbindlichkeit und allgemeine Wertorientierung, muss sich der Einmischung und sogar des Totalitarismus verdächtigen lassen, denn „‘lasst spielen … und lasst uns in Ruhe spielen.’“[453] Dass in dieser Aussage ein antisozialer Affekt mitschwingt, ist unüberhörbar. Zentral ist die wertezersetzende Stossrichtung der postmodernen Philosophie. Die Universalität der naturrechtlich geltenden Werte wird als „Meta-Erzählung“ relativiert und abgelehnt. Sloterdijk greift dabei in die antibürgerliche Klaviatur, Lyotard betont den Dissens und die Widervernünftigkeit, Foucault verabscheut Werte und Normen als Disziplinierungsmechanismen und Feyerabend geisselt Prinzipen als „Grabsteine“.[454] Der Bruch mit der Tradition ist auch ein Bruch mit der Ethik, deren Grundlagen im Laufe der abendländischen Geschichte entwickelt worden sind. Lyotard meint, es genüge, von Fall zu Fall zu entscheiden. „Gut oder schlecht“ oder „wahr und falsch“ sind postmodern zu relativen Begriffen geworden. Da universelle Prinzipien und übergeordnete Handlungsmassstäbe als leere, metaphysische Worthülsen abgetan werden, lässt man nur noch „lokale Abmachungen“, Mikro‑Sprachspiele oder ähnlich Beliebiges zu. Man soll dann aber nicht behaupten, man würde eine Moral vertreten oder ethisch handeln, denn moralische Urteile haben immer objektiven Anspruch, wie Tugendhat aufzeigt: „Und wir könnten nicht mehr moralisch urteilen, wenn wir den in den moralischen Urteilen inhärenten objektiven und d.h. personenirrelativen Anspruch nicht festhalten können.“[455]
Ein weiteres Charakteristikum postmoderner Philosophie ist, dass sie einen Bruch mit der Geschichte vollzieht, der die oben beschriebene Distanzierung von der neuzeitlichen und aufklärerischen Tradition miteinschliesst. Gianni Vattimo, ein italienischer Vertreter der postmodernen Philosophie, verkündet das „Das Ende der Moderne“[456], denn der Begriff der Geschichtlichkeit und des Fortschritts seien überholt. Im Sinne von Nietzsche und Heidegger gehe es um einen radikalen Bruch mit der Tradition. Die Geburt der Postmoderne in der Philosophie sei der Moment, wo es nach Nietzsches „chemischer Reduktion“[457] der obersten Werte der Kultur, und damit auch der Wahrheit, kein Fundament für die Begründungsaufgabe des Denkens mehr gebe. Die Geschichte löst Vattimo in einzelne Geschichten ohne einen inneren, bzw. historischen Zusammenhang auf. Auch Foucault versteht die Geschichte nicht als Fortschrittsgeschichte, so dass die Errungenschaften der Neuzeit, z.B. in der Medizin, völlig relativiert werden, da er wissenschaftliches Wissen als reines Machtwissen denunziert. Foucault bricht mit dem geschichtlichen Denken: Gegenwart und Vergangenheit seien nicht miteinander in einen historischen Zusammenhang zu bringen. In Welschs Sammlung von Schlüsseltexten der Postmoderne‑Diskussion befindet sich ein Aufsatz von Sloterdijk mit dem Titel: „Nach der Geschichte“[458] Hierin wird in apokalyptischer Manier eine planetarische Katastrophe angekündigt. Was früher, langsam ablaufend, „Geschichte“ hiess, sei nun zu einem count‑down geraten, der einer Explosion zustrebe. „Nach der Moderne“ gelte es, ein Spiel mit dem Unvorstellbaren zu wagen und die Reise in die Zukunft nach dem Ende der „Geschichte“ anzutreten. Die postmoderne Sicht von der Geschichte ist auch von einer linksideologischen Interpretation gefärbt. Dies wird anhand von Foucaults Darstellung von Entwicklungen neuzeitlicher Institutionen, z.B. der Gefängnisse und der Schulen, aufgezeigt. Diese stellten „Dispositive der Macht“[459] dar, die im Laufe der neuzeitlichen Geschichte mit Hilfe der Humanwissenschaften immer ausgeklügeltere Diszplinierungsmechanismen ermöglicht hätten. So sei die Humanisierung des Strafwesens nichts anderes als eine weitere Technologie der Macht. Die neuzeitlichen Wissenschaften, insbesondere die Humanwissenschaften, hätten die „Seele“ der Menschen immer mehr nach willkürlichen Normen verformt, um aus ihnen angepasste und funktionierende Produkte zu schaffen. Im Sinne des 68er‑Denkens bedeutet Kooperation bei Foucault Unterwerfung unter Macht‑Normen und stupide Anpassung.
Es ergeben sich fünf Haupt‑Kategorien oder -Merkmale postmodernen Denkens:
Antihumanismus
Relativismus und Wertezersetzung
Angriff auf die Vernunft
Wissenschaftsfeindschaft
Bruch mit der Geschichte
Diese Kategorien für postmodernes Denken werden im folgenden Teil II einzeln aus den Werken unserer Autoren herausgearbeitet. Aus obiger Zusammenfassung der Positionen dieser Autoren wurde ersichtlich, dass die Kategorien zueinander in einem inneren Zusammenhang stehen, so wie zum Beispiel Vernunft und Wissenschaft zusammengehören oder die Vernunft eine anthropologische Grundlage für die Werteorientierung darstellt. Desgleichen lässt sich die Geschichtlichkeit als eine spezifisch menschliche Existenz- und Erlebensweise dem anthropologischen Bereich zuordnen. Gerade auch die geschichtliche Dimension ist für die Pädagogik relevant, die aus historisch gewachsenen Traditionen und Erkenntnissen schöpft. Dass Vernunft und Geschichtlichkeit zusammenhängen, wird spätestens dann deutlich, wenn es gilt, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Vernunft, Wissenschaft, Humanismus, Werteorientierung und Geschichte sind zentrale Begriffe der humanistischen Tradition unserer Geistesgeschichte. Sie sind aber nicht nur theoretische Begriffe, sondern haben eine stark praktische Relevanz, da sie das ethisch‑anthropologische Bedingungsgefüge für die Lebenspraxis des Menschen darstellen. Dieser Sachverhalt wird u.a. in der Pädagogik als lebenspraktischem Bereich bedeutsam. Das postmoderne Denken führt seinen Angriff genau auf diese zentralen Kategorien. Die Negierung von Vernunft, Humanismus, Anthropologie, Werteorientierung, Wissenschaft und Geschichte bedeutet wirklich den „Tod des Menschen“.
Das postmoderne Denken mit seinem Antihumanismus, dem Angriff auf die Vernunft, seiner Wissenschaftsfeindschaft, dem Relativismus und der Wertezersetzung und als Bruch mit der geschichtlichen Tradition vermag das gesamte gesellschaftliche Gefüge mit einer sprengenden Wirkung durchdringen. Die vitalsten Bereiche des Zusammenlebens und des Lebens der einzelnen Personen sind davon betroffen. Wir haben es hierbei mit kulturverändernden Strategien zu tun, wie Welsch hervorhebt: „Kulturelle Veränderungen geben die Matrix aller Entwicklungen vor. Daher vermag ein zunächst ‘kulturelles’ Unterfangen wie die Postmoderne den Gesamtkurs einer Gesellschaft zu durchdringen.“[460] Damit ist nichts anderes als eine Kulturrevolution gemeint, die durchaus beabsichtigt ist. Durch die Eroberung der „kulturellen Hegemonie“ (Gramsci) kann die gesamte Gesellschaft auf einen einheitlichen Kurs gebracht werden. Die Postmoderne als „Projekt“ hat also eine politische Stossrichtung, die Welsch offen ausspricht. Wie oben erwähnt, muss die Pluralität in wörtlichem Sinn eine radikale, eine „an die Wurzeln gehende“ sein, fordert Welsch.[461] Eine semantische Strategie, deren sich Welsch in seinen Schriften bedient, dient dazu, die traditionelle Kultur und bewährte Werte dem Leser als autoritativ, veraltet und unredlich darzustellen: Postmoderne „Subjekte“ würden schon längst mit unterschiedlichen „Paradigmen“ und im „Übergang“ zwischen verschiedenen Lebensformen leben, nur die „… offiziöse Orientierungsrhetorik will dem noch wenig Glauben schenken. Ihre Direktiven hinken hinter der tatsächlichen Subjektverflüssigung – die keineswegs Selbstauflösung bedeutet – hinterher.“[462] Der Begriff „Subjektverflüssigung“ lässt aufhorchen. Er bedeutet tatsächlich eine Auflösung der persönlichen Identität, der Ganzheitlichkeit einer Persönlichkeit, denn der postmoderne Mensch ist ein polyphrener Mensch: Verschiedene Orientierungen und Sinnsysteme durchkreuzen sein Inneres, und er darf sich durchaus auch als bisexuelles Wesen wähnen. Welsch spricht von „crosscutting identities“ (überkreuzenden Identitäten) in denselbem Individuum.[463] Die besorgniserregenden gesellschaftlichen Veränderungen, die schon seit einiger Zeit zu beobachten sind, so zum Beispiel die Auflösung der Familie, werden elegant zu einer Normativität des Faktischen gewendet: Wer fortschrittlich ist, lebt schon postmodern – q.e.d. Dass diese Veränderungen aber bereits Folgen einer Zeitgeistpropaganda sind, die von kulturellen Schlüsselpositionen aus, wie z.B. den Medien, vorangetrieben wird, und somit keine „notwendigen“, auf demokratischer Willensbildung beruhenden Entwicklungen darstellen, wird verschwiegen. Postmoderne Ideologie zielt also auf eine radikale Bewusstseinsveränderung und Kulturrevolution hin. Die sozialpsychologischen und psychotechnischen Methoden, die geschaffen wurden, um beim einzelnen Menschen dauerhafte Bewusstseinsveränderungen zu bewirken, sind bereits in der heutigen pädagogischen Praxis zu finden – wie in Teil III dieser Arbeit dargestellt wird.
Der postmoderne Antihumanismus
Warum ist der Postmodernismus ein Antihumanismus?
Diese Frage ist nicht schwer zu beantworten, da schon das Menschenbild der Vertreter der Postmoderne klar antihumanistisch ist: Sie machen dem autonomen neuzeitlichen ‘Subjekt’, dem zu sich selbst befreiten, vernunftfähigen Individuum den Prozess. Mit seiner Selbstherrlichkeit sei der neuzeitliche Mensch Ursache mannigfachen Übels geworden: Er beherrsche mittels kalter Rationalität, mittels Wissenschaft und Technik die innere und die äussere Natur, er unterdrücke andere Lebensformen und Kulturen, erhebe wissenschaftliche Erkenntnisse zu absoluten Wahrheiten, um damit Macht zu erlangen, wandle die bürgerlichen Werte zu allgemeingültigen Normen um und glaube an den Fortschritt und die Versöhnung. Der Begriff „Selbstherrlichkeit“ deutet aber daraufhin, dass die mittelalterliche Auffassung von der Erbsünde sich zur Hintertür wieder eingeschlichen haben könnte. Von dieser belastet, dürfe sich der Mensch nicht allzu hoch aufschwingen, hiess es damals. Tue er dies dennoch, falle er umso tiefer, oder die Strafe folge auf dem Fuss. Im Register der „Dialektik der Aufklärung“ rächt sich dann die „unterdrückte Natur“.[464]
Allgemein richtet sich der Postmodernismus gegen die Werte der abendländischen humanistischen Tradition, denen er, obwohl sie sich als normative Grundlage für eine demokratische Gesellschaft bewähren, ihre Gültigkeit abspricht. Gekennzeichnet von einem ethischen Relativismus kann postmodernes Denken für Wahrheit, Freiheit, Mitmenschlichkeit und Menschenwürde gar nicht eintreten. Das allen Menschen Gemeinsame, das zwischenmenschliche Verbundenheit möglich und wünschenswert macht, interessiert nicht. Dagegen werden die Unterschiede betont, wie überhaupt alles „Universelle“ mit Misstrauen belegt wird. So stellt Axel Honneth denn auch bei Lyotard einen „Affekt gegen das Allgemeine“ fest.[465] Für den Humanismus hängt der Wert eines Gegenstandes von seiner Eigenschaft ab, die Vollendung des Wesens des Menschen in seiner Bestimmung als ‘Herr des Seienden’ zu begünstigen. Konsequenterweise vollzieht sich dann die Kritik am Humanismus und der Subjektivität im Rahmen einer Dekonstruktion der Neuzeit, bei der der Mensch wieder aus dem „Vorrang der Bezugsmitte“ (Heidegger) herausgenommen werden soll.[466]
Bei Lyotard wird in Kurzform deutlich, welch unlautere Motive man postmodern den werteorientierten, nach einem gesellschaftlichen Konsens strebenden Mitbürgern unterstellt: „Hinter dem allgemeinen Verlangen nach Entspannung und Beruhigung vernehmen wir nur allzu deutlich das Raunen des Wunsches, den Terror ein weiteres Mal zu beginnen…“[467] Im gleichen Sinn verdreht Foucault in seinem bekannten „Gespräch mit Studenten“ den Humanismus in sein Gegenteil: Er sei nichts anderes als Unterdrückung und Unterwerfung des Menschen im Namen scheinbar humaner Begriffe. An dieser Stelle breitet Foucault seine linksradikale Vision einer Zerstörung der menschlichen Persönlichkeit und der demokratischen Gesellschaft aus, die durch eine „kulturelle Attacke“[468] erfolgen solle, in deren Verlauf das gesamte Wertesystem der abendländischen Kultur aufgebrochen werde. Mittel dazu seien Rauschgift, sexuelle Enthemmung, alternative Lebensformen und weitere Umkehrungen der bewährten Normen.[469] Dieses Programm hat seit den Jahren nach 1968 enormen Einfluss auf den Zeitgeist gewonnen und wird laufend in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft in die Praxis umgesetzt.
Die diversen postmodernen ‘Diskurse’ beabsichtigen vor allem das eine: die „Destruktion des Subjekts“, der personalen Auffassung des Menschen. Marian Heitger merkt aus philosophisch‑pädagogischer Sicht dazu an: „Die Postmoderne scheint in manchen ihrer Vertreter die Belanglosigkeit des Philosophierens endgültig zu bestätigen, wenn sie den Tod des Subjekts postuliert und schliesslich das Ende der Pädagogik verkündet.“[470]
Die oben erwähnte Foucault‑Textstelle wird im folgenden ausführlich zitiert, da sie die Essenz des postmodernen antihumanistischen Denkens enthält:
„Ich verstehe unter Humanismus die Gesamtheit der Diskurse, in denen man dem abendländischen Menschen eingeredet hat: ‘Auch wenn du die Macht nicht ausübst, kannst du sehr wohl souverän sein. Ja: je mehr du auf Machtausübung verzichtest und je besser du dich der Macht unterwirfst, die über dich gesetzt ist, umso souveräner wirst du sein.’ Der Humanismus ist die Gesamtheit der Erfindungen, die um diese unterworfenen Souveränitäten herum aufgebaut worden sind: die Seele (souverän gegenüber dem Leib, Gott unterworfen), das Gewissen (frei im Bereich des Urteils, der Ordnung der Wahrheit unterworfen), das Individuum (souveräner Inhaber seiner Rechte, den Gesetzen der Natur oder den Regeln der Gesellschaft unterworfen), die grundlegende Freiheit (innerlich souverän – äusserlich ‘in Übereinstimmung mit ihrem Schicksal’). Kurz, der Humanismus ist all das, wodurch man im Abendland dem Verlangen nach der Macht einen Riegel vorgeschoben hat – wodurch man ihm untersagt hat, die Macht zu wollen, wodurch man die Möglichkeit ausschloss, die Macht zu ergreifen. Das Herz des Humanismus ist die Theorie vom Subjekt (im Doppelsinn des Wortes: als Souverän und Untertan). Darum lehnt das Abendland so erbittert alles ab, was diesen Riegel sprengen könnte, wofür es zwei Methoden gibt: die ‘Entunterwerfung’ des Willens zur Macht, d.h. der politische Kampf als Klassenkampf – oder das Unternehmen einer Destruktion des Subjekts als eines Pseudo-Souveräns, d.h. eine ‘kulturelle Attacke’. Aufhebung der sexuellen Tabus, Einschränkungen und Aufteilungen; Praxis des gemeinschaftlichen Lebens; Aufhebung des Drogenverbots; Aufbrechung aller Verbote und Einschliessungen, durch die sich die normative Individualität konstituiert und sichert. Ich denke da an alle Erfahrungen, die unsere Zivilisation verworfen hat oder nur in der Literatur zulässt.“[471]
Zentrale Begriffe der humanistisch-aufklärerischen Tradition, wie ‘Gewissen’, ‘Individuum’ oder ‘Freiheit’, die den Menschen in seiner unantastbaren Würde und je eigenen Persönlichkeit konstituieren, entleert Foucault ihres Inhalts. Sie seien nicht echt gemeint, ja würden nur die Unterwerfung des Menschen unter verschiedene Gegebenheiten verschleiern. Eine marxistische Theorie also: Der Mensch als Produkt der gesellschaftlichen Verhältnisse und – neomarxistisch erweitert – ihrer Regeln und Normen. ‘Subjekt’ bedeute nämlich auch der Untertan, der Unterworfene. Foucault vollführt hier ein Wortspiel mit zwei Bedeutungen eines Begriffes, um ihn seinem marxistischen Register ‘unterwerfen’ zu können. Als „Gegenwissenschaften“ gegen die Humanwissenschaften treten bei Foucault die Psychoanalyse und die Ethnologie auf, da sie diesen entgegen arbeiteten und „… nicht aufhören, den Menschen ‘kaputt’ zu machen (…)“.[472] Ausdrücklich wendet Foucault sich gegen die Auffassung von einer Natur des Menschen. „Die Idee einer ‘psychoanalytischen Anthropologie’, die Idee einer ‘menschlichen Natur’, die von der Ethnologie wieder hervorgebracht würden, sind nur fromme Wünsche.“[473] Allen, die noch nach dem Menschen in seiner Essenz fragen würden, denjenigen, die noch denken, dass es der Mensch sei, der denkt, könne man nur ein „philosophisches Lachen“ entgegensetzen.[474]
Im Gegensatz zu dieser antihumanistischen Sichtweise fasst Alfred Reble in seiner Geschichte der Pädagogik das Anliegen der Aufklärung, Freiheit und Würde des Menschen zu bestimmen und zu sichern, wie folgt zusammen: „Sie sucht in rationaler Weise seine Autonomie zu begründen und spricht ihm im Namen der Vernunft Freiheit und Würde zu (…). Das Vertrauen der Aufklärung zur Ratio ist zugleich ein fast unbegrenztes Vertrauen zum Menschen selbst (…).“[475] Nicht umsonst hat sich diese neuzeitliche Wendung zum Menschen und zum Individuum in seiner unveräusserlichen Würde in der ‘Erklärung der Menschenrechte’ niedergeschlagen. Sie gilt für den Teil der Menschheit, der in rechtsstaatlichen Verhältnissen lebt, seither als verbindlich. Nach Hager kennzeichnet den aufklärerischen Begriff des denkenden Subjekts die Tatsache, dass von nun an der in Freiheit sich selbst erkennende Mensch einen Wert in sich selber darstellt. Dem haben sich alle anderen Werte unterzuordnen.[476] Mit anderen Worten: die Würde des Menschen ist das höchste Gut.
In den postmodernen Texten der heutigen Zeit lässt sich demgegenüber sowohl inhaltlich wie sprachlich eine Aversion gegen den Menschen feststellen. So schreibt z.B. Lyotard: „Vielleicht ist der Mensch nur ein besonders ausgeklügelter Knoten in der allgemeinen, das Universum konstituierenden Interaktion der Strahlungen.“[477] Damit ist der Mensch ausgelöscht. Versteht man die Aussage mehr metaphorisch, bildet der Mensch nur einen Punkt innerhalb von kosmischen, aus Strahlungen bestehenden Strukturen. Die Wirklichkeit hat sich aufgelöst und der Mensch ist, seines menschlichen Wesens beraubt, in einen unbedeutenden Knotenpunkt verwandelt worden. In einer zutiefst antihumanistischen Sprache beliebt es Lyotard an anderer Stelle das „menschliche Subjekt“ in Computer- oder Robotersprache zu charakterisieren: „Denn zum Begriff (…) ‘Natur’ muss man auch alle Bestandteile des menschlichen Subjektes rechnen – sein Nervensystem, seinen genetischen Code, seinen cortikalen Computer, seine visuellen und auditiven Greifer, seine Kommunikationssysteme (…).“[478] Wir haben hier eine entmenschlichende Sprache vor uns, die erschreckt und in ihren Wirkungen keineswegs verharmlost werden darf.
Als Voraussetzung des postmodernen Ansatzes ging schon die strukturalistische Philosophie von der Idee aus, dass die Vorstellung vom sich selbst bestimmenden Menschen, wie sie sich seit der Neuzeit entwickelt hat, mindestens seit Anfang dieses Jahrhunderts ausgedient habe. Das autonome Subjekt sei dreimal entthront oder dezentriert worden: Einmal durch die Psychoanalyse mit der Feststellung, dass der Mensch von unbewussten Trieben gesteuert sei, über die er wenig Kontrolle habe. Dann durch die Linguistik, die gezeigt habe, dass der Mensch seinen vorgeprägten Sprachstrukturen ausgeliefert sei. Zum dritten durch die ethnologischen Befunde, die den Menschen den Strukturen seiner jeweiligen Kultur unterworfen sehen. Durch diese Dreifaltigkeit der Ergebnisse neuerer Forschungen sei das neuzeitliche Subjekt entmächtigt und ein Paradigma‑Wechsel in der Anthropologie eingeleitet worden. Allen drei Sichtweisen ist gemeinsam, dass sie behaupten, das Individuum sei Kräften unterworfen, die es nicht bewusst steuern könne. Man spricht bezüglich der strukturalistischen Weltsicht vom „Verschwinden des Menschen in den Strukturen“. So schrieb der Begründer des Strukturalismus, Lévi-Strauss, dass das „… letzte Ziel der Wissenschaften vom Menschen nicht das ist, den Menschen zu konstituieren, sondern das, ihn aufzulösen.“[479] In den Worten Foucaults: „In unserer heutigen Zeit kann man nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken.“[480]
Gerhard Mertens fällt in diesem Zusammenhang ein „seltsam anmutender Sprachobjektivismus“ auf, „… dessen sich Lyotard wie viele seiner Pariser Zeitgenossen bedient. So etwa, wenn er formuliert: ‘Ein Satz geschieht’ … oder wenn es heisst: ‘Das Ereignis des Satzes … wird sicher nicht vom Ich aufgerufen.’“[481] Mertens folgert glasklar:
„Hier wie auch sonst im Neostrukturalismus wird das vermeintlich sich selbst konstituierende und mit sich selbst identische Subjekt gleichsam vom Spiel sprachlicher Differenzen derart aufgesogen, dass es nun nicht als die Ursache, sondern als die Wirkung sprachlich‑strukturaler Prozesse gedacht ist. Der Desanthropologisierung der Sprache entspricht die Verbannung des Subjekts aus der Philosophie.“ [482]
Im poststrukturalistischen Denken wurde die strukturalistische Position teilweise übernommen, aber – auf verschiedene Wissenschaften und menschliche Lebensbereiche angewandt – ihres Ordnungsgefüges enthoben. Strukturierende Prinzipien werden nun keine mehr anerkannt, was unter anderem zur Folge hat, dass die Wahrheit relativiert wird. Zwischen unserem Denken und der Wirklichkeit lasse sich keine feststehende Beziehung mehr ausmachen, Fiktion und Wirklichkeit werden verschmolzen. Es gebe keine Massstäbe mehr, kein feststehendes Zentrum, alles sei in Bewegung. Diskontinuitäten und Brüche interessieren die postmodernen Philosophen. Sie sehen in der neuzeitlichen Geschichte keine Entwicklung zum Fortschritt mehr, wovon die Aufklärung noch ganz überzeugt war. Die Vernunft als Grundlage für Autonomie und eine Verbesserung der menschlichen Verhältnisse wird postmodern als „terroristisch“ denunziert.[483]
„Es gibt keinen archimedischen Punkt mehr, keine Grundlage, von der aus alles geordnet, gedacht oder durch messbare Effekte beeinflusst werden könnte. Es gibt keine feststehenden Kriterien mehr für die Wahrheit von Urteilen, die Rechtfertigung des Handelns oder die Aufrichtigkeit von Intentionen, weder bei der Beurteilung meines Handelns durch Dritte, noch durch mich selbst. Neben die eine Welt der Moderne tritt eine Pluralität an Welten, neben die unterstellte Kontinuität (Raum, Zeit, Qualität) Diskontinuität.“[484]
Bei Michel Foucault fällt auf, wie er den Menschen zu einer zufälligen Erscheinung herabzuwürdigen sucht und die Vorstellung von einer personalen Identität zerstören will. Solchem Ansinnen glaubt er sogar die Wissenschaft dienstbar machen zu können: „Die Historie kann der systematischen Auflösung unserer Identität dienen,“[485] so dass man „in unserer heutigen Zeit (…) nur noch in der Leere des verschwundenen Menschen denken“[486] kann. Foucaults theoretischer „Antihumanismus“ (M. Frank)[487] bildet eine deutliche Analogie zu Lyotards Vision des Menschen als Knotenpunkt im Universum. Nebenbei bemerkt wendet sich Lyotard aber gerade gegen gesamthafte Deutungen, die für ihn zu den totalen Erzählungen gehören. Also sollte er sich nicht zu einer Gesamtschau über die Stellung des Menschen im Universum hinreissen lassen.
Foucaults „genealogische“ Methode, Geschichte zu betreiben, gibt dem Programm der dreifachen Dezentrierung des neuzeitlichen Subjekts zusätzlich Nahrung. „Die Genealogie erforscht den Boden, aus dem wir stammen, die Sprache, die wir sprechen, und die Gesetze, die uns beherrschen, um die heterogenen Systeme ans Licht zu bringen, welche uns unter der Maske des Ich jede Identität untersagen.“[488] Wenn man die jeweiligen Strukturen ausfindig gemacht habe, denen der Mensch unterworfen sei – in der Sprache, in der Kultur und in seinem Seelenleben – und sie auch an Beispielen aus der Geschichte aufzeigen könne, solle gemäss Foucault klar werden, dass das „Ich“ eine Fiktion sei.
„Denn diese Identität, die wir unter einer Maske notdürftig wahren wollen, ist selber nur eine Parodie: der Plural regiert sie, unzählige Seelen machen sie einander streitig; die Systeme durchkreuzen sich und beherrschen einander. (…) Und in jeder dieser Seelen entdeckt die Historie nicht eine verschollene Identität, die jederzeit wieder aufleben kann, sondern ein komplexes System von vielfältigen, unterschiedenen Elementen, welche von keiner synthetischen Kraft zusammengehalten werden.“[489]
Ferry/Renaut geben zur Theorie einer Auflösung des Subjekts zu bedenken, dass
„… die genealogische Praxis die Negation der Subjektivität (…) zur äusserst gefährlichen Zerstörung der Idee der Menschlichkeit (…) weitertreibt. Denn in der Perspektive einer solchen Verdinglichung der Einzelbewusstseine kann die Kommunikation (zum Beispiel die philosophische Diskussion) auf keinen Fall mehr als eine Auseinandersetzung freier, für ihre Aussagen verantwortlicher Subjekte aufgefasst werden, sondern bloss noch als Sublimation von Kräfteverhältnissen oder, wenn man so will, als euphemistische Form des Krieges (Klassenkampf, Triebkonflikte, Sichstossen der einzelnen Machtbestrebungen etc.) Auf einer tieferliegenden Ebene: Der Historismus, den das genealogische Denken (…) mit sich bringt, führt unvermeidlich dazu, dass das Postulat einer konstitutiven Einheit der Menschen als durch und durch metaphysisch in Frage gestellt wird.“[490]
Der poststrukturalistische Mensch stellt ein Kampffeld zahlreicher Kräfte dar, die in unterschiedliche Richtungen streben und seine Persönlichkeit zerreissen. Die Identität ist aufgelöst, die Person in verschiedene Elemente zerfallen. Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus, wie Freud seinerzeit formulierte. Ein solches Bild vom Menschen wird von der Psychopathologie als psychotische Persönlichkeitsstruktur bezeichnet. Dem Psychotiker ist es nicht möglich, Kontrolle über seine Affekte und überwältigenden Emotionen zu bewahren, er ist ihnen völlig ausgeliefert. Phantasien überschwemmen ihn und gaukeln ihm eine Welt vor, die nicht mit der Realität übereinstimmt, die er aber als real wahrnimmt. Ein derartiger Gefühlszustand ist alles andere als angenehm, und es verwundert deshalb, dass Foucault einer Auflösung der Persönlichkeit das Wort reden kann. Aber er macht tatsächlich tabula rasa mit uns allen: „Wo ‘es spricht’, existiert der Mensch nicht mehr.“[491]
Dass das Verhalten des Menschen auch von unbewussten Motiven und Gefühlen bestimmt wird, ist die grossartige Entdeckung Sigmund Freuds. Weitere Forschungen, unter anderem auch die psychologischen Erkenntnisse Alfred Adlers, haben gezeigt, dass der Mensch nicht von Trieben beherrscht wird, sondern einen ihm eigenen, individuellen Lebensstil führt, in den die unbewussten Gefühlsregungen eingebaut sind. Adler betonte die Aktivität des Menschen, sein Streben nach Überwindung von Hindernissen, das ihm eine zufriedenstellende Bewältigung seiner Lebensaufgaben ermöglicht. Die bewusste Komponente des Seelenlebens nimmt einen wichtigeren Stellenwert ein, als Freud annahm. Adler spricht daher von bewusst‑unbewussten Verhaltensweisen.
Peter Sloterdijk geht mit dem neuzeitlichen Begriff vom Menschen ebenso scharf ins Gericht wie die französischen Neostrukturalisten. Das „moderne Selbsterhaltungs-Ich“ sei durch Misstrauen, Rationalität und Kontrolle geprägt[492] es sei „gigantomanisch“[493] Die Subjekte führten einen Krieg gegen das Andere, das sie zum Objekt machen würden und huldigten einem Herrschaftszynismus.[494] Ähnlich wie Foucault sieht Sloterdijk im „Willen zum Wissen“ Machtgelüste, also „Interessen, die sich nicht im Wissen als solchem erschöpfen, sondern die der Aufrüstung der Subjekte gegen die Objekte dienen.“[495] Er versteigt sich sogar zu der Behauptung, dass objektives Wissen (das er sowieso negiert) Waffencharakter besitze.[496]
„Im ‘denkfähigen Geschoss’ gelangen wir zur Endstation der modernen Subjektverstellung, denn was in der Neuzeit Subjekt heisst, ist in Wahrheit jenes Selbsterhaltungs‑Ich, das sich aus dem Lebendigen Schritt für Schritt zurückzieht bis auf den paranoiden Gipfel. Rückzug, Distanzierung, Selbstverstellung treiben diese Art von Subjektivität hervor.“[497]
Konsequenz der Diagnose: er empfiehlt die „Verflüssigung des Subjekts“.[498] Man beachte, dass Sloterdijk über Menschen spricht! In einer „Philosophie ohne Subjekt (…) gibt es im Grunde genommen nur die Rhythmen, nur das Hin und Her der Energien und Gegenpole, für das Separat‑Ich des Menschen bleibt keine eigene Sphäre.“[499] Eintauchen soll der Mensch in die Ströme des Lebens. Wie und wohin sie ihn führen, ist egal, Hauptsache, er hat die Vernunft abgegeben und den Verstand verloren. Er solle nur Kraft unter Kräften sein, sich widerstandslos in das einfügen, was geschieht.[500] Die Strukturen bei Sloterdijk sind flüssig und rhythmisch lebendig, liegen in der Natur verborgen. Wir kennen diese Sprache aus der Romantik, die sich in einer Gegenbewegung zur Rationalität des Aufklärungsdenkens dem Irrationalen zuwandte.
Da Sloterdijk die negativen Erscheinungen der Welt wie Krieg, Herrschaft und Unterdrückung oder Machtzynismus als Resultate der menschlichen Vernunft, die sich seit der Aufklärung zum Herrscher über alles aufgeschwungen habe, darstellt, läutet er nun auch die Endzeit ein:
„… das experimentum mundi ist zu Ende; der Mensch war ein Fehlschlag. Die Aufklärung kann nur ein Resumee ziehen: der Mensch ist nicht aufzuklären, weil er selbst die falsche Prämisse der Aufklärung war. Der Mensch genügt nicht. Er trägt in sich selbst das verdunkelnde Prinzip der Verstellung, und wo sein Ich erscheint, kann nicht leuchten, was durch alle Aufklärungen versprochen wurde: Licht der Vernunft.“[501]
Ein Antihumanismus, der die Destruktion der Persönlichkeit und eine Auflösung des Menschen als eines bewusst denkenden und handelnden Subjekts anstrebt, findet sich, wie gezeigt wurde, bei Lyotard, Foucault und Sloterdijk.
Als Folge der Aufwertung des einzelnen Menschen und seiner Vernunft seit Neuzeit und Aufklärung wurde auch der soziale Zusammenhang der Individuen neu beobachtet und untersucht. Die Art und Weise des menschlichen Zusammenlebens sollte nicht mehr, wie in der mittelalterlichen Welt, von der Beziehung zu einem Gott und einem gottgegebenen Schicksal abhängig sein. Es ging nun darum, die menschlichen Verhältnisse abgestützt auf die eigene Vernunft selbständig zu gestalten. Das Grundinteresse des Aufklärungsdenkens ist gemäss Hager
„… dass die Philosophie der Aufklärung nicht mehr die Magd der Theologie und der Kirche sein will, dass der philosophisch sich aufklärende Mensch sich selbst und seine ganze Welt, aber auch Gott und die Religion, nicht nur durch eigene, selbstverantwortliche Vernunft erkennen, sondern auch sein ganzes Leben und seine ganze Welt durch Vernunft praktisch neu gestalten will (…)“[502]
Der Mensch lebt immer in einem sozialem Zusammenhang, er ist von Natur aus ein ‘soziales Wesen’. Eine wirkliche soziale Verbundenheit der Individuen kommt aber erst zum Tragen, wenn sie vom gefühlsmässigen Empfinden der einzelnen gespiesen wird und sich auf moralischen Werten begründet, die das Wohlbefinden der Allgemeinheit zum Ziele haben. Diese Werte, als gelebte Charakterhaltungen eines Menschen, werden in der Tradition der klassischen Ethik Tugenden genannt. Der Erziehung wurde im Aufklärungsdenken daher die Aufgabe gestellt, im Kind die Voraussetzungen zu einer sittlichen Lebensführung heranzubilden. Das Glück des Einzelnen ist z.B. bei Helvétius untrennbar mit dem Glück seiner Mitmenschen verknüpft: „… in jeder richtigen Erziehung wird die Vorstellung meines eigenen Glücks in meinem Gedächtnis stets mehr oder weniger eng an die des Glücks meiner Mitbürger gebunden sein, und der Wunsch nach dem einen wird in mir das Streben nach dem anderen hervorbringen.“[503] und „Aber was ist denn Moral? Die Wissenschaft von den Mitteln, die die Menschen erfunden haben, um möglichst glücklich zusammen zu leben.“[504] Gerade in der humanistischen Tradition wird die Frage der Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft als eine grundlegende Seinsfrage angesehen. Wie soll und kann der Einzelne zum Gelingen eines befriedigenden zwischenmenschlichen Zusammenlebens im Kleinen wie im Grossen beitragen? Für die Pädagogik ergibt sich daraus die grundlegende Frage, wie die jungen Menschen durch Erziehung und Bildung dazu befähigt werden können.
Wie verhält es sich nun mit der Frage der gesellschaftlichen Gemeinschaft im postmodernen Denken? Wie sehen die Autoren die Funktionsweisen der menschlichen Gemeinschaften? Da trifft man ganz zentral auf eine Ablehnung von Versöhnlichkeit und Konsensus im zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Bereich. Mit Konsens ist die Möglichkeit gemeint, zu einer Einigung durch das auf Vernunft und Realitätssinn gestützte, sachbezogene Gespräch unter Gleichwertigen zu gelangen. Lyotards Konzept, das ausdrücklich den Dissens zur Maxime erhebt, denunziert die Einigung als Rückgriff auf einen totalisierenden Meta‑Diskurs.[505] Eine Verständigung ist demnach nicht möglich, da die Sprachspiele heteronom seien und jeder Konsens ihnen Gewalt antun würde. Im Widerstreit der heteronomen Diskurse gebe es keine universale schlichtende Autorität. Wir haben es mit einer agonalen Gesprächssituation zu tun.
Demgegenüber konfrontiert Gerhard Mertens die abstrakte Setzung von Sprechakten mit der Wirklichkeit. Da haben wir es nämlich mit konkreten Individuen in konkreten Lebenssituationen zu tun, die auf diese bezogen denken und handeln. Die Sprechakte ergeben sich aus „… den jeweiligen Intentionen und Zwecksetzungen verstehender und handelnder Subjekte, die im Vollzug individueller schöpferischer Entwürfe in freier Interpretation die Auswahl vornehmen.“[506] Sprachliche Pluralität und mögliche Allgemeinheit sind kein unauflösbarer Gegensatz, denn die Mannigfaltigkeit erhält aus der Kontinuität des individuellen Lebensentwurfes ihre Einheit. Die Individualpsychologie Alfred Adlers formuliert diesen Sachverhalt so, dass der Mensch als einheitliche Persönlichkeit eine bestimmte Lebenslinie kontinuierlich verfolgt. Das individuelle Kontinuum wiederum ist gemäss Mertens „… über sozial vermittelte Lebenspraxis einbezogen in die freilich offene Einheit eines Traditions- und Weltdeutungszusammenhanges, letztlich eines Menschheitszusammenhangs.“[507] Die soziale Eingebundenheit des Menschen wirkt sich auch auf seine Sprachform aus, in der er seine sozial gerichteten Interessen ausdrückt. Es existiert ein Menschheitszusammenhang, um den sich nicht zu kümmern bedeutet, sich aus der Verantwortung zu schleichen. „In Wahrheit ist also das argumentative Genre die tragende Plattform für menschliche Kommunikation und menschliches Wirklichkeitsverständnis.“[508] Der vernunftgeleitete Diskurs ist nicht einfach ein Sprachspiel unter anderen. Er ist verbindlich und will sachbezogen begründet sein.
Da es eine Wirklichkeit gibt, auf die sich die Menschen in ihrer Transsubjektivität ausrichten und handeln, ist auch Allgemeingültigkeit und Konsens möglich. Die Vernunft entspricht menschlichem Wirklichkeitsverständnis. Gerade die verbindlich‑rationale Argumentation erweist sich für Mertens „als jenes allen anderen Diskursarten vorgeordnete Sprachspiel“.[509] Selbstverständlich muss sich dieser Diskurs auf einer rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Basis bewegen.
In Lyotards Welt inkommensurabler Sprachspiele dagegen, löst sich der soziale Zusammenhang auf, so dass er sagen kann: „In dieser Zerstreuung (…) von Sprachspielen scheint sich das soziale Subjekt selbst aufzulösen.“[510] So muss der Mensch hier zwei Tode sterben. Einerseits ist er Opfer der Sprachregeln und unbewusster Sprachstrukturen und andererseits wird ihm das mitmenschliche Lebenselement genommen.
Luc Ferry und Alain Renaut denken die immanente Logik des antihumanistischen Denkens zu Ende: Werden nur noch die Unterschiede zwischen den Menschen gesehen und die Gemeinsamkeiten nicht mehr erkannt, entfremdet man sich voneinander immer mehr. Der Andere wird zum ‘Barbar’.
„Der Antihumanismus des 68er-Denkens mündet in der ‘Barbarei’, und zwar nicht in dem Sinne, dass er zu wer weiss welchen gewalttätigen Entfesselungen führte, sondern in dem Sinne, dass der gegen die Subjektivität gerichtete Prozess hier jede Möglichkeit des echten Dialogs zwischen Bewusstseinen, die ihre Verschiedenheit auf dem Hintergrund von Identität zu denken in der Lage wären, zerstört: Wenn alles, was bleibt, nur die auf die Spitze getriebenen individuellen Differenzen sind, dann wird ein jeder dem anderen der ‘ganz Andere’, also der Barbar.“[511]
Die Negation der Subjektivität führe zur äusserst gefährlichen Zerstörung der Idee der Menschlichkeit, geben Ferry/Renaut zu bedenken, denn die Kommunikation finde nicht mehr zwischen bewusst denkenden und handelnden Persönlichkeiten statt.
Relativismus und Wertezersetzung
Das „Ende der grossen Erzählungen“: Die relativistische Position bei Lyotard
„Es gibt nämlich eine Koppelung zwischen der Sprachgattung, die sich Wissenschaft nennt, und jener anderen, die sich Ethik und Politik nennt: Die eine wie die andere gehen von derselben Perspektive aus, oder, wenn man so will, von demselben ‘Entschluss’, und dieser heisst Abendland.“[512] Lyotards relativistische Position bezüglich unserer christlich‑abendländischen Kultur zeigt schon dieses kurze Zitat aus „Das postmoderne Wissen“: Das Abendland sei ein „Entschluss“, und Wissenschaft, Ethik und Politik stellten bestimmte Sprachspiele innerhalb dieser abendländischen Perspektive dar. Man hätte sich auch ganz anders „entschliessen“ können. Lyotard relativiert damit nicht nur die Geltung der wissenschaftlichen Errungenschaften und der ethischen Prinzipien unserer Kultur, sondern diese wird an sich und gesamthaft in Frage gestellt.
Tatsächlich entwickelt sich aber eine Kultur mit ihren Denkweisen und Institutionen in komplexen Vorgängen und Wechselwirkungen, wozu unzählige einzelne Menschen beitragen. So bilden sich mannigfaltige Ideen und Lebenspraktiken oder Produktionsformen heraus. Im Laufe der Jahrhunderte sammelt sich immer mehr Wissen an, manches überdauert, bewährt sich in der Praxis, und anderes geht verloren oder wird aufgegeben. Es ist deshalb unzulässig und reduktionistisch, von einem „Entschluss“ zu sprechen, wie wenn diese ganzen Entwicklungen, die trotz aller Rückschläge insgesamt ein Fortschreiten bedeuten, unbedeutend wären. Auf arrogante Art fegt hier Lyotard vom Tisch, was sich die Menschen im Laufe der abendländischen Geschichte in oft mühseliger Arbeit und unter vielen Opfern geschaffen haben. Eine hochentwickelte Zivilisation wie die unsere mit ihrem reichen Wissens- und Erfahrungsschatz über Natur, Technik und menschliche Belange, kann auch nicht – im Sinne eines kulturellen Relativismus – jeder anderen Kultur gleichgestellt werden. Nebenbei fällt an der Rede vom „Entschluss“ eine marxistische Tendenz auf, die suggeriert, dass die „Herrschenden“ die Denkweise und Lebensform einer Kultur, diesmal also die abendländische, vorgeben würden.
Wie Foucault und den anderen Poststrukturalisten ist Lyotard jeglicher Universalismus ein Dorn im Auge. Das zentrale Paradigma der Moderne, die universell verstandene Vernunft, müsse überwunden werden. Lyotard geht bereits so weit, dass er das poststrukturalistische Postulat einer Dekonstruktion des neuzeitlichen Rationalitätsprinzips als eine Faktizität der aktuellen Realgeschichte begreift, „… indem er für die Gegenwart einen Prozess der Befreiung von rationalen Denkprinzipien und damit des Übergangs zu ‘postmodernen’ Wissensformen behauptet.“[513] Axel Honneth konstatiert bei Lyotard einen „Affekt gegen das ‘Allgemeine’“[514], da er jeglichen Konsens ablehne und sich weigere, die universalen Voraussetzungen menschlichen Handelns und Redens überhaupt ins Auge zu fassen, gleich wie er auch erkenntnistheoretische Bemühungen um die universalen Konstitutionsbedingungen der Wissenschaften nicht ernst nehme. Das Allgemeine sei bei Lyotard das Falsche schlechthin.[515]
Im folgenden interessiert uns die Bedeutung, die Lyotard in diesem Zusammenhang der Ethik und der Werteorientierung zuschreibt. Ihre Relativierung wird aus dem ersten Zitat schon deutlich. Sie seien nur „Sprachspiele“ oder Diskursarten, also beliebige Konventionen im Rahmen des Abendlandes. Die Ethik stellt bei Lyotard eine „grosse Erzählung“ dar, deren Ende nun gekommen sei. Sie ist nämlich eine der „Erzählungen mit legitimierender Funktion“[516] und diese Legitimation sei allgemeingültig nicht gegeben. „Der Rekurs auf die grossen Erzählungen ist ausgeschlossen; man kann sich also für die Gültigkeit des postmodernen wissenschaftlichen Diskurses weder auf die Dialektik des Geistes noch auf die Emanzipation der Menschheit berufen.“[517] Auch die Suche nach einem Konsens ist nach Lyotard unmöglich geworden, da auch dieser, auf dem Dialogischen basierend, auf der „Gültigkeit der Emanzipationserzählung“ beruhe.[518] Für Lyotard gibt es keine universale Urteilsregel, die schlichtende Autorität besässe. „Es existiert keine Diskursart, deren Hegemonie über die anderen gerecht wäre. Der – scheinbar metasprachliche – philosophische Diskurs ist selbst ein Diskurs zur Erforschung seiner Regeln nur dadurch, dass er weiss, dass es keine Metasprache gibt. Dadurch bleibt er volkstümlich, humoristisch …“[519] Lyotard spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Krise der metaphysischen Philosophie“[520].
Gäbe man einer Diskursart den Vorzug, würden gleichzeitig Tausende anderer Diskurse unterdrückt. Hier haben wir wieder – auf der sprachtheoretischen Ebene – das alte 68‑er Repressionsliedchen. „Mangels eines Satz-Regelsystems oder einer Diskursart, die universale schlichtende Autorität besässen – fügt nicht die Verkettung, gleich welcher Art, den Regelsystemen oder Diskursarten, deren mögliche Sätze nicht aktualisiert werden, notwendigerweise ein Unrecht zu?“[521] Diese Position, die auf den ersten Blick tolerant anmutet, kann sich zu einer für den Einzelnen und die Gesellschaft gefährlichen Tendenz entwickeln. Wie dies heute bereits im Gange ist, soll im folgenden kurz aufgezeigt werden.
„Jedem Universalismus, jeder Behauptung von universalen Bedingungen oder Regeln des menschlichen Zusammenlebens, steht der Wille an die Stirn geschrieben, die kulturellen Differenzen zu unterdrücken.“[522] fasst Honneth die Position Lyotards zusammen. Sie ist heute ringsum in den Medien und in schulpolitischen Texten zu lesen und zu hören. In den USA, aber auch bei uns, wird das Phänomen mit dem Begriff der „political correctness (PC)“ bezeichnet, d.h. es dürfen nur noch Ansichten geäussert werden, die ideologisch auf der „richtigen“ Linie liegen. Political correct „… sei es, überall Rassismus und Sexismus zu wittern und mit Beschwerden, Klagen, Demos, Redeverboten, Denkgeboten dagegen einzuschreiten.“[523] Wer sich z.B. gegen eine Zulassungsquote farbiger Studenten an die Universität ohne Prüfung ihrer bildungsmässigen Qualifikation wendet, wird als ‘Rassist’ ausgegrenzt. Mit dem Scheinargument der „Unterdrückung“ oder „Ausgrenzung kultureller Differenzen“ werden heute bereits andere Meinungen und deren Vertreter persönlich attackiert und mundtot gemacht. Dieter E. Zimmer: „Aber wie das Tabu durchgesetzt wird, hat inquisitorische Züge.“[524] In Deutschland wird der Vorwurf der Unterdrückung „kultureller Differenzen“ bald einmal zum Faschismus‑Vorwurf, auf den deutsche Bürger aufgrund ihrer Geschichte anfällig sind. Zimmer resumiert:
„Das Fatale an der PC, so scheint es mir, ist nicht, dass da diskutiert wird, und zwar hart; sondern dass manche Diskussionen von vornherein gar nicht stattfinden können oder höchstens in Form von Schauprozessen. Denn der blosse Verdacht, jemand sei Faschist, oder doch im Grunde irgendwie beinahe, schliesst ihn umgehend und automatisch aus der Gemeinschaft aller anständigen und vernünftigen Menschen aus.“[525]
Eine auf den ersten Blick tolerant wirkende Einstellung kann also in ihr Gegenteil umgemünzt werden. Sie beurteilt eben trotz gegenteiliger Behauptung nicht jede Meinung und Lebensweise als gleichwertig, sondern bevorzugt im Sinne der PC die politisch instrumentalisierten „Randgruppen“, in deren Namen dann eine Machtpolitik betrieben wird. Es geht dabei darum, die allgemeinverbindlichen Werteorientierungen unserer Kultur als „faschistoid“ abzustempeln und dadurch ausser Kraft zu setzen. Deshalb ist diese Tendenz gefährlich.
Ethische Sätze oder Prinzipien dürfen also nach Lyotard und der gesamten postmodernen Einstellung auf keinen Fall allgemeinverbindlich werden. Besteht man auf der Allgemeinverbindlichkeit bestimmter Werte und Normen, wird man auch von Lyotard einer totalitären Gesinnung bezichtigt, da alle Traditionen, die als wahr und verbindlich gelten, sich gemäss Lyotards Konstrukt auf einem System von Ausgrenzungen konstituierten. So schliesse z.B. die Wahrheit des Richtigen das Unwahre aus. Man fühlt sich hier nicht zufällig an Foucaults „Ausgrenzung des Wahnsinns durch die Vernunft“[526] erinnert, wo das „Sprachspiel“ der Rationalität Herrschaft über das Irre und Unvernünftige ausübe.
Aus Lyotards Postmodernismus ergibt sich somit der „Verfall eines Allgemeinheitsanspruchs der Geltung“[527], wie Mertens diagnostiziert. An Stelle eines verbindlichen Konsenses bevorzugt Lyotard, wie wir schon oben dargestellt haben, den „Dissens“, also Meinungsverschiedenheiten und Uneinigkeiten als Wert an sich. Es scheint daher, als seien doch nicht alle Sprachspiele gleichberechtigt, da in Form des Dissenses wiederum eine Norm eingeführt wird. Trotzdem wünscht sich Lyotard eine „relativistische Revolution“[528] in der Sprache, auf deren Grundlage die gesamte Politik als Widerstreit verschiedener Diskursarten zu betreiben wäre, worin der Mensch als Subjekt schon lange abgedankt hat. Sprache sei nicht Kommunikationsmittel:
„Im Grunde setzt man allgemein eine Sprache voraus, eine Sprache, die von Natur aus mit sich selbst im Frieden liegt, eine ‘kommunikative’ Sprache (…). Anthropozentrismus. Bei der Sprache steht die relativistische und quantenmechanische Revolution noch aus. Jeder Satz – ganz gleich welchen Regelsystems – ist grundsätzlich der Spieleinsatz eines Widerstreits zwischen Diskursarten.“[529]
Da jede Diskursart ihren eigenen Regeln gehorche, ist es gemäss Lyotard nicht möglich, Lösungen auf rational‑argumentativer Grundlage zu entwickeln. Die Vernunft als bisher bewährte Grundlage einer Argumentationskultur wird abgelehnt, denn „… die Diskursarten sind inkommensurabel. Jede besitzt ihr eigenes ‘Interesse’, die ‘Stärke’ eines Satzes bemisst sich nach Diskursregeln, derselbe Satz ist stark oder schwach je nach Spieleinsatz. Darum ist es legitim, dass das schwächste Argument das stärkste sein kann.[530] Auch hier wird deutlich, dass keine universellen ethischen Prinzipien gelten. Argumente sollen nicht mehr an der Erfahrung überprüft und auf ihren Wahrheitsgehalt hin befragt werden, auch nicht darnach, ob sie auf begründetes Wissen gestützt sind. Nach Lyotard ist ja auch die Wissenschaft nur ein Sprachspiel unter anderen. Mertens sieht darin eine Erschütterung der Grundfesten der abendländischen Wissensform, die tragende Basis für die Pädagogik ist.
„Der Modus wissenschaftlicher Rede aber ist die vernunftgeleitete Argumentation. Sie ist jene Plattform, auf der gleichsam ein universalistischer Standpunkt mit verbindlichem Geltungsanspruch eingenommen wird, um von hier aus ein der blossen Alltagserfahrung überlegenes, legitimes Wissen zu erlangen. Diese tragende Basis steht denn auch zur Disposition, wenn Pädagogik in eine Grundlagendiskussion mit der Postmoderne eintritt.“[531]
Es ist ein typisches Kennzeichen der Postmoderne, dass sie Alltagserfahrung einem gesicherten, rational begründeten (Fach-)Wissen gleichstellt. Ein Rückschritt in längst überholte Denkweisen also. Mit Manfred Frank zieht Mertens die Konsequenzen dieser relativistischen Konzeption: Sie erweist sich als so radikal, dass sie den Fortbestand unserer Kultur gefährdet, wenn sie sich weiter ausbreiten darf.
„Wo aber eine universalistische Plattform verbindlich argumentativer Verständigung nicht mehr existiert, wo vermeintliche Einheit nur noch durch Unrecht, Allgemeinheit nur durch Terror zu erkaufen sind, dort haben wir es mit agonalen Gesprächssituationen sprachlicher Differenz, Zersplitterung und Zerstreuung zu tun, die durch keine Ordnung mehr zu bändigen sind. Dort läutet, nach einer treffenden Formulierung von Manfred Frank, dem abendländischen Denken die ‘Sterbeglocke’.“[532]
Es versteht sich von selbst, dass wo keine Ordnung mehr da ist, auch keine Werteordnung existiert. Wenn Sinngebung sich nicht mehr auf Tradition beziehen darf, auch dort nicht, wo sie sich in der Lebenspraxis bewährt hat, besteht die Gefahr, dass dem Einzelnen ein befriedigendes Leben erschwert, wenn nicht sogar verunmöglicht wird. Er wird in unverantwortlicher Art einer Sinnleere und Orientierungslosigkeit überlassen.
Wie soll nun nach Lyotard eine Gesellschaft aussehen, die sich nicht mehr auf einen Konsens und bewährte Werte gründet? Hier bleibt er schwammig, einer abstrakten Ebene verhaftet, wie auch Manfred Frank bestätigt. „Gewiss ist das, was Lyotard an Positivem und Alternativem vorzulegen hat, nicht sehr klar; und man wird aus seinen Zukunfts‑Ausblicken kaum schlauer als aus den von Monat zu Monat wechselnden Manifesten der politischen „Alternativen“, in deren intellektuelles Klima La condition postmoderne gehört.“[533] Sicher ist, dass Lyotard eine Gesamtgesellschaft auf einer verbindlichen, demokratischen Grundlage nicht anstrebt, wie weiter oben belegt wurde. Man solle sich „an Vielfalten endlicher Metaargumentationen“ orientieren, „… Argumentationen, die Metapräskriptionen zum Gegenstand haben und raumzeitlich begrenzt sind.“[534] Die „Informatisierung der Gesellschaften“[535] vermöge den diskutierenden Gruppen die Information verschaffen, die sie zur Beurteilung einer Sachlage bräuchten. Die Öffentlichkeit müsste freien Zugriff zu den Datenbanken erhalten.
Dazu gäbe es einiges einzuwenden, das den Rahmen dieses Kapitels sprengen würde. Auch derartige Gesellschaften müssten ethische Prinzipien anerkennen, um nicht die Kontrolle der Datenbanken zu einer Machtfrage werden zu lassen. Weiter sei bemerkt, dass Information keineswegs schon Wissen bedeutet und Laien keine Fachprobleme beurteilen können. So ist es z.B. einem pädagogischen Laien durch reine Information nicht möglich, komplexe pädagogische Probleme zu verstehen, geschweige denn, sie zu beurteilen.
Foucaults „kulturelle Attacke“
In „Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft“[536] geht es Foucault darum aufzuzeigen, wie die aufgeklärte europäische Kultur sich aus Unterdrückung und Ausgrenzung konstituiere. Sie grenze „ihr Anderes“ aus, wofür die Ausgrenzung des Wahnsinns durch die Vernunft – die diesen überhaupt erst produziere – beispielhaft sei. „Wahnsinn und Gesellschaft“ ist ein Frühwerk Foucaults, in dem er die neuzeitliche Geschichte in einem bestimmten Raster interpretiert: nämlich so, dass die Vernunft oder Rationalität als repressive Instanz erscheint. Sie bestimme, was vernünftig und normal sei, und alles, was davon abweicht, werde stigmatisiert. Wenn früher das Andersartige eher ausgegrenzt worden sei, werde es in neuerer Zeit mittels verschiedener subtiler Machtpraktiken dem bürgerlichen „Normalisierungsprofil“ angepasst.
Nur der Wahnsinn eröffne dem Menschen die Wahrheit über sich selber. Im Lichte der Rationalität sei sie nicht mehr zu erkennen. Das Buch „Wahnsinn und Gesellschaft“ war das „Inauguralwerk für das 68er‑Denken“[537] in Frankreich. Foucault wurde zu einem wichtigen Vordenker der französischen 68er Revolte. „Enfin 1968 arrive (…) Foucault y devient le patron de la philosophie.“[538] Dieses wie auch die späteren Bücher Foucaults trugen den Bruch mit der Tradition der Vernunft und der Aufklärung bis weit in die Geistes- und Sozialwissenschaften des europäischen und amerikanischen Raums hinein. Wie er es selbst vorschlug, wurde nun vieles an historischer Forschung in seinem Register betrieben. Auch die Medien trugen das ihrige zur Verbreitung von Foucaults Gedankengut in der Bevölkerung bei. Der Zeitgeist nach 68 ist nachhaltig von Foucault geprägt worden, wie wir im folgenden sehen werden. Nicht umsonst nannte er seine Strategie „kulturelle Attacke“: einen Angriff auf den kulturellen Bereich.
Die christlich‑abendländische Kultur, vor allem seit der Neuzeit, erscheint bei Foucault als eine der Ausgrenzung und Einschliessung des Andersartigen.
„Man könnte die Geschichte der Grenzen schreiben (…) mit denen eine Kultur etwas zurückweist, was für sie ausserhalb liegt; und während ihrer ganzen Geschichte sagt diese geschaffene Leere, dieser freie Raum, durch den sie sich isoliert, ganz genau so viel über sie aus wie über ihre Werte; denn ihre Werte erhält und wahrt sie in der Kontinuität der Geschichte; aber in dem Gebiet, von dem wir reden wollen, trifft sie ihre entscheidende Wahl. Sie vollzieht darin die Abgrenzung, die ihr den Ausdruck ihrer Positivität verleiht. Da liegt die eigentliche Dichte, aus der sie sich formt.“[539]
Die positiven Werte unserer Kultur konstituierten sich demgemäss nur aus einer Abgrenzung, ohne die sie keinen eigenen Inhalt hätten. In sich selber hätten die Werte keine Geltung. Die Vernunft könne nur durch die Ausgrenzung des Wahnsinns existieren. Unsere Kultur aber charakterisiere sich hauptsächlich durch Unterdrückung „qua Norm“. Willkürlich, weil kulturspezifisch, werde festgelegt, was normal oder abnormal, gesund oder krank sei. Der Wahnsinn weise demgegenüber auf die Lügenhaftigkeit der bürgerlichen Moral hin. „Die menschliche Wahrheit, die der Wahnsinn entdeckt, ist aber der unmittelbare Widerspruch dessen, was die moralische und gesellschaftliche Wahrheit des Menschen ist.“[540] Die bürgerliche Gesellschaft wolle das im Wahnsinn verborgene Böse unterdrücken und verdrängen und die in ihm verborgenen gewalttätigen Wünsche nicht wahrhaben. Im Wahnsinn aber lebe die eigentliche menschliche Wahrheit. Foucault verdreht damit die Ethik unserer Kultur, die seit der Antike immer die Ausrichtung nach dem Wahren und Guten anstrebte. Im antibürgerlichen Register Foucaults wird eine ethische Orientierung ideologiekritisch in Frage gestellt. Sie sei nichts anderes als heuchlerische Doppelmoral. Gleichzeitig wird dabei auch Foucaults Menschenbild deutlich: der Mensch hat bei ihm eine von Natur aus gewalttätige Seite, er sei von „bösen“ Wünschen und Trieben beherrscht, die sich im Wahnsinn offenbarten.
Foucaults Denkschema hat – wie gesagt – weitreichende Folgen für die geistige Situation der Zeit nach 68 gehabt: Nun wird den Menschen, die demokratische „bürgerliche“ Werte und Tugenden hochhalten, durch Medien und einschlägige Literatur eingeredet, sie würden ihr Selbstwertgefühl aus einer Entwertung und Ausgrenzung der „Randgruppen“ beziehen. „Die Wahrnehmung, die der abendländische Mensch von seiner Zeit und seinem Raum hat, lässt eine Struktur der Ablehnung erscheinen (…)“[541], behauptet Foucault. Durch diesen Vorwurf können natürlich jedermann Schuldgefühle eingepflanzt werden, die sich schwächend aufs Selbstwertgefühl auswirken. Gleichzeitig wird das bewährte Wertesystem – hier die Orientierung an der Vernunft – ausgehöhlt, indem es als Machtinstrument diffamiert wird. Die sogenannten Randgruppen stellen für Foucault ein revolutionäres Potential dar, da sie durch ihre elende Lebensweise und ihre Verweigerung, einen nützlichen Beitrag zu leisten, unsere bürgerliche Gesellschaft in Frage stellten. Weil unsere Gesellschaft an ihrem Elend schuld sei, wie Foucault getreu der marxistischen Doktrin behauptet, wird diese dadurch als obsolet hingestellt. Die Randgruppentheorie nach Foucault lautet so:
„… es finden sich heute in unseren Gesellschaften wahrhaft revolutionäre Kräfte, die sich aus den Schichten zusammensetzen, die kaum in die Gesellschaft integriert sind, jene Schichten, die ständig zurückgestossen werden mussten und die nun ihrerseits das bürgerliche Moralsystem zurückstossen. Wie kann man mit ihnen in der politischen Auseinandersetzung zusammenarbeiten, wenn man nicht diese moralischen Vorurteile abschüttelt, die uns anhaften? Schliesslich, wenn man den gewohnheitsmässigen Arbeitslosen berücksichtigt, der einem sagt: ‘Ich, also ich ziehe es vor, nicht zu arbeiten, anstatt zu arbeiten.’ Wenn man die Frauen, die Prostituierten, die Homosexuellen, die Drogenabhängigen usw. berücksichtigt, dann stösst man auf eine Kraft, die die Gesellschaft in Frage stellt, und ich denke, dass man kein Recht hat, diese Kraft im politischen Kampf ausser acht zu lassen.“[542]
Hier zeigt sich deutlich, dass Foucaults Wertezerstörung in der Theorie Hand in Hand mit marxistischer Agitation geht. Er arbeitet auf verschiedenen Ebenen daran, das demokratische Gesellschaftssystem zu kippen: auf der persönlich‑moralischen wie auf der gesellschaftlich‑politischen Ebene.
„Die revolutionäre Aktion hingegen definiert sich als gleichzeitige Erschütterung des Bewusstseins und der Institution; dies setzt voraus, dass man zum Angriff auf die Machtverhältnisse übergeht, deren Instrumentarium Bewusstsein und Institution sind. Glauben Sie, dass man die Philosophie und ihren Moralcode in derselben Weise wird lehren können, wenn das Strafrechtssystem eingestürzt ist?“[543]
Die kulturelle Attacke verändert neben den Institutionen auch das Bewusstsein der einzelnen Menschen – sogenannt revolutionäre Aktionen gelten also beiden Bereichen. So soll nach Foucault das Rechtssystem radikal zugrunde gerichtet werden, in seiner institutionellen Form und als moralisches Bewusstsein in der Bevölkerung. Die moralischen Werte von gut und böse oder von Recht und Unrecht, die der europäischen Ethik zugrundeliegen, seien nur repressive Normen, behauptet Foucault. Würde die Bejahung des Rechts und seiner Normen tatsächlich aufgegeben, wären Tür und Tor geöffnet für den Kampf aller gegen alle. Ohne einen Rechtsstaat wäre dem Totalitarismus der Boden bereitet.
Über seine eigene Funktion und den Zweck seiner Schriften in diesem Prozess lässt Foucault nichts an Deutlichkeit vermissen: „… meine ich, dass sich die historische Analyse nicht auf einer Rückzugsposition befindet, solange sie auf einem politischen Feld eine instrumentelle Rolle spielt.“[544] Und: „Das Schreiben interessiert mich nur, sofern es sich als Instrument; Taktik, Erhellung in einen wirklichen Kampf einfügt. Ich möchte, dass meine Bücher so etwas wie Operationsmesser, Molotowcoctails oder unterirdische Stollen sind, und dass sie nach dem Gebrauch verkohlen wie Feuerwerke (…)“[545] Foucaults Schriften sollen also den Kulturkampf schüren. Foucault setzt sie mit terroristischen Mitteln, wie den Molotowcocktails gleich, also mit Brandsätzen, die gezielt aus dem Hinterhalt geworfen Tod und Verderben anrichten.
„Normalisierung“ und „Disziplinierung“
Das Thema der „Disziplinierung“ und „Normalisierung“ der Menschen in unserer Kultur wird in den Büchern „Überwachen und Strafen“[546] und in späteren Schriften weitergeführt. Foucaults These ist, dass durch die herrschenden Werte und die Institutionen des Rechtsstaates „Macht“ ausgeübt werde, da diese den Einzelnen von innen her formten und anpassten. Zu den „Einkerkerungsanlagen“[547], denen die Körper und Kräfte unterworfen seien, zählt Foucault neben den Gefängnissen und den psychiatrischen Anstalten auch die Schule. Die verschiedensten Einrichtungen und Mechanismen, wozu z.B. die Architektur eines Gebäudes gehören könne, unterstützten die Kontrolle. Die Zeiteinteilung diene ebenfalls der Disziplinierung der Individuen. Der militärische Drill, durch den der einzelne „in eine Zeitreihe eingespannt“[548] sei, habe auf die Schule übergegriffen, in der die „Disziplinarzeit“[549] Programme festlege, durch abgestufte Prüfungen verschiedene Stadien organisiere oder die Tätigkeiten sonstwie einreihe. „Die Einreihung der Tätigkeiten eröffne die Möglichkeit einer Besetzung der Dauer durch die Macht: die Möglichkeit einer detaillierten Kontrolle und pünktlichen Intervention (einer differenzierenden, korrigierenden, strafenden, ausschaltenden Intervention) in jedem Moment der Zeit (…).“[550] Hierbei entsteht beim Leser der Eindruck einer Ideologie des Verdachts, die alles, was z.B. ein Lehrer tut, unter dem Blickwinkel des Machtwillens einordnet. Die Begriffe der „Räume“ und „Zeiten“ werden heutzutage gemäss dem Foucaultschen Schema verwendet, um diese als einengende Strukturen und Grenzen zu denunzieren, die gesprengt oder überschritten werden sollen. Wir befinden uns darnach in einer wahrhaften „Normalisierungs-“ und „Disziplinierungsgesellschaft“ mit subtilen Kontrollmechanismen. Die Normen von gut und böse oder von normal und pathologisch stellen nach Foucault ein Klassifizierungsinstrument im Dienste der „Macht“ dar, das von den Humanwissenschaften angewendet werde.[551] Diese seien überhaupt nur dazu da, um die Einteilung der Menschen vorzunehmen, damit sie besser zu disziplinieren seien.
„Wir sind in einen Gesellschaftstyp eingetreten, in dem die Macht des Gesetzes dabei ist, zwar nicht zurückzugehen, aber sich in eine viel allgemeinere Macht zu integrieren, nämlich in die der Norm. (…) Das setzt ein ganz anderes Überwachungs- und Kontrollsystem voraus: eine unaufhörliche Sichtbarkeit und permanente Klassifizierung, Hierarchisierung und Qualifizierung der Individuen anhand von diagnostischen Grenzwerten. Die Norm wird zum Kriterium, nach dem die Individuen sortiert werden. Sobald sich nun eine Normgesellschaft entwickelt, wird die Medizin, die ja die Wissenschaft vom Normalen und Pathologischen ist, zur Königin der Wissenschaften.“[552]
Foucault zufolge laizisiert die Moderne die pastorale Macht des Christentums in einer Vielfalt von „Mächten“: Familie, Medizin, Psychiatrie, Schule, Arbeitgeber, etc., „… die ebenfalls und auf ihre Weise die Individualität Normen und Gesetzen unterwerfen, die durch einen dem Individuum äusserlichen Diskurs vorbestimmt sind.“[553] Die Werte und Normen, die für eine Institution konstitutierend sind, seien dadurch repressiv, dass sie den Menschen vorgeschrieben würden und man ihnen gehorchen müsse. Foucault suggeriert, dass diese Werte insgesamt unmenschlich seien.
Zum Begriff „Diskurs“ bei Foucault: Er ist demjenigen der „Sprachspiele“ bei Lyotard verwandt. Diskurse sind grundlegende Denk- und Sichtweisen einer Gesellschaft, die zu einer bestimmten Zeit vorherrschen. Sie beinhalten die herrschenden Normen bezüglich der geltenden Moral, des Rechts oder der Wissenschaften. Diskurse sind immer zeitabhängig. Der Begriff weist auf den relativen Charakter dieser Denksysteme hin. Wenn Foucault die „wahren Diskurse“[554], die z.B. den Wissenschaften entstammen, als Herrschaftsmittel denunziert, soll schon der Begriff eine (scheinbare) Paradoxie suggerieren.
„Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre ‘allgemeine Politik’ der Wahrheit: d.h., sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt bevorzugte Techniken und Verfahren zur Wahrheitsfindung; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht.“[555]
Diskurse haben also immer vorläufigen Charakter und sind abhängig von denen, die die Macht haben, zu bestimmen, was als wahr gelten soll. Foucault geht so weit, Wahrheit als relative Grösse einzuführen. Selbstverständlich ist es möglich, Lüge als Wahrheit auszugeben, aber bei Foucault gibt es die Wahrheit nicht. So darf auch ein Diskurs nie allgemeingültig, eben im Sinne einer Wahrheit, werden. Eine Universalität gewisser Werte und Normen, die auf der gemeinsamen menschlichen Natur basieren, existiert bei Foucault nicht. In seiner Analyse ist infolgedessen kein Platz für Ethik. Wenn Foucault in mehreren Passagen seiner Texte bis ins Detail ausbreitet, wie Menschen gefoltert wurden, muss man zumindest an seinem guten Geschmack zweifeln. Oder ist es am Ende gar ein Mangel an ethischem Empfinden?
Foucault zählt auch die Familie zu den repressiven Systemen, in denen Macht ausgeübt werde. Gerade an der Institution der Familie lässt sich aber gut zeigen, dass ein geglücktes Familienleben von Werten lebt, die ganz der sozialen Natur des Menschen entsprechen: Pflege der Kinder, gegenseitige Rücksichtnahme, Verbindlichkeit in der Beziehung, Verantwortung für die eigenen Aufgaben und für den anderen, Treue in der Ehe u.a.m. Die Entwicklungspsychologie hat erwiesen, dass die Familie, wie sie in der Geschichte unseres Abendlandes Bestand gehabt hat, mit ihrem Kern des zweigeschlechtlichen Elternpaares und seinen Kindern, für die gesunde Entwicklung der Kinder die richtige Umgebung ist. Das Kind ist angewiesen auf eine gefühlsmässige Beziehung zu beiden Elternteilen und zu seinen Geschwistern. Am Anfang des Lebens steht eine intensive Gefühlsbeziehung zwischen Mutter und Kleinkind, in der das Urvertrauen entsteht, um die späteren Lebensaufgaben bewältigen zu können. Aufgabe der Mutter ist es, diese Zweierbeziehung auf Vater, Geschwister und die anderen Mitmenschen auszuweiten. Vater und Mutter nehmen das Interesse des Kindes für seine Umgebung auf, geben ihm geduldige und freundschaftliche Anleitung und fördern es. Die anspruchsvolle Aufgabe der Kindererziehung bedarf einer ethischen Grundhaltung der Mitmenschlichkeit.[556]
Foucaults Rede von der „Disziplinierung und Formierung der Körper“ in unserer neuzeitlichen Kultur u.a. mittels der Humanwissenschaften wurde zu einem Schlagwort, das nun von neomarxistischen Schulreformern und ihren Vordenkern auf die Schule angewendet wird. Foucaults Kernsatz dazu lautet: „Man muss die Archäologie der Humanwissenschaften auf die Erforschung der Machtmechanismen gründen, die Körper, Gesten und Verhaltensweisen besetzt haben.“[557] Foucault bedient sich bewusst einer militärischen Metaphorik, sei doch für unsere Geschichte das Modell des Krieges massgeblich. Die „Macht“ produziere Taktiken und Strategien, die bis in die Körper der Individuen hineinreichten. Er will damit über den klassischen Marxismus hinausgehen, der die Macht vor allem in den Produktionsverhältnissen und im Staatsapparat lokalisierte. Im Sinne des Marxismus geht es Foucault aber auch darum, einen revolutionären Prozess in Gang zu bringen und unsere Gesellschaft radikal zu verändern. Dazu gelte es aber nun vor allem, an der individuellen Persönlichkeit und ihren Beziehungen anzusetzen, um die Orientierung an den traditionellen Werten (= „Unterdrückungsmächte“) zu zerstören. Für Foucault sind alle zwischenmenschlichen Beziehungen von Macht durchsetzt. Dies gilt besonders für die Beziehung zwischen Lehrer und Schülern.
„… damit der revolutionäre Prozess nicht versandet, eine der vordringlichsten Sachen wäre, zu begreifen, dass die Macht nicht im Staatsapparat lokalisiert ist, und dass nichts in einer Gesellschaft verändert sein wird, wenn die Machtmechanismen, die ausserhalb der Staatsapparate, unter ihnen, daneben, auf einem sehr viel niedrigeren, alltäglicheren Niveau funktionieren, nicht verändert werden. Wenn es gelingt, diese Beziehungen zu verändern oder die Wirkungen der Macht, die sich darin fortpflanzen, unerträglich zu machen, wird das Funktionieren der Staatsapparate stark erschwert.“[558]
„Zwischen jedem Punkt eines gesellschaftlichen Körpers, zwischen einem Mann und einer Frau, in einer Familie, zwischen einem Lehrer und seinem Schüler, zwischen dem, der weiss und dem, der nicht weiss, verlaufen Machtbeziehungen (…)“[559] Foucault propagiert also ausdrücklich den Eingriff in die intimen und privaten Lebensbereiche der Menschen, in seine Liebesbeziehung, wenn er z.B. sagt, es gehe darum, die alltäglichen Beziehungen zu verändern. So bestimmt wohl (wieder) eine Elite über das Leben der „Massen“ und will bis in ihre Privatsphäre eingreifen – die Methode totalitärer Systeme.
Die unterdrückenden Normen und Prinzipien hätten sich gemäss Foucault in die Verhaltensweisen „eingeschrieben“, sie beherrschten den einzelnen bis in seine Mimik und Gestik. Der „Körper“ wird bei Foucault zum Signum der „repressiven“ Kultur. Diese Sichtweise hatte grossen Einfluss auf die anti- und gestaltpädagogische Tendenz in der Schultheorie und -Politik des deutschsprachigen Raums.
„Der Grund dafür, dass die Macht herrscht, dass man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, dass sie nicht nur als neinsagende Gewalt auf uns lastet, sondern in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper überzieht (…)“[560]
Die „Macht“ habe sich im Laufe der Neuzeit immer subtiler wirkende und undurchschaubarere Wirkungsweisen angeeignet. Heute sei es bereits soweit, dass wir sie – ohne uns dessen bewusst zu sein – in uns und in der Gesellschaft ständig neu produzieren würden: Mit dem Wissen, das in unserer Kultur Geltung hat, in unserer Art und Weise der Auseinandersetzung, durch die Werte – überhaupt in dem, was wir schätzen, wie wir denken und fühlen und wie wir leben. Der einzelne Mensch wäre demnach eine Art Roboter, der automatisch und bewusstlos das tut, was ihm die „Macht“, sprich Erziehung, eingeschrieben hat.
Seine ursprünglich marxistische Repressionstheorie hat Foucault also kulturalistisch erweitert. „Das Unterdrückende ist nun nicht mehr eine bestimmte soziale Struktur, sondern eine ganze Kultur (seit dem ‘klassischen Zeitalter’), in der sich die vorherrschende Rationalität, Philosophie, Wissenschaften mit sozialen und politischen Praktiken zu einem repressiven Ganzen zusammenschliessen.“[561] Dadurch stellt Foucault unsere Kultur und ihre Inhalte grundsätzlich in Frage: Wissen, Erkenntnisse, Werte, Geschichte, Philosophie, Pädagogik etc. „Die Umkehrung der Werte und Wahrheiten (…) ist insoweit wichtig, als es nicht bei ein paar Hochrufen (es lebe der Wahnsinn, es lebe die Delinquenz, es lebe der Sex) bleibt, sondern man zu neuen Strategien kommt.“[562] Eine grundsätzliche Umkehrung der Werte oder Wahrheiten soll also stattfinden. Die Radikalität der Infragestellung grundlegender Werte und Normen der europäischen Kultur, die hier in Theorie und Praxis angestrebt wird, lehnt sich an Nietzsches Programm der „Umwertung aller Werte“ an. Wie Hager aufzeigt, hat bereits Nietzsches Programm zur Umwertung aller traditionellen platonisch‑christlichen Werte einen stark werterelativierenden Einfluss auf die Geistesgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts ausgeübt.[563] Foucault konnte insofern auf eine geschwächte Wertsicherheit in unserem Kulturkreis zurückgreifen. Die neue Strategie Foucaults führt in Form der „kulturellen Attacke“ den Angriff auf alle kultur- und sinnvermittelnden Institutionen[564] und ist das eigentliche Wesen der neomarxistischen Strategie zur Gesellschaftsveränderung, die im deutschen Sprachraum auch von der Kritischen Theorie her begründet worden ist.
Historischer und kultureller Relativismus
In „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“[565] usurpiert Foucault Nietzsches Genealogie für seine Auffassung über die Rolle der Geschichtsschreibung für die Kulturzersetzung. Foucaults Art der Geschichtsinterpretation will eine Werteauflösung bewirken, indem er Geschichte nicht mehr als kontinuierlich und fortschreitend versteht, sondern sie als verstreute Ereignisse (ohne Zusammenhang) beschreibt, wo gleichzeitiges Werden und Vergehen unverbundener Begebenheiten stattfindet, in dem der denkende und handelnde Mensch keine Bedeutung hat und jeglicher Sinn aufgelöst ist.[566] Die Gegenwart habe nichts mit der Vergangenheit zu tun. So sei die Vernunft in unvernünftiger Weise entstanden: aus dem Zufall. Oder die Freiheit: sie sei nur eine Erfindung der herrschenden Stände.[567]
„Die Genealogie der Werte, der Moral, der Askese, der Erkenntnis hat also nicht von der Suche nach ihrem Ursprung auszugehen (…). Sie muss sich vielmehr bei den Einzelheiten und Zufällen der Anfänge aufhalten; sie muss ihrer lächerlichen Bosheit skrupelhafte Aufmerksamkeit leihen; sie muss darauf gefasst sein, sie nach Ablegung der Masken mit anderen Gesichtern auftreten zu sehen (…) sie muss ihnen Zeit lassen, aus dem Labyrinth hervorzukommen, wo sie von keiner Wahrheit bevormundet waren.“[568]
Der umständlichen Rede kurzer Sinn: die Werte, die wir hochhalten sind keines erhabenen Ursprungs, sondern könnten genausogut aus irgendwelchen Niederungen entstammen, wenn man sie ihrer Masken entledigt. So dient Foucaults Genealogie oder Geschichtsschreibung dazu, die Werte der abendländischen Kultur zu entwerten.
Dass Foucaults Geschichtsinterpretation eine subversive Absicht verfolgt, zeigt folgende Stelle: „Die Erforschung der Herkunft liefert kein Fundament: sie beunruhigt, was man für unbeweglich hielt; sie zerteilt, was man für eins hielt; sie zeigt die Heterogenität dessen, was man für kohärent hielt. Welche Überzeugung könnte ihr widerstehen? Oder gar welches Wissen?“[569] Die Geschichtsforschung im Foucaultschen Sinne soll beunruhigen und grundlegend verunsichern: alle Gewissheiten werden in Frage gestellt, Zusammenhänge aufgelöst und das gesicherte Wissen entwertet. „Die ‘wirkliche’ Historie stützt sich im Gegensatz zu der der Historiker auf keine Konstanz (…). Alles, woran man sich anlehnt, um sich der Geschichte zuzuwenden und sie in ihrer Totalität zu erfassen, alles, was sie als eine geduldige und kontinuierliche Bewegung erscheinen lässt, muss systematisch zerbrochen werden.“[570]
Die Geschichte der neuzeitlichen Zivilisation, also nach Foucault die zufälligen Ereignisse bis heute, stellen für ihn gar einen Rückschritt dar, da die Krankheiten nun nicht mehr „natürlich“ seien. Vor der Zivilisation hätten die Leute nur die „einfachsten und notwendigsten Krankheiten“ gehabt. Sie hätten noch nicht unter den komplexesten Nervenleiden gelitten, sondern „solide Schlaganfälle“ und „freimütige Tobsuchtsausbrüche“ gehabt.[571] Dem ist entgegenzuhalten, dass der Fortschritt in der Medizin oder der Psychologie sich unter anderem darin zeigt, dass das psychische Leiden eines Menschen als solches wahrgenommen wird und in wissenschaftlicher Forschung Möglichkeiten zur Behebung der Probleme ausgearbeitet werden. Wie im Wissenschaftskapitel gezeigt wird, gehört aber gerade die Medizin bei Foucault zu den Instanzen, die die Menschen an eine vorgeschriebene Norm anpassen wollen. Sie müsse sie also dementsprechend zurichten. Ein Mittel dazu sei der „ärztliche Blick“, der „herrsche“. Dieser Blick zerstöre alles, was nicht dem „Normalisierungsprofil“ entspreche. „Aber wenn der Blick dem Wahren treu und der Wahrheit untertan ist, dann wird er eben dadurch zu einem souveränen Herrscher; der Blick, der sieht, ist ein Blick, der herrscht.“[572] Diesen kontrollierenden und herrschenden Blick wende auch – wie könnte es anders sein! – der Lehrer gegenüber seinen Schülern an. Er steht gleichsam symbolisch für die unterdrückende und anpasserische Funktion der Schule. Der „herrschende Blick“ taucht auch als Schlüsselbegriff bei den Antipädagogen auf.[573]
Foucault betreibt eine Auflösung der Geschichte – in „Geschichten“, wie es postmodern heisst. Damit wird der geschichtliche Fortschritt, wie überhaupt ein logischer Zusammenhang des Geschehens negiert. Foucault relativiert die Werte und die wissenschaftlichen Erkentnisse der christlich‑abendländischen Kultur als kulturabhängig. Er lehnt den universellen und historisch überdauernden Gehalt von Werten, die mit dem Wesen des Menschen korrespondieren ab, insbesondere da er eine wissenschaftliche Anthropologie negiert.
Die Verneinung einer Kontinuität und erhaltenswerter Traditionen in der Geschichte birgt eine grosse Gefahr in sich: der Mensch wird aus der Geschichte seiner Gattung herausgelöst und lernt die Erfahrungen und den Wissensschatz seiner Vorfahren nicht kennen. Er lernt nicht, geschichtlich zu denken, obwohl die Geschichtlichkeit die menschliche Art kennzeichnet. Vergangenes zu kennen, es auf seine Tauglichkeit hin zu prüfen und in die Zukunft zu planen, ist lebenswichtig für die Menschheit. Die Kulturtradierung muss in Familie, Schule und anderen gesellschaftlichen Institutionen gepflegt werden, ansonsten ein Rückfall in die Barbarei erfolgt. Der Bruch mit der Tradition, der bei Foucault mit der Negierung von Geschichtlichkeit überhaupt zu tun hat, führt bald zu einer historischen Amnesie und einer Orientierungslosigkeit, wie wir sie heute schon erleben und macht die Menschen umso leichter verführbar.
Selber bezeichnet sich Foucault als Ethnologe unserer Kultur. Mit dem „ethnologischen Blick“ will er unsere Lebensweise von ausserhalb, wie von einem fremden Stern her, betrachten. Auch von da her meint er, eine geschichtliche Relativität unserer Kultur konstatieren zu können.
„Wie die Psychoanalyse die Herrschaft menschlichen (Selbst-)Bewusstseins vom Unbewussten her in Frage stellt, so bezweifelt die Ethnologie die Herrschaft der abendländischen Kultur von ihrer ‘Historizität’ her. Die aber ist Foucaults Hauptthema. Insbesondere die Tatsache, dass es ganz andere, archaische oder ‘primitive’ Kulturen gab und in Relikten noch gibt, enthüllt die geschichtliche Relativität der hochzivilisierten abendländischen Kultur als ganzer.“[574]
Foucaults Werterelativismus begründet sich also auch aus einem kulturellen Relativismus, demzufolge alle Kulturen gleichgestellt seien, ob sie nun ‘primitiver’ sind oder einen hohen Zivilisationsgrad aufweisen. Im Gegenteil, vernimmt man im Sinne des antikolonialen Liedchens, unsere abendländische Kultur masse sich einen Herrschaftsanspruch an, wenn sie meine, sie verfüge mit den Wissenschaften über einen hohen geistigen Standard.[575] Wie schon im Wertekapitel gezeigt wurde, bedeutet die Existenz archaischer Kulturen nicht ihre Gleichwertigkeit z.B. bezüglich Bildung, Wissenschaft, technischer Entwicklung oder Lebensqualität. Es bestehen Massstäbe für die Vergleichbarkeit von Kulturen, wovon einer sicherlich die Qualität des vorhandenen wissenschaftlich gesicherten Wissens über Mensch und Natur ist, das auch eine humanistische Ethik miteinschliesst. Hager geht im Zusammenhang mit dem heutigen Relativismus der Werte auf die Argumentation des historistischen Relativismus, wie sie schon Dilthey formuliert hat, folgendermassen ein: In seiner Analyse von Diltheys Argumentation gegen die Allgemeingültigkeit von Werten untersucht Hager die historistische Argumentation, die besagt, dass alle Wertvorstellungen von der Zeit, in der sie auftreten, abhängig und damit historisch bedingt seien. Werte seien in dem Sinne relativ, als sie nicht für alle Menschen zu allen Zeiten und in allen Ländern gelten würden. In der Geschichte der Moral habe es eine Vielzahl sich widersprechender ethischer Systeme gegeben. Dem hält Hager entgegen, dass in der christlich‑abendländischen Tradition positive Werte enthalten sind, die jederzeit und universell gültig sind. Die Geschichte der Ethiken ist kein Chaos sich widersprechender Theorien. Gerade ein genaues Studium der Geschichte der Ethik zeigt, dass viele der aufgetretenen Systeme der Ethik sich innerlich ähnlich sind, ja sogar gleichen. Das heisst, „… dass hier ein einheitlicher Zusammenhang vorliegt, durch welchen gewisse ethische Grundwahrheiten geschützt und gestützt werden (…).“[576] Gleiches ist auch dem kulturellen Relativismus entgegenzuhalten: Es gibt universelle, überdauernde ethische Grundwahrheiten, sie sind weder zeit- noch kulturabhängig.
Alain Finkielkraut setzt sich in seiner „Niederlage des Denkens“ differenziert mit dem Kulturalismus und seinen Folgen auseinander: Dieser führe dazu, dass auch der Begriff „Kultur“ nur noch im Plural verwendet werde, was bedeutet: „Ein Paar Stiefel sind genauso gut wie Shakespeare.“[577] Kulturen sind aber nicht dasselbe wie Kultur, womit eine geistig‑gefühlsmässig hochstehende Tradition von Literatur, Wissenschaft, Kunst u.a.m. gemeint ist. Dieser Kulturbegriff wird durch die postmoderne Pluralisierung nivelliert und durch sprachliche Taktik verändert. So solle auch in der Zürcher Ausländerpädagogik nur noch der Begriff „Kulturen“ verwendet werden, schreibt eine Angestellte der Abteilung für Interkulturelle Pädagogik der Zürcher Erziehungsdirektion.[578] Sie versteigt sich gar zu der Behauptung, hinter dem Begriff Kultur sei nichts von Gehalt zu finden und der Begriff Kultur sei undefinierbar.[579] „Kultur – ein grosses oder leeres Wort?“[580] Und: „Definition von Kultur: eine nicht zu bewältigende akademische Übung.“[581] Finkielkraut gibt zu diesem Thema zu bedenken, dass den Angehörigen verschiedener Kulturkreise die Verständigungsmöglichkeit genommen würde, wenn sie auf keine gemeinsamen Wertvorstellungen oder Bedeutungen zurückgreifen könnten. „Von Kultur im Plural zu sprechen, bedeutet nämlich, den Menschen verschiedener Epochen oder entfernter Zivilisationen die Möglichkeit zu verweigern, über denkbare Bedeutungen oder Werte, die über ihren Entstehungsbereich hinausgehen, miteinander in Verbindung zu treten.“[582]
Zurück zu Foucault. Wie nimmt er auf dem oben entfalteten theoretischen Hintergrund zur Schule Stellung? Welches sind seine zentralen Begriffe und Argumente, mit denen er die Schule als erzieherische und wissensvermittelnde Institution innerhalb unserer Gesellschaft kritisiert?
Die Schule als „Disziplinarinstitution“
„Die Disziplinarinstitutionen haben eine Kontrollmaschinerie hervorgebracht, die als Mikroskop des Verhaltens funktioniert; ihre feinen analytischen Unterscheidungen haben um die Menschen einen Beobachtungs-, Registrier- und Dressurapparat aufgebaut.“[583] Zu den Institutionen, die die Menschen kontrollierten und dressierten, zählt Foucault auch die Schule, wie schon weiter oben ausgeführt wurde. In der Institution Schule habe „die Macht“ einen zentralen Angriffspunkt, da die Lehrer bei den Kindern Einstellungen hervorbrächten und sie manipulierten und disziplinierten. Das Individuum sei gar ein Produkt der „spezifischen Machttechnologie der ‘Disziplin’“.[584] Der Begriff der Individualität darf in diesem Register keineswegs als die unverwechselbare Persönlichkeit im Sinne des Humanismus verstanden werden. Foucault verändert die Bedeutung des Begriffs und meint damit durch Beobachtungen, Prüfungen und vergleichende Messungen erreichte Unterscheidungen, „Abstände“[585] zwischen einzelnen Menschen. In der Neuzeit hätte „die Individualität des berechenbaren Menschen die Individualität des denkwürdigen Menschen“[586] verdrängt. In der Schule dienten u.a. die Prüfungen diesem Zweck. So ist es nicht erstaunlich, dass das Thema Schule im Buch „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“[587] abgehandelt wird. Die Schule gehört damit auch zu den Einkerkerungsinstitutionen. Ihre Diffamierung als „Disziplinarinstitution“ wird im Gefolge Foucaults zu einem Leitmotiv der Antipädagogen.[588]
Die „Verkörperung“ der Macht – ein Schlüsselbegriff Foucaults – geschehe grossenteils in der Schule:
„… war eine wirkliche und tatsächliche ‘Verkörperung’ der Macht notwendig, in dem Sinne, dass diese bis zum Körper der Individuen, bis zu ihren Gesten, bis zu ihren Einstellungen, bis zu ihren tagtäglichen Verhaltensweisen kommen musste; daher die Bedeutung von Methoden wie der schulischen Disziplinierung, der es gelungen ist, den Körper der Kinder zum Gegenstand höchst komplexer Manipulation und Konditionierung zu machen.“[589]
Man erkennt in dieser verzerrten Darstellung die Schule kaum wieder, werden ihr Gehalt und ihr Anliegen doch in ihr Gegenteil verkehrt. Sie sei nur dazu da, um die „Macht“ besonders wirkungsvoll auszuüben und im Denken und Verhalten der Kinder zu verankern. In Wirklichkeit – und das muss an dieser Stelle betont werden – besteht die Bedeutung der Schule darin, zu erziehen und zu bilden, und zwar so, dass die Schüler zu Persönlichkeiten heranwachsen, die ihr Leben auf der Grundlage eines reichhaltigen Wissens und mitmenschlichen Interesses selbständig und verantwortungsbewusst gestalten können. Nur in totalitären Staaten wird die Schule zu einem Machtinstrument umfunktioniert.
Nach Foucault werde in der Schule das „repressive“ Wissen weitergegeben – also nur ein bestimmtes Wissen, wobei anderes Wissen unter den Tisch falle. Die Schüler müssten die „herrschenden Diskurse“ lernen und verinnerlichen. Wissen bedeutet bei Foucault, wie wir gesehen haben Macht, um über andere zu herrschen, also „Herrschaftswissen“.[590]
Über die Schule als „Disziplinarinstitution“ werden im folgenden einige Zitate von Foucault aufgeführt, um zu zeigen, wie krass die Bezeichnungen und Vergleiche sind. Hier wird der Erzieher unverfroren etwa mit dem Scharfrichter gleichgesetzt oder die Schule als Gefängnis bezeichnet: „… wird der Scharfrichter, der unmittelbare Anatom des Leidens, von einer ganzen Armee von Technikern abgelöst: Aufseher, Ärzte, Priester, Psychiater, Psychologen, Erzieher (…).“[591] „Was ist daran verwunderlich, wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen?“[592]
Die systematische, methodische Aufbereitung und Vermittlung des Lernstoffes, sowie die Zusammenfassung der Schüler in Jahrgangsklassen als bewährte Bestandteile unseres Schulsystems, bezeichnet Foucault als Gleichschaltung. „… Gleichschaltung der verschiedenen Altersklassen; Abfolge des Lehrstoffs und der behandelten Fragen in der Ordnung zunehmender Schwierigkeit. Und in diesem System obligatorischer Gleichschaltungen (…).“[593] „In den Disziplinen kommt die Macht der Norm zum Durchbruch (…). Das Normale etabliert sich als Zwangsprinzip im Unterricht zusammen mit der Einführung einer standardisierten Erziehung und der Errichtung der Normalschulen (…).“[594] Im Unterricht würden die Kinder demnach einer willkürlichen Norm angepasst. Heute spricht man in diesem Sinne bereits davon, dass es ein Zwang und unnatürlich sei, wenn allen Schüler gleichen Alters dieselbe Stoffhuberei zugemutet werde.
Das Schulgebäude wird bei Foucault zum „Dressurmittel“[595], und die Schüler müssten sich als „individuelle Elemente“ „homogen“ „unter dem Blick des Lehrers ordnen“.[596] Foucault zählt die Schule in einem Atemzug mit dem Militär auf, wie wenn der Lehrer ein preussischer General und das Schulhaus ein Kasernenhof wäre. Der „kontrollierende Blick“ fungiert hierbei als ein gewichtiges Machtinstrument der Disziplinargesellschaft. Dieser Begriff gehört zu den Schlüsselbegriffen der Foucaultrezeption. Verwendet wird er, wenn es darum geht, unsere Gesellschaft und ihre Institutionen als autoritär und repressiv darzustellen. Dieser kontrollierende Blick ist auch ein Thema Sloterdijks, das er offensichtlich von Foucault übernommen hat.
„Prinzipien sind Grabsteine“: Feyerabends Relativismus
Feyerabend bezeichnet seine Position als Relativismus, demokratischen Relativismus oder theoretischen Anarchismus. Der Begriff Relativismus bezieht sich auf seine Weltsicht gesamthaft und betrifft im speziellen die Wissenschaft, deren Bedeutung zu relativieren seine Hauptintention ist. Ebenfalls betrachtet Feyerabend das gesellschaftliche Zusammenleben unter einem explizit relativistischen Blickwinkel und philosophiert über die Bedingungen einer „freien Gesellschaft“[597]. Im Buch „Erkenntnis für freie Menschen“[598] definiert Feyerabend unter dem Titel „Elemente des Relativismus“ die wichtigsten Merkmale des Relativismus. Es geht dabei um Werte und Traditionen, um die Wissenschaft und um die Rationalität. Wichtigste Aussage: es existiere kein allgemeingültiger Massstab für Bewertungen oder Lebensorientierungen. „Der Grund der Werturteile liegt in einer Tradition.“[599] Über die verschiedenen Traditionen hinaus, die sich auch innerhalb einer Kultur oder Gesellschaft befinden können, gibt es gemäss Feyerabend keine übergreifenden Zusammenhänge, keine gemeinsamen Begriffe oder Grundsätze. So ist auch die Rationalität oder Vernunft seiner Ansicht nach kein Meta‑Begriff. Die Vernunft sei nur in der abendländischen Tradition zu einer grundlegenden Orientierung geworden.[600] Dies hat zur Folge, dass auch die Bedeutung der Wissenschaft relativiert wird: Sie ist bei Feyerabend nur eine Tradition unter anderen, und sie kann nicht auf die Rationalität als transparadigmatischen Massstab verweisen. Auf die Wissenschaftstheorie bei Feyerabend im speziellen wird im Kapitel II.6. zur postmodernen Wissenschaftsfeindschaft eingegangen. Feyerabend schlägt vor, dass in jeder Gesellschaft die betroffenen Bürger oder sogenannte Bürgerinitiativen entscheiden sollen, welchen Traditionen sie besondere Bedeutung verleihen und welche Grundsätze sie anerkennen wollen. Alle Lebensformen seien möglich und sollten je nach Wunsch der Bürger auch gelebt werden.
Die erste These Feyerabends zum Relativismus lautet demnach:
„I. Traditionen sind weder gut noch schlecht, sie existieren einfach. ‘Objektiv’, das heisst unabhängig von Traditionen gibt es keine Wahl zwischen einer humanitären Einstellung und dem Antisemitismus. Ergänzung: Die Rationalität ist nicht ein Schiedsrichter zwischen Traditionen, sie ist selbst eine Tradition (Klasse von Traditionen) oder ein Aspekt einer Tradition. Sie ist daher weder gut noch schlecht, sondern ist einfach.“[601]
Die Aussage ist klar: Feyerabend anerkennt keine allgemeingültigen Werte. Der Antisemitismus ist weder gut noch schlecht, und eine humane Einstellung ist auch nicht besser als jede – sogar menschenverachtende – andere. Jenseits von gut und böse ist alles möglich – also: „anything goes“. Nach Feyerabend bestimmt jede Gesellschaft (was immer das heissen mag) oder jede Gruppe, aber auch der einzelne Mensch für sich, welchen Werten man nachleben will. An anderer Stelle gibt er zum Ausdruck, dass es ihm völlig egal ist, wenn Menschen durch diese Willkürlichkeit zu „Bestien“ werden.[602] Der Wissenschaftstheoretiker A. F. Chalmers schreibt dazu kritisch:
„Was offensichtlich wird und erfahrungsgemäss auch oft als die Botschaft der neueren Werke von Feyerabend betrachtet wird, ist, dass jeder seinen eigenen Neigungen folgen und sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte. Wenn man diese Vorstellung teilt, läuft man Gefahr, dass dies zu einer Situation führt, in der diejenigen, die bereits Zugang zur Macht haben, alles daran setzen werden, sie auch zu erhalten (…).“[603]
Feyerabends These II zum Relativismus besagt, dass eine Tradition nur erwünschte oder unerwünschte Züge erhalte aufgrund der Werte der Tradition, in der ein Teilnehmer sich bewegt.[604] Für einen ausserhalb Stehenden kann eine Situation ganz anders, aber auch „richtig“, aussehen. Gut und schlecht, richtig und falsch existieren nicht als Orientierung. Damit wird auch das Gewissen beim einzelnen Menschen verneint. Denn im Gewissen sind die Werte der eigenen Kultur als Orientierungsmassstäbe erlernt worden und verankert. Traditionen, die feste Werte als Grundlage haben, nennt Feyerabend pauschal „dogmatische Traditionen“[605] diese würden „gewisse Grundwerte in die Welt hinausprojizieren“[606] Aufgrund der ersten zwei Thesen kommt Feyerabend zu seiner Definition des Relativismus:
„II. These I und These II führen zu einem Relativismus von genau der Art, wie ihn Protagoras verteidigt zu haben scheint. Der Relativismus des Protagoras ist vernünftig, denn er beachtet die Vielzahl von Traditionen und Werten. Er ist zivilisiert, denn er nimmt nicht an, dass das winzige Dorf in dem man wohnt, am Nabel der Welt liegt und dass seine seltsamen Sitten Massstäbe für die ganze Menschheit sind. Er ist ausserdem klug, denn er schliesst nicht aus der Unvollständigkeit von Wertsätzen (kein Hinweis auf Traditionen oder Teilnehmer) auf ihre ‘Objektivität’.“[607]
Wertsätze sind demnach nicht vollständig, wenn man nicht angibt, wer diese äussert, also welcher Denkweise sie entstammen, oder welche Gruppe oder Gesellschaft sich auf sie bezieht. Sie werden dadurch relativiert. In dieser zitierten Stelle steckt aber bereits eine Unterstellung: diejenigen Menschen, die allgemeingültige Werte und Masstäbe anerkennen, würden die Pluralität von existierenden Wertvorstellungen und Traditionen nicht sehen. Dies stimmt natürlich nicht. Aber unterschiedliche Wertvorstellungen oder Lebensformen können nicht alle als gleichwertig angesehen werden, z.B. wenn man sie am menschlichen Wesen misst. Feyerabends Behauptung, dass derjenige, der sich an rationale Argumentation hält, nun finden würde, sein Dorf sei der Massstab für die Welt, ist lächerlich.
Die Vorstellung eines „Pluralismus“ von Werten ohne verbindlichen Charakter als Freiheit von allen „Zwängen“ kritisiert Chalmers mit dem schon oben erhobenen Einwand, dass dadurch der Macht, z.B. der Medien, Tür und Tor geöffnet sind.
„Die Vorstellung, die Freiheit im Sinne von ‘frei von allen Zwängen’ betrachtet, übersieht die positive Seite des Problems, namentlich die positiven Möglichkeiten für den Einzelnen innerhalb einer sozialen Struktur. Wenn wir zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäusserung in einer Gesellschaft im Sinne von ‘frei von Zensur’ analysieren, übersehen wir Probleme wie etwa das Ausmass, in dem verschiedene Personen Zugang zu den Medien haben.“[608]
In einer demokratischen Gesellschaft braucht es Institutionen, die auf der Grundlage der Gewaltenteilung Kontrolle über andere Institutionen, wie zum Beispiel die Medien, ausüben. Sonst besteht aufgrund des grossen Einflusses der Medien auf die Meinungsbildung die Gefahr, dass die Bevölkerung desinformiert wird, wenn nur bestimmte Gruppen oder einseitig orientierte Journalisten in den Medien zu Wort kommen.
Es ist die Ideologie der Kolonialisierung, auf die Feyerabend anspielt, wenn er sagt, Wissenschaft und Rationalität hätten anderen Traditionen ihre Werte aufgezwungen. In gut postmoderner Stimmung wird eine solche Einstellung unterdessen jedem werteorientierten Menschen angehängt. Feyerabend unterlegt seinem Relativismus unter anderem eine ethnologische Scheinbegründung. Gerne bringt er Beispiele von Völkern aus anderen Kulturen, z.B. die Regentänze der Hopi‑Indianer, um bewährte Erkenntnisformen wie die wissenschaftliche ausser Kraft zu setzen.
„Die Mythen, die Religionen, die Prozeduren verschwanden nicht, weil die Wissenschaften besser waren, sondern weil die Weissen die entschiedeneren Eroberer waren, weil sie die Träger alternativer Kulturen materiell unterdrückten. (…) Man hat Methoden und Ergebnisse nicht auf ‘objektive’ Weise verglichen. Man hat kolonisiert und die Lebensformen der kolonisierten Stämme unterdrückt. Diese Lebensformen wurden zuerst durch das Christentum und dann durch die Religion der Wissenschaften ersetzt. Einige Wissenschaftler studierten die Stammesideologien; aber sie hatten Vorurteile, sie waren für ihre Aufgabe nur schlecht vorbereitet und so gelang es ihnen nicht, Evidenz für die Überlegenheit oder selbst die Gleichheit ‘primitiver’ Ideen zu finden.“[609]
Die Weissen hätten mit der Kolonisierung anderer Kulturen deren Mythen und Religionen unterdrückt und eliminiert. Das stimmt zum Teil. Nur deshalb hätten sich auch in den kolonisierten Gegenden wissenschaftsgestützte Kulturen entwickelt: das stimmt nicht. Wenn Wissenschaftler keine Evidenz für die Gleichheit von primitiven Ideen mit der Wissenschaft finden, sei das auf Vorurteile zurückzuführen, behauptet er weiter. Mit einer solchen Unterstellung wahrnehmungsverzerrender psychischer Mechanismen bei Wissenschaftlern kann natürlich jede wissenschaftliche Aussage unterlaufen werden. Es gibt aber ein unschlagbares Vergleichskriterium für die Brauchbarkeit von Ideen für die Weiterentwicklung einer Kultur: deren Realitätsangemessenheit und Bewährung in der Praxis.[610] Vielleicht haben sich deshalb die wissenschaftliche Erkenntnisform und die Technik durchgesetzt. Subjektive Anschauungsformen und Erkenntnisweisen wie Magie oder Mythen sind nicht überprüfbar. Sie bringen der Allgemeinheit deshalb nicht mehr Wissen über die Natur. Sie sind auch nicht weitervermittelbar wegen ihres rein subjektiven Gehalts. Ein Schamane wird von seinem Stamm aufgrund seiner speziellen Fähigkeiten ausgewählt, und der Zauber, den er ausübt, hat mit diesen subjektiven Eigenschaften zu tun. Die anderen können nur daran glauben, aber das Ganze ist nicht überprüf- und allgemein reproduzierbar. Der Schamane besitzt eine Art Geheimwissen, das den anderen Stammesleuten nicht zugänglich ist. Demgegenüber bedeutet Wissenschaft allgemeine Überprüfbarkeit der Ergebnisse und Reproduzierbarkeit. Das erarbeitete Wissen über die Natur ist nicht subjektiv oder beruht auf persönlichem Erleben, jeder kann es theoretisch überprüfen. Wissenschaft ‘schafft’ Wissen für die Allgemeinheit zur Weiterentwicklung der menschlichen Kultur insgesamt. Deshalb sind Mythen, Märchen und Magie nicht als gleichwertig mit Wissenschaft zu betrachten.
Feyerabend hat in Berkeley, Kalifornien, gelehrt, wo die Counter‑Culture‑Bewegung ihre Hochburg hatte. Die Counter‑Culture, mit ihrer kulturrevolutionären Stossrichtung, wertet die abendländische Kultur und ihre rationale Denktradition ab und bevorzugt alle möglichen „Randgruppen“. Teil der Counter‑Culture ist auch die sogenannte Free‑School‑Bewegung, die die Abschaffung der Schule in die Tat umgesetzt hat. In diesem Zusammenhang macht Feyerabend einige interessante Bemerkungen, die zeigen, wie sein Relativismus politisch bestimmt ist: „Seit 1958 bin ich Professor der Philosophie an der Universität Kalifornien in Berkeley. Meine Aufgabe besteht darin, die Erziehungspolitik des Landes Kalifornien auszuführen, d.h. ich soll lehren, was eine kleine Gruppe von weissen Intellektuellen für Erkenntnis hält.“[611] Hier wird schon deutlich, dass Feyerabend keine allgemeinverbindlichen Bildungsinhalte anerkennt. Er übergeht die amerikanische Bildungstradition schlichtweg. Im Jahre 1964 seien dann vermehrt Schwarze, Indianer und Mexikaner in seine Vorlesungen gekommen. Da sei ihm bald klar geworden, dass das, was er bisher gelehrt habe, „Reflexionen der Einbildung einer kleinen Gruppe von Ideenfaschisten“ gewesen sei, „… denen es gelungen war, alle übrigen Menschen mit ihrem ‘Rationalismus’ in Bande zu schlagen.“[612] Wie aber, wenn sich der Gebrauch der Rationalität oder des Verstandes einfach als nützlich erwiesen hätte? Im weiteren rechnet Feyerabend mit der abendländischen Philosophie ab, die diesen Menschen aus anderen Ethnien nichts bringen würde. Er bezeichnet die europäische Geisteskultur als die „dürren Ideen der Sprachrohre ihrer so menschlichen Sklaventreiber“.[613] Die Traditionen der nichtabendländischen Kulturen seien der unsrigen überlegen: „Ihre Vorfahren hatten lebendige Kulturen, farbenreiche Sprachen, harmonische Ideen über die Beziehungen zwischen Mensch und Mensch und Mensch und Natur entwickelt, deren Überreste eine lebendige Kritik der separatistischen, analytischen, egoistischen Tendenzen des abendländischen Denkens sind.“[614] Wo bleibt da der Relativismus? Da zählt Feyerabend doch Elemente einzelner Kulturen auf und vergleicht sie eindeutig bewertend mit der unsrigen, wobei unsere Kultur schlechter abschneidet. In diesem Zusammenhang muss der moralische Zwang zur ‘political correctness’ gesehen werden:
„Eine intellektuelle Seuche namens ‘political correctness’ geht um. Sie sucht das ganze öffentliche und vor allem kulturelle Leben in den USA heim und greift allmählich auch auf Europa über. An den Universitäten stehen alle klassischen Autoren unter dem Generalverdacht, als Agenten im Dienste des abendländischen Imperialismus zu wirken; in den Curricula werden deshalb die verhassten DWEMs, die ‘Dead White European Males’, durch die Verfasser obskurer Selbsterfahrungsschriften verdrängt, soweit sie irgendeiner sich für benachteiligt erklärenden Minderheit angehören.“[615]
Diese Bewegung hat eine starke Basis in Kalifornien, wo Feyerabend lehrte und im oben beschriebenen Sinne dazu beitrug, die abendländische Bildungstradition zu entwerten und zu marginalisieren. Der Autor der oben wiedergegebenen Beobachtungen aus dem Buch „Nachrichten aus dem Jammertal“ stellt fest, dass in den USA „… die Ausweitung von ‘Rechten’, zum Beispiel für Schwarze, Schwule oder Schwerbehinderte, auf Kosten des fundamentalen Rechts auf Rede- und Meinungsfreiheit geschieht.“[616] Ja mehr noch: es zeichne sich eine kulturelle Apartheidpolitik ab, bei der z.B. die Beurteilung der Kunst gegen alle herkömmlichen Massstäbe erfolge, da ‘Qualität’ ja bloss ein Komplott der weissen Herrenrasse sei. In der Schule sei es schon so weit, dass die „… militanten Vertreter dieses schwarzen (und nebenbei kräftig antisemitischen) Fundamentalismus den Fuss in der Tür“[617] hätten. Gemeint sind die Black Muslims unter der Führung von Louis Farrakhan. Das ist interessant, um wieder auf Feyerabend zu kommen, weil dieser schreibt, jede Gruppe freier Bürger solle ungehindert ihre Wünsche verwirklichen können. So hätten die Schwarzen Muslims ihre Freiheit auf dem Umweg über das Geld gefunden, indem sie Businessleute geworden seien.[618] In der Realität sieht es dann so aus, dass durch Antisemitismus und gewalttätige Tendenzen die Freiheit und die Menschenwürde anderer Menschen angegriffen werden.[619] Ohne eine verbindliche Ethik geht es eben nicht.
Die intellektuellen Verfahrensweisen seien schlechte Wege, wenn sie ein Problem mit Begriffen angingen, schreibt Feyerabend weiter. In den Schulen würde mit „trockenen Abstraktionen“ Seelenmord betrieben: „Ich wollte wissen, wie es den Intellektuellen gelingt, ungestraft zu morden – denn es ist Mord, Mord an Seelen und Kulturen, was jahrein, jahraus an Schulen, Universitäten, Missionen in fernen Ländern begangen wird.“[620]
Dass die Schule an den Kindern „Seelenmord“ ausübe, ist eine Diffamierung, die sich auch in den Schriften der heutigen Antipädagogen, Gestalt’pädagogen’ und sonstigen Schulabschaffern finden lässt.[621] Wenn Ellen Key, auf die dieser Begriff zurückgeht, zu Anfang des 20. Jahrhunderts diesen Vorwurf an die Schule gerichtet hat, handelte es sich um eine andere Schule, als wir sie heute haben.[622] Darauf, dass Feyerabend die Abschaffung unseres auf der abendländischen Bildungstradition beruhenden Bildungssystems anvisierte, wird weiter unten genauer eingegangen.
In einer Diskussion mit Feyerabend stellte eine Teilnehmerin fest, sein Denken stelle einen Rückschritt in die Magie dar. Feyerabend antwortete darauf, dass der Begriff „Magie“ wieder eine Einheitlichkeit als Gegenbegriff zur Wissenschaft nahelege, während es doch die unterschiedlichsten Traditionen gebe: den Taoismus, die jüdische Mystik, die Kosmologie der Dogon, die Medizin der Hopi etc. Einige dieser Traditionen seien sogar dem Westen weit voraus, zum Beispiel in der Behandlung von Krankheiten. Viele Stämme hätten bessere Methoden der Behandlung psychischer Aberrationen als die Psychoanalyse. Wie will das ein psychologischer Laie beurteilen? Aber es wird noch geheimnisvoller: Wenn Leute halluzinierten, sie hätten die Materie verlassen und sich durch alle Sphären hindurch in die Nähe Gottes begeben, sage man einfach, das sei Einbildung – „… aber beachten Sie, dieser Nachweis ist nie im Detail geführt worden. Halluzination wird die Sache genannt, weil sie der Wissenschaft widerspricht. Nach dieser Methode kann man die Mondfahrten Halluzinationen nennen, weil nach gewissen gnostischen Schulen die Materie selbst nur Schein ist – also so kommen wir nicht weiter.“[623] Hier wird wieder das Kriterium der Überprüfbarkeit ignoriert. Damit erhellt sich auch Feyerabends Aussage zur psychischen Krankheit: es gibt für ihn gar keine Trennung zwischen gesund und krank oder zwischen real und irreal. Wenn er Halluzinationen als reales Erleben ansieht, eine halluzinierte Mondfahrt also dasselbe wie eine wirkliche Mondfahrt sei, kommt es auch nicht darauf an, welche Methode man zur Heilung psychischer Störungen anwendet. Er anerkennt ja kein Kriterium für psychische Gesundheit. So kann auch ein von Halluzinationen Geplagter nach Feyerabend psychisch gesund sein.
Einem Herrn, der in der genannten Diskussion einwandte, der Mensch könne doch nicht in einem solchen pluralistischen Zustand leben, er müsse doch seinem Leben eine Anschauung zugrunde legen, sonst sei das Schizophrenie, entgegnete Feyerabend, der Pluralismus sei ein solcher von Gruppen. Jede Gruppe könne ihre eigene Anschauung haben. Doch sei auch der Pluralismus in einem Kopf nichts Unmögliches, ein Doppelagent lebe auch so. Alle Wünsche könnten in einer Gesellschaft ja nicht ausgelebt werden. Wenn wir uns aber nur „mit einer bestimmten Lehre identifizierten“[624], sterbe der Rest unserer Seele einfach ab.
In seiner anarchistischen Vision einer ‘freien Gesellschaft’ schlägt Feyerabend bezüglich der Bildung und der Inhalte von schulischen Lehrplänen eine Art Basisdemokratie vor, wo Komitees von Laien den Lernstoff festlegen.
„Wenn die Steuerzahler in Kalifornien wünschen, dass ihre Landesuniversität Wodu, Volksmedizin, Astrologie, Regentanzzeremonien lehren, dann müssen diese Gegenstände eben in den Lehrplan eingegliedert werden. Das Urteil der Fachleute wird natürlich beachtet werden – aber die Fachleute haben nicht das letzte Wort. Das letzte Wort ist die Entscheidung demokratisch eingerichteter Komitees – und in diesen haben die Laien die Oberhand.“[625]
Dies bedeutet über die Relativierung einer gewachsenen Bildungstradition hinaus, zu der zahlreiche Pädagogen, Bildungsfachleute, Philosophen und die praktische Erfahrung vieler Lehrer beigetragen haben, ihre eigentliche Zerstörung. Denn so können bewährte Bildungsinhalte auf Wunsch von Bevölkerungsgruppen über Bord geworfen und beliebige Inhalte und Praktiken als gleichwertig eingeführt werden. Der Bruch mit der Tradition solle nach Feyerabend gerade in der Schule vollzogen werden, damit die junge Generation von der Kulturtradierung abgeschnitten wird. Ihre Aufgabe wäre es aber, sich die Bildungsinhalte ihrer Kultur anzueignen, an ihrer Weiterentwicklung mitzuhelfen und sie an die nächste Generation weiterzuvermitteln. Chalmers setzt den Feyerabendschen Voodoo‑Träumen eine realistische Betrachtungsweise der Probleme unserer Zeit entgegen:
„Anstatt sein Augenmerk auf dringliche soziale Probleme zu richten, vergleicht Feyerabend Wissenschaft mit Voodoo, Astrologie usw. und argumentiert, dass letztere nicht mit dem Rückgriff auf generelle Kriterien der Wissenschaftlichkeit und Rationalität ausgeschlossen werden können. (…) Erstens bin ich nicht davon überzeugt, dass aus einer eingehenden Untersuchung des Voodoo oder der Astrologie hervorgehen würde, dass sie gut definierte Ziele und Methoden besitzen, um diese Ziele zu erreichen, obgleich ich, solange ich derartige Analysen nicht ausgeführt habe, zugeben muss, dass dies in gewissem Sinne ein Vorurteil darstellt. Es findet sich bei Feyerabend keine einzige Passage, die mich ermutigt hätte, meine Meinung zu ändern. Der zweite Grund ist der, dass der Status von Voodoo, Astrologie u.ä. in unserer heutigen Gesellschaft kein dringliches Problem darstellt. Wir befinden uns einfach nicht in der Situation, dass wir eine freie Wahl zwischen Wissenschaft und Voodoo haben, oder zwischen westlicher Rationalität und jener der Nuer‑Stämme.“[626]
Die Einführung von Voodoo und anderen magischen Kulten in unsere Gesellschaft stellt für Chalmers kein geeignetes Mittel dar, um die dringenden sozialen Probleme, die anstehen, lösen zu können. Feyerabend habe ihn auch nicht davon überzeugt, dass Astrologie etc. bessere Ziele und Methoden als die Wissenschaft vorweisen könnten.
Feyerabends Idee einer willkürlichen Gestaltung des „Schullebens“ durch die „Betroffenen“ ist leider keine Phantasie geblieben: sie gleicht den Thesen der Grünen Partei zur Bildungspolitik.[627] Da sollen die Eltern, die Schüler und andere Gruppen im Umkreis einer Schule den Lehrplan nach Gutdünken basisdemokratisch festlegen. So werden die allgemeinverbindlichen Bildungsinhalte abgeschafft, und es ist dem Zufall überlassen, ob die Kinder noch eine Ausbildung in den grundlegenden Fertigkeiten (z.B. lesen, schreiben und rechnen) erhalten. Postmodern beliebig – oder von politischer Einflussnahme abhängig? – sind auch die weiteren Lerninhalte. Es ist gut möglich, dass Feyerabends Ideen hierbei eingeflossen sind, war er doch ein gefeierter Intellektueller in der Schweizer Anti‑Establishment‑Szene.
„Prinzipien sind Grabsteine“[628] verkündet Feyerabend in einem Interview mit der Wochenzeitung (WOZ). Ausdrücklich lehnt er hier jeglichen mitmenschlichen Massstab ab und konkretisiert: „Wenn es einen Privatverein gäbe, dem man freiwillig beitreten kann und in dem die Leute einander foltern – Sadisten auf der einen und Masochisten auf der anderen Seite bilden eine glückliche Vereinigung –, dann wäre ich dagegen, dass eingegriffen würde.“[629] Es gebe keinen Grund, Sadomasochismus oder sogar Grausamkeit als dem Menschen unzuträglich abzulehnen. Grausamkeit könne sogar ein wichtiger Teil einer Kultur sein. Sogenannt ‘objektive Werte’ hätten keine Bedeutung, sie seien etwa mit der Stimme Gottes zu vergleichen, der hinunterriefe: „‘Tut das nicht, meine lieben Kinder’!“[630] Heutzutage sässen die Professoren auf den Lehrstühlen und sprächen von objektiven Werten usw. Jedes verabsolutierende oder verallgemeinernde Prinzip sei Idiotie. „Also nehme ich auch kein allgemeines Prinzip der Achtung vor dem menschlichen Leben oder dergleichen an.“[631]
Damit geht Feyerabend mit seinem absoluten Relativismus weiter als Lyotard oder Foucault, die sich doch – wenigstens verbal – ab und zu auf die Menschenrechte bezogen. Feyerabend führt seinen Relativismus konsequent durch bis zum bitteren Ende: „Es ist eben nichts sicher auf dieser Welt als der Tod, und nicht einmal der ist sicher, denn wer weiss, ob ich nicht als Gespenst zurückkomme und dann noch einmal ein Interview gebe.“[632] Voodoo‑Zauber über alles!
Werte und Moral als „Sekundärzynismen“ bei Sloterdijk
Sloterdijks „Kritik der zynischen Vernunft“ ist der Versuch, die philosophische und geistesgeschichtliche Tradition des platonisch-christlichen Abendlandes zu kritisieren. Sie sei von einer Haltung des Zynismus geprägt, die knöcherne „Gross-Theorie“ und sogenannt konservative, bürgerliche Wertvorstellungen dem Lebendigen und Spontanen gegenüber einnähmen. Werte und Moralvorstellungen reiht Sloterdijk unter die sogenannten „Sekundärzynismen“ ein. Angesichts der undurchdringlichen Verwicklungen von Krieg und Macht mit Sexualität und Medizin, sowie Religion und Wissen sei das Leben mit „Moralen“ nicht erfassbar. Die Tauglichkeit des Menschen zu moralischem Verhalten sei in Zweifel zu ziehen.[633] „Schon durch die Komplexität und Gegensätzlichkeit der Wertsysteme muss ein kritisches Mass an Zynismus zum Begleitschatten jeglicher Moral werden.“[634] Die Diagnose – in den frühen achtziger Jahren gestellt – ist bis heute gültig geblieben: Es existiert kein einheitliches Wertemuster mehr, die Wertesysteme sind sogar gegensätzlich geworden. Weshalb aber deswegen die Moral in Zynismus abkippen solle, ist nicht einleuchtend. Ein momentaner Zustand der Werteunsicherheit setzt die grundsätzliche Geltung von Moral nicht ausser Kraft. Sloterdijk richtet sich anscheinend im heutigen wertechaotischen Zustand ein, in einer „Pluralität ausdifferenzierter, quasi‑autonomer Wirklichkeitsbereiche“ und „damit korrespondierende(r) Mehrzahl von Moralen und Moralwurzeln“[635]. Er definiert darum Moral neu als eine Lebensart, die sich wendig zwischen Ansprüchen und Verpflichtungen hindurchwurstelt, um mit dem geringsten Schaden für sich und andere davonzukommen. „Moralgefühl, das sich mit dem Leben selbstkritisch vermittelt, bedeutet die Kunst, sich in den Zwischenwelten und Widersprüchen der verselbständigten und gegeneinanderstehenden Wertbereiche mit dem geringsten Ergebnis an wirklichem Bösen und menschlichem Schaden zu bewegen.“[636] Eine minimalistische Lebensauffassung, die Sloterdijk in Anlehnung an Adorno „minima amoralia“[637] nennt. „… der Moralist, der nicht als Narr eines Über‑Ich urteilt, ist jemand, der bei der Unterscheidung von Gut und Böse auch die ‘Tugend der Sünde’ zu würdigen weiss (…) Moral wirkt als die Fähigkeit, sich in der allgemeinen Gemischtheit der Verhältnisse am relativ Besseren zu orientieren.“[638]
Gemäss der freudo‑marxistischen Theorie der Frankfurter Schule besitze der Mensch ein „Über‑Ich“, in dem er die Wertmassstäbe und „Sollens‑Forderungen“ der Eltern verinnerlicht habe. Da dies im frühen Kindesalter geschehen sei, sei das Kind noch nicht in der Lage gewesen, zu beurteilen, ob es die ihm aufoktroyierten Normen wirklich annehmen wolle. Das „Über‑Ich“ sei also eine innere Zwangsinstanz, die das Verhalten des Menschen kontrolliere. Es entspricht dem Gewissen, das im neomarxistischen Register immer als Zwang dargestellt wird. Wenn also der Erwachsene gemäss Sloterdijk nicht als „Narr eines Über-Ichs“ urteilen solle, bedeutet das, dass er nicht mehr auf sein Gewissen hören und damit den in seiner Familie erworbenen Werten eine Absage erteilen soll. So bezeichnet Sloterdijk auch die für unsere demokratische Gesellschaft geltenden Werte als „neokonservative Ladenhüter“.[639] Sloterdijk unterwirft die Moral dem heute vorherrschenden Relativismus der Werte: es gebe keine absoluten Massstäbe von Gut und Böse mehr, nur noch das „relativ Bessere“. Eine sittliche Haltung wird in diesem Menschenbild verneint. Die Folge ist ein grundsatzlos handelnder Mensch, der nicht in der Lage ist, für die Respektierung der Menschenwürde einzustehen, wenn diese missachtet wird. Mit den „alten hochkulturellen Ethiken“[640] hätten wir uns nur überfordert, meint Sloterdijk. Schimmert da nicht eine eigene Lebensphilosophie der Bequemlichkeit durch, Sloterdijks Schwärmerei für das „Sich‑gehen‑lassen“ ? Sich an einer hohen Ethik zu orientieren bedeutet eben immer auch Arbeit an der eigenen Sittlichkeit, die mit Anstrengung verbunden ist, und sie bedeutet auch, ein Auge zu haben auf die uns umgebenden Mitmenschen, die unserer Anteilnahme oder sogar unserer Hilfe bedürfen.
Sloterdijk steigert sich im weiteren zu einer eigentlich postmodernen, antihumanistischen Haltung, indem er allgemein der Werteorientierung „Zynismus“ unterstellt. „Wo es um Werte geht, ist immer der Zynismus mit im Spiel; wer eine Wertskala radikal verficht, wird automatisch an anderen zum Zyniker – ausdrücklich oder nicht. Wie immer du sein magst, irgendwelche Normen trittst du immer mit Füssen (…).“[641] Dies entspricht der postmodernen Argumentation vom „Totalitarismus“ der allgemeinverbindlichen Werte. Hager hat diese Behauptung, dass die Ansetzung fester Werte z.B. in der Philosophie, eine totalitäre Haltung sei, in einer brillanten Gedankenführung widerlegt, aus der eine zentrale Aussage wie folgt lautet:
„Das ist ein falsches Verständnis der Tradition liberalen Denkens, die unseren heutigen westlichen Demokratien und freiheitlichen Rechtsstaaten zugrunde liegt, und die sehr zu bejahen ist. Die Erhebung der Werteneutralität oder gar der Werteindifferenz zum Dogma ist eine sehr gefährliche Bewegung, es ist geradezu ein Widerspruch in sich selbst. Man kann nicht die prinzipielle Freiheit in der Wahl der Werte, die die freiheitlichen Rechtsstaaten den Menschen garantieren, verwechseln mit einer Verpflichtung zu einer Werteneutralität, zum Werterelativismus und zur Werteindifferenz.“[642]
Bei Sloterdijk handelt es sich offensichtlich um eine Werteindifferenz, wenn er einer situativen und subjektiven Moral das Wort redet. Wie Hager weiter ausführt, bedeutet die Orientierung an verbindlichen Normen nicht die Missachtung der Werte anderer Menschen – im Gegenteil:
„Man kann nicht jede beliebige Theorie oder Weltanschauung, die versucht, zu einer bestimmten inhaltlichen Gewissheit über den Sinn des Lebens und die grundlegenden Werte zu kommen, schon allein deswegen, weil sie dies versucht und nicht einfach bei einem allgemeinen Skeptizismus oder einer allgemeinen Indifferenz stehen bleibt, als totalitär bezeichnen. Und deswegen kann man auch nicht eine wertbejahende Haltung als totalitär diffamieren. Eine solche Haltung wird immer erst dann totalitär oder gerät in Gefahr, totalitäre Systeme zu begünstigen, wenn sie aufhört, eine ähnliche Bewegung der Wertsetzung beim Mitmenschen zu tolerieren, wenn sie auf eine andere Weise als durch die gegenseitige Diskussion sich über die Festsetzung der Werte zu verständigen versucht, wenn sie versucht, die eigenen Werte eben mit nichtintellektuellen Mitteln, z.B. mit Mitteln der Gewalt, der politischen Herrschaft, der Repression durchzusetzen.“[643]
Eine wertebejahende Haltung beinhaltet auch den Wert der Toleranz. Das heisst, dass die Konsensfindung auf demokratischem Wege erfolgt, in argumentativer und rationaler Auseinandersetzung. Gewaltsame Durchsetzung eigener Interessen steht auf einem anderen Blatt. Wenn Sloterdijk eine feste Werteorientierung mit der Missachtung der Werte anderer gleichsetzt, ist das nichts anderes als eine semantische Strategie, um den werteorientierten Bürger zu verunsichern oder vor ihm zu warnen.
Konsequenterweise rät Sloterdijk, sich wegen der Nichteinhaltung ethischer Richtlinien nicht mehr zu schämen. Bekenne man, wer man ist und fördere man das Geständnis, seien alle übrigen Moralen aufgehoben. Unsere heutige Gesellschaft charakterisiere sich durch einen „Mangel an Authenzität“[644], deshalb sei es die Hauptsache, dass man „echt“ sei. „Erst wenn wir für alles Verständnis haben, alles gelten lassen, alles ins Jenseits von Gut und Böse stellen und letztlich alles so ansehen, dass nichts Menschliches uns fremd ist – nur dann wird diese Ethik des Seins möglich, weil sie die Verfeindung mit anderen Arten zu sein beendet.“[645]
Dies ist genau der falsch verstandene Liberalismus, wie ihn Hager oben angesprochen hat. Auch wenn uns nichts Menschliches fremd ist, können wir nicht allen Handlungsweisen gegenüber „tolerant“ sein. Oberster Wert ist immer die Würde des Menschen. Sie darf nicht angetastet oder verletzt werden. Dass man aber aufgrund einer inneren Gewissheit über den Sinn des Lebens anderen Lebensformen gegenüber feindselig eingestellt sei, ist wieder eine unzulässige Vermengung von zwei verschiedenen Ebenen. Unreflektierte emotionale Komponenten wie Ablehnung oder andere feindselige Gefühle gehören nicht zu einer sachlichen Auseinandersetzung.
Sloterdijk beruft sich aber nicht einmal auf die liberalistische Tradition. Er hat anderes im Sinn: eine eigentliche Auflösung der bürgerlichen Werte durch eine „kynische Kulturrevolution“[646]. Dabei zeigt sich ein Widerspruch in Sloterdijks Ausführungen: er schlägt einerseits die Moral des „relativ Besseren“ vor oder lässt „alles gelten“, andererseits propagiert er mittels eingängiger Bildersprache „Neue Werte“, obwohl er einleitend verspricht, „… nichts zu versprechen, vor allem keine Neuen Werte“.[647] Die wiederzuentdeckenden Werte Sloterdijks sind die „kynischen“: Der Prototyp seines Menschenbildes ist der Grieche Diogenes in der Tonne, ein subversiver „Kyniker“, der „auf Platos feinsinnige Lehre vom Eros“ mit anstössigen Handlungen in der Öffentlichkeit „antwortet“[648]. Diogenes „kreiere“ „gegen die schizoide Falschheit eines verkopften Denkens“ „eine grobianische Aufklärung“[649]. Er sei ein Spötter, ein bissiger und böser Individualist. „Buchstäblich scheisst er auf die verdrehten Normen.“[650] Diogenes vollziehe eine „…’zynische’ Kehre gegen die Arroganz und die moralischen Betriebsgeheimnisse der höheren Zivilisation.“[651] (Man beachte die uneinheitliche Verwendung des Begriffs „Zyniker“ und „Kyniker“.)
„Der geistvolle Materialismus begnügt sich nicht mit Worten, sondern geht zur materiellen Argumentation über, die den Körper rehabilitiert. Gewiss, die Idee thront in der Akademie, und der Urin tropft diskret in die Latrine hinunter. Aber Urin in der Akademie! Das wäre die totale dialektische Anspannung, die Kunst, gegen den idealistischen Wind zu pissen. Das Niedrige, Abgetrennte, Private auf die Strasse zu tragen, bedeutet Subversion.“[652]
Diese Negativität befreie, da sie dem Lebendigen zum Durchbruch verhelfe. Der Kyniker spiele die Rolle eines „Moralisten“, der deutlich mache, dass man gegen die Moral verstossen müsse, um die Moral zu retten.[653] Nun spricht Sloterdijk wieder im Namen der Moral. Unsere Gesellschaft sei eine christlich‑bürgerlich‑kapitalistische Schizophrenie, die das „Prinzip Verkörperung“ zerstört habe.[654] Auch die „Normalität“ (Foucault!) sei Ausdruck der bürgerlichen Erstarrung. Sloterdijk spricht vom „… Leichengift der Normalität in einem Land der harten Köpfe und der Panzerseelen.“[655]
Offen nennt Sloterdijk sein gesellschaftspolitisches Ziel: die Zerstörung der bürgerlichen Werte. Mit dem ersten Weltkrieg habe die „Zersetzung alter Naivitäten“ begonnen, so unter anderem derjenigen über das Wesen des „… Fortschritts, der bürgerlichen Werte, ja der bürgerlichen Zivilisation überhaupt.“[656] Er plädiert für einen „Aufbruch“ und „einen Exodus des Bewusstseins“ aus den „Erstickungsmächte(n) der Tradition, der Gesellschaft, der Konventionen.“[657] Offensichtlich spricht er hier die Strategie der Bewusstseinsveränderung an, mittels derer an der menschlichen Persönlichkeit direkt angesetzt wird. Wie der Öko‑Fundamentalist Rudolf Bahro[658] fordert er eine „Alternative“, die auf dem Weg der „Verkörperung oder Spaltung“[659] erreicht werde. „Es ist eine Alternative, die sich zunächst an das Bewusstsein richtet, erst dann an das Verhalten. Sie fordert eine radikale Priorität der Selbsterfahrung vor der Moral.“[660] Man vergegenwärtige sich genau, was das heisst: Zuerst soll eine Bewusstseinsveränderung bei den Menschen erzielt werden, dann sei das Verhalten zu verändern. Allein kann man das natürlich nicht bewerkstelligen, es braucht dazu ausgebildete Psycho‑Techniker, die in das Gefühlsleben der Menschen eingreifen, um eine Umorientierung zu erreichen.[661] Dass die Selbsterfahrung absoluten Vorrang vor der Moral habe, kann auf diesem Hintergrund bedeuten, dass der Psycho‑Techniker keine moralischen Bedenken haben müsse, menschenverachtende, persönlichkeitszersetzende Praktiken durchzuführen. Die Wertezerstörung beim einzelnen Menschen wird als „Selbsterfahrung“ ausgegeben, mittels derer er nun beliebige andere Werte als gut befinden kann. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang daran, dass Sloterdijk ein Mitglied der Baghwan‑Bewegung war, die sich die Auflösung der bürgerlichen Werte vorgenommen hat und die genannten psychotechnischen Mittel, z.B. stundenlanges Schreien oder sexuelle Enthemmungstechniken, anwendet.
Der Angriff auf die Vernunft
Übersicht über die neuzeitliche Tradition der Vernunft und deren Kritik
Eine Vernunftkritik, die sich geradezu als Vernunftfeindschaft präsentierte, war der gemeinsame Nenner des 68er‑Denkens. Dessen Minimalprogramm bestand nämlich aus der Denunziation der Vernunft als Machtinstrument (Ferry/Renaut).[662] Der neuzeitlichen, „wissenschaftlich-technischen Vernunft“ wird der Prozess gemacht. Der französische Antihumanismus stützt sich stets auf einen Begründungszusammenhang, demzufolge der Humanismus der neuzeitlichen Philosophie, der nur scheinbar die Würde des Menschen verteidige, sich in sein Gegenteil verkehrt habe und nun sogar Ursache der Unterdrückung geworden sei. Foucault stellt in „Wahnsinn und Gesellschaft“ die Heraufkunft der neuzeitlichen Vernunft als einen Prozess dar, der die Ausgrenzung alles dessen erzwingt, was der Vernunft äusserlich ist. Auch bei Derrida geht mit der Vernunft eine versteckte Gewalt einher, da die Vernunft verdrängen müsse, was sie von innen her bedrohe. Im deutschsprachigen Raum wurden die gleichen Motive aus der wiederaufgelegten „Dialektik der Aufklärung“ Adornos und Horkheimers zelebriert.[663] Das postmodernistische Denken verschärft die Kritik an der Vernunft gegenüber derjenigen Adornos durch eine „entschiedene Absage an eine Philosophie der Versöhnung“.[664] Wellmer fasst die antihumanistische Dekonstruktion der Vernunft – als eigentliche Stossrichtung der Postmoderne – in die Kurzformel: „Der Augenblick der Postmoderne ist eine Art Explosion der modernen episteme, bei der die Vernunft und ihr Subjekt – als Platzhalter der ‘Einheit’ und des ‘Ganzen’ – in Stücke fliegen.“[665]
Eine historisch‑systematische Linie der Vernunftkritik, die die Moderne als einseitigen Rationalisierungsprozess versteht, lässt sich von Max Weber über Heidegger und die Frankfurter Schule bis zu Foucault ziehen. Nach Oelkers sind in den Leitthemen der Postmoderne Analogien zum „fin de siècle“ auszumachen, wo auch der allgemeine Vernunftanspruch bestritten wurde.[666] So war z.B. der „Tod des Subjekts“ „… gleichbedeutend mit der Radikalisierung der ‘inneren’ Wahrnehmung, die unter dem Stichwort ‘Impressionabilität’ diskutiert wurde und ihren radikalen Schluss darin hatte, dass das Band zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zerschnitten wurde.“[667] Gemeinsam ist den einschlägigen Schriften von Rechten und Linken, von Rationalisten und Irrationalisten, Konservativen und Progressiven die Kennzeichnung der Moderne als „imperialistische Verwirklichung der Verstandesrationalität“[668] in der Moderne. Die Geschichte der Vernunft habe die Vernunft in der Geschichte zerstört oder in der zugespitzten Formulierung Horkheimers und Adornos: die Vernunft habe sich selbst disqualifiziert, indem sie sich vollendete.[669] Der Begriff der „zur Vollendung gelangten Vernunft“ spiegle das Ende des Fortschritts vor. Wenn sie sich verwirklicht hat, bedeute ihre Disqualifizierung ihre Abschaffung, folgern postmoderne Autoren. Diese radikale Konsequenz, nämlich der Verzicht auf den Vernunftanspruch, verbirgt sich in Wirklichkeit hinter den postmodernen Forderungen nach Pluralität. Wellmer beschreibt diese Sicht über die Entwicklung der neuzeitlichen Vernunft, die im „Totalitarismus“ kulminiere, folgendermassen:
„Vom Projekt der Aufklärung, bei dem es, in Kants Worten, um den ‘Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit’ ging, war schon bei Max Weber nicht viel anderes mehr übriggeblieben als ein Prozess unaufhörlicher Rationalisierung, Bürokratisierung und ‘Verwissenschaftlichung’ des gesellschaftlichen Lebens. Kapitalistische Ökonomie, moderne Bürokratie, technischer Fortschritt und schliesslich die von Foucault analysierten Formen der ‘Disziplinierung’ der Körper haben die Ausmasse eines gewaltigen Zerstörungsprozesses angenommen: zuerst die Zerstörung der Traditionen, dann die Zerstörung des ‘Sinns’ sowie jenes einheitlichen Selbst, das einmal das Produkt ebenso wie der Motor des Aufklärungsprozesses war. Die Vernunft, die in diesen Rationalisierungsprozessen geschichtlich am Werke ist, ist eine ‘identitätslogische’, eine planende, kontrollierende, objektivierende, systematisierende und vereinheitlichende, kurz: eine ‘totalisierende’ Vernunft.“[670]
Nun ist diese Rationalität, die Max Weber vorfindet, und die Grundlage einer Bürokratisierung und der Zerstörung des Sinns sei, m.E. nicht der Inbegriff von Vernunft.[671] Schon eher wären solche „Rationalisierungsprozesse“ als Produkt einer Verstandestätigkeit zu verstehen, die ohne Sinn für das Wohl des einzelnen Menschen und der Gesamtgesellschaft angewandt wird. Die Begriffe „Verstandesrationalität“ und „Vernunft“ sind klar auseinanderzuhalten und nicht gegenseitig einsetzbar, auch wenn Vernunft und Verstand nahe beieinanderliegen. Mit einer Gleichsetzung der beiden Begriffe wird als Produkt der Vernunft ausgegeben, was allein rationale, verstandesmässige Planung ist. Negative Entwicklungen innerhalb des Modernisierungsprozesses sind aber nicht das Resultat vernünftigen Handelns.
Hiermit ist also die Frage der Begriffe angesprochen: Was bedeutet ‘Vernunft’? Was ist unter ‘Rationalität’ zu verstehen? Sind die beiden Begriffe synonym, oder bedeuten sie Unterschiedliches? Nach Welsch dreht sich die Debatte zwischen Modernisten und Postmodernisten genau um diesen Punkt: Die beiden Seiten gehen von verschiedenen Konzeptionen von Vernunft aus. „Der Streit zwischen Modernisten und Postmodernisten ist ein Streit um die Vernunft.“[672] In postmoderner Literatur findet sich leider oft eine Begriffsunklarheit, die sich aus einer Vermischung der beiden Begriffe ‘Vernunft’ und ‘Rationalität’ oder aus unklaren Definitionen ergibt. Es könnte auch damit zusammenhängen, dass im Französischen „la raison“ beides: Vernunft und Verstand bedeutet, und der Begriff in Übersetzungen ins Deutsche zuwenig differenziert verwendet wurde. So schreibt z.B. Welsch: „Vernunft tritt – zumal als Rationalität zunehmend pluralisiert, facettiert, ja atomisiert auf.“[673] Vernunft tritt heute als Rationalität auf, diagnostiziert Welsch. Kann man diese Rationalität noch als Vernunft bezeichnen? Damit hätte sich ja der seit Kant geltende Vernunft‑Begriff gewandelt. Die postmoderne Perspektive versteht die „heutige“ Vernunft als eine in verschiedene Rationalitätstypen zersplitterte. In historistischer Manier wird angenommen, die Art der Vernunft wandle sich im Verlauf der Zeiten. Legt man aber die Auffassung von Kant oder ein anthropologisch abgestütztes Menschenbild zugrunde, kann sich der Vernunftbegriff nicht wandeln: Es ist immer die universelle, menschliche Vernunft, die „allgemeine Menschenvernunft“[674], mit ihrem sittlich‑moralischen Aspekt. Dies wäre die klassische und die moderne Perspektive. Höffe verknüpft im Lexikon der Ethik das Gemeinwohl mit dem vernünftigen guten Willen und sittlicher Kompetenz.[675] Das heisst: Die „praktische Vernunft“ verwirklicht das Prinzip des „Kategorischen Imperativs“ und wird damit allgemeingültig. Sie orientiert sich in Richtung des Gemeinwohls.
Bei Welsch scheinen aber Rationalitäten die universelle Vernunft zu ersetzen. „Dass von Vernunft nur im Angesicht einer Vielheit von Rationalitätsformen gesprochen werden kann, ist daher in der Gegenwart unumstritten geworden. Rationalität und Pluralität zusammenzubringen ist geradezu der Generaltrend heutiger Vernunftdebatten.“[676] Es gibt heute verschiedene Rationalitätsformen: Wenn man dabei an die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche denkt, existieren durchaus unterschiedliche Zugangsweisen oder Arten der Auseinandersetzung. Dass daher nur noch eine „Vernunft im Plural“ anerkannt werden könne, ist aber eine Verdrehung des Vernunftbegriffs. Während ‘Vernunft’ als eine menschliche Fähigkeit, sich im Sinne des „common sense“ zu verhalten verstanden werden kann, wie Alfred Adler nach Kant formulierte, siedelt Mittelstrass den Begriff der „Rationalität“ eher im Bereich des wissenschaftlich‑technischen Sachverstands an.[677]
Von einiger Bedeutung zur Beurteilung der Postmoderne ist die Tatsache, dass heute derjenige, der von einer einheitlichen, universellen Vernunft ausgeht, bereits als totalitär oder fundamentalistisch diffamiert wird.
Mittelstrass, der vom bewährten Konsens über den europäischen Vernunftbegriff ausgeht, kritisiert, dass
„… jeder weiss, dass der semantische Unsinn, der mit dem Wort ‘Vernunft’ getrieben wird, in Wahrheit ein Erosionsphänomen ist – es wird etwas abgetragen, nicht etwas aufgebaut, nämlich eine Orientierung, die nicht Marktgesetzen und Moden folgt, sondern dem, was die Griechen in philosophischer Unbefangenheit das ‘gute Leben’ nannten, d.h. ein Leben in wahren, sophistisch oder ideologisch nicht verstellten Selbstverhältnissen.“[678]
Mit der Zersplitterung und Erweiterung des Vernunftbegriffs wird die Ausrichtung auf ein ‘gutes Leben’ oder die Idee des Guten und Wahren, die den Wandel der Zeiten überdauert, zerstört. Mittelstrass diagnostiziert auch eine erodierende Legitimation geltender Vernunftformen. Umso dringender wäre es, diese Orientierung an der Vernunft heutige Verhältnisse korrigierend und verbessernd konstruktiv auszugestalten. So „… führt die Frage von Technik und Vernunft aus der Wissenschaftstheorie und den Sozialwissenschaften geradewegs in die Ethik (…).“[679]
Zur aktuellen Begriffsverwirrung trägt ferner bei, dass der Vernunftbegriff wie auch der Begriff der Rationalität postmodern noch in einer anderen Hinsicht verwässert werden: Sie werden erweitert, so dass auch ausserwissenschaftliche Rationalität (ein Widerspruch in sich) oder irrationale Aspekte inbegriffen sind. „Zum anderen ist auch von ausserwissenschaftlicher Rationalität die Rede: von einer Rationalität der Kunst, des Mythos, der Religion, der Lebenswelt.“[680] Es scheint, dass als vernünftig oder rational anerkannt wird, was einfach in verschiedenen Lebensbereichen existiert oder erzählt wird, ohne objektiv überprüfbar sein zu müssen oder auf rationaler Argumentation zu beruhen. Der Begriff kann nun sogar sein Gegenteil bedeuten. Im Sinne des postmodernen Konzepts der „grossen Erzählungen“ seien Mythen ebenso „rational“ wie die Wissenschaft, behauptet z.B. Feyerabend. So verwundert es nicht, dass der verwirrte Leser sich am Schluss nicht mehr auskennt, wenn er ‘noch’ in den klassischen Begriffen der europäischen Philosophie denkt.
Aus der Analyse der Vernunftbegriffe unserer postmodernen Philosophen wird ebenfalls deutlich werden, dass sie – in Abgrenzung zur Tradition der Aufklärung – ein bestimmtes Rationalitätskonzept gefasst haben und es selbstherrlich als geschichtlichen Stand der Dinge deklarieren.
Die Vernunftkritik der letzten zweihundert Jahre bezog sich auf das Programm der Aufklärung mit ihrem universellen Vernunftbegriff und der Idee der Emanzipation durch die Anwendung von Vernunft und Wissenschaft. Es war ein zentrales Postulat der Aufklärung, dass der Mensch ein vernunftfähiges Wesen ist, und dass diese anthropologische Gegebenheit für alle Menschen allerorts und aller Zeiten gilt. In diesem Sinne beansprucht die ‘universale Vernunft’ Allgemeingültigkeit. Der Mensch der Neuzeit stützt sich nicht mehr auf überlieferte Autoritäten ab, sondern auf seine eigene Vernunft als Massstab des Urteilens und Handelns. Wissenschaftliches Forschen und das Überprüfen von Meinungen traten an die Stelle des Glaubens. Man wagte es, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, charakterisierte Kant die zentrale Neuerung der Aufklärung. Obwohl Kant die Einheit der Vernunft zur genaueren Definition in drei Vernunftarten aufteilte, hatte er noch Vertrauen in die Vernunft. Die Vernunft war für ihn die Instanz, die das Recht hatte, alles frei und öffentlich zu prüfen, und in deren Namen Legitimität zuerkannt wurde.[681] Kant erläutert zur Vernunft: „Man kann sie also auch durch das Vermögen, nach Grundsätzen zu urteilen und (in praktischer Rücksicht) zu handeln, erklären.“[682] Indem in der menschlichen Person reine Vernunft praktisch werden kann („Faktum der Vernunft“), „… erweist sich die Person als ein Vernunftwesen, das sich selbst bestimmen kann, indem es sich selbst das Gesetz des Handelns (das Sittengesetz) gibt.“[683] Der Mensch als Person ist autonom, das heisst er handelt selbstbestimmt durch seine Fähigkeit, mittels seiner Vernunft sich die moralischen Prinzipien seines Handelns selbst zu geben. Kants Leistung war, dass er den sittlichen Aspekt hervorhob und versuchte, in seiner praktischen Philosophie Prinzipien ethischen Handelns zu formulieren. Wenn ich mich als Person und Selbstzweck weiss, anerkenne ich auch alle anderen Menschen als mir gleiche Vernunftwesen und Selbstzwecke. So vergegenwärtigt der einzelne in seinem Handeln die Forderung des „Kategorischen Imperativs“, seiner eigenen Personalität und derjenigen der anderen gerecht zu werden.
Innerhalb der romantischen Gegenströmungen zur Tradition der Aufklärung jedoch wird das Allgemeine und Universelle, das für alle Menschen als Vernunftwesen gilt, relativiert und historisiert.
„Die abendländische Vorstellung einer zeitlos allgemeinen Vernunft‑Ordnung, die a priori für alle Vernunftwesen gilt, wird an die sprachlichen, geschichtlichen, wirtschaftlichen, nationalen, epistemologischen usw. Voraussetzungen ihrer Geburtsstunde – kurz: an ihr ‘historisches Apriori’ – erinnert. Das vermeintlich Universelle der Einen Rationalität erweist sich als ein individuelles Allgemeines (…).“[684]
Das bedeutet, dass die Vernunft nicht mehr als einheitlich angesehen wird: es gebe die verschiedensten Vernunftarten, je nach Kultur und Zeit. Die Romantik macht gegenüber der aufklärerischen Sicht über die Vernunft folgendes geltend:
„… die emanzipatorische Mission der Aufklärung schlägt um in einen neuen Kult der Rationalität, sobald die Rationalität sich für autonom und suisuffizient erklärt, d.h. versäumt, darauf zu reflektieren, in welchen synthetischen Akten sie gründet. Ein sich selbst überlassener Vernunftprozess gleicht einer sich selbst betreibenden Maschine, deren Funktionieren nicht mehr unter der Kontrolle eines Zwecks steht. In dem die analytische Rationalität in ihrer äussersten Zuspitzung den Gedanken der Zweckmässigkeit und der Rechtfertigung aus ‘Ideen’ verwirft, schafft sie mit dem Gedanken der Unhaltbarkeit von Positivitäten zugleich den Gedanken der Legitimierbarkeit als solchen aus der Welt (‘untergräbt sich selbst bis zur Selbstvernichtung’, sind Friedrich Schlegels eigene Worte).“[685]
Die aus der Romantik stammende Vernunftskepsis hat sich als Thema bis heute durchgehalten. Seither, konstatiert Frank, wird die Vernunft als Legitimierungsgrundlage in Frage gestellt, was gefährliche Folgen haben könnte. „Fortan steht Rationalität unter dem Verdacht der Illegitimität oder zumindest des Zweifels, dass sie sich mit eigenen Mitteln legitimieren könnte. Darin liegt eine grosse Gefahr.“[686] Die Legitimierung vernünftigen Handelns war bei den Aufklärern jedenfalls noch nicht aus der Welt geschafft. Sie wurde jedoch nicht aus abstrakten ‘Ideen’ gewonnen, sondern sollte sich aus positiven lebenspraktischen Wirkungen ergeben, ansonsten die Handlungen nicht vernünftig genannt werden könnten. Der Zweck ist eng mit einer humanistischen Ethik verknüpft.[687] Der französische Philosoph Alain Finkielkraut schreibt über den Kampf der Romantiker gegen die Vorstellung einer universalen Vernunft:
„Die Philosophen der Aufklärung hatten sich selbst als ‘die friedliebenden Gesetzgeber der Vernunft’ bezeichnet. Sie, die Meister der Wahrheit und des Rechts, hatten die Gerechtigkeit eines idealen Gesetzes dem Despotismus und dem Machtmissbrauch entgegengesetzt. Mit der deutschen Romantik kehrt sich alles um: Juristen und Schriftsteller (…) kämpfen in erster Linie gegen die Vorstellung einer universalen Vernunft oder eines idealen Gesetzes. Unter dem Wort Kultur ist es ihnen nicht mehr darum zu tun, das Vorurteil und die Unwissenheit zurückzudrängen, sondern darum, die unverwechselbare Volksseele, deren Hüter sie sind, in ihrer unverrückbaren Eigentümlichkeit zum Ausdruck zu bringen.“[688]
Der romantische Kampf gegen die universale Vernunft geht nach Finkielkraut auf das mittelalterliche religiöse Weltbild zurück, nach dem eigenständiges Denken Sünde war. Der Mensch hatte sich den Geboten Gottes unterzuordnen und ihnen zu gehorchen.
„Seit den Anfängen des Christentums haben immer wieder Mystiker oder Theologen das Geistesleben in den Bannfluch einbezogen, den die Religion gegen das menschliche Dasein geschleudert hatte. Dieses Urteil beruht auf der Überzeugung, dass jeder natürliche Akt eine Sünde und die Übung der Vernunft ein natürlicher Akt ist. Der Mensch ist hoffnungslos verdorben und kann daher nichts anderes als Verbrechen begehen und Böses tun. Der grundlegende Makel, mit dem er behaftet ist, verseucht die Erzeugnisse seiner Klugheit. (…) Die Selbständigkeit der geistigen Ordnung ist eine vom Hochmut geschürte Illusion.“[689]
Bedenken solcher Art gegen geistige Selbständigkeit und Autonomie des einzelnen Menschen in allen Lebensfragen mögen auch eine (oft unbewusste) Motivation von Vernunftkritik abgeben. Postmodern wird ja gerade das „selbstherrliche Subjekt“, also der sich als vernünftige Person selbstbestimmende Mensch, als Illusion ausgegeben.
Zu den Gegenkräften zur Aufklärung gehört auch, wie oben erwähnt, die Kritische Theorie der Frankfurter Schule Adornos und Horkheimers mit ihrem Grundlagenwerk „Dialektik der Aufklärung“. Man kann ihren Einfluss auf den heutigen Zeitgeist der Vernunft- und Wissenschaftsfeindlichkeit nicht hoch genug veranschlagen. Was ist die folgenschwere Aussage der „Dialektik“ bezüglich der Vernunft?
In den Kern der Argumentation zielen bereits die ersten Sätze: „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“[690] Die Wissenschaft sei von patriarchaler Gesinnung: der Verstand, der den Aberglauben besiegt, gebiete nun über die entzauberte Natur. Wissen sei Macht, und es kenne keine Schranken, „… weder in der Versklavung der Kreatur noch in der Willfährigkeit gegenüber den Herren der Welt.“[691] Die „instrumentelle Vernunft“[692] sei das Werkzeug bestimmter ideologischer Interessen, denen sie diene – in der bürgerlichen Gesellschaft denen des Kapitalismus. Die Vernunft unterdrücke und beherrsche nicht nur die äussere Natur, sondern auch die innere Natur des Menschen, da der zivilisierte oder „bürgerliche“ Mensch gezwungen sei, die Triebe in sich zu bändigen.
In der heutigen postmodernen Philosophie nimmt die Vernunftdebatte, wie gesagt, einen zentralen Platz ein. Die Allgemeingültigkeit der universalen Vernunft wird als dogmatische Normativität denunziert. Sie wird als Richtschnur des Handelns relativiert und als gleichwertig mit anderen (auch unbewussten) Leitlinien, Irrationalismen zum Beispiel, gesehen. Die anthropologische Konstante entfällt. In ihrer relativierenden Abwertung von Vernunft und vernünftigem Handeln und der Aufwertung von Mythen, weist die postmoderne Debatte Parallelen zu den romantischen Strömungen auf.
In der Folge des 68er–Denkens stellen die massgeblichen Zeitgeistphilosophen die Vernunft als Ursache negativer gesellschaftlicher Entwicklungen unter Verdacht: Foucault, Frankfurter Schule nach Adorno/Horkheimer und Marcuse, Lyotard, Sloterdijk, französische Neostrukturalisten und ihre Rezipienten im deutschsprachigen Raum, Feyerabend, die Gestalttherapie‑Bewegung, u.a.m. Was für die Zeitgenossen der Aufklärung unvorstellbar gewesen wäre, ist heute an der Tagesordnung: die Vernunft selbst wird verdächtigt.
„Heute – ich möchte sagen: in unseren Tagen – ist das aus der Perspektive des 17. und 18. Jahrhunderts Unglaubliche eingetreten, dass ‘die Vernunft’ / ’die Rationalität’ selbst und als solche vor Gericht geschleppt werden und die Frage nach ihrer Legitimität zu bestehen haben. Die Rationalität nach ihrer Legitimität befragen heisst nichts Geringeres als diejenige Instanz, in deren Namen bislang Legitimität zuerkannt wurde, selbst als etwas der Legitimität Bedürftiges unter Verdacht stellen.“[693]
Und als Fazit einer Bejahung des postmodernen Zeitgeistes wird das „Faktum der Vernunft“ (Kant) geleugnet: „Man muss wohl heute Abschied nehmen von der Idee einer sich selbst als überzeitlich verstehenden totalisierenden Vernunft, die im Rahmen ‘einer biologischen oder kulturellen Entität’ (…) den Anspruch auf Universalität erhebt.“[694]
Wenn aber die Vernunftfähigkeit des Menschen anthropologisch gegeben ist, ist es nicht zulässig, von einer „Idee“ zu sprechen. Es handelt sich ganz einfach und unumstösslich um ein universelles menschliches Wesensmerkmal. Herangebildet und kultiviert wird die Vernunft erst durch die Erziehung und Bildung des Menschen. Seit Platon gingen alle grossen Philosophen und Pädagogen davon aus. Die Geschichte der Pädagogik zeigt uns, wie in den verschiedenen Bildungs- und Erziehungskonzeptionen versucht wurde, dieser zutiefst humanen Aufgabe Rechnung zu tragen und sie in die Praxis umzusetzen.
In scharfem Kontrast zum pädagogischen Humanismus verkündet der Postmodernismus, der „Tod der Vernunft“ sei heute die „zentrale Erfahrung“. Er weise auf das Ende eines historischen Projekts hin: des Projektes der Moderne, der europäischen Aufklärung. Man spricht postmodern von einer Epochenschwelle, wobei bloss festeht, dass die Moderne ausgedient habe. Die Konturen der zukünftigen Epoche sind aber nicht erkennbar, sie sind verschwommen und zweideutig.[695] Dass sich jedoch aus der Infragestellung der Vernunft schwerwiegende Konsequenzen für die Pädagogik ergeben, liegt auf der Hand.[696]
Lyotard: Die Vernunft im Plural
Zu den „grossen Erzählungen“, die in der Postmoderne ihre Gültigkeit verloren haben sollen, zählt Lyotard auch die Aufklärung Kants, in der einheitsstiftender Sinn und oberste Instanz für moralisches Handeln die Vernunft war. Nach Kant verleiht die Vernunft aller Erkenntnis Gewissheit und Einheit. Die Vernunft prüft als letzte Instanz, ob sich eine Erkenntnis als wahr erweist, und ob das Verhalten moralisch gut ist. Sie umfasst demnach einen erkenntnismässigen und einen sittlich‑moralischen Aspekt. Selbst die staatlichen Institutionen müssen durch die Vernunft legitimiert sein. Gerade durch die Ausführungen Kants wird nach Hager das eigentliche Wesen und die Grundintention des Aufklärungsdenkens bestimmt: der selbstverantwortliche Mensch sucht sein kritisches Denken ganz auf sich selbst zu stellen und „… will die Erkenntnisse seiner menschlichen Vernunft zum obersten Richter über alle Wahrheit machen und will diese mündige Vernunft auch auf die Lösung aller praktischen Probleme und in der Bestimmung des Verhältnisses des Menschen zu Gott anwenden.“[697]
Diese universell gemeinte Idee von Mündigkeit und Freiheit des mit Hilfe seiner Vernunft sich selbst bestimmenden Menschen, erklärt nun Lyotard für obsolet. Er interpretiert Kant dahingehend, dass schon bei ihm die Vernunft keine universelle Gültigkeit mehr gehabt habe. Kants „Teilung der Vernunft“[698] in eine theoretische und in eine praktische zeige, dass aus den Erkenntnissen der theoretischen Vernunft keine Regeln für das praktische Leben abgeleitet werden können. Die theoretische Vernunft folge anderen Regeln als die praktische Vernunft, deshalb könne sie keine präskriptiven Aussagen über das praktische Leben, über Moral und Politik machen.
Es wird deutlich, dass Lyotard die beiden Vernunftarten als differente „Sprachspiele“ ansieht, von denen jedes seinen eigenen Regeln gehorche.
„Wenn man an Kant denkt (…), ist es leicht zu zeigen, dass man es nie mit einer massiven, einzigen Vernunft zu tun hat; dass die eine Vernunft Ideologie ist, dass man es im Gegenteil mit der Vernunft im Plural zu tun hat, und zwar mit einer theoretischen, praktischen und ästhetischen, die alle zutiefst heterogen, und das heisst nach Kant, ‘autonom’ sind.“[699]
Die „Vernunft im Plural“ ist zu einem Kennzeichen postmoderner Vernunftkritik geworden.[700] Schon bei Kant seien die verschiedenen Vernunftvermögen alle „heterogen“, also unabhängig voneinander und verschiedenartig. Lyotard folgert, dass die theoretische Vernunft deshalb auch keine Regeln oder Richtlinien für die praktische Vernunft vorgeben könne.
„Hier bewirkt das Resultat dieser Teilung der Vernunft in eine kognitive oder theoretische einerseits und eine praktische andererseits einen Angriff auf die Legitimität des Diskurses (…), und zwar nicht direkt, sondern indirekt, indem es aufzeigt, dass es ein mit seinen eigenen Regeln ausgestattetes Sprachspiel ist (wovon die Bedingungen der Erkenntnis a priori bei Kant einen ersten Überblick darstellen), doch ohne jede Berufung, das praktische (übrigens auch nicht das ästhetische) Spiel zu reglementieren. So ist es mit anderen gleichgestellt.“[701]
Für theoretische und praktische „Sprachspiele“ gebe es nach Lyotard keine universelle Meta‑Sprache. Welsch betont, dies bedeute bei Lyotard, dass die Probleme des Widerstreits verschiedener Rationalitätsformen nicht durch Vermittlung zu lösen seien. Sie seien gerade in ihrer Schärfe und Unüberschreitbarkeit zu behandeln. In Lyotards Formulierung:
„Die Inkommensurabilität im Sinne der Ungleichartigkeit der Satz-Regelsysteme und der Unmöglichkeit, sie ein und demselben Gesetz zu unterwerfen (ausser um den Preis ihrer Neutralisierung), kennzeichnet ebenso den Bezug der kognitiven oder präskriptiven Sätze zu den interrogativen, den performativen, den exklamativen (…). Jedem dieser Regelsysteme entspricht ein Darstellungsmodus eines Universums, und ein Modus ist nicht in einen anderen übersetzbar.“[702]
Welsch vergleicht die Inkommensurabilität der verschiedenen „Satzsysteme“, zu denen auch die unterschiedlichen „Rationalitäten“ gehören, mit einem Vexierbild, das als Landschaft oder als Gesicht wahrgenommen werden kann. Man kann zwischen den beiden Bildern hin- und herspringen, sie aber nicht ineinander überführen.[703] So unterstreiche Lyotard die „‘Verschiebung einer Idee der Vernunft’ vom Prinzip einer universellen Metasprache zur Pluralität formaler und axiomatischer Systeme“[704]. Das heisst, dass die Vernunft nicht mehr als Massstab oder als „höchste Instanz“ der Beurteilung dienen darf.
„Die Vorstellung, dass eine höchste Diskursart, die alle Einsätze umfasst, eine höchste Antwort auf die Schlüsselfragen der verschiedenen Diskursarten liefern könnte, scheitert an der russelschen Aporie. Entweder ist diese Diskursart Teil aller Diskursarten, ihr Spieleinsatz ein Einsatz unter den anderen und ihre Antwort also nicht die höchste. Oder sie gehört nicht zur Gesamtheit aller Diskursarten und umfasst foglich nicht alle Spieleinsätze, da sie ihre eigenen ausnimmt. Der spekulative Diskurs erhob diesen Anspruch (…). Das Prinzip eines absoluten Siegens einer Diskursart über die anderen ist sinnleer.“[705]
Auf der Ebene der Sprachspieltheorie würde es sich tatsächlich um eine Aporie handeln, da beliebig viele Diskursarten und Satzverknüpfungen möglich sind. Kein Diskurs kann durch Präskriptionen vorgeschrieben werden oder universellen Charakters sein. Auf der Ebene des wirklichen Lebens, z.B. des pädagogischen Handelns, können wir aber nicht mit einer Sprachspieltheorie hantieren, da sie – u.a. in ihrer Verneinung des selbstbestimmten, sich selbst bewussten Menschen – nicht auf dem Boden der Wirklichkeit bleibt. Wenn die Vernunft gemäss Lyotard keine „Metasprache“ mehr sein darf, hat sie ihre konstitutive Bedeutung als Leitlinie der menschlichen Orientierung verloren. Sie ist anderen „Sprachspielen“ gleichgestellt und damit entwertet. Die Universalität der Vernunft war noch bei Kant die Voraussetzung für ein freies und selbstbestimmtes Leben, das allen Menschen möglich sein sollte. Moral, Erziehung und Bildung mussten sich in diesem Sinne an der einen, allgemeingültigen und verbindlichen Vernunft orientieren. Da Bildung und Erziehung an eine eindeutige Moral für alle gebunden war, musste die Moral sich, wie es die Aufklärung postulierte, vernünftig begründen lassen. Vernunfterkenntnis galt für Kant als höchste Tugend.
Genau diese Universalität der Vernunft wird postmodern als „dogmatisch“ denunziert. Lyotard geht sogar so weit, dass er der Aufklärung vorwirft, sie würde mit ihrem universellen Vernunftbegriff, vor dem sich alles Wissen zu rechtfertigen hat, einen totalitären Anspruch vertreten. Es handle sich um einen „Totalitarismus der Vernunft“.[706] Für die „Illusion“ der „Einheit“ sei „der Preis des Terrors“[707] zu entrichten. „Wir haben die Sehnsucht nach dem Ganzen und dem Einen, nach der Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit, nach transparenter und kommunizierbarer Erfahrung teuer bezahlt.“[708] Das Einheitsdenken habe im 20. Jahrhundert zur Diktatur des Nationalsozialismus und des Kommunismus geführt. Hier führt Lyotard einen sprachlichen Schachzug mit Hilfe einer Begriffsverdrehung durch: Er bezeichnet eine Orientierung an allgemeinverbindlichen Werten als „Illusion der Einheit“, ja sogar als „Totalitarismus“. Diese unzutreffende Charakterisierung legt dann eine Verbindung der Vernunftorientierung mit dem politischen Totalitarismus nahe. Demgegenüber weist Hager daraufhin, dass nur politische Systeme totalitär sein können und nicht die Vernunft oder andere universelle Werte.[709] Es ist immer ein Mangel an Vernunft, der unmenschliche Verhältnisse zulässt. Aus einem begründeten Anliegen, nämlich dazu beizutragen, in Zukunft die Entstehung totalitärer Systeme zu verhindern, schüttet Lyotard das Kind mit dem Bade aus: er wirft den Massstab weg, mit dem bestimmt werden kann, was totalitär ist und was nicht.
Die wirkliche Bedeutung der Vernunft für den Menschen, die einen Aspekt seiner menschlichen Natur bildet, ist gerade das Gegenteil von dem, was Lyotard unterstellt. Eine ausgebildete Vernunft als psychisches „Organ“ im einzelnen Menschen ermöglicht ihm, sein Leben selbstbestimmt und mit Mitgefühl für den Anderen zu führen, wie Alfred Adler formuliert hat. So kann die Idee der universellen Vernunft niemals zum Totalitarismus führen. Der Begriff der „Einheit“ – Welsch spricht sogar von „Einheitsobsessionen“[710] – ist hierbei völlig deplaziert, wenn nicht sogar demagogisch. Die Lyotardsche Argumentation ist die gleiche wie bei Feyerabend oder Foucault: Die allgemeine Norm, (die in unserer Kultur seit der Neuzeit der Prüfung an der Vernunft standhalten muss), unterdrücke die anderen „Sprachspiele“, wenn sie sich als Metasprache aufspiele. „Mit dem Normativen – was immer seine vorgebliche Rechtfertigung sei und welche Form es besitzen mag (Mythos, Offenbarung, Beratung) – bemächtigt sich eine Diskursart heterogener Sätze und ordnet sie ein und demselben Spieleinsatz unter.“[711] Der „rationale Diskurs“, wie es postmodern heisst, wird also einem irrationalen Diskurs gleichgestellt. Auf die Schule bezogen, würde das z.B. bedeuten, dass der Satz: „Heute lerne ich nicht, weil ich keine Lust dazu habe“ ein akzeptabler Grund wäre, nichts zu tun.
Zur Verabschiedung der Vernunft habe ferner beigetragen, dass wir uns seit mindestens einem Jahrhundert in einer „‘Krise’ der wissenschaftlichen Vernunft befinden“, erklärt Lyotard.[712] Dabei bezieht er sich auf Kuhn und Feyerabend. Darauf wird im Kapitel zur postmodernen Wissenschaftsfeindlichkeit genauer eingegangen. Das postmoderne Bewusstsein ist für Lyotard das Bewusstsein des Bruchs mit dem Vernunft‑Ideal der Moderne. In der Zertrümmerung der als totalitär gebrandmarkten Vernunft und damit auch des selbstbestimmten Subjekts, sofern es von seiner Vernunft Gebrauch macht, sieht Lyotard den Fortschritt der Postmoderne. Um dem angeblichen Allmachtswahn der Vernunft zu entgehen, will er die Wahrnehmung ohne bewusstes Subjekt denken und in Anlehnung an die Kunst „begriffslose Wahrnehmungsweisen wieder in ihr Recht“[713] einsetzen. Bei dem, was Lyotard vorschwebt, handle es sich, wie Reese‑Schäfer meint, „… um eine Art Schritt zurück, eine Erinnerung an das Gegebene, das Andere des Begriffs, das auf Grund des Allmachtswahns des Logozentrismus in der permanenten Gefahr ist, vergessen zu werden.“[714]
Sogar Welsch, der das Programm des postmodernen „Pluralismus“ und einer „Vernunft im Plural“ begrüsst, kritisiert Lyotards scharfe Abgrenzung der Diskursarten gegeneinander. Die aus der „Stillstellung der Diskursarten in absoluter Heterogenität“[715] entstehende Anarchie könne Lyotard „offenbar nur durch die Kappung aller Beziehungen“ vermeiden. Und weiter unten: Wenn man Lyotards Konzept zu Ende denke, wäre eine folgenschwere Beliebigkeit die Konsequenz. „Jede Handlung wäre, da gleich illegitim wie die anderen, auch gleich legitim wie sie. Das gälte noch für offensichtlichste Unterdrückung gegenüber augenscheinlicher Befreiung.“[716] Es wird nicht klar, wie sich Lyotard die Organisation einer Gesellschaft konkret vorstellt. Leben da verschiedene Subgruppen für sich, ohne Verbindung und Austausch mit anderen Gruppen – eine in Monaden zerstückelte Menschheit? Es fehlt hier auf jeden Fall eine verbindende und orientierende Vernunftperspektive, und das reicht schon für eine dem Menschen nicht entsprechende Lebensweise.
Der Verabschiedung der universellen Vernunft setzt Mittelstrass entgegen, dass es gerade in einer Welt der zunehmenden Differenzierung und Spezialisierung, wozu auch die wachsenden künstlichen Medien‑Welten gehören, darauf ankommt, sich „… wieder für das Denken, das Nachdenken und das Vorausdenken, unter einer universalen Vernunftperspektive einzusetzen, sich im Denken und durch das Denken zu orientieren.“[717] Gegen das Beschwören der sogenannten Informationsgesellschaft wie es z.B. in Lyotards „Postmodernem Wissen“ erfolgt und „… auch auf die Gefahr, altmodisch zu erscheinen: es ist nicht die Informationsgesellschaft, sondern nach wie vor die aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft, die wir verwirklichen sollten.“[718]
Foucault: Vernunftanspruch als „Wille zur Macht“
Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft.“[719] wird mit einem Zitat von Pascal eingeleitet: „‘Die Menschen sind so notwendig verrückt, dass nicht verrückt sein nur hiesse, verrückt sein nach einer anderen Art von Verrücktheit.’“[720] Es gibt demnach keinen qualitativen oder graduellen Unterschied zwischen Wahnsinn und Vernunft. Nicht verrückt zu sein, wird als andere Form des Wahnsinns angesehen und fällt mit ihm zusammen. So verliert die Vernunft ihre eigentliche Bedeutung. Sie ist also keine Vernunft mehr. Foucault verdreht bewusst die Bedeutung des Begriffs. Er will „… die Geschichte dieser anderen Art von Wahnsinn (zu) schreiben, – dieser anderen Art, in der die Menschen miteinander in der Haltung überlegener Vernunft verkehren, die ihren Nachbarn einsperrt, und in der sie an der gnadenlosen Sprache des Nicht-Wahnsinns einander erkennen.“[721] Obwohl die Vernunft nur eine andere Art des Wahns sei, wähnten die Menschen die Vernunft dem Wahnsinn überlegen und sperrten jenen gnadenlos ein. Ursprünglich seien Vernunft und Wahnsinn noch nicht getrennt gewesen, sozusagen vor der Geschichte oder unterhalb der Geschichte ein „… obstinate(s) Gemurmel einer Sprache, die von allein spricht, ohne sprechendes Subjekt und ohne Gesprächspartner, (…) und die noch zusammenbricht, bevor jegliche Formulierung erreicht ist (…).“[722] Die Trennung von Wahnsinn und Vernunft stehe am Anfang der abendländischen Kultur. Indem die Vernunft die Nicht‑Vernunft in den Griff genommen, sie unterdrückt und ausgegrenzt habe, habe sich unsere Kultur konstituiert.[723] Die abendländische Kultur habe den Wahnsinn ausgegrenzt und später – was noch schlimmer sei – mit Hilfe der Wissenschaft pathologisiert. Der Wahnsinn sei ein reines Produkt der Vernunft, die durch eine angemasste Normativität bestimme, welches Verhalten als wahnsinnig zu gelten hätte. Damit setzt sich Foucault über das Phänomen der Geisteskrankheit hinweg, das er schlichtweg negiert, genauso wie er die Psychiatrie ablehnt. Da es für ihn keine psychischen Störungen gibt (die nur Erfindung der Vernunft seien), wären auch Therapie und Heilung solcher Störungen verunmöglicht. Immer verweise die ausgegrenzte dunkle Daseinsform auf die Grenzen der vernunftgestützten Kultur, also der Vernunft selber, so Foucault, indem sie „… die Vernunft dem, was sie nicht ist, das Mass der eigenen Masslosigkeit gegenüberstellt.“[724]
Foucault sieht den Wahnsinn oder die Nicht‑Vernunft als andere Seite der Vernunft an, als eine andere Lebensform, die in unserer Kultur dem Schweigen anheimgegeben worden sei. Nur die Dossiers in den Archiven zeugten noch vom Gemurmel und Geraune der vielen ungehörten und vergessenen Stimmen. Die Geschichte sei aber nur auf der Folie „… einer geschichtlichen Abwesenheit inmitten des grossen Raumes voller Gemurmel möglich (…)“, diese doppeldeutige „dunkle Region“ sei ihr Ursprung.[725] So könne es keine Vernunft ohne Wahnsinn geben, auch wenn dieser abgelehnt und dadurch, dass er als psychische Krankheit eingeordnet wird, entwaffnet werde. Foucault träumt jener „Erfahrungsstruktur des Wahnsinns“[726] nach, die er zum Gegenstand seiner Untersuchung macht. „Man müsste also mit aufmerksamem Ohr sich jenem Geraune der Welt zuneigen und versuchen, so viele der Bilder, die nie in der Poesie ihren Niederschlag gefunden haben, so viele Phantasmen wahrzunehmen, die nie die Farben des Wachzustandes erlangt haben.“[727] Diese Erfahrung sei aber unwiederbringlich verloren, da wir nur noch mit der Wahrnehmungsweise der Vernunft an sie herangehen können. Wenn Foucault eine Geschichte des Wahnsinns schreibt, will er damit die Geschichte unserer Kultur als einer Gesamtheit von unterdrückerischen und ausgrenzenden Strukturen darstellen. Der Wahnsinn erhält diesen gegenüber die Bedeutung einer subversiven Kraft, eines ungebändigten Zustands und einer ursprünglichen Reinheit.
„Die Geschichte des Wahnsinns schreiben, wird also heissen: eine Strukturuntersuchung der historischen Gesamtheit – Vorstellungen, Institutionen, juristische und polizeiliche Massnahmen, wissenschaftliche Begriffe – zu leisten, die einen Wahnsinn gefangenhält, dessen ungebändigter Zustand in sich selbst nie wiederhergestellt werden kann. Da uns jene unzugängliche, ursprüngliche Reinheit fehlt, muss die Strukturuntersuchung zu jener Entscheidung zurückgreifen, die Vernunft und Wahnsinn gleichzeitig trennt und verbindet. Sie muss versuchen, den ständigen Austausch, die dunkle gemeinsame Wurzel und die ursprüngliche Gegeneinanderstellung zu entdecken, die ebensosehr der Einheit wie der Opposition von Sinn und Irrsinn einen Sinn verleiht. So wird die blitzartige Entscheidung wiedererscheinen können, die innerhalb der geschichtlichen Zeit heterogen, aber ausserhalb dieser unangreifbar ist, die jenes Gemurmel dunkler Insekten von der Sprache der Vernunft und den Versprechungen der Zeit trennt.“[728]
Man kommt nicht umhin, diese Schwärmerei über das subjektlose, unverständliche Gemurmel aus unvordenklicher Zeit oder aus dunkler Tiefe als Verherrlichung des Irrationalen zu bezeichnen. Dabei fehlt jegliches Mitgefühl für den leidenden Menschen, denn der „Wahnsinn“ bedeutet, wird er psychologisch genauer erfasst, vor allem ein schmerzliches Empfinden und starkes Leiden für den Betroffenen. Verzweiflungsgefühle oder Ängste überschwemmen ihn, und er wird von irrealen Vorstellungen gequält. In Foucaults antihumanistischem Denken wird der Wahnsinn aber nachgerade als lustvolle Quelle des Lebendigen und Ungebändigten und als subversive Kraft dargestellt. Diese Unvernunft verbindet Foucault mit seinem speziellen Verständnis von Freiheit: mit dem Verbotenen, mit sexuellen Lüsten irgendwelcher Art und mit den Träumen. Der Wahnsinnige sei es, der unsere bürgerliche Gesellschaft in Frage stelle, indem er ihre Grenzen überschreite.
„Wenn es im klassischen Wahnsinn etwas gibt, das von woanders oder etwas anderem spricht, dann nicht, weil der Irre aus einem anderen Himmel, dem der Wahnsinnigen, kommt und dessen Zeichen trägt, sondern weil er von sich aus die Grenzen der bürgerlichen Ordnung überschreitet und sich über deren Ethik geheiligte Schwellen hinauswagt.“[729]
Psychische Krankheit muss für Foucaults politischen Kalkül herhalten: diese Menschen würden nämlich „von sich aus“ unethisch handeln. Damit sind sie geeignete Instrumente, um als Vorbilder dafür zu dienen, wie man Regeln des Zusammenlebens in einer bürgerlichen Gesellschaft bricht. Die Vernunft bildet in Foucaults Register den kalten und starren Gegenpol zu diesem Inbegriff des ursprünglichen freien Lebens im Wahnsinn. Ihr Triumph in unserer Kultur habe mit Hilfe der Normen und rigider Kontrolle den Menschen zu einem Krüppel gemacht, der brav gehorche und funktioniere.[730]
„Sie (die Vernunft, d.V.) herrscht in reinem Zustand in einem Triumph, der ihr im voraus über eine entfesselte Unvernunft bereitet ist. So wird der Wahnsinn der imaginären Freiheit entrissen, die ihn noch am Himmel der Renaissance hat blühen lassen. Noch vor kurzer Zeit erging er sich in hellem Tageslicht: im König Lear, im Don Quichotte. Aber in weniger als einem halben Jahrhundert fand er sich eingeschlossen und in der Festung der Internierung mit der Vernunft, den Regeln der Moral und ihren monotonen Nächten verbunden.“[731]
Foucault zieht eine Verbindung zwischen dem Anliegen von Descartes, das Irrationale aus der Metaphysik auszuschliessen und der Ausschliessung des Wahnsinnigen aus der Gesellschaft. Dass man sich in der Neuzeit auf die Vernunft abzustützen versuchte – nach Foucault die Machtübernahme der Vernunft – hätte eine Parallele im sozialgeschichtlichen Prozess gehabt: die Einschliessung der Irren in die Hospitaux généraux. „Dieses Ausschliessungsdekret des cartesianischen cogito hinsichtlich des Wahnsinns kündigt das politische Dekret der grossen Gefangenschaft an, das in diesem Sinne als mit jenem solidarisch anzusehen ist. Die Geste Descartes’ bezeichnet die Heraufkunft der gegenüber ihrem ‘Anderen’ repressiven ratio, die das klassische Zeitalter insgesamt charakterisiert.“[732]
Ferry/Renaut weisen demgegenüber daraufhin, dass der Umgang mit dem psychisch Kranken im Laufe der Neuzeit vom Bemühen um mehr Verständnis getragen war. Man versuchte, zu begreifen, was im ‘Wahnsinnigen’ vorging, darauf vertrauend, dass er ein Mensch mit gleichem Empfindungsvermögen wie die anderen ist. Der ‘Andere’ wurde eben immer mehr als ‘Gleicher’ angesehen und nicht umgekehrt. Galten doch noch im Mittelalter die ‘Irren’ als vom Teufel Besessene, bei denen es fraglich sei, ob sie überhaupt eine Seele hätten. Als Folge der Aufklärung mit ihrer Diskussion über die Menschenwürde und über die Frage der Erziehbarkeit entstand ein spezielles Erziehungswesen, das versuchte, diejenigen, die im Mittelalter ausgeschlossen gewesen waren, also Stumme, Blinde oder sog. Idioten, der menschlichen Kommunikation zuzuführen, weil man sie nun als Menschen ansah.
„Die Entstehung der moralischen (psychischen) Behandlungsform beruht hingegen auf der Idee, dass man mit dem Wahnsinnigen kommunizieren kann, weil er, (…) de jure unabhängig von seinen Störungen das ‘Subjekt seines Wahns’ bleibt. Hier liegt also eine Mutation vor (…) deren Verbindung mit dem neuzeitlichen und demokratischen Begriff der ‘Menschheit’ durchsichtig ist. Darin, wie Foucault es tut, das Aufkommen einer bloss ‘sanfteren’ und heimtückischeren Form der Ausschliessung zu sehen, ist ein schwerer Irrtum.“[733]
Die Schule als sog. totale Institution stellt bei Foucault eines der „Monumente des Sieges der reglementierenden Vernunft“ (Habermas)[734] dar. Diese habe sich nicht nur den Wahnsinn unterworfen, sondern den einzelnen Menschen samt seiner Triebnatur, wie auch die gesamte Gesellschaft.
„Für die Anstalten gewinnt der objektivierende und prüfende, der analytisch zerlegende, kontrollierende und alles durchdringende Blick eine strukturbildende Kraft; es ist der Blick des vernünftigen Subjektes, das alle bloss intuitiven Verbindungen mit seiner Umwelt verloren, alle Brücken intersubjektiver Verständigung abgerissen hat, und dem in seiner monologischen Vereinsamung andere Subjekte nur mehr in der Stellung von Objekten teilnahmsloser Beobachtung zugänglich sind.“[735]
In der Schule (wie im Gefängnis) kulminiere die Herrschaft der Vernunft in einer totalen Überwachung und Disziplinierung der Individuen. Gefühlslos und kalt berechnend mache sie den Menschen zum Beobachtungs‑Objekt der Wissenschaft, wie sie auch die Beziehungen zwischen den Menschen abtöte. Die Vernunft, die Hoffnung auf menschenwürdige Zustände bedeutet, wird bei Foucault in einer kaltblütigen Verdrehung zum Instrument des Terrors.
Der Begriff der Vernunft bei Foucault erhält seine Kontur aus einem Schwarzweiss‑Kontrast: Die Vernunft ist der Gegensatz zum farbigen, freien, ungebändigten Wahnsinn und demnach eine rigide, strenge und kontrollierende Instanz. Sie konstituiere sich nur aus der Ausgrenzung ihres ‘Anderen’, des Wahnsinns, behauptet Foucault. Eine Vernunft ohne den Wahnsinn gebe es in der europäischen Kultur nicht. Sie beruhe auf dem Konstrukt eines Gegensatzes zwischen normal und pathologisch. Da die Vernunft Urteilsprinzip ist, werde der Wahnsinn von den Strukturen des Rationalen erfasst und charakterisiert, also falsch gesehen. Es sei unzulässig, den Wahnsinn aufgrund einer ihm äusserlichen Rationalität zu beurteilen. Die Vernunft hätte sich in der europäischen Kultur, besonders seit der Neuzeit, als Machtinstanz aufgeschwungen: im Vernunftanspruch zeige sich nichts anderes als der „Wille zur Macht“. Vernunft bedeute „Ordnung, physischer und moralischer Zwang, anonymer Druck der Gruppe, Konformitätsforderung“[736]. Die Vernunft ist bei Foucault auch deswegen obsolet, da sie einen Teil des menschlichen Bewusstseins bildet, das Foucault der strukturellen Sicht vom Menschen geopfert hat. Das, was den Menschen möglich mache, sagt er in Anlehnung an das freudomarxistische Menschenbild, sei ein „Ensemble von Strukturen“, „… deren Subjekt, deren souveränes Bewusstsein er jedoch nicht ist.“[737]
Wenn Foucault behauptet, die moderne Vernunft konstituiere sich nur aus der Abgrenzung zum Wahnsinn, ist dies seine Erfindung. Wie im Kapitel über die anthropologischen Grundlagen gezeigt worden ist, wird mit diesem Begriff eine menschliche Fähigkeit angesprochen, die besagt, dass der Mensch sich auf eine bestimmte Art und Weise orientieren kann, die ihm als Individuum entspricht, und dass diese Orientierung, wenn sie vernünftig ist, auch auf den common sense oder das Allgemeinwohl ausgerichtet ist. Foucault wendet sich mit seinen Konstruktionen natürlich gegen den Begriff der universellen Vernunft. Der sittlich‑moralische Charakter der Vernunft ist bei Foucault nichts als moralischer Zwang. Die Wahrheit des Menschen aber enthülle sich erst im Wahnsinn, so beschliesst Foucault seine „Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft“:
„Wenn der Wahnsinn für die moderne Welt einen anderen Sinn hat, als Nacht angesichts des Tags zu sein, wenn es im Geheimsten seiner Sprache um die Frage der Wahrheit des Menschen geht, einer Wahrheit, die ihm vorgängig ist, die ihn begründet, ihn aber beseitigen kann, öffnet sich diese Wahrheit für den Menschen nur in dem Desaster des Wahnsinns und entgeht ihm vom ersten Lichtpunkt der Versöhnung an. Nur in der Nacht des Wahnsinns ist Licht möglich, das verschwindet, wenn sich der von ihm aufgelöste Schatten verwischt.“[738]
Es konnte gezeigt werden, dass Foucault eine Argumentation aufbaut, die sich gegen die Vernunft richtet. Die Vernunft wird in ihrer anthropologischen Fundierung negiert und als kulturelles Konstrukt relativiert. Weil Foucault die universelle und allgemeinverbindliche Bedeutung vernünftiger Orientierung in Frage stellt, kann er unsere vernunftgestützte europäische Kultur als unterdrückerisch denunzieren. Die Argumentation löst sich immer wieder in malerische Beschreibungen des ‘Wahnsinns’ oder anderer irrationaler Erlebnisweisen auf. So trägt auch Foucaults Menschenbild deutlich irrationale Züge, die eher der Lust an literarischer Dialektik als ernsthaftem Bemühen um Klarheit zu entstammen scheinen. Das folgende Zitat ist dem Schluss des Buches entnommen: „Der Mensch unserer Tage hat nur in dem Rätsel des Irren, der er ist und nicht ist, eine Wahrheit. Jeder Irre trägt und trägt nicht jene Wahrheit des Menschen in sich, den er in der Nacktheit seiner Menschlichkeit darstellt.“[739]
Feyerabend: „Ratiofaschismus“
Paul Feyerabend sieht sich selber als Anarchist.[740] Von allgemeingültigen Maßstäben und Regeln hält er nichts, weder für wissenschaftliche Forschung noch für das menschliche Zusammenleben. Er ist ein Prophet der Beliebigkeit und des Relativismus. Um seinen Standpunkt in der Vernunftdebatte angemessen beurteilen zu können, muss vorausgeschickt werden, wie er selber zu seinen Aussagen Stellung nimmt. Er will nämlich gar nicht, dass seinen Texten allzu tiefe Ernsthaftigkeit zugemessen wird. Seine Rhetorik sei ein Spiel mit der Vernunft, das darauf abziele, den Leser, der sich vernünftiges Argumentieren gewohnt ist, zu verunsichern.
„Man habe stets vor Augen, dass meine Demonstrationen und meine Rhetorik keinerlei ‘tiefe Überzeugung’ ausdrücken. Sie zeigen lediglich, wie leicht es ist, die Menschen im Namen der Vernunft an der Nase herumzuführen. Ein theoretischer Anarchist ist wie ein Geheimagent, der das Spiel der Vernunft mitspielt, um die Autorität der Vernunft (der Wahrheit, der Ehrlichkeit, der Gerechtigkeit usw.) zu untergraben.“[741]
Der Leser wird also zum Spielball einer polemischen Argumentation gemacht, die einzig zum Zweck hat, die Vernunft zu untergraben.
Feyerabends Argumente sind nur vernünftig erscheinende Worthülsen. In Wirklichkeit steckt nichts dahinter als reine Taktik, wie er selber klarmacht. Seine einseitigen Charakterisierungen von Wissenschaft und Vernunft haben aber eine breite Wirkung erzielt, so dass seine „Rhetorik“ in diesem wirkungsgeschichtlichen Sinne sehr ernst genommen werden muss. Es scheint mir deshalb zulässig, zwar auch seine Argumente zu untersuchen, vor allem aber die taktische Vorgehensweise anhand deren sprachlicher Manifestationen aufzuzeigen.
Feyerabends sprachliche und rhetorische Taktik
Gerne spielt Feyerabend mit seinen Kritikern ‘Igel und Hase’. Frühere Aussagen nimmt er zurück, wenn er darauf festgelegt wird und behauptet, sie seien ganz anders gemeint. So befindet er sich schon ganz woanders, wenn der Kritiker glaubt, ihn erfasst zu haben. Beispiel dafür: das berühmte Programm des „anything goes“:
Nachdem Feyerabend in „Erkenntnis für freie Menschen“ erklärt, es gehe ihm nur darum zu zeigen, wie leicht es sei, den Menschen im Namen der Vernunft an der Nase herumzuführen, zitiert er die Aussage zum Thema „anything goes“ aus seinem früheren Buch „Wider den Methodenzwang“ anders als sie im ursprünglichen Text steht. „Der einzige allgemeine Grundsatz, der den Fortschritt nicht behindert, lautet: Anything goes.“[742] wird zu: „‘Anything goes’ ist nicht mein ‘einziger Grundsatz’, sondern der ‘einzige Grundsatz’, der dem Rationalisten angesichts des von mir versammelten Materials verbleibt.“[743] und: „‘Anything goes‘ ist also nicht ein Prinzip, das ich einführe, sondern eine etwas scherzhafte Darstellung der Situation des Rationalisten: er will allgemeine Prinzipien haben, muss sie aber angesichts des von mir gebotenen Materials mehr und mehr allen Inhalts entleeren. ‘Anything goes’ ist alles, was übrigbleibt.“[744]
Der dumme Rationalist hat sich nicht einmal selber erkannt! Inzwischen hat aber Feyerabend den einstmals von ihm verkündeten Grundsatz des „anything goes“ geschickt den Rationalisten unterschoben. So zieht er sich aus der Verantwortung für seine folgenschwere Propagierung der Beliebigkeit.[745] Das „Geheimagententum“ des Kultphilosophen hat jedoch seine Wirkung im Zeitgeist der vergangenen Jahre entfaltet. „Anything goes“ ist regelrecht zum Motto der heute verbreiteten gleichgültig‑unverbindlichen Lebenseinstellung geworden!
Der Vernunftbegriff bei Feyerabend
Was versteht Feyerabend nun unter Vernunft, und wie will er sie eingeordnet wissen?
Sich an die Vernunft zu halten, vernünftig zu handeln oder „nach Vernunftprinzipien“[746] vorzugehen, stelle nur eine Tradition unter vielen anderen dar. Es gebe keine objektiven Maßstäbe ausserhalb von Traditionen, also auch keine Wertungen zwischen gut und schlecht. Auch die Rationalität sei weder gut noch schlecht, sie existiere einfach. Feyerabend bestimmt die Vernunft als ein Prinzip, das einer einzelnen, besonderen Denktradition zugehörig sei. Er stellt sie als gleichwertig neben vielen anderen Orientierungen dar. Werte gelten nach Feyerabend nur gemäss ‘Beschluss’ innerhalb einer Tradition. Sie sind je nach Zweck, historisch und lokal jederzeit veränderlich. Damit hat die Vernunft als Richtschnur menschlichen Handelns ausgedient. Diese Einstellung ist der absolute Relativismus in der Orientierung menschlichen Denkens und Handelns.[747]
Weit entfernt ist Feyerabends Definition davon, die Vernunft als einen Aspekt der menschlichen Natur anzuerkennen. Wie in Teil I dieser Arbeit gezeigt wurde, gehört die Vernunft zum Menschen an sich, und er verwirklicht sich nur als Vernunftwesen: „Die Annäherung an die Idee des Vernunftwesens ‘ist uns von der Natur auferlegt’“, zitiert Jürgen Mittelstrass Kant.[748] Zum objektiven Maßstab menschlichen Handelns wird die Vernünftigkeit insofern, als sie Menschlichkeit bedeutet. Vernünftig ist, wie weiter oben ausgeführt wurde, was dem Wohl des Menschen dient. Vernünftiges Handeln im einzelnen Fall zu bestimmen, ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die wiederum mitmenschliche Ethik miteinschliesst. Die Vernunft ist keine von aussen vorgegebene, übergeordnete Instanz, in deren Namen der Einzelne diszipliniert und beherrscht werde, wie Foucault und linke Gesellschaftskritiker im Anschluss an die Frankfurter Schule behaupten.[749] Es erübrigen sich daher sämtliche Reden von der Vernunft als ‘Zwangsinstanz’, die auch die postmodernen Philosophen ausgiebig verbreiten.
a) Vernunft als Machtinstanz oder Machtmittel
In Feyerabends Rhetorik wird die Vernunft als „Instanz“ dargestellt, der der heutige ‘Vernunftgläubige’ sich unterordne, wie man früher dem Gotteswort gehorcht habe.[750]
„Das Gotteswort ist allmächtig und man muss ihm gehorchen, nicht weil die Tradition, der es angehört, so grosse Kraft besitzt, sondern weil es ein unfehlbarer Maßstab von Traditionen ist. Die Vernunft ist allgegenwärtig und man muss ihr gehorchen, nicht weil eine Tradition, die nach Vernunftprinzipien vorgeht, anderen Traditionen gegenüber gewisse Vorteile hat, sondern weil die Vernunft selbst alle Traditionen von aussen lenken und verbessern kann (…).“[751]
Eine Analogie von Vernunft und Gotteswort herzustellen, wie es Feyerabend tut, ist der erste, unhistorische und unzulässige Schachzug, dem das entsprechende menschliche Verhalten dann unwillkürlich zugeordnet wird. Unhistorisch ist diese Sicht insofern, als das Sichabstützen auf die Vernunft den Schritt in die Neuzeit bedeutete. Im Mittelalter war der Mensch eingebunden in die Abhängigkeit vom Gottesglauben. Dem gepredigten Gotteswort war damals tatsächlich zu gehorchen. Mit der Entdeckung der Vernunft als eigenem Urteilsvermögen löste sich aber der Mensch gerade vom mittelalterlichen Weltbild und begann sich in die Eigenständigkeit zu begeben. Die Fähigkeit vernünftig zu denken und zu handeln ist also keineswegs ein Gottesersatz, sondern ermöglicht erst Selbständigkeit. Zweitens wird mit der Ausdrucksweise „die Vernunft ist allgegenwärtig“ dieses menschliche Vermögen hypostasiert, so dass es in der Phantasie des Lesers leicht zur eigenständigen Instanz werden kann – analog eben zur Gottesvorstellung. Die Konstruktion einer solchen Analogie ist ein Beispiel dafür, wie Feyerabend eine Sinnverwirrung erzeugt. Wie geschickt er dabei vorgeht, soll folgende interessante Textstelle veranschaulichen.
Der Autor setzt hier sogenannte „Gebote der Rationalisten“ dogmatischen „Gebote(n) der Götter“ gleich, beide seien „unbedingt“. Dann wird der Begriff „rational“ mit dem Begriff „geboten“ gleichgesetzt. Nun folgt eine Aufzählung von unmenschlichen Handlungen, die rational = geboten waren und seien. Dabei werden religiöse Gebote abwechselnd mit wissenschaftlichen Prinzipien aufgezählt, so dass durch die Vermischung der Eindruck von Gleichartigkeit entsteht:
„Es ist und war also rational (geboten, es entsprach dem Willen der Götter oder der Tradition der Urväter – oder was immer man für Worte verwendet, um Nachfolger bei der Stange zu halten), die Feinde des Glaubens zu töten, ad‑hoc‑Hypothesen zu vermeiden, körperliche Begierden zu verachten, Widersprüche zu beseitigen, fortschrittliche Forschungsprogramme zu unterstützen, den Göttern Opfer zu bringen, selbst Menschenopfer, und dergleichen mehr.“[752]
Aus dieser Konstruktion ergibt sich für den Begriff der Rationalität folgende massiv abwertende Sinnverdrehung: „Es ist und war also rational (…) die Feinde des Glaubens zu töten, (…) den Göttern Opfer zu bringen, selbst Menschenopfer und dergleichen mehr.“[753]
Feyerabend unterstellt, dass im Namen der Vernunft auch die grössten Unmenschlichkeiten begangen werden dürften. Die Rationalisten seien die Mächtigen, die die Rolle von Göttern spielten und vorgeben würden, was zu tun sei. Rationale Leitlinien also als versteckte Machtinstrumente. Die Theorie von der Vernunft als Mittel für Machtinteressen finden wir auch bei Sloterdijk, wie weiter unten gezeigt wird. Sie erinnert an die These der „instrumentellen Vernunft“ bei Horkheimer/Adorno, die sogar zur Erklärung des Faschismus herhalten muss.
Die Verwendung der Vernunft als Deckmantel für eigene Machtziele sei ein zusätzlicher Zwang, der auf die Psyche der Bevölkerung ausgeübt werde, meint Feyerabend. Mit dem einen Zwang ist die politisch‑militärische Machtausübung gemeint, zu dem dann die Manipulation des Denkens der Bevölkerung dazukomme, um die Machtziele zu kaschieren. „Die Maßstäbe gleichen den Anweisungen eines klugen Tyrannen, der, statt im Namen seiner eigenen Wünsche (…) zu sprechen, auf das Gemeinwohl, auf die Götter oder einfach auf die Vernunft verweist und so dem Zwang seines Heeres den Zwang allgemeiner Vorurteile hinzufügt.“[754]
Die Bilder sind eingängig. Im Klartext heisst dies: Handelt man nach Massgabe der Vernunft, ist man autoritär und grenzt die anderen Denkformen aus.
b) Vernunft als beliebige „Tradition“
Wer in einer rationalen Kultur lebe, halte diese Denkform (nur) für die richtige, weil er eben Teilnehmer dieser Tradition sei, schreibt Feyerabend. Er sehe quasi nicht über seinen Tellerrand hinaus.
„Der Versuch einer Gesellschaft oder einer Gruppe von Menschen, selbst der Versuch eines einzelnen, ‘den Menschen’, ‘die Wissenschaften’, ‘die Philosophie’ nach vernünftigen Prinzipien zu reformieren, ist nichts weiter als der Versuch, eine Tradition durch eine Instanz zu verdrängen, oder umzuformen, die zwar auch ‘nur’ eine Tradition ist, die aber wegen der besonderen Perspektive der Reformatoren nicht als eine Tradition erscheint. Gelingt der Nachweis, dann ist damit gezeigt, dass die Vernunft nicht ein Maßstab unseres Denkens und Handelns ist, sondern selbst eine besondere Denk- und Handlungsform, auf gleicher Stufe mit anderen Denk- und Handlungsformen.“[755]
Feyerabend legt Wert darauf, die verschiedenen Denk- und Handlungsformen als gleichwertig anzusehen. Es spielt demnach keine Rolle, ob eine Kultur oder Gesellschaft gewalttätigen Lösungen von Problemen zuneigt, oder ob sie Konflikte in friedlicher Art und Weise zu beheben gewohnt ist. Auf die Schule übertragen, käme es nicht darauf an, ob ein Teil einer Klasse den Unterricht stört, während andere lernen wollen. Das Gesamtziel der bestmöglichen Lernatmosphäre würde fehlen, da asoziale Handlungsweisen genauso erlaubt wären wie konstruktive. Damit ist das Chaos in der Klasse vorprogrammiert.
Feyerabend geht sogar so weit, diejenigen Menschen, die die Welt vernünftig einrichten wollen, auf der persönlichen Ebene zu attackieren und des „Ratiofaschismus“ zu bezichtigen. „Die Vernunft, die die von den Philosophen verehrten allgemeinen Prinzipien bereit stellt, ist nicht ein ausserhalb aller Traditionen stehender Maßstab, sie ist selbst eine Tradition (…). Unkenntnis, Überheblichkeit oder ein ungebildeter Ratiofaschismus allein können ihr eine andere Funktion zuschreiben.“[756]
Der Faschismusvorwurf unterstellt, wie oben dargelegt, Machtinteressen und Unterdrückung, ja sogar Vernichtung anderer Menschen als Folge oder im Namen der Vernunft. Unmenschlichkeit ist aber immer das Resultat eines Mangels an Vernunft! Im Faschismus sind irrationale – und somit unvernünftige – Motive und Ängste in der Bevölkerung geschürt und zur Erreichung von Macht und Herrschaft benutzt worden.
Ebenfalls auf der persönlichen Ebene erniedrigt Feyerabend alle, die ihre Entscheidungen auf Maßstäbe begründen wollen und nach solchen suchen. Sie seien wie Kinder, die unfähig seien, ihr eigenes Leben zu führen. Die Wissenschaftstheoretiker, „…die die Bitte mit dem Hinweis auf ‘objektive Maßstäbe’ und ‘ethische Prinzipien’ beantworten“[757], setzt er in die Position von autoritären Eltern, die so unreif seien, dass sie ihren Kindern keine Freiheit lassen könnten.[758] Niemand möchte wohl gerne in die eine wie die andere Rolle kommen. Es sei nur dazu gesagt, dass Selbständigkeit auch Verantwortungsgefühl für andere miteinschliesst, also auch ethischer Prinzipien im Sinne des Gemeinwohls bedarf.
Doch eine rationale Diskussion strebt Feyerabend gar nicht an, wie schon gezeigt wurde. Denn ‘nur’ auf der rationalen Ebene zu diskutieren, würde – immer in der Logik Feyerabends – bedeuten, dass die „Anhänger“ der Rationalität „Propaganda“ für ihre „Partei“ gemacht und die anderen durch „…Überredung, ‘Erziehung’, Drohung oder zuckersüsse Einflüsterungen auf Vordermann (…)“ gebracht hätten.[759] Wenn rationale Argumente irrationalen Behauptungen gleichgestellt werden, ist es nicht mehr möglich, sich zu verständigen. Der Diskurs läuft dann auf zwei verschiedenen Ebenen, von denen die eine sich auf die Wirklichkeit bezieht, die zweite Ebene dagegen sich nicht darum kümmert. Nehmen wir ein Beispiel aus der Pädagogik, um zu veranschaulichen, was dies im konkreten Fall bedeutet:
Eine Arbeitsgruppe von Pädagogen arbeitet die methodische Gestaltung eines Lehrmittels aus. Die einen Teilnehmer der Arbeitsgruppe bemühen sich um einen logischen Aufbau, der die altersgemässen Denkformen der Kinder einbezieht und entsprechende Erklärungsschritte und Übungen enthält. Die „nicht‑rationale Partei“ erklärt nun die Methodik für überflüssig, da der Geist immer wieder Eingebungen habe, manchmal auch auf Reisen ins All gehe, und von daher Bilderbücher genügten… Gemäss Feyerabend ist es aber nicht einmal notwendig, dass die Meinungen zu begründen, da dies schon einer rationalen Argumentation gleichkäme. Gewiss ist, dass die Diskussionsteilnehmer zu keiner gemeinsamen Lösung kommen können.
Die postmoderne Philosophie sieht den Konsens zwischen Menschen nicht mehr als ein erstrebenswertes Ziel an. Ein „Wettstreit der Sprachspiele“, wie Lyotard es nennt, genügt bereits. Auch Feyerabend hat keine allgemeine Verständigung im Sinn – die gefährlichen Konsequenzen in Kauf nehmend –, denn jede, auch eine unmenschliche, Ideologie ist erlaubt. „‘Objektiv’, das heisst unabhängig von Traditionen, gibt es keine Wahl zwischen einer humanitären Einstellung und dem Antisemitismus.“[760] Feyerabend empfiehlt eine „prinzipienlose Gesellschaft“[761], in der Bürgerinitiativen von Laien von Fall zu Fall entscheiden. Um die Folgen seiner Propaganda der Gewissenlosigkeit foutiert er sich ausdrücklich: „Macht diese Freiheit die Menschen zu Bestien – nun, das ist ihre Sache (…).“[762]
Zentrale Absicht von Feyerabends Ausführungen ist die Denunzierung der Vernunft, die er als Machtmittel der Rationalisten darstellt. Indem sich die „Rationalisten“ auf die Vernunft als Autorität beriefen, wollten sie nur ihre eigene Weltsicht durchsetzen und den anderen aufzwingen. Man brauche keine Rationalität als Maßstab, die ja nur ein Gängelband für Unselbständige darstelle. Feyerabend hätte es lieber, wenn Wissenschafter, Künstler und andere „freie Bürger“ sich daranmachen würden, verschiedenartige Gesetze, Weltanschauungen, Stücke und Lebensformen neu zu erfinden.[763] Jeder könne so leben wie er wolle – als Monade im Kosmos der Beliebigkeit. Wenn diese ‘Vision’ in die Tat umgesetzt würde, wäre das Resultat eine Auflösung des gesamten gesellschaftlichen Zusammenhangs mit seinen bewährten Institutionen, der auf Konsens beruht. Alles würde in einzelne Zellen mit jeweils beliebigen Lebensformen zerstückelt…
Sloterdijk: „Zynische Vernunft“
„Die Kritik der zynischen Vernunft“[764] ist Sloterdijks Hauptwerk in den achtziger Jahren. Die Bezeichnung der Vernunft als „zynisch“ mutet unangenehm an. Sie ist ein Widerspruch in sich: Das, was man in der abendländischen Geistesgeschichte unter Vernunft versteht, kann nicht zynisch sein. Vernünftiges Handeln hat das Wohl des Menschen und der menschlichen Gemeinschaft zum Ziel. Wenn dieses Ziel verfehlt wird, kann man eine Handlung nicht als vernünftig bezeichnen.
Sloterdijk formuliert demgegenüber einen eigenen Vernunftbegriff, der einer Klärung bedarf. Sloterdijk bezieht sich ausdrücklich auf Vernunft, gibt also den Begriff Vernunft nicht auf. Doch: vernünftig zu sein ist bei Sloterdijk eine passivistische Haltung, ein Seinlassen, ein Nichteingreifen, Nicht‑Tun. Die Vernunft müsse überhaupt verkörperlicht werden. Sinnbild dafür sei Diogenes in der Tonne: dieser bringe eine subversive, niedere Theorie ins Spiel, eine „grobianische Aufklärung“[765], die den „animalischen Menschenkörper und seine Gesten als Argumente“[766] einsetzt.
„‘Vernünftig’ sein heisst sich in ein besonderes, kaum je glückliches Verhältnis zum Sinnlichen setzen.(…) Physiognomisches Denken bietet eine Chance zum Ausbruch aus dem Reich abgespaltener und darum böser Köpfe. Eine neue Vernunftkritik ankündigen heisst auch, an eine philosophische Physiognomik denken; das ist nicht, wie bei Adorno, ‘ästhetische Theorie’, sondern Bewusstseinslehre mit Haut und Haaren (und Zähnen).“[767]
Ist die Vernunft bei Sloterdijk zynisch? Oder unterteilt er die Vernunft postmodern in verschiedene Arten, wobei bestimmte davon zynisch sind?
Sloterdijk unterzieht die westliche Vernunfttradition einer vernichtenden Kritik: Sie kulminiere in der Atombombe. „Die Bombe ist der wirkliche Buddha des Westens, eine perfekte, losgelöste, souveräne Apparatur. (…) höchste Leistung des Menschenwesens und dessen Zerstörerin, Triumph technischer Rationalität (…).“[768] Die Atombombe sei das höchste Werk der christlich‑abendländischen Vernunfttradition. Deshalb also der Begriff „zynische Vernunft“. Diese „zynische Vernunft“ wird dem wörtlich genommenen Spruch „Wissen ist Macht“ zugeordnet: Die Herrschenden bedienten sich der Vernunft und des Wissens, um Macht auszuüben. Damit zeigt sich, dass Sloterdijks Analyse einem Interpretationsmuster im Sinne der Kritischen Theorie folgt, die die Geschichte der Neuzeit als Herrschaft des Bürgertums über Mensch und Natur versteht. Die Vernunft sei eine Vernunft der Herrschenden, die dadurch zynisch werde, da sie den Machtinteressen diene. Vernunft und Rationalität werden ineins gesetzt, so dass Sloterdijk elegant eine Verbindung zu „technischer Rationalität“ schaffen kann, die zur möglichen Vernichtung der Menschheit geführt habe. Sloterdijk verwendet in diesem Sinne auch den Begriff „Verhärtungs‑Ratio“[769].
Der Vernunftbegriff wird aber unzulässig abgeändert, wenn er als reines Denk- und Wissenserweiterungsvermögen ausgegeben wird. Rationalität ist wohl eher Verstandesvermögen. Es fehlt dabei die moralische Ausrichtung.
„Sofern aber die Verflüssigung der Subjekte, um die es in inspiriertem Denken stets gegangen ist, die entscheidende Aufgabe der Praktischen Vernunft bleibt, gewinnt auch die Philosophie als Theorie der Vernunft hieran ihre letzte Norm. Eine Rationalität, die sich in den Dienst von Subjektverhärtungen gestellt hat, ist vernünftig schon nicht mehr. Vernunft, die uns erhält, ohne uns zu erweitern, war bereits keine. So kann reife Rationalität dem ‘dialektischen’ Werden nicht entgehen. Am Ende muss das strengste Denken über sich als blosses Denken eines Subjektes hinaus. Ob wir dabei bewusstseinsphilosophisch auf Selbstreflexion; sprachphilosophisch auf ‘kommunikatives Handeln’; meta‑religiös auf meditative Verschmelzung; oder ästhetisch auf spielerische Transzendenz setzen: die Entscheidung hierüber wird eine vernünftige, das heisst physiognomisch‑sympathetische Vernunft den Neigungen unserer Körper zwanglos ablauschen.“[770]
Sloterdijks Andere Vernunft hat die Aufgabe, die Verflüssigung der Subjekte zu bewerkstelligen! Die Orientierung, wohin vernünftiges Handeln gerichtet ist, solle der Körper mit seinen Bedürfnissen geben.
Was ist also mit Sloterdijks Begriff von Vernunft gemeint? Der Begriff „körperliche Vernunft“ oder „physiologisch‑sympathetische Vernunft“ ist Sloterdijks Erfindung. So stellt er sich die neue Orientierung vor. Damit wendet er sich von der neuzeitlichen Geistesgeschichte ab, die Vernunft als ein positives rational‑emotionales Vermögen versteht. Vernunft bedeutet in unserer geistesgeschichtlichen Tradition, wie gezeigt wurde, eine Orientierung in Richtung des Allgemeinwohls. Ein auf sich selbst bezogenes Sich‑Gehen lassen, die Beschränkung auf egoistische Bedürfnisbefriedigung, wie Sloterdijk postuliert, ist damit nicht gemeint. Heute wäre es angezeigt, bei diesem Begriff auf die Erkenntnisse der Anthropologie zu rekurrieren, handelt es sich doch um ein menschliches Vermögen. So entbehrt eine Neudefinition, wie sie es Sloterdijk wagt, zumindest jeglicher Grundlage – ja man dürfte sogar von Arroganz sprechen, wenn er sich über das bewährte Vernunftverständnis hinwegsetzt.
Die eingängigen Geschichten über den antiken Kynismus des Diogenes von Synope würzen Sloterdijks Umdefinition mit dem nötigen Schuss Unernsthaftigkeit, mit der er sich der Verantwortung entschlägt.
Wenn Sloterdijk von einem Sich‑Gehenlassen, von Passivität oder auch wie oben von Verflüssigung spricht, müssen wir annehmen, dass wir es mit einer Bedürfnistheorie zu tun haben. Momentane Bedürfnisse, vom Körper ausgehend, sollen wegleitend sein. Das Denken solle ruhig ab und an ausgeschaltet werden, da es dem Leben Zwang antue. Denken, Theorie und Geistigkeit nehmen bei Sloterdijk eine negative Färbung an. Er gibt sich dezidiert theoriefeindlich, indem er gar vor dem „Suchtcharakter der Theorie“ warnt.[771] Er selber tritt aber als grosser Theoretiker auf, der gerne am Fernsehen an philosophischen Diskussionen teilnimmt.
Wo sieht Sloterdijk aber den Ausweg? Es sei heute die Zeit gekommen für eine „Andere Vernunft“, die sich im Sinne der romantischen Gegenströmungen auf Irrationalismus und Mythos abstützt. Diese Strömungen wirken aber dahingehend, dass sie die realitätsbezogene Denkweise unterhöhlen – vor allem, wenn sie von Kultphilosophen als erleichternde und kreative Kräfte propagiert werden. Sloterdijk beschwört geradezu den Irrationalimus, der unter der bewussten Oberfläche des Ichs lebe. Er sei eine ungeheure Kraft, die die „Grenzen der Vernunft“ sprengen könnte. Für Sloterdijk birgt das Irrationale im Menschen ein mächtiges umstürzlerisches Potential. „Der bürgerlich‑positivistischen Aufklärungsfraktion war seit jeher unbehaglich vor den unabsehbaren, subversiven Dimensionen der neuen Kategorie des Unbewussten. (…) Wenn jedes Ich von einem Unbewussten unterhöhlt wird, so ist es vorbei mit der Selbstherrlichkeit eines Bewusstseins, das sich selber zu kennen und darum zu schätzen meint.“[772]
Man darf vermuten, dass Sloterdijk auch eine Veränderung unserer Gesellschaft anvisiert, die dadurch zustandekommt, dass jeder seinen Emotionen und Affekten nachgibt. „Das Rationale erscheint als der Deckel über privater und kollektiver Irrationalität.“[773] Linke Psychoanalyse zeichnet ein solches Bild vom Menschen. Unkontrollierte Gefühle, deren Ausleben ermutigt oder gar psychotechnisch gefördert wird, sollen die Grenzen eines vernünftigen und verbindlichen Zusammenlebens in Frage stellen, ja sogar sprengen. Der Mensch sei ein von unbewussten Kräften Getriebener, sagt auch Sloterdijk, dessen bewusst gestaltete Lebensführung auf brüchigem Boden stehe. Das Eis könne gemäss dieser Theorie jederzeit einbrechen und der Einzelne, ja ganze Bevölkerungen würden im Strudel der Irrationalität versinken oder verrohen. Ganz im Sinne des postmodernen Antihumanismus wird hier die personale Auffassung des Menschen, der als ganzheitliche Persönlichkeit bewusst zu entscheiden und zu handeln vermag, verneint.
Sloterdijks Auffassung von Vernunft – in diesem obenerwähnten subversiven Sinne – ist also eine „körperliche Vernunft“. Nur der Körper könne „lebendiger Weltfühler“ sein. Dieses „Prinzip der Verkörperung“ bedeute eben diese subversive Orientierung, ein Widerstand gegen die Werte unserer Kultur. Hätte doch die klassische Philosophie einen „Vernunftabsolutismus“ betrieben und den „sozialen Unterbau“ der Theorie missachtet.[774]
Sloterdijk redet einem Passivismus das Wort, einem Geschehen- und Sichtreibenlassen, das auf Reflexion auch mal verzichten solle. „Nun kann sich zeigen, dass Ratio und Praxis nicht exklusiv zusammengehören, sondern dass in einer Nicht‑Praxis, einem Unterlassungshandeln, einem Geschehenlassen und Nichteingreifen höhere Einsichtsqualitäten zum Ausdruck kommen können als in jedem noch so durchdachten Tun.“[775] Die praktische Vernunft sei oft verblendet, statt dass sie sich dem Lassen hingebe. Damit rekurriert er auf sein antikes Vorbild Diogenes, „… der mit seiner ‘Enthaltsamkeit’ ein Modell jener alteuropäischen Unterlassungstugenden gestiftet hatte, von denen sich die Neuzeit mit ihrem aktivistischen Selbstbehauptungsethos so radikal wie möglich abkehrt.“[776]
Der Körper ist für Sloterdijk das Organ der Verweigerung. Als vernünftige Handlungsweise sieht Sloterdijk in unserer Gesellschaft nur noch diejenige der Verweigerung an.
„Wo Vergesellschaftung für den Philosophen gleichbedeutend wird mit der Zumutung, sich mit der Partialvernunft seiner zufälligen Kultur zufriedenzugeben und sich der kollektiven Irrationalität seiner Gesellschaft anzuschliessen, dort hat die kynische Verweigerung einen utopischen Sinn. Mit seinem Anspruch auf vernünftige Lebendigkeit kapselt sich der Verweigerer ein gegen die objektiven Verkehrtheiten.“[777]
Wer sich verweigere, könne sich seine Lebendigkeit erhalten. Einer rationalen Kultur setzt Sloterdijk die „Kritik aus leiblicher Lebendigkeit“ entgegen. Die Philosophie aber, als Liebe zur Weisheit, sei damit gestorben.
„Aus der Leiche der Philosophie entstiegen im 19. Jahrhundert die modernen Wissenschaften und die Theorien der Macht – als Politologie, als Theorie der Klassenkämpfe, als Technokratie, als Vitalismus – in jeder Gestalt bis an die Zähne gerüstet. ‘Wissen ist Macht’. (…) Wer den Satz ausspricht, verrät einerseits die Wahrheit. Doch mit dem Aussprechen will er mehr erreichen als die Wahrheit: ins Spiel der Macht eingreifen.“[778]
Wie im Kapitel über die postmoderne Wissenschaftsfeindschaft[779] gezeigt wird, stellt Sloterdijk die Wissenschaft als Mittel zur Machtausübung dar, zum Beispiel von Ärzten über ihre Patienten. Vernunft und Wissenschaft gehören aber eng zusammen. Postmodern wird von der „wissenschaftlichen Vernunft“ gesprochen, die einer „Anderen Vernunft“ (Mythos, Irrationales) gegenübergestellt wird. Die Vernunft wird im postmodernen Denken dem wissenschaftsfeindlichen Kontext zugeordnet. So bei Sloterdijk:
„Zu mächtig ist die neuzeitliche Gleichung von Vernunft und Wissenschaft, als dass die Philosophie – wenn sie sich nicht selbst zerstören will – die Vorgaben der Wissenschaften einfach beiseite schieben könnte. Und doch sprechen die Zeichen der Zeit für eine Götzendämmerung des Szientismus. Seit der europäischen Romantik haben sich immer wieder sogenannte irrationalistische Strömungen dem Prozess des modernen Rationalismus widersetzt; auch die Gegenwart erlebt eine solche Welle von Antirationalismus, in der sich Motive einer „anderen Vernunft“ miteinander vermischen – Motive der Gefühlslogik und der Mystik, der Meditation und der Selbstbesinnung, des Mythos und des magischen Weltbildes.“[780]
Die Aufklärung habe heute die Aufgabe, den Wissenschaften einen relativierten Platz in der Kultur zuzuweisen.
Klaus Laermann bezeichnet in seinem Aufsatz „Von der Apo zur Apokalypse“ Sloterdijks Antiphilosophie klar als vernunft- und wissenschaftsfeindlich: „Dieses Programm fand in den Medien breite Resonanz. Von denen, die Vernunft und Wissenschaft verachten, ist in den letzten Jahren kaum jemand bei der offiziösen Kritik freundlicher aufgenommen worden als Peter Sloterdijk.“[781]
Da bisher alle Kritik so todernst, ja traurig gewesen sei, so dass sie eher zu melancholischer Erstarrung geführt habe, solle die „Kritik der zynischen Vernunft“ erheitern, hofft Sloterdijk. „Die Kritik der zynischen Vernunft verspricht sich darum mehr von einer Erheiterungsarbeit, bei welcher von Anfang an feststeht, das sie nicht so sehr Arbeit ist als Entspannung von ihr.“[782] Mit diesem Kunstgriff erreicht Sloterdijk zugleich noch etwas anderes als Erheiterung: er lässt sich nicht festlegen. Der Autor hält nämlich nichts vom „bürgerlichen Zwang zur Seriosität“.[783] Dieser habe die poetischen, ironischen und satirischen Möglichkeiten des Irrationalismus verdorben. Sehr zu Recht weist deshalb Klaus Laermann darauf hin, dass Sloterdijk in der ‘Kritik der zynischen Vernunft’ das Vertrauen in die Macht der Argumente verabschiedet hat.[784]
Der postmoderne Bruch mit der Geschichte
Vattimo: „Das Ende der Moderne“
Gianni Vattimo, der als italienischer Repräsentant des postmodernen Denkens gilt, beschäftigt sich in „Das Ende der Moderne“[785] (1990) mit der Infragestellung der Tradition europäischen Denkens durch Nietzsche und Heidegger. Den Standpunkt der Moderne kennzeichnen „die Idee der Geschichte“ und der „Begriff des Fortschritts“[786], und von diesen Kategorien sei Abschied zu nehmen, so die zwei Denker. Heute hätte sich erwiesen, dass der Begriff der Geschichtlichkeit und das Forschrittsdenken tatsächlich immer problematischer würden, schreibt Vattimo, da die Geschichte nicht mehr als einheitlicher Prozess begriffen werden könne und das Forschrittsdenken sich als trügerisch erwiesen hätte. In der konkreten Existenz der Gegenwart hätten sich gewisse Bedingungen eingerichtet, „… die der Geschichte eine wahrhaft ungeschichtliche Unbeweglichkeit verleihen.“[787] Vattimo zählt dazu die drohende atomare Katastrophe und vor allem die Technik und das Informationssystem.
Nietzsche und Heidegger seien die Denker gewesen, die das Bild der „Postgeschichtlichkeit“[788] theoretisch ausgearbeitet hätten. Die Moderne müsse verabschiedet werden durch einen radikalen Bruch mit ihrer Tradition. Vattimo bezieht sich auf Nietzsche als einen Denker, der diesen Bruch radikal vollzogen hat, indem er die obersten Werte der Kultur „auf dem Weg einer ‘chemischen’ Reduktion“[789] immer weiter aufgelöst habe, bis nichts mehr übrig geblieben sei. Da es keine Wahrheit gebe, und die Werte nur auf gesellschaftlichen Konventionen beruhen würden, gebe es kein moralisches und erkenntnistheoretisches Fundament mehr.
„Genau mit dieser nihilistischen Schlussfolgerung lässt man Nietzsche zufolge die Moderne wirklich hinter sich. Da der Begriff der Wahrheit keine Gültigkeit mehr besitzt und das Fundament nicht mehr tragfähig ist – denn es gibt kein Fundament des Glaubens an ein Fundament und demzufolge keine Begründungsaufgabe des Denkens mehr –, kann man die Moderne nicht durch eine kritische Überwindung hinter sich lassen, denn dies wäre ein noch gänzlich innerhalb der Moderne selbst verbleibender Schritt. Daraus wird deutlich, dass man einen anderen Weg suchen muss. Dies ist der Moment, den man als die Geburt der Postmoderne in der Philosophie bezeichnen könnte; ein Ereignis, dessen Bedeutung und Konsequenzen wir (…) noch lange nicht genügend ermessen haben.“[790]
Die Geschichte wird in diesem Zusammenhang als ein Sammelsurium von Ereignissen verstanden: „… eine wahre und echte Auflösung der Geschichte (…). Man hat bemerkt, dass die Geschichte der Ereignisse – der politischen, der militärischen, der grossen Ideenbewegungen – nur eine Geschichte unter anderen ist; man kann ihr zum Beispiel die Geschichte der Lebensweisen, die viel langsamer verläuft (…) entgegenstellen.“[791] Die Geschichten verschiedener Gruppen oder in verschiedenen Bereichen verliefen ungleichzeitig, so dass man nicht von der einen Geschichte sprechen könne.
Vattimo postuliert einen historischen Relativismus, wie er für die Postmoderne charakteristisch ist. Die einzelnen Geschichten spielen sich ohne Zusammenhang untereinander ab, keine Kontinuität ist zwischen Vergangenheit und Gegenwart auszumachen. Zugleich werden die verschiedenen Lebensbereiche voneinander abgekoppelt und in relativistischer Art als gleichwertig gesetzt. So steht die Ideengeschichte gleichwertig neben anderen „Ereignissen“, wie den alltäglichen Begebenheiten oder den politischen Geschehnissen. Es lässt sich aber leicht zeigen, dass gerade die Ideengeschichte auf die Lebensbereiche einwirkt, so dass bestimmte Lebensweisen mit dem vorherrschenden Denken einer Zeit, dem sogenannten Zeitgeist, zusammenhängen. Wenn die „Ideen“ vorher da waren, braucht es eben eine gewisse Zeit, bis sie verbreitet und im Denken der einzelnen Menschen verankert sind, um dann in Lebensweisen umgesetzt zu werden, vor allem dann, wenn die neue Denkweise sich gegen gelebte Werte wendet. Ein Beispiel dafür ist die unter dem Einfluss des Feminismus veränderte Sichtweise der Rolle der Frau in der Familie und die sich daraus ergebenden Konsequenzen, wie die Gleichzeitigkeit von ausserhäuslicher Berufstätigkeit der Mütter und ihrer Erziehungsarbeit.
Dem von den postmodernen Autoren angenommenen Ende der Geschichtlichkeit wirft die Kritik zu Recht eine Zerstörung des Geschichtsbegriffs vor. Die Philosophie der Postmoderne sei gewillt, „… den Geschichtsbegriff, die geschichtliche Anschauung und Erkenntnis, zu entleeren und zu zerstören (…)“[792], schreibt A. Gedo. Bei Nietzsche sei die Geschichte in zweifacher Hinsicht aufgelöst worden: „Zum einen versank sie als ‘metaphysischer’ Begriff im Perspektivismus, im Absoluten der Interpretation – das auch die Stätte des Untergangs der Kategorien Wirklichkeit und Erkenntnis, Ursache und Gesetz, Subjekt und Geist war –, zum anderen kündete Nietzsches Zeit-Kritik das Ende der Geschichte und des Menschen an.“[793] Und: „Der Posthistoire-Gedanke kulminierte bei Nietzsche im philosophischen Setzen des Nihilismus und der nihilistischen Überwindung dieses Nihilismus.“[794] An diese Attitüde schliesse sich die poststrukturalistische Nietzsche-Renaissance an, so bei Deleuze, Lyotard oder Foucault, konstatiert Gedo. Die Zurücknahme der Geschichte und der Ratio bringe in der Philosophie der Postmoderne den Nihilismus mit sich. Weiter stellt Gedo fest, dass Gegner und Kritiker der Philosophie der Postmoderne den Argwohn hegen, dass sie zur Prämoderne zurückkehre. So lautete Foucaults Botschaft: „‘Die Postmoderne muss eine Prämoderne werden, oder sie wird gar nicht sein.’“[795] Diese Vermutung scheine auch insofern nicht unbegründet, da „… die Posthistoire in der Prehistoire eine Stütze finden will, die Postrationalität an die Prärationalität appelliert, die Postphilosophie im präphilosophischen Mythos nach einem Halt sucht.“[796]
Es lassen sich tatsächlich prämoderne Motive im Denken von Autoren wie Foucault, Sloterdijk oder Feyerabend finden. Dazu gehört Foucaults Sicht über die Geschichte der Neuzeit, in der er den Fortschritt negiert, seine Ablehnung der Wissenschaften, z.B. des Fortschritts in der Medizin, seine Vorliebe für den Wahnsinn und sein Argwohn gegen die Vernunft. Allgemein betreibt er eine Verzerrung der modernen Geschichte, wenn er sie als Prozess der zunehmenden, immer subtiler werdenden Kontrolle und Unterdrückung des einzelnen Menschen darstellt.
Foucault: „Zerstreute Ereignisse“
Foucaults Geschichtsschreibung bricht auf radikale Art mit dem geschichtlichen Denken, da er Geschichte nicht mehr als kontinuierlich und fortschreitend versteht, sondern sie als verstreute Ereignisse ohne Zusammenhang beschreibt, wo gleichzeitiges Werden und Vergehen unverbundener Begebenheiten stattfinde, in dem der denkende und handelnde Mensch keine Bedeutung habe und jeglicher Sinn aufgelöst sei. Nach Fink‑Eitel polemisiert Foucault auf der Grundlage seiner Diskurstheorie gegen die herkömmliche Geschichtsschreibung. Er setze an die Stelle einer Illusion evolutionärer Kontinuität das Prinzip der Diskontinuität, an die Stelle der traditionellen Einheiten die Verstreutheit diskursiver Ereignisse.[797]
Die Kategorien Geschichtlichkeit und historisches Denken, die das Gewordensein der Gegenwart aus der Vergangenheit repräsentieren, löst Foucault auf. Er stützt sich dabei unter anderem auf Nietzsches „Genealogie“, die er im Aufsatz „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“[798] wie folgt interpretiert:
„Die Genealogie geht nicht in die Vergangenheit zurück, um eine grosse Kontinuität jenseits der Zerstreuung des Vergessenen zu errichten. Sie soll nicht zeigen, dass die Vergangenheit noch da ist, dass sie in der Gegenwart noch lebt und sie insgeheim belebt, nachdem sie allen Zeitläufen eine von Anfang an feststehende Form aufgedrückt hat. (…) Dem komplexen Faden der Herkunft nachgehen heisst vielmehr das festhalten, was sich in ihrer Zerstreuung ereignet hat: die Zwischenfälle, die winzigen Abweichungen oder auch die totalen Umschwünge, die Irrtümer, die Schätzungsfehler, die falschen Rechnungen, die das entstehen liessen, was existiert und für uns Wert hat. Es gilt zu entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit und das Sein steht, sondern die Äusserlichkeit des Zufälligen.“[799]
Das Programm der genealogischen Forschung, wie es Foucault propagiert, soll die Gegenwart nicht in Verbindung mit der Vergangenheit bringen. Es bestehe keine Kontinuität zwischen gestern und heute, die Gegenwart habe sich nicht aus der Vergangenheit entwickelt. Was unsere Vorfahren geleistet und aufgebaut haben, sei rein zufällig und keinesfalls von besonderem Wert. Unser „historisches Gedächtnis“ mit seiner Erinnerung und Wiedererkennung soll gelöscht werden: Foucault hat eine Amnesie im Sinn. Nietzsches Verständnis von Historie zeige den Weg dazu. Parodie solle als Instrument der Wirklichkeitszersetzung eingesetzt werden oder die geschichtliche Tradition durch identitätszersetzende Auflösung zerstört werden. Um einen Erkenntnisgewinn aus der Geschichte zu verhindern, zersetze man am besten die Kategorie der Wahrheit:
„Der historische Sinn umfasst drei Arten der Historie, die sich jeweils deren platonischen Spielarten entgegensetzen: die wirklichkeitszersetzende Parodie widerstreitet der Historie als Erinnerung oder Wiedererkennung; die identitätszersetzende Auflösung stellt sich gegen die Historie als Kontinuität oder Tradition; das wahrheitszersetzende Opfer stellt sich gegen die Historie als Erkenntnis. In jedem Fall geht es darum, die Historie für immer vom – zugleich metaphysischen und anthropologischen – Modell des Gedächtnisses zu befreien. Es geht darum, aus der Historie ein Gegen‑Gedächtnis zu machen und in ihr eine ganz andere Form der Zeit zu entfalten.“[800]
Die „Historie“ dient also erstens der systematischen Auflösung unserer Identität. Diese Identität, die wir unter einer Maske bewahrten, sei nur eine Parodie, denn unzählige Seelen stritten in uns, divergierende Elemente würden von keiner synthetischen Kraft zusammengehalten. Die „Historie“ diene zweitens auch der Opferung des Erkenntnissubjekts: Hinter dem Willen zum Wissen stehe der Wille zur Macht, stünden raffinierte Bosheiten, Leidenschaften, Wut, gewalttätige Parteinahmen gegen das unwissende Glück und andere negative Motive. Erkenntnis beruhe immer auf Ungerechtigkeiten, und der Erkenntnisinstinkt sei böse! Deshalb gebe es in der Erkenntnis auch kein Recht auf Wahrheit. Wie bei Lyotard werden Wirklichkeit und objektive Erkenntnis nicht anerkannt. Auf dem Hintergrund eines archaischen Menschenbildes, wie es Nietzsche ausmalt, sieht Foucault in der Suche nach Erkenntnis sich bekämpfende Interessen am Werk, die sich einen Machtzuwachs verschaffen wollen. An anderer Stelle dieser Arbeit wird auf solche Zerrbilder der wissenschaftlichen Forschung und des Strebens nach Erkenntnis genauer eingegangen.[801]
Das geschichtliche Denken ablehnend, legt Foucault sein Augenmerk auf Zufälligkeiten, einzelne Ereignisse und Abweichungen, auf denen das heute Existierende beruhe. Doch neben der von Foucault kritisierten abstrakten idealistischen Sichtweise über die Wurzeln der Gegenwart („Wahrheit“ oder „Sein“) und dem antihumanistischen Chaos zufälliger Ereignisse und Strukturen, wie es die Poststrukturalisten gerne hätten, existiert m.E. auch eine realistische Auffassung: es sind die Menschen, die die Geschichte machen. Selbstverständlich sind dabei im Laufe der Geschichte kontinuierliche Entwicklungen und Fortschritte zu verzeichnen, Rückschläge miteingeschlossen. Was nicht heisst, dass gewisse Arten, das Leben zu führen oder Politik zu machen hinter dem eigentlichen Wissensstand hinterherhinken, oder dass grundlegende Probleme nicht dringend einer Lösung bedürften.
Dass Foucaults Geschichtsinterpretation eine subversive Absicht verfolgt, zeigt auch folgende Stelle: „Die Erforschung der Herkunft liefert kein Fundament: sie beunruhigt, was man für unbeweglich hielt; sie zerteilt, was man für eins hielt; sie zeigt die Heterogenität dessen, was man für kohärent hielt. Welche Überzeugung könnte ihr widerstehen? Oder gar welches Wissen?“[802] Die Geschichtsforschung im Foucaultschen Sinne soll beunruhigen und grundlegend verunsichern: alle Gewissheiten werden in Frage gestellt, Zusammenhänge aufgelöst und das gesicherte Wissen entwertet. Die subjektlose Tendenz der Geschichtsinterpretation steht auf den ersten Blick in einem inneren Widerspruch zu Foucaults politischen Hinweisen und Anleitungen zu gewalttätigen Aktionen, bei denen die einzelnen Menschen durchaus eine aktive Rolle spielen. Setzen wir aber die politischen Äusserungen Foucaults in einen Zusammenhang mit der oben zitierten Zielsetzung der „Historie“, so wird klar, dass die revolutionäre Aktion durch eine neue, nihilistische Weltsicht, die den Bruch mit der historischen Tradition des Wissens und der Werte verlangt, unterstützt werden soll. Nichts soll bleiben, wie es war. Schon Nietzsche, auf den sich Foucault im zitierten Artikel bezieht, hat „mit dem Hammer philosophirt“[803], um das platonisch‑christliche Wertesystem zu zertrümmern. „Die ‘wirkliche’ Historie stützt sich im Gegensatz zu der der Historiker auf keine Konstanz (…). Alles, woran man sich anlehnt, um sich der Geschichte zuzuwenden und sie in ihrer Totalität zu erfassen, alles, was sie als eine geduldige und kontinuierliche Bewegung erscheinen lässt, muss systematisch zerbrochen werden.“[804]
Die Genealogie Nietzsches korrespondiert nach Foucault mit einem radikalen Historismus. „Wir glauben an die Unvergänglichkeit der Gefühle? Sie alle und insbesondere jene, die uns die vornehmsten und interesselosesten zu sein scheinen, haben eine Geschichte.“[805] In seiner Nietzsche‑Interpretation zielt Foucault besonders auf das ab, was seit Jahrhunderten als Orientierung gilt: Die konstituierenden Werte unserer kulturellen Tradition. Sie werden historisch relativiert. Das Wahre, Schöne und Gute ist vergänglich, sagt der Historismus. Auch der Körper ist nichts Beständiges: er wird von Essgewohnheiten und von Werten und moralischen Gesetzen vergiftet, fügt Foucault mit Nietzsche an.[806]
Sloterdijk: „Nach der Geschichte“
Sloterdijk hat einen Aufsatz mit dem Titel „Nach der Geschichte“ publiziert, den Welsch zu den Schlüsseltexten der Postmoderne‑Diskussion zählt. Sloterdijk breitet hier das düstere Bild einer ausweglosen Situation aus, in der wir heutzutage ohne Richtungsweiser und Ziel herumirrten.
„Seit allgemein sich der Eindruck verbreitet, dass die Geschichte keinen Fahrplan hat, tasten wir uns durch ein prozessuales Niemandsland voran. Es steht um die Erzählbarkeit der entfesselten Realitäten ebenso schlecht wie um ihre Vorhersagbarkeit – von ihrer Ordnung unter ein geschichtsphilosophisches Schema ganz zu schweigen. Auch kein präziser Epochentitel scheint für die Gegenwart zuständig zu sein, ja nicht einmal zwischen Epochen und Moden lässt sich noch deutlich unterscheiden.“[807]
Die Beschreibung soll die postmoderne Gefühlslage wiedergeben, wobei man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, dass der Autor sich damit identifizieren kann. Allerdings bleibt man im unklaren darüber, was zum Beispiel entfesselt worden ist. Jedenfalls seien wir heute „… als subjektive Elemente eingeschaltet in eine historisch‑planetarische Kettenreaktion, die wir in ihrer relativ langsamen Phase ‘Geschichte’ nannten und die jetzt einem Explosionspunkt entgegenzulaufen scheint. (…) Somit durchbricht die aktuelle epilogische Apokalyptik die Zeitmauer (…).“[808] Sloterdijk deutet an, dass etwas Katastrophisches ablaufe, und wir möglicherweise in einer Endzeit lebten. Hoffnungen dürfe man sich zwar machen, aber nur in aller Diskretion, „… denn nur als stille Kräfte werden sie hilfreich sein; nur so mischen sie sich nicht in die Kausalreihen ein, die in die Katastrophen führen (…).“[809] Ein Seitenhieb auf das wissenschaftliche Denken seit der Neuzeit? Sloterdijk weiss, was die Leute heute gerne täten: Aus der abschüssigen Bahn der Naturverwüstung, die die lineare Geschichte heute bedeute, würden sich manche gerne in eine zyklische Ordnung der Dinge hinüberretten. Er unterstellt, dass sie genug haben von der modernen Weltsicht. Der Fluchtversuch könne aber nicht funktionieren, da der Weltprozess schon ausser Kontrolle geraten sei. „Für die wünschbaren grossen kosmischen Zyklen scheint in unserem countdown kein Platz mehr offen.“[810]
Was oder wer hält eigentlich diesen countdown auf? Denn es geht scheinbar doch irgendwie weiter. Sloterdijk wünscht jedenfalls eine Verabschiedung der Moderne, eine nachmoderne Geschichtlichkeit. Es gehe heute um eine nachgeschichtliche Zeitoffenheit, was immer das heissen mag. Das ‘Nach’ müsse das nachabend-ländische Weltalter noch suchen. Wenn dies nach einem Verrat an der Geschichte klinge, müsse man das in Kauf nehmen. Denn die „… ominöse Vorsilbe führt ihre Benutzer in die geschichtsphilosophische Illegitimität. Sie verführt zum Spiel mit dem Unvorstellbaren und macht bereit zur Reise in eine Zukunft, die keine Moderne mehr wäre. Ein kleines ‘Nach’, und aus dem Niedagewesenen lösen sich, noch nebelhaft, Umrisse einer Zeit nach dem Ende der ‘Geschichte’.“[811]
Nebelhaft allerdings auch der Ausklang des Essays. Nach der Moderne sei nun mal alles erlaubt, das noch Undenkbare und das Illegitime. Allerdings dürfte dies das Ende des demokratischen Rechtsstaats und anderer wertvoller Errungenschaften der abendländischen Kultur bedeuten. Das Spiel mit allen Möglichkeiten ist nicht ungefährlich.
Die ‘Geschichte’ ist disqualifiziert, bestätigt Sloterdijk auch an anderer Stelle. „Die moderne Ratlosigkeit vor der fliehenden Zeit ist durch welthistorisches Erzählen nicht mehr zu trösten. Die grosse GESCHICHTE von einst entpuppt sich als eine evolutionäre List, die sich nicht verraten durfte, wenn sie wirksam bleiben wollte: als ein aktiver autohypnotischer Mythos.“[812] Das ist natürlich Lyotards „Ende der grossen Erzählungen“ auf deutsch. Sloterdijk wendet sich scharf gegen die Moderne, die er mit ‘Aufrüstungs’‑Metaphern beschreibt.
Die linksideologische Geschichtsinterpretation
Die Stossrichtung der postmodernen Autoren gegen die Tradition der Aufklärung, gegen das Festhalten an der Vernunft und an den tradierten allgemeingültigen Werten unserer Kultur wurde bereits im Postmoderne‑Kapitel dargestellt. Diese gegenaufklärerische Tendenz bildet den einen Strang des Geschichtsverständnisses unserer Autoren. Ein anderer damit verknüpfter Strang, der auch dem 68er‑Denken zugehört, stellt eine linksideologische Verzerrung der Geschichte der Neuzeit dar, von der behauptet wird, dass sie grundlegend von einer Repression der Menschen durch bürgerliche Institutionen und verinnerlichte Zwänge gekennzeichnet sei. Der heutige innerlich und äusserlich unterdrückte Mensch müsse sich von den ihn gängelnden Normen und Werten befreien. Michel Foucault und seine Schüler haben zu diesem verfälschten Geschichtsbild genauso beigetragen wie schon vor ihm die neomarxistische Frankfurter Schule von Adorno, Horkheimer und Marcuse. Es scheint, die Geschichte müsse dazu herhalten, gesellschaftszerstörerische Ideen zu legitimieren, indem z.B. die heutigen Institutionen als ebenso autoritär wie vor hundert Jahren dargestellt werden. In diesem Interpretationsschema wird also wieder – entgegen den postmodernen Thesen – auf die Geschichte zurückgegriffen und die heutige Situation mit der früheren verglichen. Auch bei Foucault finden wir diese Ebene der Geschichtsschreibung, die im folgenden Kapitel zur Sprache kommt. Sie hängt natürlich mit seinen revolutionären Aktionen in Gefängnissen und in der Psychiatrie zusammen. Dass dann aber mit der bisherigen Geschichte ein Bruch vollzogen werden müsse, versteht sich wohl von selbst, denn der Fortschritt innerhalb der „bürgerlichen Gesellschaft“ wird auch in diesem Register negiert. Luc Ferry und Alain Renaut finden in Foucaults „Wahnsinn und Gesellschaft“ sogar die Absicht vor, den Fortschrittsglauben dadurch ins Wanken zu bringen, dass Foucault der Moderne in ihrer Reflexion über den Wahnsinn einen Rückschritt attestiert. Die neuzeitliche Vernunft schaffe erst den Wahnsinn, indem sie alles für wahnsinnig erkläre, was nicht in ihrem Bild von sich selbst entspreche.[813] Zur antibürgerlichen Geschichtsrekonstruktion Foucaults schreibt einer seiner Schüler, der damalige Marxist Philippe Nemo im Jahr 1972:
„‘Genaugenommen hat Michel Foucault noch kein Buch über die Gefängnisse geschrieben. Es geht auch nicht alleine um die in seinem Werk erwähnten, sondern um das Kerkerwesen im weitesten Sinne: um die Gesamtheit der Einkerkerungen überhaupt, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die politische Herausbildung der Bourgeoisie gekennzeichnet haben und die Fabrik, Gefängnis, Lyceum, Schule, Kaserne, psychiatrische Krankenhäuser heissen. Eben die Orte, wo seit dem Mai 1968 nichts mehr geht (…).’“[814]
Die bürgerliche Herrschaft begründe sich schon seit ihrer Heraufkunft auf all den Institutionen, die die Menschen „einsperren“, heisst dies, und deshalb müsse das bürgerlich‑kapitalistische System gesprengt werden. So die linke Rezeption der Foucaultschen Geschichtsdarstellung, die sich aktuell in der Schul’reform’ wieder finden lässt, die mit verzerrten, anachronistischen Bildern von der Institution Schule hantiert.[815]
Foucaults Darstellung historischer Entwicklungen anhand der „Geburt des Gefängnisses“
Wie Foucault die Geschichte der europäischen Neuzeit darstellt, wird im folgenden anhand seines Buches „Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses“[816] gezeigt. Foucault vollzieht einen Bruch mit der traditionellen Sicht von der neuzeitlichen Geschichte, indem er den Fortschritt negiert und im Zusammenhang damit die historischen Fakten und Entwicklungen in einer werteverkehrenden Weise beurteilt. So bezeichnet er zum Beispiel die Schule, eine wichtige Errungenschaft der Neuzeit, als eine dem Gefängnis analoge Institution. Im gleichen Sinne bezeichnet der amerikanische Schulabschaffer und Gestaltideologe Paul Goodman die Schule als „Käfig“.[817]
Es geht Foucault darum, aufzuweisen, dass sich im Laufe der Neuzeit eine „Disziplinargesellschaft“[818] formiert habe, die das „unterworfene Subjekt“ mit immer subtileren Kontrollmechanismen beobachte, registriere, kategorisiere, normalisiere und so den erwünschten Menschen regelrecht produziere. Dass etwa die Strafen für Verbrechen im Laufe der Zeit milder geworden sind, war gemäss Foucault keine Humanisierung der Justiz, sondern bedeute im Gegenteil eine verschärfte Inbesitznahme der Menschen durch die „Macht“, indem von nun an sogar die Seele des Verbrechers bearbeitet worden sei. Dazu dienten die neuen Humanwissenschaften, indem sie den Verbrecher, aber auch jeden anderen Bürger zum Wissensgegenstand machten und ihn aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse manipulierten, ja sogar „transformierten“. Die „Vermenschlichung der Strafe“ sei in Wirklichkeit nur eine neue Technologie der Macht. Der Mensch, so wie er in der Neuzeit denkt, fühlt und handelt, wäre somit ein von Machtwirkungen geschaffenes Kunstprodukt. Wenn Foucault eine Geschichte der „Strafgewalt“ schreibt, will er damit die Geschichte dieser modernen Seele herausschälen, ihre Herkunft aufspüren („Genealogie“), die unter der gängigen Geschichtsschreibung verborgen liege. In den verstaubten Archiven seien die Dokumente zu finden, die von diesen Tausenden von Ereignissen erzählten, die die modernen Individuen zugerichtet hätten.
„Die Geschichte dieser ‘Mikrophysik’ der Strafgewalt wäre also eine Genealogie oder ein Stück der Genealogie der modernen ‘Seele’. (…) Man sage nicht, die Seele sei eine Illusion oder ein ideologischer Begriff. Sie existiert, sie hat eine Wirklichkeit, sie wird ständig produziert – um den Körper, am Körper, im Körper – durch Machtausübung an jenen, die man bestraft, und in einem allgemeineren Sinn an jenen, die man überwacht, dressiert und korrigiert, an den Wahnsinnigen, den Kindern, den Schülern, den Kolonisierten, an denen, die man an einen Produktionsapparat bindet und ein Leben lang kontrolliert. Historische Wirklichkeit dieser Seele, die im Unterschied zu der von der christlichen Theologie vorgestellten Seele nicht schuldbeladen und strafwürdig geboren wird, sondern aus Prozeduren der Bestrafung, der Überwachung, der Züchtigung, des Zwangs geboren wird.“[819]
Als Zahnradgetriebe der Verschränkungen von Wissen und Macht funktioniere die Seele, so dass Wissen ermöglicht und Macht erneuert werde. Verschiedene Begriffe und Untersuchungsbereiche seien darüber konstruiert worden: Psyche, Subjektivität, Persönlichkeit und Bewusstsein. Die Individualität als neuzeitliche Kategorie gehöre nur zu einer „neuen Spielart der Macht“.[820] Auf diesen leeren Begriffen und Konstruktionen seien die moralischen Ansprüche des Humanismus begründet worden. Man meine, man hätte den Menschen, seine Natur oder sein Wesen vor sich, aber man täusche sich nicht:
„Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‘Seele’ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers.“[821]
Das ist natürlich Nietzsches Genealogie. Nietzsche meinte den von einer strengen christlichen Moralauffassung gedrückten Menschen, einer „Herdenmoral“ die eine unterwürfige Haltung produziere. Foucault überträgt Nietzsches Sichtweise auf weitere sogenannte Machtmechanismen. Bezüglich des Menschenbildes, das Foucault hier entwirft, ist zu betonen, dass er eine personale Auffassung des Menschen ablehnt. Der Begriff ‘Persönlichkeit’ sei nur eine Fiktion. Das unterworfene Subjekt verfüge nicht über eine autonome Bewusstseinsstruktur oder einen eigenen Willen. Deshalb sei es auch Humbug, wenn der Humanismus ethische und moralische Ziele entwickelt, da man ja gar keinen wirklichen Menschen vor sich habe.
Zugriff und Wirkungsraum habe die „Macht“ in all den gesellschaftlichen Institutionen und Beziehungen, in denen Menschen leben und arbeiten. Im vorliegenden Buch spricht Foucault über das Militär, das Gefängnis, das Spital, die Schule und die Fabrik. Interessant ist die Methode, wie die Beispiele aus den verschiedenen Bereichen abgehandelt werden: Foucault wechselt bewusst übergangslos von einer Institution zur anderen, so dass die Kaserne gleich der Schule ist und diese wie das Gefängnis. „Was ist daran verwunderlich, wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen?“[822]
Wie wird nun nach Foucault das Individuum unterworfen und „produziert“? Die immer subtiler werdenden Techniken, Strategien und Methoden, die im Laufe der Neuzeit entwickelt werden, müssten, wenn es so wäre, tatsächlich eine furchtbare Wirkung gezeitigt haben. Die „Disziplinen“ zerteilen und zerstückeln die Körper, zerlegen die Gesten und Bewegungen, sie durchdringen die Körper und dies alles so subtil, dass wir es gar nicht merken und uns in Freiheit wähnen.[823] Das Individuum sei das Produkt der Disziplin, die Individualität nur eine neue Spielart der Macht.
Im folgenden einige Beispiele derartiger Techniken und Strategien, um zu zeigen, wie Foucault rundum die „Macht“ am Werke wähnt:
Die Dimensionen der Zeit und des Raumes werden als Wirkungsbereiche der Macht in Anspruch genommen, so dass es dann „Disziplinarzeit“[824] heisst oder die Gebäude und die Architektur zu „Dressurmitteln“[825] werden. Damit wird natürlich postuliert, dass die Unterdrückung mittels der Kategorien Raum und Zeit die Lebensdimensionen des Menschen besetze. Sie wird damit zu einer ‘totalen’ Macht. Foucault suchte in den Archiven und Bibliotheken unermüdlich nach Beispielen und Interpretationsmöglichkeiten für diese These und zwängte die Fakten in das Korsett seiner falschen Theorie. Die geplante und eingeteilte Zeit sei es, die die Körper durchdringe und die Bewegungen und Gesten zerlege. Der Körper müsse sich an „zeitliche Imperative“[826] anpassen. Überall werde mittels verschiedener Kontrolltechniken jede Tätigkeit beobachtet und kontrolliert. Wenn zum Beispiel im Schreibunterricht nach der günstigsten Schreibhaltung gesucht und diese den Schülern beigebracht wird, bedeutet dies bei Foucault keineswegs eine Kompetenzvermehrung und Entlastung für den Schüler, sondern im Gegenteil ein besseres Funktionieren im Sinne der Macht: „Die Disziplinarkontrolle besteht nicht einfach darin, eine Reihe bestimmter Gesten zu lehren oder zu erzwingen; sie zwingt zur besten Beziehung zwischen den Gesten und der Gesamthaltung des Körpers, die zur Wirksamkeit und Schnelligkeit jener am meisten beiträgt.“[827] Diese Stelle zeigt, was Foucault darunter versteht, wenn er sagt, dass das Individuum „produziert“ werde: Die Bewegungen werden gemäss Foucault in einen immer rationeller ablaufenden Mechanismus hineingepresst, damit das „Subjekt“ noch angepasster funktioniert und die von der Gesellschaft geforderten Leistungen automatisch und immer schneller erbringt. Nützliche Leistungen für die Gesellschaft, so zum Beispiel die Arbeit in einem Betrieb, sind nach Foucaults neulinkem Muster negativ zu bewertende Resultate einer Dressur.
Auch die Übung als organisierte Zeit sei eine Machttechnik. „Die Übung wird ein Element in einer politischen Technologie des Körpers und der Dauer. Anstatt in einem Jenseits zu gipfeln, richtet sie sich auf eine nie abzuschliessende Unterwerfung aus.“[828] Dies gelte sowohl für das Militär wie für die Schule. Die Schule sei vom 17. Jahrhundert an zu einem regelrechten „Lernapparat“ geworden:
„Am subtilsten aber wird diese Abstimmung der verschiedenen Chronologien zweifellos im Elementarunterricht gehandhabt. Vom 17. Jahrhundert bis (…) zu Beginn des 19. Jahrhunderts baut sich das komplizierte Uhrwerk der Schule mit wechselseitigem Unterricht Rad für Rad auf: (…) zuguter Letzt ist die gesamte Zeit aller Schüler entweder mit Unterrichten oder mit Unterrichtetwerden ausgefüllt. Die Schule wird zu einem Lernapparat, in welchem alle Schüler, alle Niveaus, alle Augenblicke bei richtiger Kombination ständig im allgemeinen Unterrichtsprozess eingesetzt sind.“[829]
Was Foucault hier so empört ist, dass die Schüler immer beschäftigt sind: entweder unterrichten sie andere oder erhalten selber Unterricht. Er weist aber selbst darauf hin, dass in jenen Schulen nur ein Lehrer für 360 Kinder da war. Der Vorkämpfer für diese Methode habe festgestellt: „‘Dank der neuen Methode schreiben, lesen oder rechnen alle 360 Schüler jeweils zweieinhalb Stunden lang.’“[830] Der wechselseitige Unterricht war also ein Fortschritt. Er war es auch als pädagogische Methode: Ein Schüler, der anderen sein eben erlerntes Wissen weitergibt, behält und vertieft es selber umso mehr. Indem er seine positive Bedeutung für seinen Mitschüler erlebt, wächst sein Selbstwertgefühl. Foucault definiert diesen Sachverhalt zu einem immer feineren Einspannen der kindlichen „Körper“ in von aussen bestimmte Zeit‑Abläufe um. Wir finden dieses Foucaultsche Schema in der heutigen antipädagogischen Stimmungsmache gegen den bewährten Unterricht mit fester Stundeneinteilung und Stundenplänen wieder.[831]
Der Lehrer erscheint bei Foucault als „Zuchtmeister“, der seine Zöglinge über Befehle und Signale zum Gehorsam dressiert. Er kontrolliere sie über den „hierarchischen Blick“ und die „normierende Sanktion“[832], die im Verfahren der Prüfung kulminierten. Durch technische Erfindungen sei es leichter geworden, den „kontrollierenden Blick“ auszuüben.
„Neben der grossen Technologie der Fernrohre, der Linsen, der Lichtkegel, die mit der Gründung der neuen Physik und Kosmologie Hand in Hand ging, entstanden die kleineren Techniken der vielfältigen und überkreuzten Überwachungen, der Blicke, die sehen, ohne gesehen zu werden; eine lichtscheue Kunst des Lichtes und der Sichtbarkeit hat unbemerkt in den neuen Unterwerfungstechniken und Ausnutzungsverfahren ein neues Wissen über den Menschen angebahnt.“[833]
Dies ist eine der Stellen bei Foucault, die zeigt, wie auch die bahnbrechenden Erfindungen der neuzeitlichen experimentellen Wissenschaften, wie z.B. das Fernrohr, unter Verdacht gestellt werden. Durch technische Erfindungen sei es leichter geworden, den „kontrollierenden Blick“ auszuüben. Die neuere Entwicklung habe dahin geführt, dass die „Macht“ nun unter Zuhilfenahme der Technologien sich gleichsam unsichtbar machen könne, aber dafür das Opfer in umso grelleres Licht rücke.
Hier kommt die zweite Dimension im Dienst der Disziplinierung dazu: der Raum. Räume können gemäss Foucault die Überwachung unterstützen. Metapher dafür ist Foucault die Architektur des Panopticons: ein rundes Gefängnis‑Gebäude, das um einen Überwachungsturm in der Mitte angeordnet ist. Die Räume des Gebäudes sind zellenförmig um das Zentrum angelagert. Die „Macht“ kann also jeden Insassen ständig unter Beobachtung halten. „Die Architektur wird zum Instrument der Transformation der Individuen.“[834] „Auf ähnliche Weise muss das Schulgebäude ein Dressurmittel sein.“[835] Im 18. Jahrhundert habe eine „schleichende Ausweitung der hierarchisierten stetigen und funktionellen Überwachung“[836] stattgefunden. Die Disziplinargewalt habe sich nämlich mit der Struktur und den Zwecken der Institution verbunden, quasi von innen her, so dass die Überwachung wie ein Beziehungsnetz wirke – von oben nach unten, aber auch umgekehrt oder von den Seiten her. „Dieses Netz ‘hält’ das Ganze und durchsetzt es mit Machtwirkungen, die sich gegenseitig stützen: pausenlos überwachte Überwacher.“[837]
Zusammenfassend:
„Was in der Werkstatt, in der Schule, in der Armee überhandnimmt, ist eine Mikro‑Justiz der Zeit (Verspätungen, Abwesenheiten, Unterbrechungen), der Tätigkeit (Unaufmerksamkeit, Nachlässigkeit, Faulheit), des Körpers (‘falsche’ Körperhaltungen und Gesten, Unsauberkeit), der Sexualität (Unanständigkeit, Schamlosigkeit). Gleichzeitig werden als Bestrafungen eine Reihe subtiler Verfahren eingesetzt (…) bis alles dazu dienen kann, alles zu bestrafen; bis jedes Subjekt in einem Universum von Strafbarkeiten und Strafmitteln heimisch wird.“[838]
Verhaltensweisen, die einen geregelten Arbeitsablauf ermöglichen, z.B. dass die Arbeitnehmer pünktlich und pflichtbewusst sind, gelten bei Foucault nur als Resultate einer Dressur, da alle Nachlässigkeiten gemassregelt würden. Wieder ist der Verdacht auffällig, unter den Foucault ein geordnetes Gesellschaftsleben stellt. Selbstverständlich war vieles verbesserungswürdig, so z.B. die oft unmenschlichen Bedingungen der Fabrikarbeit, von denen uns zahlreiche persönliche Berichte Zeugnis ablegen. Foucault aber verneint die Verbesserungen, die im Laufe der Zeit erreicht wurden, stellt er doch die Geschichte als eine der zunehmenden Vergewaltigung des Menschen dar.
Als neueste Macht sei dann die der „Norm“ oder „Normalisierung“ aufgekommen. Wie im Kapitel über die Wissenschaftsfeindlichkeit ausführlich beschrieben wird, handelt es sich nach Foucault um die Macht, die die Humanwissenschaften ausübten, indem sie den Einzelnen einer Norm anpassten. „Die Disziplinaranstalten haben ein ‘Strafsystem der Norm’ geschaffen (…).“[839]
„Das Normale etabliert sich als Zwangsprinzip im Unterricht zusammen mit der Einführung einer standardisierten Erziehung und der Errichtung der Normalschulen; es etabliert sich in dem Bemühen, ein einheitliches Korpus der Medizin und eine durchgängige Spitalversorgung der Nation zu schaffen, womit allgemeine Gesundheitsnormen durchgesetzt werden sollen, es etabliert sich in der Regulierung und Reglementierung der industriellen Verfahren und Produkte. Zusammen mit der Überwachung wird am Ende des klassischen Zeitalters die Normalisierung zu einem der grossen Machtinstrumente.“[840]
In den verschiedenen Institutionen hätte sich also im 18. Jahrhundert eine neue Machttechnik etabliert: die der „Anpassung“ an eine Norm. Dies gilt für die Erziehung, wie auch für die Medizin, sowohl für die Produktion als auch für die Justiz. Hier greift Foucault tief in die antihumanistische Klaviatur, indem er von „allgemeinen Gesundheitsnormen“ spricht, die „durchgesetzt“ werden sollen. Es gebe nämlich keine Gesundheit als körperlichen Zustand, sondern eine willkürliche (wissenschaftliche!) Definition schreibe vor, wann jemand gesund oder krank sei. Desgleichen sei die Einrichtung von Volksschulen kein Fortschritt gewesen, da sie die Kinder dem Zwang des geplanten Unterrichts nach allgemeinen Lehrplänen unterworfen habe. Gerade die Einrichtung der Volksschule bedeutete aber einen ganz entscheidenden Schritt in Richtung Chancengleichheit und einer allgemeinen Bildung. Erstmals war die Möglichkeit geschaffen worden, die Bildung für alle – ein Menschenrecht – zu verwirklichen.
Im Bereich der Justiz und der Rechte forderte die politische Aufklärung die Verwirklichung gesicherter Freiheitsrechte für jeden Menschen, ausgehend von der unveräusserlichen Menschenwürde. Das Recht auf gleiche Achtung der Menschenwürde für jeden Menschen, bedeutet für Foucault aber ebenfalls keinen Schritt in Richtung Humanismus. Die Herausbildung des Rechtsstaates auf der Grundlage der Gewaltenteilung, die Schaffung einer allgemeinen Rechtsform, die gleiche Rechte für alle ermöglichte, seien quasi nur der Überbau auf einer Basis alltäglicher Disziplinarmechanismen. Diese, als dunkle Kehrseite des egalitären Systems, liessen die Freiheiten zwar formell gelten, würden aber in Wirklichkeit die „Körper“ wiederum unterwerfen. Das dieser Geschichtsinterpretation unterlegte Schema ist offensichtlich marxistischer Herkunft: „Basis“ und „Überbau“, wobei nun die „Disziplinarmächte“ die Basis darstellen und die rechtlichen und politischen Institutionen der Überbau sind. Die Basis steuert den Prozess, und der Überbau schwimmt obenauf mit. Die neuen Rechte und Freiheiten, die mit den demokratischen und rechtsstaatlichen Institutionen eingerichtet worden sind, würden nur den Blick auf das Negative verstellen, das sich im Untergrund abspiele. Es folgt die ganze Textstelle, die Foucaults Umgang mit der neuzeitlichen Entwicklung und seine Negierung ihres Fortschrittcharakters gut veranschaulicht:
„Der historische Prozess, durch den die Bourgeoisie im Laufe des 18. Jahrhunderts zur politisch dominierenden Klasse wurde, hat sich hinter der Einführung eines ausdrücklichen, kodifizierten und formell egalitären rechtlichen Rahmens verstellt und ist als Organisation eines parlamentarischen und repräsentativen Regimes aufgetreten. Die Entwicklung und Verallgemeinerung der Disziplinaranlagen bildeten jedoch die dunkle Kehrseite dieser Prozesse. Die allgemeine Rechtsform, die ein System prinzipiell gleicher Rechte garantierte, ruhte auf jenen unscheinbaren, alltäglichen und physischen Mechanismen auf, auf jenen wesenhaft ungleichen und asymmetrischen Systemen einer Mikromacht – den Disziplinen. Wenn es das repräsentative Regime formell ermöglicht, dass der Wille aller, direkt oder indirekt, mit oder ohne Vermittlung, die fundamentale Instanz der Souveränität bildet, so garantieren doch die Disziplinen im Unterbau die Unterwerfung der Kräfte und der Körper. Die wirklichen und körperlichen Disziplinen bildeten die Basis und das Untergeschoss zu den formellen und rechtlichen Freiheiten. Mochte auch der Vertrag als ideale Grundlegung des Rechts und der politischen Macht erdacht werden: der Panoptismus stellte das allgemein verbreitete technische Zwangsverfahren dar. Und er hat nicht aufgehört, an den Rechtsstrukturen der Gesellschaft von unten her zu arbeiten, um die wirklichen Machtmechanismen im Gegensatz zu ihrem formellen Rahmen wirken zu lassen. Die ‘Aufklärung’, welche die Freiheiten entdeckt hat, hat auch die Disziplinen erfunden.“[841]
Foucault kann nicht darüber hinwegsehen, dass seit der Aufklärung die Freiheitsrechte für den einzelnen Menschen institutionalisiert worden sind, und dass dies an sich einen Fortschritt in der Menschheitsgeschichte darstellt. Der Teufel kommt aber gleich zur Hintertür wieder herein: Der unterstellte ‘Panoptismus’ und die anderen Zwänge führten nach Foucault in Wirklichkeit die das Zusammenleben determinierenden unterdrückerischen Strategien durch. Eine ‘Dialektik der Aufklärung’ à la Foucault.
Generell unterstellt er der Justiz und ihren Beamten im demokratischen Staat eine negative Zielsetzung: die Justiz bezwecke eine scharfe Disziplinierung des Menschen. So bezeichnet er die Rechtsprechung konsequent einseitig als „Strafjustiz“. Die Strafreform seit dem 18. Jahrhundert, die mildere Strafen verlangt habe, sei nicht aufgrund grösserer Achtung vor dem Menschen im Verbrecher erfolgt, sondern hätte Mechanismen wirksamerer Kontrolle der Bevölkerung entwickelt:
„… handelt es sich um ein Bemühen, die Machtmechanismen, welche die Existenz von Individuen einrahmen, zu verfeinern. Es handelt sich um eine Anpassung und Verfeinerung der Apparate, die das alltägliche Verhalten der Individuen, ihre Identität, ihre Tätigkeit, ihre scheinbar bedeutungslosen Gesten erfassen und überwachen. (…) Was sich abzeichnet, ist weniger ein neuer Respekt vor dem Menschen im Verurteilten – die Martern sind auch für leichte Verbrechen noch häufig, sondern vielmehr eine Tendenz zu einer sorgfältigeren und verfeinerten Justiz, zu einem lückenloseren Durchkämmen des Gesellschaftskörpers.“[842]
Es verwundert daher auch nicht, wenn Foucault die Untersuchung der psychologischen Motive des Täters und die Berücksichtigung einer eventuell mangelnden Zurechnungsfähigkeit nicht als Fortschritt oder Humanisierung der Rechtsprechung einordnet, sondern als Zugriff auf das Innere des Menschen denunziert. Die psychiatrische Untersuchung (mit Hilfe der Humanwissenschaften!) sei der erste Schritt zur Veränderung der Persönlichkeit des Verbrechers, um ihn der Gesellschaft und ihren Normen anzupassen. In Wirklichkeit sind kriminelle Handlungen solche, die einzelnen Mitmenschen und/oder der Gesellschaft als Ganzem, die auf einem Konsens von rechtlich festgelegten Regeln und Normen beruht, Schaden zufügen. Kriminalität setzt sich über das Recht hinweg. Dies gilt auch für ‘kleinere’ Delikte. Wenn also im Lauf der Justizgeschichte zu der Ahndung von Gewaltdelikten die Ahndung von Betrug dazukam, war dies wohl das Resultat einer verfeinerten Moral: Den Mitmenschen zu betrügen kann mit der Achtung vor seiner Menschenwürde nicht vereinbart werden. Es scheint, dass Foucault den Begriff der Kriminalität ablehnt, was sich auch in seinen Gefängnisaktionen zeigte, wo er in den siebziger Jahren mit dem G.I.P. (Gruppe „Gefängnis‑Information“)[843] Gefangene zur Revolte aufwiegelte. Das Buch „Überwachen und Strafen“ lieferte die Theorie dazu.
Nach Foucault werden die Menschen in „Normale“ und „Abnormale“ eingeteilt, um sie besser kontrollieren zu können. Berichte, demographische Statistiken, ja sogar Biographien, dienten zur Registrierung und besseren Kontrolle der Bevölkerung etc. „… dass die rechtlichen Systeme nach allgemeinen Normen Rechtssubjekte qualifizieren, während die Disziplinen charakterisieren, klassifizieren, spezialisieren; sie verteilen die Individuen entlang einer Skala, ordnen sie um eine Norm herum an, hierarchisieren sie untereinander und am Ende disqualifizieren sie sie zu Invaliden.“[844] Die „Normalisierungsmacht“ ist allgegenwärtig. Allgemeingültige Normen für das Zusammenleben anerkennt Foucault nicht. Regeln und Normen sind für ihn immer Produkte von Macht. Er unterschlägt aber in seiner „Genealogie“ des Gefängnisses oder der Schule, dass die Regelungen zum Schutz des Gemeinwesens in einer demokratischen Gesellschaft weit mehr einem Konsens und einer Tradierung des Bewährten entstammen als dem Druck von Machtinteressen.
„Getragen von der Allgegenwart der Disziplinaranlagen und der Kerkerapparate, ist sie (die Normierungsgewalt, d.V.) zu einer der Hauptfunktionen unserer Gesellschaft geworden. Die Normalitätsrichter sind überall anzutreffen. Wir leben in einer Gesellschaft des Richter‑Professors, des Richter‑Arztes, des Richter‑Pädagogen (…) sie alle arbeiten für das Reich des Normativen; ihm unterwirft jeder an dem Platz, an dem er steht, den Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen, die Fähigkeiten, die Leistungen. In seinen kompakten und diffusen Formen, mit seinen Eingliederungs-, Verteilungs-, Überwachungs- und Beobachtungssystemen war das Kerkersystem in der modernen Gesellschaft das grosse Fundament der Normalisierungsmacht.“[845]
Unsere demokratische Gesellschaft funktioniere also nach dem Modell des Kerkers. Foucault behauptet, dass wir, ohne es zu merken, repressive Normalität produzierten. Damit wir nicht ausscheren oder uns sonstwie abnormal verhalten würden, wache ein ganzes Heer von Richter‑Menschen der verschiedensten Fachrichtungen über unser Verhalten. Durch Foucaults Umwertung verkehrt sich auch die Bedeutung der Begriffe in ihr Gegenteil: Der Mediziner hat demnach nicht die Aufgabe, Kranken zur Heilung zu verhelfen, sondern diese in das Korsett der Gesundheit zu zwingen und darüber zu wachen, dass keiner krank bleiben will. Die Richter‑Lehrer produzierten geistig Invalide, wenn sie ihren Schülern Wissen vermitteln und sie erziehen.
Es fällt auf, dass Foucault Menschen oft als „Körper“ bezeichnet. Die Machtwirkungen hätten sich in den Körpern eingeschrieben, „die Unterwerfung der Kräfte und der Körper“[846], oder der „Gesellschaftskörper“[847]. „Diese politische Besetzung des Körpers ist mittels komplexer und wechselseitiger Beziehungen an seine ökonomische Nutzung gebunden; zu einem Gutteil ist der Körper als Produktionskraft von Macht- und Herrschaftsbeziehungen besetzt (…).“[848] Anscheinend sieht die „Macht“ das zu unterwerfende oder zu produzierende Individuum als seelenlosen Körper an. Im Laufe der Lektüre drängt sich dann der Eindruck auf, dass diese Bezeichnung dem antihumanistischen Denken Foucaults entspringt.[849] Es findet sich kein Hinweis in seinen Büchern auf den bewussten Willen und ein von eigener Überlegung getragenes Handeln des einzelnen Bürgers. Er wird dargestellt als geistloses, von äusseren und von unbewussten internalisierten Machtmechanismen gesteuertes Rädchen im Getriebe der grossen Maschine.
Wie lässt sich Foucaults Geschichtsinterpretation gesamthaft beurteilen?
Führt man sich die Geschichte der politischen Aufklärung vor Augen, die sich um Freiheitsrechte für den einzelnen Bürger bemühte und im Laufe der Zeit die rechtlichen Grundlagen zu ihrer Sicherung erwirkte, muss die Foucaultsche Geschichtsdarstellung als eine massive Verzerrung der Wirklichkeit beurteilt werden.
Dazu einige historische und geistesgeschichtliche Fakten, die dem eindrücklichen Buch über die politische Aufklärung des Staatsrechtsprofessors Martin Kriele entnommen sind[850]: Der Grundgedanke der Aufklärung war, dass der Mensch seiner menschlichen Natur nach leben können sollte. Es ging jetzt um das Recht des Menschen als Menschen. „‘Jeder, der Menschenantlitz trägt, hat gleichen Anspruch auf Freiheit und Menschenwürde’ lautet das Grundprinzip der Aufklärung.“[851] Bedingung der Freiheit sind die rechtlichen Institutionen des Verfassungsstaates und ihre Festigung, nicht ihre Auflösung. Das Rechtssystem dieser modernen Verfassungsstaaten ist von der Idee der aufklärerischen Sittlichkeit geprägt, einem in der Menschenwürde wurzelnden Ethos. Das Recht muss mit der geltenden Sittlichkeit in Einklang gebracht werden. Mit den Menschenrechten und der Gewaltenteilung wurden die Grundlagen für die Demokratie geschaffen.
„Gewaltenteilung und Demokratie nehmen von der Idee der Menschenrechte ihren Ausgang und münden in sie hinein. Die Dreiheit von Menschenrechten, Gewaltenteilung und Demokratie bildet eine rechtlich‑institutionelle Einheit. Ihre politische Wirklichkeit ist die Bedingung von Humanität und Gerechtigkeit, von Freiheit und Menschenwürde für jeden. Bricht eines der drei Elemente heraus, so haben auch die beiden anderen keinen Bestand.“[852]
Im Gegensatz zu den Ausführungen Foucaults über die unterdrückerische Rolle des Rechtssystems hält Kriele fest: „Alle Humanität hängt ab von der Herrschaft des Rechts – ‘rule of law and not men’.“[853] Die politische Aufklärung folgerte aus dem Recht des Menschen als Menschen auch die rechtliche Gleichstellung von Minderheiten und schwächeren Gruppen: Juden, Frauen, Sklaven, Arbeiter, etc. Die Aufklärer gingen davon aus, dass der Mensch eine soziale Gemeinschaft in Freiheit zu bilden vermag. Das menschliche Leben ist in viel geringerem Masse gattungsmässig vorgeprägt als das der Tiere. Der Mensch lebt eine individuelle Biographie, die er zum grossen Teil selber gestalten kann. „In dem Masse, indem er frei ist, ist ihm sein Schicksal nicht durch äussere Umstände restlos aufgenötigt, sondern er selbst gestaltet es mit.“[854] Der Bezug auf die soziale Natur des Menschen, auf seine wirkliche Individualität, die er im Laufe seiner Lebensgeschichte ausbildet, ermöglicht eine andere Sicht auf die menschlichen Möglichkeiten, als sie uns Foucault bietet. Kriele betont den Aspekt der Freiheit im menschlichen Leben, die es ihm ermöglicht, seine Lebensumstände weitgehend selbst in die Hand zu nehmen. Foucaults Menschen- und Weltbild ist demgegenüber in grossem Masse von einem Determinismus geprägt, da bei ihm – getreu dem marxistischen Welt- und Menschenbild – die äusseren Umstände das Handeln und Denken der Menschen bestimmen.
Mit der Forderung nach gleicher Freiheit für jeden war aber nicht die Freisetzung eines egoistischen Machtkampfes aller gegen alle oder die Durchsetzung von Interessen auf dem Buckel der Schwächeren gemeint. Es ging „… um die Gestaltung von sozialen Rechtsgemeinschaften, die die Freiheit eines jeden beschützen und die die Nationen in demokratischer Selbstbestimmung, je nach ihren Eigenarten, Traditionen und Charakterzügen frei sollten bilden können. Zur Idee der Freiheit gehört die Verpflichtung gegenüber der Würde des anderen, also die politische, soziale, sittliche Verantwortung.“[855] Erst eine auf institutionell gesicherten Menschenrechten beruhende Gemeinschaft ist in der Lage, den Schutz der Freiheit zu gewähren.
Dazu bedarf es auch der gegenseitigen Verantwortung. Soziale Verantwortung ist aber ein Begriff, den wir bei Foucault nicht finden. Seine Weltsicht entbehrt der Dimension der Kooperation mit der Gemeinschaft; diese wird sogar regelrecht abgelehnt. Der abwertende Umgang mit der Geschichte der demokratischen Rechtsstaaten und ihren Institutionen bestätigt diesen Befund. Eine allgemeinverbindliche Ethik oder Moral ist ihm ein Greuel.[856] Sein Herz schlägt offensichtlich auf der Seite der Kriminellen, die er als zu Unrecht bestraft empfindet. Der Schaden, der Einzelnen und der Gesellschaft durch Rechtsbrüche zugefügt wird, lässt ihn kalt.
Es ist nicht übertrieben, Foucaults Umgang mit der Geschichte der Neuzeit in den abendländischen Gesellschaften, wie er aus der obigen Darstellung ersichtlich wird, als eine Geschichtsverzerrung zu charakterisieren. Ferry und Renaut bezeichnen sein Unternehmen sogar als „Geschichtsfälschung“: „Entlang dieser Untersuchung über die Geschichte des Wahnsinns, deren Leitgedanken dann auch auf die Geschichte des Strafwesens angewendet wurden, hat sich ein enormes Fälschungsunternehmen entwickelt, welches die neuzeitliche Geschichte einseitig als einen vielgestaltigen Repressionsprozess darstellt.“[857]
Ist es nur eine an den Haaren herbeigezogene Interpretation oder nicht schon paranoid, in unseren westeuropäischen demokratischen Gesellschaften, in denen die Freiheiten wie nie zuvor institutionell gesichert sind und auch gelebt werden können, eine „Disziplinargesellschaft“ zu sehen, die von rundum sich vollziehenden Zwängen und Unterdrückungsmächten durchsetzt sei ?
Wissenschaftsfeindschaft
Die Wissenschaft wird heute unter verschiedenen Gesichtspunkten angefeindet und abgewertet. Von postmoderner sogenannter Wissenschaftskritik wird sie als etwas anderes ausgegeben, als sie ist, nämlich als Ideologie und Machtinstrument. Gleichzeitig macht man auch die Wissenschafter persönlich unmöglich und unterstellt ihnen unredliche Motive, wie zum Beispiel, dass sie mit Hilfe der Wissenschaft nach Macht strebten. Diese Unterstellungen führen dazu, dass man der Wissenschaft, den wissenschaftlichen Erkenntnissen oder der Aussage eines Wissenschaftlers misstraut. Postmodern werden wissenschaftliche Erkenntnisse über Fakten und über Zusammenhänge als eine Meinung unter anderen relativiert. Die Folge ist, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht mehr objektive Geltung haben sollen. Damit ist die Wissenschaft so gut wie abgeschafft.
Folgende negative Motive und Eigenschaften unterschieben die Antihumanisten der Wissenschaft: Sie sei menschenfeindlich, kulturimperialistisch, erdrückend, dogmatisch, feindselig und zynisch.
„Herrschaftsstreben“, „Wissen und Macht“
Michel Foucaults zentrales Thema ist die Verbindung von Wissen und Macht. Er behauptet, Wissen werde immer angestrebt, um Macht zu vermehren. Der Wille zum Wissen sei ein Wille zur Macht.[858] Die Macht wiederum stütze sich auf Wissen ab. So ordnet er die Wissenschaft, insbesondere die Humanwissenschaften, den ‘Mächten’ zu, die den Menschen kontrollierten und normten. In Foucaults Schema erhält die Wissenschaft den Status eines Mittels zur „Disziplinierung“ des Menschen, indem sie ihn „normalisiere“. Mit immer subtileren Mitteln zwinge sie die menschlichen „Körper“, die Werte und Normen der jeweiligen Gesellschaft zu verinnerlichen und zu leben. „Ihre die Körper disziplinierenden und das Bewusstsein diskursivierenden Machtpraktiken universeller Normalisierung prägen noch das, was wir für das Innerste unserer Persönlichkeit halten.“[859] Die biologisch‑sozialen Gegebenheiten des Menschen zu untersuchen und daran angelehnt einen Massstab dafür zu entwickeln, was als normal oder als widernatürlich gelten muss, lässt Foucault mit Gleichschaltung assoziieren. Das Abnorme, Andere und Unvernünftige werde aus diesem von der Wissenschaft gestützten Diskurs ausgeschlossen: Kranke, Perverse und Kriminelle, wie auch alle möglichen Formen von sogenannten Lüsten und Trieben. Die Macht herrsche eben nicht nur durch Verbote, sondern dadurch, dass sie „…in Wirklichkeit die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muss sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper durchzieht und nicht so sehr als negative Instanz, deren Funktion in der Unterdrückung besteht.“[860] Die abendländische Menschheit sei also gefangen im feinen Netz vielfältiger und undurchsichtiger Machtwirkungen, die bis in die individuellen Körper und ins Denken eingedrungen seien, so dass es beinahe unmöglich sei, sie wahrzunehmen. Sogar in vordergründig positiven Aktivitäten verberge sich die Machtwirkung. Die Humanwissenschaften seien nichts als Machtinstrumente in diesem bösen Spiel. „Totale Institutionen“ wie Foucault Kliniken, Gefängnisse und Schulen bezeichnet, stellten Monumente des Sieges der reglementierenden Vernunft dar. Sie würden die Bedürfnisnatur des einzelnen Organismus unterwerfen.
Jürgen Habermas gibt folgende kurze Zusammenfassung von Foucaults „Disziplinierungsgeschichte“ mit ihrer Denunzierung der Wissenschaft:
„Der alles durchdringende normalisierende Einfluss einer allgegenwärtigen Disziplinarmacht greift über die Dressur des Körpers in das tägliche Verhalten ein, produziert eine veränderte moralische Haltung, soll jedenfalls die Motivation zu geregelter Arbeit und geordnetem Leben fördern. Diese Straftechnologie kann sich am Ende des 18.Jh. schnell verbreiten, weil das Gefängnis nur ein Element im reichen Ensemble von Körperdisziplinen ist. Diese setzen sich zur gleichen Zeit in Manufakturen und Arbeitshäusern, in Kasernen, Schulen, Hospitälern und Gefängnissen durch. Die Humanwissenschaften sind es dann, die auf sublime Weise den normalisierenden Effekt dieser Körperdisziplinen bis ins Innerste der szientifisch vergegenständlichten, zugleich in ihre Subjektivität hineingetriebenen Personen und Populationen verlängern. Die Humanwissenschaften sollen ihrer Form nach ein Amalgam aus Macht und Wissen darstellen – Macht- und Wissensformation bilden eine unauflösliche Einheit.“[861]
Die „Körperdisziplinen“, d.h. die strukturellen Bedingungen und Regeln in Form von Arbeitsabläufen oder Rahmenbedingungen, z.B. des Schulunterrichts, gelten bei Foucault als den Menschen disziplinierende Strukturen. Als deren verlängerter Arm fungierten Humanwissenschaften, wie die Psychologie oder Pädagogik, die diese „Disziplinierung“ bis ins Körperinnere fortsetzten, indem sie die Menschen nach bestimmten Normen auch innerlich formten. Deshalb sei der Humanismus dem Terror verwandt. Ein Beleg dafür: die Geburt der psychiatrischen Klinik mit ihrer Einschliessung des Wahnsinns, den Foucault als eine andere Lebensform der „herrschenden Vernunft“ gleichstellt.
Foucault unterschiebt den Wissenschaften hohlen, inhaltsleeren Humanismus. Ihre „Machttechniken“ und „Machtpraktiken“ zu entlarven, nimmt er sich in seinen umfangreichen Schriften vor. Das Resultat ist bezüglich der Historie eine Destruktion der geltenden Geschichtsschreibung, wenn sie von humanistischen Grundüberzeugungen und anthropologischem Denken zeugt.[862]
Gerade das Wissen über den Menschen, das die verschiedenen Humandisziplinen erarbeiten, hätte dazu gedient, ihn von innen her zu unterwerfen, da er nun körperlich und seelisch normiert werden könne. Das gelte auch für die Medizin. Der Arzt erdrücke und beherrsche den Patienten durch seinen „… immer lauernderen, drückenderen und durchdringenderen Blick (…).“[863] Foucaults „Archäologie des ärztlichen Blicks“, wie er sie in „Die Geburt der Klinik“[864] ausbreitet, lebt von der Diffamierung der medizinischen Hilfeleistung als reiner Machtausübung. Die Begriffe Gesundheit und Normalität sind Foucault ein Greuel, da sie universelle Normen als Massstäbe beinhalten.[865] Sloterdijk schliesst sich dieser Sichtweise an und illustriert sie mit phantasievollen Kriegs‑Metaphern: Medizinische Instrumente als Sonden, die in den Körper des Patienten‑Opfers eingeführt werden, um dieses auch von innen auszuspionieren und so rundum beherrschen zu können. Vor der Geburt der neuzeitlichen empirischen Wissenschaften, muss man aus Foucaults Kritik der Humanwissenschaften schliessen, hätten die Menschen wohl freier gelebt. Zumindest ‘undisziplinierter’, was man durchaus mit ‘gewalttätiger’ übersetzen darf. Nicht erwähnt wird aber auch bei Foucault, dass im Mittelalter ein von der Religion stark geprägtes Weltbild herrschte, und die Menschen damals fatalistisch und abergläubisch das diesseitige Leben nur als Durchgangsstadium erlebten, in dem sie möglichst keine Sünden begehen durften, um den Himmel zu verdienen. Die meisten fristeten ihr Leben arm und elend in harter Arbeit. Sie hatten nur eine kurze Lebenszeit vor sich, wenn sie nicht überhaupt schon in jungen Jahren an einer Krankheit oder Seuche starben. Gerade die Medizin hat hier ungeheure Fortschritte gebracht, hat sich doch z. B. die Lebensdauer seither mehr als verdoppelt!
Auch Sloterdijk stellt, wie oben bereits angedeutet, die Medizin und die Ärzte in ein schiefes Licht:
„Auch der Arzt – zumindest der von der modernen naturwissenschaftlichen Medizin geprägte – übt eine Tätigkeit polemischen Typs aus; was in der positiven Sehweise als ‘Heilkunde’ praktiziert wird, erscheint in pragmatischer Perspektive als Bekämpfung der Krankheiten. (…) Die Analogien zwischen der modernen medizinischen Diagnostik und den Machenschaften der Geheimdienste springen (bis in sprachliche Details) grell ins Auge; der Arzt betreibt gewissermassen somatische Spionage. Der Körper ist der Geheimnisträger, der so lange beschattet wird, bis über seine inneren Umstände so viel bekannt ist, dass ‘Massnahmen’ getroffen werden können. Wie in der Geheimdiplomatie und der Spionage wird auch in der Medizin viel ‘sondiert’, abgehorcht und beobachtet. In die Körper werden medizinische Hilfsgeräte wie Agenten ‘eingeschleust’, Sonden, Kameras, Verbindungsstücke, Katheter, Lampen und Leitungen.“[866]
Die abstruse Analogie zwischen der als polemisch hingestellten Tätigkeit des Arztes und derjenigen von Geheimdiensten soll Misstrauen und Widerwillen wecken. Eingängige Bildsprache und Wortklaubereien sind die Mittel zur Emotionalisierung des Lesers. Sloterdijk führt sein Thema in allen Varianten vor: Die verschiedenen Wissenschaften als zynische zu entlarven, indem er sie wie Foucault Machttechniken gleichstellt. Das vom Wissenschafter feindlich behandelte Forschungsobjekt ist in diesem konstruierten Fall der menschliche Körper. Von künstlichen Instrumenten durchbohrte lebendige Körper – die Aufzählung suggeriert eine Gleichzeitigkeit – dieses Bild soll an den Faschismus gemahnen. Menschen wurden damals auf schrecklichste Art als Versuchsobjekte missbraucht. Die medizinische Wissenschaft grundsätzlich als faschistoid hinzustellen ist geschmacklos.
Foucault will ebenfalls der Wissenschaft Gewaltausübung nachweisen. Dazu müssen erst die Grenzen zwischen Wissenschaft und Nicht‑Wissenschaft verwischt werden, so dass es keine wahren Aussagen mehr geben kann:
„Sie (die „historische Analyse“, d.V.) hat die Nichtwissenschaftlichkeit der Wissenschaft beim Namen zu nennen oder vielmehr – da das Problem Nichtwissenschaftlichkeit/Wissenschaftlichkeit nicht das wesentliche ist – nach der Gewalt einer Wissenschaft zu fragen, danach, wie in unserer Gesellschaft die Wahrheitswirkungen einer Wissenschaft gleichzeitig Machtwirkungen sind.“[867]
Mit der Unterstellung, die Wissenschaft übe Gewalt aus, vermischt Foucault zwei Gebiete, die nichts miteinander zu tun haben: wissenschaftliche Forschung und Anwendung der Erkenntnisse auf die Praxis einerseits mit einer Machtausübung andererseits. Für Machtzwecke kann natürlich auch die Wissenschaft missbraucht werden. In echt postmoderner Manier akzeptiert Foucault keine allgemeingültigen Aussagen über die Wirklichkeit, also keine Wahrheit.
Offensichtlich versucht Foucault, die Wissenschaft mit ihren Konsequenzen für die Lebensgestaltung schachmatt zu setzen. Er versetzt damit seine zahlreichen Leser und Adepten in die Stimmung, sich über die Realität hinwegzusetzen und verbindliche Werte des Zusammenlebens, die sich an einer sozialen Normalität orientieren, als Zwang abzutun.
Auch Sloterdijk unterstellt der Wissenschaft ein Herrschaftsstreben:
„Aufklärung, die zur Verdinglichung und Versachlichung des Wissens strebt, bringt die Welt des Physiognomischen zum Schweigen. Objektivität wird mit dem Verlust der Nähe bezahlt. Der Wissenschaftler büsst die Fähigkeit ein, sich als Nachbar zur Welt zu verhalten; er denkt in Begriffen der Distanz, nicht der Freundschaft; er sucht die Überblicke, nicht das nachbarschaftliche Auskommen. Im Gang der Jahrhunderte sonderte die neuzeitliche Wissenschaft alles aus sich aus, was sich mit dem Apriori der objektivierenden Distanz und der geistigen Herrschaft übers Objekt nicht vertrug: die Intuition, die Einfühlung, den esprit de finesse, die Ästhetik, die Erotik. Von alledem ist aber in echter Philosophie seit je eine starke Strömung wirksam geblieben, in ihr fliesst auch heute noch der Wärmestrom einer konvivialen Geistigkeit und einer libidinösen Weltnähe, der den objektivierenden Trieb zur Beherrschung der Dinge ausgleicht.“[868]
Aufklärung bezweckt ein sachliches Wissen über die Dinge und die Welt, damit aber unterdrücke sie, sagt Sloterdijk, eine andere Qualität, die in der Welt vorhanden sei: das Lebendige, die Körperlichkeit der Dinge. Wissen scheint für Sloterdijk auch aus unbeschreibbaren Anteilen zu bestehen, die mit rationalem Denken nicht erfassbar seien, also mit Wissen gar nichts zu tun haben. Dadurch wird der Begriff ‘Wissen’ mit einer Bedeutung versehen, die nicht zu ihm passt. So wird er unmerklich abgeändert. In der Folge entsteht eine Begriffsverwirrung.
Sloterdijk behauptet, Objektivität im Forschen, in der Herangehensweise an den zu untersuchenden Gegenstand bedeute Verlust der Nähe und der Beziehung zu ihm. Die Betrachtung aus der Distanz verunmögliche die Freundschaft. Der Autor arbeitet mit Gegensatzpaaren, die sich gegenseitig ausschliessen sollen, wie ‘Objektivität’ versus ‘Nähe’ oder ‘Distanz’ versus ‘Freundschaft’. Objektivität und Distanz ordnet er als Kategorien dem wissenschaftlichen Denken zu. Dies wird deutlich in den Aussagen, der Wissenschafter denke in Begriffen der Distanz, und Objektivität werde mit dem Verlust der Nähe bezahlt. ‘Nähe’ und ‘Freundschaft’ hingegen, stellt er im Gegensatz zur Wissenschaft als Dimensionen des Lebendigen dar. Eine derartige Ausschliessung ist m.E. falsch und irreführend. Sie dient der Denunzierung der Wissenschaft und des einzelnen Wissenschaftlers. Diesem unterstellt Sloterdijk denn auch, er handle nicht aus freundschaftlichem Interesse.
In Wirklichkeit kommt derjenige Wissenschaftler am ehesten zum Ziel, der objektive Distanz zu dem zu erforschenden Gegenstand einnehmen kann und zugleich ihm immer näher kommen will, indem er echtes persönliches Interesse und Engagement für die Sache hat. Er wird seine methodischen Instrumente ständig verbessern, um den Sachverhalt genauer zu erfassen und zu verstehen. Ein Beispiel aus der Pädagogik soll veranschaulichen, wie Nähe und Wohlwollen bei der Analyse von Problemen und ihrer Lösung zusammengehören: Gerade in der Lehrer-Schüler-Beziehung ist das freundschaftliche Wohlwollen des Lehrers fürs Kind conditio sine qua non, wie schon Erasmus erkannt hat. Wenn ein Lehrer herausfinden möchte, was einen Schüler daran hindert, sich zu konzentrieren, und wenn er ihm aus der Schwierigkeit heraushelfen will, kann ihn nur eine freundliche Grundhaltung seinem Ziel näherbringen. Pädagogische Einwirkung hat dann Erfolg, wenn die sachkundige Anleitung vom Anliegen getragen ist, dem Schüler helfen zu wollen. Sie ermöglicht es dem Schüler, sich vertrauensvoll an den Lehrer zu wenden und auf seine Hilfestellung einzugehen. Der Lehrer kann nun den Lernprozess seines Schülers verfolgen, mit dem Schüler darüber sprechen und dabei die Hintergründe der Schwierigkeiten seines Schülers genauer erfassen. Aufgrund seines besseren Verständnisses der Situation des Schülers wird es ihm möglich, diesem ein Stück weiterzuhelfen.
Wissenschaft kann nie gegen ihren Forschungsgegenstand sein, sonst hätte sie kein Interesse an ihm. Forschen heisst aufmerksam zu beobachten, zu ergründen versuchen, Zusammenhänge und Funktionsweisen verstehen zu lernen. Schon Didérot definierte in seiner Encyclopédie den Zweck der neuzeitlichen Wissenschaft darin, dass sie den Menschen ein besseres Leben ermöglichen sollte, indem sie ihnen eben ‘Wissen schafft’.
„Tatsächlich zielt eine Enzyklopädie darauf ab, die auf der Erdoberfläche verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Menschen darzulegen, mit denen wir zusammenleben, und es den nach uns kommenden Menschen zu überliefern, damit die Arbeit der vergangenen Jahrhunderte nicht nutzlos für die kommenden Jahrhunderte gewesen sei; damit unsere Enkel nicht nur gebildeter, sondern gleichzeitig auch tugendhafter und glücklicher werden, und damit wir nicht sterben, ohne uns um die Menschheit verdient gemacht zu haben.“[869]
Herrschaftsinteressen sind keine wissenschaftlichen Interessen, sondern gehören dem Bereich der Machtpolitik an – sie können nicht dem wissenschaftlichen Vorgehen zugeordnet werden.
Auch Feyerabend unterstellt den Wissenschaftlern offen, sie strebten mit Hilfe der Wissenschaft eine Machtposition an. „Diese Verteidigung ist ja kein rationales Unternehmen, sondern Bestandteil eines Machtkampfes, in dessen Verlauf die Wissenschaftler genau dieselbe Macht zu gewinnen hoffen, die die Kirche einst besass.“[870] Dass die Wissenschaft zu machtpolitischen Zwecken benutzt und für Machtinteressen missbraucht wird, ist leider richtig, aber dies darf nicht pauschalisierend der Wissenschaft und den Wissenschaftlern in corpore angelastet werden.
Selbstverständlich gehören gefühlsmässige Qualitäten wie Einfühlung und Intuition auch zur wissenschaftlichen Vorgehensweise, gerade wenn wir es mit Lebewesen zu tun haben. Theorien und Hypothesen werden oft gleichsam eingebungsmässig, gedankenblitzartig generiert. Sogenannte Intuition speist sich jedoch zu einem nicht geringen Teil aus Erfahrung und verarbeitetem Wissen. Intuition kann auch überprüft werden: Entspricht die intuitive Idee der Realität? Bewahrheiten sich die Vermutungen? Spekulationen, die der Überprüfung an der Realität nicht standhalten, haben nichts mit Wissenschaft oder wissenschaftlichen Methoden zu tun.
Paul Feyerabend greift wie Sloterdijk und Foucault zur Methode, den Wissenschafter persönlich abzuwerten. So unterstellt er dessen Suche nach Wahrheit und seinen Bemühungen um Klarheit und Objektivität „niedrige Instinkte“ und „Sucht nach Sicherheit“ und zieht damit sein ehrliches Forschungsinteresse in den Schmutz. „Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niedrigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, ‘Objektivität’ und ‘Wahrheit’ (…).“[871] Der Wissenschafter, der präzise und sachbezogen arbeitet und sich um Objektivität bemüht, wird hier gar als Süchtiger bezeichnet! Indem Feyerabend dem Wissenschafter unredliche Motive unterschiebt, lenkt er von der sachlichen auf die persönliche Ebene ab. Diese Methode dient dazu, die Wissenschaft abzuschaffen. Wenn der einzelne Wissenschafter unmöglich gemacht worden ist und als unglaubwürdig dasteht, hat dies eine psychologische Wirkung auf das Publikum, das die Manipulation nicht durchschaut. Es kann seine Aussagen nicht mehr frei und unvoreingenommen prüfen.
Auf polemische Art unterbindet Feyerabend wissenschaftsgestützte Diskussionen über Sachfragen.
Wissenschaft als Sprachspiel oder Meinung
Lyotards Einordnung der Wissenschaft ist etwas schwieriger zu fassen. Er will sie in eingeschränktem Masse gelten lassen. Im Kontext seines „Abschieds von den grossen Erzählungen“ tritt die Wissenschaft als grosse Erzählung der Emanzipation der Menschheit durch den Fortschritt der Wissenschaften auf. Die Wissenschaft habe sich durch dieses Versprechen legitimiert.
„Der Fortschritt der Wissenschaften, der Techniken, der Künste und der politischen Freiheiten würde die gesamte Menschheit von Unwissenheit, Armut, Kulturlosigkeit und Despotismus befreien und nicht nur glückliche Menschen schaffen, sondern auch –insbesondere dank des Schulwesens – aufgeklärte Bürger, die ihr Schicksal meistern.“[872]
Davon müsse man sich lösen, die Wissenschaft habe diesen Anspruch nicht erfüllt, im Gegenteil: „Nicht das Fehlen des Fortschritts, sondern im Gegenteil die technisch‑wissenschaftliche, künstlerische, ökonomische und politische Entwicklungen haben die totalen Kriege, den Totalitarismus, den wachsenden Abstand zwischen dem Reichtum im Norden und der neuen Armut im Süden (…) ermöglicht.“[873] Dies ist natürlich selbst eine totalisierende, undifferenzierte Sichtweise. Hier werden verschiedene Ebenen vermischt, und der Raster erinnert an einen marxistischen Determinismus ohne handelnde Subjekte, besonders, wenn noch auf eine von den Bedürfnissen der Menschen unabhängige „Dynamik“ verwiesen wird, oder die heutige „Techno‑Wissenschaft“ als „Apparat“ bezeichnet wird.[874] Auf die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und Machtpolitik wurde im Kapitel „Wissenschaft“ des ersten Teils dieser Arbeit eingegangen. Die terroristische Diktatur des Nationalsozialismus ist jedenfalls keine Ausgeburt der Wissenschaft. Hitler war selber wissenschaftsfeindlich und hat die Wissenschaft ideologisiert und die freie Meinungsäusserung, die freie Forschung und den wissenschaftlichen Austausch mit allen Mitteln verhindert. Die weiteren Umstände sind bekannt.[875] Heidegger, einflussreicher Philosoph im Dienste des Nationalsozialismus, zelebrierte die Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit und denunzierte die Vernunft.[876] Ist es nur interessant oder sogar bezeichnend, dass postmoderne Philosophen, wie z.B. Gianni Vattimo, sich wieder auf Heidegger beziehen? Entwicklungen zu Totalitarismus sind die Folge von Irrationalität, Menschenverachtung und Machtwahn; man kann sich dazu wissenschaftlicher Mittel bedienen. Damit ist aber der Zweck der Wissenschaft pervertiert.
Die Wissenschaft müsse also nach Lyotard den Anspruch, eine „grosse Erzählung“ zu sein, aufgeben. Lyotard spricht von einer „postmodernen Wissenschaft“, die den Charakter eines „Sprachspiels“[877] habe. Sie wird als ein Diskurs neben vielen anderen eingeordnet und damit relativiert. Sie habe nicht mehr Aussagekraft als alle anderen Diskurse. „Das wissenschaftliche Wissen ist eine Art des Diskurses.“[878] „Zunächst ist das wissenschaftliche Wissen nicht das ganze Wissen, es war immer ein Überschuss, immer im Wettstreit und Konflikt mit einer anderen Art des Wissens, die wir vereinfachend narrativ nennen…“[879] Die Wissenschaft sei ein Sprachspiel mit denotativer Pragmatik. Sie überschreite aber ihre Kompetenz, indem sie anderen Sprachspielen Vorschriften mache, also präskriptive Regeln anwende. Denotative und präskriptive Sprachspiele seien nämlich inkommensurabel. Heute entstünde das Bewusstsein dafür, dass aus wissenschaftlichen Beschreibungen keine präskriptiven Aussagen gewonnen werden könnten: die postmoderne Perspektive.
So stimmt dies aber nicht: Wissenschaft liefert Befunde aus der Forschung. Selbstverständlich kann sie niemandem vorschreiben, was er damit anfängt. Wissenschaftliche Befunde können jedoch zu Sachfragen Wissen beitragen, um die Problematik zu analysieren und beurteilen zu können. Das mit wissenschaftlichen Methoden gewonnene Wissen hat also durchaus Bedeutung für „andere Sprachspiele“. Man kann andere „Erzählungen“, wie z.B. narrative, nach bestimmten Kriterien beurteilen. Es gibt eine transparadigmatische Rationalität, genauso wie es eine Realität gibt. Die ganze Ebene der Realität wird bei Lyotard nur als Widerspiegelung innerhalb einzelner Sprachspiele gesehen. Der Allgemeingültigkeitscharakter wissenschaftlicher Aussagen fällt bei ihm weg.
Wenn die Wissenschaft über andere Sprachspiele befinde, übe sie „kulturellen Imperialismus“ aus, so Lyotard:
„Dennoch haben die Arten der Sprache, wie auch die Arten der Lebewesen, Beziehungen zueinander, und diese sind bei weitem nicht harmonisch. Der andere Grund, der die summarische Erinnerung an die Eigenschaften des Sprachspiels der Wissenschaft rechtfertigen kann, berührt genau seine Beziehung zum narrativen Wissen. Wir haben gesagt, dass dieses letztere die Frage nach seiner eigenen Legitimierung nicht zur Geltung bringt, es beglaubigt sich selbst durch die Pragmatik seiner Übermittlung, ohne auf die Argumentation und Beweisführung zurückzugreifen. Daher verbindet es mit seinem Unverständnis gegenüber den Problemen des wissenschaftlichen Diskurses eine gewisse Toleranz: Es fasst ihn zunächst als eine Spielart der Familie narrativer Kulturen auf. Die Umkehrung ist nicht wahr. Der Wissenschaftler fragt nach der Gültigkeit narrativer Aussagen und stellt fest, dass sie niemals der Argumentation unterworfen sind. Er ordnet sie einer anderen Mentalität zu: Wild, primitiv, unterentwickelt, rückständig, verwirrt, aus Meinungen bestehend, Gewohnheiten, Autorität, Vorurteilen, Unwissenheit und Ideologien. Die Erzählungen sind Fabeln, Mythen, Legenden, gut für Frauen und Kinder. Im besten Fall wird man versuchen, Licht in diesen Obskurantismus zu bringen, zu zivilisieren, auszubilden und zu entwickeln. Dieses ungleiche Verhältnis ist eine innere Wirkung der jedem Spiel eigenen Regeln. Man kennt ihre Symptome. Es ist die ganze Geschichte des kulturellen Imperialismus seit den Anfängen des Abendlandes. Es ist wichtig, seinen Gehalt zu kennen, der ihn von allen anderen unterscheidet: Er ist vom Erfordernis der Legitimierung bestimmt.“ [880]
Hier unterschiebt Lyotard dem Wissenschafter eine Art des Denkens, die nichts mit einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise zu tun hat. Der Massstab der Bewertung ist die Realität. Diese sogenannte Legitimierung, die die Wissenschaft im Unterschied zu den narrativen Überlieferungen nötig habe, ist nichts anderes als die Überprüfung ihrer Aussagen an der Realität oder der Nachweis der angewendeten Methode. Nur wenn es keine existierende Wirklichkeit geben würde, könnte man den wissenschaftlichen und den narrativen Diskurs gleichsetzen. Kultureller Imperialismus entstammt keinesfalls dem wissenschaftlichen Denken und Forschen, sondern der Machtpolitik. Auf das seit der Neuzeit entwickelte wissenschaftliche Vorgehen, womit Natur, Mensch und Gesellschaft immer besser verstanden werden können, können wir mit Recht stolz sein, dienen diese Erkenntnisse doch unserer besseren Orientierung und der Lebensbewältigung im kleinen wie im grossen.
Der Grundeffekt aller vier Autoren ist der gleiche: Sie sind sich einig in der Relativierung der Wissenschaft. Wissenschaft hat keinen Allgemeingültigkeitscharakter mehr, sie ist nur ein Sprachspiel, ein Diskurs oder eine Meinung. Damit setzen sie sich über den schon lange geltenden Konsens, was unter Wissenschaft zu verstehen ist, hinweg: Wissenschaft ist die rationale und argumentative Verständigung im Wissen über Sachverhalte. Wissenschaftliche Tätigkeit zielt auf intersubjektiv überprüfbare Information über die Wirklichkeit ab. Sie wird durch allgemein anerkannte und bewährte Methoden und Kriterien konstituiert, deren wichtigste Überprüfbarkeit, Allgemeingültigkeit und Objektivität sind.[881]
„Anything goes“
Ganz unverhohlen gibt Feyerabend zum Ausdruck, wie er die Wissenschaft ablehnt:
„… eine wissenschaftliche Ausbildung wie die oben skizzierte (wie sie an unseren Hochschulen betrieben wird) ist menschenfeindlich. Sie widerstreitet ‘der Förderung der Individualität, die allein wohlentwickelte Menschen erzeugt, erzeugen kann’; sie ‘erdrückt, wie den Fuss einer Chinesin, jeden herausragenden Teil der menschlichen Natur, der der Persönlichkeit Profil verleihen könnte’ gegenüber den Vernünftigkeitsidealen, die in der Wissenschaft oder Wissenschaftstheorie gerade Mode sind. Wenn man also die Freiheit ausweiten, ein erfülltes und befriedigendes Leben führen will, wenn man zusätzlich noch die Geheimnisse der Natur und des Menschen aufdecken möchte, dann muss man alle umfassenden Massstäbe und alle starren Traditionen verwerfen.“[882]
Wissenschaft erdrücke den Menschen. Sie wird als starre Tradition ausgegeben, die die Freiheit einschränke. Wenn ich aber die Freiheit habe zu wählen, ob ich meine Reise mit einer den geographischen Gegebenheiten entsprechenden Landkarte plane oder mich nach einer schönen Phantasiezeichnung richten will, weiss ich, mit Hilfe welcher Karte ich mein Ziel sicher erreiche. Wo ist da die Menschenfeindlichkeit der Kartographie? Aber für Feyerabend existiert die Wirklichkeit nicht. „…man braucht eine Traumwelt, um die Eigenschaften der wirklichen Welt zu erkennen, in der wir zu leben glauben (und die in Wirklichkeit vielleicht nur eine andere Traumwelt ist).“[883] Welch ein Verwirrspiel!
In seiner Polemik, die der Abschaffung der Wissenschaft dient, verkündet Feyerabend unter dem Leitmotiv „anything goes“, dass zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Märchen kein grundsätzlicher Unterschied bestehe. Beide Betrachtungsweisen würden verschiedene Meinungen über die Welt wiedergeben, keine sei wahrer als die andere. „Es gibt also keinen klar formulierbaren Unterschied zwischen Mythen und wissenschaftlichen Theorien. Die Wissenschaft ist eine der vielen Lebensformen, die die Menschen entwickelt haben, und nicht unbedingt die beste. Sie ist laut, frech, teuer und fällt auf.“[884] Was Lyotard seine Welt der „Sprachspiele“, ist Feyerabend sein Grundsatz „anything goes“.
Die Aufgabe des Wissenschafters wird von Feyerabend entsprechend seiner privaten Logik neu definiert:
„Der Wissenschaftler aber hat nicht mehr die Aufgabe, ‘die Wahrheit zu suchen’ oder ‘Gott zu loben’ oder ‘Beobachtungen zu systematisieren’ oder ‘Voraussagen zu verbessern’. Das sind nur Nebenergebnisse einer Tätigkeit, auf die sich seine Aufmerksamkeit jetzt hauptsächlich richtet, nämlich, ‘die schwächere Seite zur stärkeren zu machen’, wie es die Sophisten ausgedrückt haben, und so das Ganze in Bewegung zu halten.“[885]
Wenn also im „Wettstreit der Diskurse“, zum Beispiel in einer ernsthaften Auseinandersetzung über Fragen des Weltbildes, eine Meinung zu unterliegen droht, hat der Wissenschaftler gemäss Feyerabend diese zu unterstützen, bis sie wieder die Oberhand hat. Dieser Feyerabend’sche Kampf der Meinungen erinnert an die marxistische Klassenkampftheorie, nach der die linke Intelligenz den Auftrag hat, der unterlegenen Arbeiterklasse (oder Randgruppe) zum Sieg zu verhelfen. Das dialektische Prinzip eines Machtkampfes wird nun auf die wissenschaftliche oder philosophische Argumentation übertragen. Da sich derartige Dialektik bei Feyerabend weder an Bewährtem und Überprüftem orientiert, noch einen konstruktiven rationalen Diskurs anstrebt, dient sie gewiss nicht dem Fortschreiten der Menschheit.
Feyerabend handelt Mythen als gleichwertig mit wissenschaftlichen Resultaten, z.B. mit solchen der Biologie. So ist es dann egal, ob als Erklärung für die Entwicklung des Menschen- und Tierreichs die Evolutionstheorie Darwins oder die Schöpfungsgeschichte zugrundegelegt wird. Hauptsache, dass der „…einzige allgemeine Grundsatz, der den Fortschritt nicht behindert…“ eingehalten wird, der da „…lautet: Anything goes.“[886] Da Mythen und Märchen nur andere, aber gleichwertige Traditionen wie die Wissenschaft seien, könne auch der Massstab der Rationalität nicht als allgemeingültig angesehen werden.[887] Die Massstäbe zur Beurteilung einer Tradition seien selber Teil der betreffenden Tradition.
Gemäss Mittelstrass betreibt Feyerabend damit einen wissenschaftstheoretischen Historismus. Die historischen Verlaufsformen wissenschaftlicher Entwicklungen können nicht auf ihren Fortschrittscharakter hin beurteilt werden, wenn die Geltungskriterien historistisch ausser Kraft gesetzt sind. Der Begriff einer transparadigmatischen Rationalität ist bei Feyerabend explizit ausgeschlossen. Nach Mittelstrass spiegelt „Wissenschaftsgeschichte in den Grenzen des wissenschaftstheoretischen Historismus (…) nur einen Wandel von Auffassungen wider, nicht eine Logik der Forschung, der man auch unter Rationalitätsgesichtspunkten zu folgen hätte.“[888] Systematische Reflexionen dürfen nicht aufgegeben werden, denn „Über Wahrheit und Falschheit entscheidet nicht die Geschichte, sondern die Vernunft (…)“[889] Allgemein stellt Mittelstrass heute einen überdehnten Pluralismus in den Wissenschaften fest. Das politische Prinzip des Meinungspluralismus in der Gesellschaft sei auf die Wissenschaftspraxis übertragen worden, so dass hier ein Methoden- und Theorienpluralismus herrsche.
„In den Wissenschaften herrscht heute faktisch ein Methoden- und Theorienpluralismus, in dessen Rahmen das politische Prinzip einer pluralistischen Vertretung von Argumenten und Interessen zur Grundlage auch der Wissenschaftspraxis geworden ist. Dieses Prinzip führt nahezu zwangsläufig dazu, dass Theorien wie Meinungen aufgefasst werden, die (gebotene) Toleranz gegenüber Meinungen und Argumenten wird mit Toleranz gegenüber Begründungen, die schliesslich den Verzicht auf Begründungen überhaupt zur Folge haben, gleichgesetzt.“[890]
Ein wichtiges postmodernes Thema, das Mittelstrass hier anspricht: Tatsächlich werden im postmodernen Denken Meinungen und wissenschaftliche Erkenntnisse gleichgesetzt. Mittelstrass sieht als weitere Gefahr, dass Begründungen nicht mehr nötig erscheinen, wenn alles auf einer subjektiven Ebene diskutiert wird. Wozu dann überhaupt noch Diskussion: Jeder soll doch meinen oder glauben, was ihm passt, würde Feyerabend sagen.
Auch Sloterdijk schafft die Wissenschaft ab. Die „Fröhliche Wissenschaft“[891], wie er sie nennt, ist „…schwebend, spielend, essayistisch, nicht auf sichere Grundlegungen (…) ausgerichtet.“[892] Was Wissenschaft konstituiert und was sie anstrebt, nämlich auf sicherem Wissen über ihren Forschungsgegenstand zu beruhen und solches zu schaffen, spricht ihr Sloterdijk ab. So ist es dann keine Wissenschaft mehr. Seine Neudefinition missachtet die seit langem bewährte Verständigung, was unter Wissenschaft zu verstehen ist und schafft eine Sinn- und Sprachverwirrung.
Ablehnung der Humanwissenschaften
Die Pädagogik muss sich unter anderem auf die Erkenntnisse der Anthropologie abstützen, wenn sie ihrem Gegenstand, nämlich der Bildung und Erziehung der Kinder, gerecht werden will. Anthropologie erforscht das Wesen oder die Natur des Menschen in ihren allgemeinen Grundzügen. So hat sich herausgestellt, dass ein wesentliches Merkmal des Menschen seine grosse Lernfähigkeit ist.[893] Als Konsequenz für die Pädagogik ergibt sich hieraus, dass der Lehrer vom Schüler als einem lernenden Wesen ausgehen kann. Dies bedeutet, dass das Lernen in der Schule dem Kind natürlicherweise entspricht, und keine Motivierungskünste und sonstigen Umwege nötig sind, um den Schüler ‘zum Lernen zu bringen’. Widerstände gegen das Lernen haben andere Ursachen, die mit dem Grad des Mutes des Lernenden zu tun haben. Lernfähigkeit und Lernbedürftigkeit bedeuten aber auch, dass Wissensvermittlung notwendig ist. Daher zielen die aktuellen Reden von der ‘Kopflastigkeit der Schule’ an den eigentlichen Bedürfnissen der Schüler vorbei.
Die Ablehnung der Wissenschaft durch die postmodernen Zeitgeist‑Intellektuellen bedeutet für die Pädagogik, dass sie auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen, wie die Anthropologie, verzichten müsste. Die Folge ist, dass die Pädagogik der allgemeinen Beliebigkeit preisgegeben wird. „Es gibt ‘Gegenstände’, im Verhältnis zu denen es keine wissenschaftliche Neutralität gibt, sondern nur befangene und interessierte Formen der Untersuchung – am deutlichsten im gesamten Bereich der Human- und Sozialwissenschaften…“[894] schreibt Sloterdijk. Er unterzieht die Humanwissenschaften einer Art Ideologiekritik, so dass man ihren Erkenntnissen misstrauisch gegenüberstehen müsse, denn die Untersuchungen seien immer von machtpolitischen Interessen gesteuert. Wissenschaft also als Ideologie…
Die Humanwissenschaften haben auch für Foucault, wie schon weiter oben gezeigt wurde, keine Gültigkeit:
„Das aristotelische Problem, ob eine Wissenschaft vom Menschen möglich sei, ist gewiss ein grosses Problem und hat vielleicht grosse Lösungen gefunden. Doch gibt es das kleine historische Problem (…) Auf diese simple Tatsachenfrage ist zweifellos nur eine Antwort ohne Grösse möglich: man muss sich bei jenen Aufzeichnungs- und Registrierungsverfahren, bei den Überprüfungsmechanismen, bei der Formierung der Disziplinaranlagen und bei der Herausbildung eines neuen Typs von Macht über die Körper umsehen. Die Geburt der Wissenschaften vom Menschen hat sich wohl in jenen ruhmlosen Archiven zugetragen, in denen das moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen erarbeitet worden ist.“[895]
Er denunziert die Humanwissenschaften als Verfahren, mit denen Macht über die Menschen gewonnen worden sei: In ihrem Namen werde registriert, kontrolliert und diszipliniert. So wirft Foucault Gefängnisse und Schulen in einen Topf, da in beiden Institutionen Menschen diszipliniert würden. Nach einer unkritischen Lektüre von „Überwachen und Strafen“ assoziert der Leser unweigerlich „Schule“ mit „Gefängnis“.
Bedeutung und Gehalt der Anthropologie werden bei Foucault umgedeutet und verfälscht. Die wissenschaftliche Erforschung der menschlichen Wesenszüge sei ein Machtinstrument, das dazu diene, die Menschen subtil und unmerklich in den Griff zu bekommen und zu unterdrücken. Foucaults Antihumanismus besteht grundlegend darin, dass er den Menschen als autonomes Subjekt gar nicht anerkennt. Er verabscheut jeglichen Anthropozentrismus.
„Was auf jeden Fall das Eigentümliche der Humanwissenschaften offenbart, ist, wie man sieht, nicht jener privilegierte und besonders unklare Gegenstand Mensch. Aus dem guten Grunde, dass nicht der Mensch sie konstituiert und ihnen ein spezifisches Gebiet bietet. Sondern es ist die allgemeine Disposition der episteme, die ihnen Raum gibt, sie hervorruft und einrichtet und ihnen so gestattet, den Menschen als ihr Objekt zu konstituieren.“[896]
Wenn sich in Foucaults Menschenbild der Mensch als etwas Unklares darstellt, darf dieses Menschenbild keinesfalls verallgemeinert werden. An dieser Stelle wird auch deutlich, wie er dem Menschen als einem aktiv Forschenden mit eigenständigem Erkenntnisinteresse keinen Wert beimisst. Zufälligerweise verhalte sich die Wissenslage einer Zeit gerade so, dass der Mensch als Untersuchungsobjekt in Frage komme. Zu einer anderen Zeit, bei einer anderen „Disposition“ des Wissens, wäre das gar nicht möglich. Den Humanwissenschaften, die sich mit dem Menschen und seinem Wesen beschäftigen, prognostiziert er einen im vornherein feststehenden Misserfolg, denn eine menschliche Natur gebe es nicht. So sei die Idee einer Anthropologie nur ein frommer Wunsch.
„Aber ihre Entwicklung (der Psychoanalyse und der Ethnologie, d.V.) hat die Besonderheit, dass sie trotz ihrer quai universellen ‘Tragweite’ nie einen allgemeinen Begriff des Menschen erreichen. In keinem Augenblick zielen sie darauf ab, das einzukreisen, was es an Spezifischem, Irreduziblem an ihm geben könnte, was überall, wo er der Erfahrung gegeben ist, an einförmig Gültigem vorhanden sein könnte. Die Idee einer ‘psychoanalytischen Anthropologie’, die Idee einer ‘menschlichen Natur’, die von der Ethnologie wieder hervorgebracht würden, sind nur fromme Wünsche. (…) Man kann von beiden sagen, was Lévi-Strauss von der Ethnologie sagt: dass sie den Menschen auflösen.“[897]
Diese Wissenschaften lösten also den Menschen eher auf, als dass sie Aussagen über sein Wesen machen könnten. Dies ist wohl auch nur ein frommer Wunsch Foucaults. Jedenfalls ist für ihn im Humanismus kein Fortschritt zu sehen, im Gegenteil. Er würde es begrüssen, wenn eine ganze Kultur wieder verschwinden würde – einfach so, denn Foucault ist nicht in der Lage, menschliche Leistung zu achten und zu würdigen. Habermas beschreibt diese Gesinnung folgendermassen: „Erst wenn unter dem unbestechlich genealogischen Blick die Diskurse wie schillernde Blasen aus dem Sumpf anonymer Überwältigungsprozesse aufgehen und zerplatzen, ist, so scheint es, die Gefahr des Anthropozentrismus gebannt.“[898] Wo kein Mensch ist, braucht es auch keine Anthropologie.
Resümierend ist zur Position unserer vier Postmoderne‑Denker gegenüber der Wissenschaft festzuhalten, dass alle die Wissenschaft grundsätzlich in eine Verbindung mit Macht im Sinne von Herrschaft über Menschen bringen. Die Wissenschaft erhebe den Anspruch auf Objektivität, sei aber in Wirklichkeit eine Ideologie und ein Machtinstrument. Dementsprechend wird sie negativ bewertet. Sie unterdrücke andere Traditionen und Kulturen oder „Sprachspiele“ und sei dogmatisch. Niemals dürfe sie zur Auffindung von allgemeingültigen Werten beitragen. Alle vier Autoren lehnen den Begriff einer transparadigmatischen Rationalität ab. Die Geltung wissenschaftlicher Erkenntnisse über Sachverhalte wird relativiert zugunsten irrationaler oder körperlich‑emotionaler Stimmungen und laienhafter Entscheidungen sogenannt Betroffener.
Die wichtigsten Kritikpunkte an der postmodernen Philosophie
Abschliessend zur Analyse der postmodernen Philosophie sollen die wichtigsten Kritikpunkte zusammengefasst werden. Wir folgen dabei unserer Systematik der fünf Kategorien postmodernen Denkens.
Die erste Kategorie ist der postmoderne Antihumanismus. Hier wird die Frage nach dem Menschenbild oder den Menschenbildern gestellt, die die postmoderne Philosophie entwirft. Kernpunkt ist hier, dass die postmoderne Philosophie die Tatsache einer universellen, allen Menschen gemeinsamen menschlichen Natur leugnet. Im weiteren ist der postmoderne Mensch keine freie, sich selbst bestimmende Person, die sich für ihr eigenes Leben und die Belange der Gemeinschaft verantwortlich fühlt. Auch die Vernunftfähigkeit des Menschen als anthropologische Konstante wird in Frage gestellt. Das postmoderne Menschenbild zeichnet einen von Trieben determinierten oder von sprachlichen und kulturellen Strukturen geprägten Menschen. „Da wo ‘es spricht’, existiert der Mensch nicht mehr.“ Der Mensch als bewusst handelnde, sittlich-autonome Person wird als Erfindung des Humanismus ausgegeben. Der Humanismus operiere mit leeren Worthülsen und unterdrückerischen Normen. Im Gewissen des Individuums würden die willkürlichen Normen unserer Kultur verinnerlicht, wird behauptet, so dass das Gewissen als Zwangsinstanz erscheint. Statt der einheitlichen Persönlichkeit wird postmodern eine zersplitterte Identität gewünscht. Der postmoderne Mensch solle fähig sein, je nach Situation und Lebenswelt sich nach anderen Werten richten zu können und eine regelrechte Gewandtheit im Wechsel zwischen verschiedenen Normsystemen in der postmodernen Gesellschaft zu erreichen.
Das antihumanistische Menschenbild der postmodernen Philosophie scheint als Dreh- und Angelpunkt für das postmoderne „Paradigma“ zu funktionieren. Damit werden nämlich die positiven, naturrechtlich geltenden Bedingungen für eine dem Menschen zuträgliche Lebensordnung und Lebensführung über Bord geworfen. Es komme nicht darauf an, welche Werte massgeblich seien. Der postmoderne Mensch habe sich in unterschiedlichen und widersprüchlichen Wertesystemen einzurichten, die ja die postmoderne, bzw. „zeitgenössische Kultur“ kennzeichnen würden. Damit zerfällt der Vernunftanspruch als sittliche Orientierung für den einzelnen Menschen. Getreu dem postmodernen Denken wird von einer universellen Ethik Abschied genommen, deren Stelle nun eine Vielzahl begrenzter Bindestrich‑Ethiken einnehmen sollen.
Die Erkenntnisse über die menschliche Natur stellen demgegenüber eine hoch einzuschätzende Errungenschaft der christlich-abendländischen Kultur dar. Sie sind in ihrem Gehalt bis heute noch kaum ausgeschöpft, gerade was die zwischenmenschliche Dimension anbelangt. Zum einen bedeuten diese anthropologischen Erkenntnisse, dass der Mensch überhaupt eine feste Natur mit bestimmten biologisch-sozialen Gegebenheiten besitzt. Welches zum anderen die Merkmale der menschlichen Natur oder des Wesens des Menschen sind, war Gegenstand jahrhundertelanger Beobachtung und wissenschaftlicher Forschung. Humanwissenschaften wie die Anthropologie, die Kulturanthropologie, die Biologie, die empirische Psychologie oder die personale Tiefenpsychologie, wie auch die Entwicklungspsychologie, tragen dazu bei, dieses tradierte Wissen um die menschliche Natur zu überprüfen und zu präzisieren. Die im ersten Teil dieser Arbeit herausgestellten philosophisch-anthropologischen Voraussetzungen für die pädagogische Theorie beziehen sich auf universelle Dimensionen der menschlichen Natur. Dazu gehören die menschliche Vernunft, die Auffassung vom Menschen als einer sich selbst bestimmenden sittlich‑autonomen Persönlichkeit (personale Auffassung des Menschen) und die soziale Lebensweise des Menschen. Aufgrund der Sozialität des Menschen erweisen sich all diejenigen Werte als anthropologisch fundiert, die eine positive Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen und des Zusammenwirkens in den grösseren Gemeinschaften ermöglichen: Werte des Menschseins und der Mitmenschlichkeit.
Damit sind wir bei einem zweiten Kritikpunkt an der postmodernen Philosophie: ihre Wertezersetzung oder der postmoderne Werterelativismus. Aus der Kritik an der postmodernen Auffassung über den Menschen und der dieser gegenüberzustellenden personalen Auffassung, wie sie die europäischen Philosophie entwickelt hat, ging hervor, dass die Frage der Werte eine zentrale Bedeutung hat. Es ist nicht gleichgültig, welche Werte ein Mensch vorzieht, welchen Werten und Normen er nachlebt. Es gibt solche, die ihm zuträglich sind und solche, die dem Individuum und/oder dem menschlichen Zusammenleben schaden. Werte sind keine willkürlichen Zwangsorientierungen, die den Menschen verordnet werden, um sie zu disziplinieren und zu normalisieren, wie postmodern behauptet wird. Viele der bis heute geltenden Werte entsprechen der Natur des Menschen und dienen einer geglückten Lebensführung. So zum Beispiel: mitmenschliches Interesse, Achtung und Respekt vor dem Anderen und der anderen Meinung, Achtung der Würde der Person, Toleranz, Verantwortlichkeit, Treue, Pflichtbewusstsein, Ehrlichkeit, Verbindlichkeit, Lernfreude, u.a.m. Man kann hierbei von Werten des Menschseins (Hager) sprechen oder von naturrechtlich geltenden Werten. Der klassische Tugendbegriff versteht Werte als bestimmte, in den Charakter eines Menschen integrierte natürliche Grundhaltungen. Tugenden werden (dadurch) gelebt. Nach Aristoteles können sie erworben und eingeübt werden.
Wird postmodern vorgeschlagen, jeder solle seine persönlichen Werte nach eigenem, subjektivem Gutdünken auswählen, wird dabei die Sozialnatur des Menschen und seine soziale Verantwortung ausser Acht gelassen. Postmoderne Philosophie wendet sich in aller Schärfe gegen universelle Prinzipien und übergreifende Massstäbe. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die gesellschaftliche Gemeinschaft: Sie ist eben keine Gemeinschaft mehr, wenn jeder nur auf sein eigenes Wohl bedacht ist und keine allgemeinverbindlichen Werte anerkannt werden. Eine solche, von keiner gemeinsamen Moral gestützte Gesellschaft zerfällt im Laufe der Zeit. Es genügt keineswegs, von Fall zu Fall zu entscheiden, ohne prinzipiellen Massstab. Wer soll entscheiden und wer bestimmt, wie entschieden wird? Diejenigen, die am meisten Macht haben? Das Argument, dass Werteorientierungen kulturabhängig und damit relativ seien, greift nicht. Die Tatsache, dass in verschiedenen Kulturen unterschiedliche Werte und Normen existieren, bedeutet nicht, dass gewisse Werte nicht universell gültig sein können. In vielen Religionen gleichen sich übrigens auch die grundlegenden ethischen Gehalte, die aus dem Zusammenleben, also aus der Lebenspraxis, erwachsen sind. Die Divergenz ethischer Überzeugungen betrifft eher konkrete Handlungsregeln denn ethische Prinzipien. Zum Beispiel ist das Gebot: „Du sollst nicht lügen“ interkulturell anerkannt, schreibt Anzenbacher.[899] Er hält der postmodernen Pluralisierung entgegen : „Nur auf der Basis gemeinsam anerkannter sittlicher Normen können Institutionen menschlicher Vergesellschaftung human lebbare Gestalten konkreter Freiheit sein.“[900]
Der Angriff auf die Vernunft ist ein weiteres Kennzeichen postmodernen Denkens. Die postmoderne Vernunftfeindschaft stellt eine destruktive Stossrichtung einerseits gegen das argumentative Denken und andererseits gegen die soziale Vernunft dar. Vernunft wird als Herrschaftsmittel dargestellt, als ausgrenzende Macht, als einseitige Denkform. Sie wird als „totalitär“ denunziert, und unter dem Begriff der „instrumentellen Rationalität“ oder der „herrschaftlichen Vernunft“ gar bezichtigt, den Totalitarismus ermöglicht zu haben. Die Atombombe stelle den Kulminationspunkt des abendländischen Vernunftideals dar. Vernunft sei kalt und instrumentell, wissenschaftliche Vernunft gar ihrem Objekt gegenüber feindselig gestimmt. Alles Unvernünftige grenze sie aus, wie z.B. den Wahnsinn. Die postmoderne Philosophie möchte der europäischen Vernunftorientierung ein anderes Denken gegenüberstellen, das das Unfassbare einbezieht, und Paralogien und Paradoxa als andere Formen der Argumentation zulässt. Aus dem vernunftgestützten Diskurs will man aussteigen. Widervernünftige „Argumente“ sollen gleich gelten wie vernünftige, oder bildhaftes Denken solle rationale Überlegung ersetzen.
Das Vernunftverständnis des abendländischen Denkens sieht die Vernunft als ein Erkenntnis- und Orientierungsvermögen an, das alle Menschen der Voraussetzung nach haben. Die Vernunft muss in der Erziehung herangebildet werden. Kant brachte dieses Verständnis auf den Begriff der praktischen und der theoretischen Vernunft. Das „Faktum der Vernunft“ heisst bei Kant, dass es Moralität als Bewusstsein einer unbedingten Verpflichtung tatsächlich gibt. Die Ethik stellt eine „Selbstreflexion praktischer Vernunft und ihrer Vollendung in der Dimension des Moralischen“[901] dar. Mit dem Begriff der praktischen Vernunft ist die lebenspraktisch‑ethische Dimension gemeint. Das menschliche Handeln steht unter dem Anspruch der Sittlichkeit, der sozialen Vernunft. Die sittlich‑autonome Persönlichkeit bestimmt sich selber zum Handeln unter Vernunftanspruch. In der klassischen Tradition, z.B. nach Thomas von Aquin, erfasst die Vernunft alles das, woraufhin der Mensch natürlicherweise hinstrebt, also was für ihn natürlicherweise gut ist. Die Vernunft ermöglicht dem Menschen auch, Erkentnisse über die Gesetze der Natur zu gewinnen, also wissenschaftlich zu forschen. Darum hängen die postmoderne Vernunftkritik und ihre Wissenschaftskritik zusammen.
Die postmoderne Wissenschaftskritik, ja sogar Wissenschaftsfeindschaft, gibt der neuzeitlichen Naturwissenschaft die Schuld an der heutigen Umweltzerstörung. Sie wolle die Natur beherrschen, und durch ihre Eingriffe zerstöre sie sie immer mehr. Die Wissenschafter seien von einem Machtstreben geleitet. Es werden Wortspielereien mit dem Begriff „Wissen ist Macht“ vollführt, um diese Unterstellung zu legitimieren. Wer Wissen erlangen wolle, wolle dadurch Macht über Mensch und Natur gewinnen. Die „Wahrheitswirkungen“ der Wissenschaft seien in Wirklichkeit „Machtwirkungen“. Es sei nämlich gar nicht möglich, objektive Erkenntnisse über die Natur oder die Wirklichkeit zu erhalten. Eine vom Menschen unabhängige Wirklichkeit existiere gar nicht. Jeder Forscher konstruiere seine eigene „Wirklichkeit“. Es gebe nur Wirklichkeiten im Plural. Übergreifende Massstäbe werden auch für die Wissenschaft nicht anerkannt. Die Wissenschaft sei eine Tradition, ein Sprachspiel unter anderen mit gleicher Geltung. Wissenschaftliche Aussagen hätten nicht mehr Gültigkeit als Meinungen. Den Wissenschaften, im besonderen den Humanwissenschaften, wird von postmoderner Seite vorgeworfen, Normen zu konstruieren, um den einzelnen Menschen anzupassen und zu verformen. Diese Behauptung kann wiederum nur erhoben werden, weil die Postmoderne keine menschliche Natur anerkennt. Sie leugnet jegliche Objektivität wissenschaftlicher Erkenntnisse, so auch von solchen über die menschliche Psyche.
Demgegenüber ist festzuhalten, dass trotz der behaupteten Krise der Naturwissenschaft seit der Relativitätstheorie, der Chaostheorie oder Gödels Unvollständigkeitssatz, mittels wissenschaftlicher Forschung objektive Erkenntnisse erlangt werden können. Es existiert eine von subjektiver Wahrnehmung unabhängige Wirklichkeit, auch wenn die Wahrnehmung des Forschenden bei der Erkenntnis mitspielt. Die Kriterien für wissenschaftliches Vorgehen: Überprüfbarkeit, Objektivität, Reproduzierbarkeit, und Wiederholbarkeit des Experiments gelten weiterhin. Zwischen Wissenschaft und Meinung besteht ein qualitativer Unterschied: Wissenschaft muss auf Fakten beruhen, Meinung kann sich mit Spekulation begnügen. Wenn eine Meinung aber rein spekulativ bleibt, kann sie keinen Anspruch auf Wahrheit erheben. Mit diesem Sachverhalt geht z.B. die zeitgenössische Medienberichterstattung nicht mehr sorgfältig um, indem Tatsachen und Meinungen oft nicht klar voneinander abgegrenzt werden: ein Resultat postmodernen Denkens. Sogar in der Rechtssprechung kommt es vor, dass Behauptungen, die in den Medien weiterverbreitet werden, nicht mehr auf ihren Tatsachengehalt hin überprüft werden. Unwahrheiten dürfen weiterverbreitet werden, weil sie lediglich Wertungen der Autoren darstellten. Nur weiss dann das Publikum nicht, dass es sich bei den als Fakten dargestellten Aussagen nur um subjektive Wertungen oder Vorurteile handelt.
Eine weitere Kategorie postmodernen Denkens stellt der Bruch mit der Geschichte dar. Die Geschichte sei nicht als eine Fortschrittsgeschichte anzusehen, da die neuzeitliche Geschichte mit ihrer repressiven Wissenschaft zu den Zerstörungen des 20. Jahrhunderts geführt habe. Die neuzeitliche Moderne mit ihren „grossen Erzählungen“ müsse verabschiedet werden. In der Postmoderne könne man sich nicht mehr auf eine Wahrheit und ein Fundament beziehen. Die Geschichte stelle überhaupt keine einheitliche, kontinuierliche Bewegung in Richtung eines Fortschritts dar. Sie bestehe aus einzelnen verstreuten Ereignissen ohne übergreifenden Zusammenhang. Auch werde sie nicht von Subjekten gemacht. Ein solcher historischer Relativismus relativiert auch die bewährten Werte, die dem demokratischen Rechtsstaat zugrundeliegen. Alles Geltende bezieht sich nur auf eine bestimmte Zeitdauer. Damit wird das geschichtliche Denken preisgegeben. Die heutige Situation der Menschheit wird von ihrem historischen Hintergrund abgeschnitten. Damit werden aber auch historische Errungenschaften und Erkenntnisse, oder die Institutionen des demokratischen Rechtsstaates in ihrem Wert negiert. Gerade im Blick auf die heutige Schul’reform‘ kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass eine derartige Sicht der Historie zum Zug kommt: Was im Laufe der Geschichte der Pädagogik entwickelt wurde und sich in langen Jahren pädagogischer Praxis bewährt hat, wird kaltblütig über Bord geworfen. So z.B. die psychologisch fundierten Erkenntnisse über die Bedeutung der Lehrerpersönlichkeit oder bestimmte pädagogisch sinnvolle Prinzipien und Methoden wie der Klassenunterricht als eine verschiedene Methoden umfassende und übergreifende Unterrichtsform.
Nach Foucault solle alles, was die Geschichte als eine kontinuierliche Bewegung erfasse, zerbrochen werden. Die Erforschung der Herkunft diene allein einem subversiven Ziel: Gewissheiten sollen aufgelöst, Fundamente gesprengt werden. Die Historie solle beunruhigen und verunsichern. Eine historistische Sicht diene dazu, die Werte zu zersetzen. Die Geschichte solle überhaupt vom „Modell des Gedächtnisses“ befreit werden. Foucault wünscht also eine Amnesie – wozu?
Gerade die Pädagogik kann auf ihre historische Dimension nicht verzichten, betont Hager in seiner Kritik am Historismus. Wer die Geschichte nicht kennt, versteht auch die heutige Situation nicht. Und wer die Geschichte der Pädagogik mit ihrem reichhaltigen Erfahrungsschatz und die in ihr aufgeworfenen und je anders gelösten pädagogischen Fragen nicht kennt, kann auch die heutige Erziehungswirklichkeit oder pädagogische Theorien nicht beurteilen. Er versteht den historischen Zusammenhang nicht.
„… dass so wie der Mensch ein geschichtliches Wesen ist und in den sämtlichen Aspekten und Phänomenen seiner aktuellen Wirklichkeit gar nicht verständlich ist ohne den geschichtlichen Hintergrund, der zur Gegenwart geführt hat, so auch die Erziehungswirklichkeit des Menschen und (zumindest in gewisser Weise auch) die im Zusammenhang mit ihr sich ergebenden grundsätzlichen Fragen geschichtlich geworden sind. Wer also die Geschichte der Erziehungs- und Bildungspraxis und die Geschichte des grundsätzlichen Nachdenkens über sie nicht kennt, dem wird sich das Verständnis für die Zusammenhänge der Erziehungswirklichkeit und ihrer Theorie, so wie sie sich heute darstellen, nur schwer erschliessen.“[902]
Konsequenzen postmoderner Philosophie für die Pädagogik
Einleitung
Im letzten, pädagogischen Teil unserer Arbeit werden die Konsequenzen der postmodernen Ansätze in der Philosophie, wie sie in Teil II dargestellt wurden, für die Pädagogik herausgearbeitet. Zuerst werden mögliche Konsequenzen des postmodernen Angriffs auf die Grundlagen der pädagogischen Theorie für folgende pädagogische Hauptbereiche überlegt: für die Lehrer-Schüler-Beziehung, die Lehrerpersönlichkeit als Vorbild, die pädagogische Ethik, die Frage der Begründung der Erziehung und ihrer Normen und Ziele und das Verständnis von Bildung und Wissensvermittlung. Gleichzeitig soll daraus unser Verständnis dieser pädagogischen Bereiche hervorgehen, das von bestimmten philosophisch-anthropologischen Voraussetzungen pädagogischer Theorie ausgeht, wie sie in Teil I dargestellt wurden.
Wie wird in der Erziehungswissenschaft die postmoderne Philosophie für die Pädagogik rezipiert? interessiert uns im nächsten Kapitel. Anschliessend stellen wir drei Beispiele von Entwürfen für eine postmoderne Pädagogik vor. Gibt es schon postmoderne Tendenzen in der pädagogischen Praxis? Diese Frage wird in einem weiteren Kapitel untersucht. Dabei wird immer auch der Bezug zu unseren herausgearbeiteten Merkmalen oder Kategorien postmodernen Denkens hergestellt. Lassen sich diese Kategorien in der erziehungswissenschaftlichen Debatte, in den Entwürfen für eine postmoderne Pädagogik oder auch in gewissen Strömungen aus der pädagogischen Praxis auffinden? Werden sie in der Erziehungswissenschaft ebenfalls als zentrale Angriffspunkte der postmodernen Philosophie auf die Pädagogik beurteilt?
Die diesbezüglichen Fragen an die Pädagogik können eher angerissen, denn ausführlich beantwortet werden. Dazu kommt, dass die Postmoderne-Rezeption in der Erziehungswissenschaft – in kritischer Absicht wie auch als Affirmation – noch relativ jung ist. Es würde sich in einer weiteren Arbeit lohnen, einzelne Punkte zu vertiefen.
Postmoderne Theorien wurden im deutschen Sprachraum erst in den letzten zehn Jahren auch von der Pädagogik rezipiert. Die Auseinandersetzung der Pädagogik mit postmodernem Denken begann mit einer gewissen Verzögerung im Vergleich zu anderen Fachbereichen wie Architektur, Literatur, Kunst oder Philosophie.[903] Der Beginn der erziehungswissenschaftlichen Debatte wird im allgemeinen mit der Auseinandersetzung im Themenheft „Pädagogik und Postmoderne“ der renommierten Zeitschrift für Pädagogik im Jahr 1987 angegeben.[904] Vorher sind nur vereinzelte Beiträge in der Fachwissenschaft zu verzeichnen.[905] In den USA findet dagegen schon seit den siebziger Jahren eine Auseinandersetzung mit postmodernen Theorien in der Erziehungswissenschaft statt. Es existiert daher für den englischsprachigen Raum mehr Literatur zu diesem Thema.[906] Für die pädagogische Praxis wurden verschiedene postmoderne Ansätze konstruiert, so im Bereich der Methoden oder der Lehrer-Schülerrolle, des Lernens etc.
Wenn wir Bedeutung und Relevanz des postmodernen Denkens für die Pädagogik überlegen, stellen sich folgende Fragen: Was bedeutet es für die Pädagogik, wenn grundlegende Kategorien ihrer Theorie und Praxis in Frage gestellt werden? So zum Beispiel Anthropologie, Personalität, Vernunft, universelle Moral, allgemeinverbindliche Werte und Normen, Wissenschaftlichkeit, Fortschritt durch Bildung und Erziehung u.a.m. Wenn postmoderne Theorien in die Pädagogik hineingetragen werden, ist dies sehr relevant für die Pädagogik. So urteilte Andreas Flitner 1986:
„Die Diskussion über ‘Moderne’ und ‘Postmoderne’, wie sie in der Philosophie, in der Literatur- und Kunsttheorie vorangetrieben wird, hat auch für die Pädagogik Bedeutung – steht darin doch ihre eigene Grundlage, das Denken und die Tradition der Aufklärung, zur Debatte, darüber hinaus aber so wichtige und akute Streitthemen wie technischer Wandel und Normendebatte, Wohlfahrtsstaat und Arbeitslosigkeit, Umwelt und Städtebau: im Grunde alle Fragen des modernen und des traditionsorientierten Lebensgefühls und der damit einhergehenden Einstellung zur Erziehung.“[907]
Die Pädagogik gilt mit ihrer Begründung auf der Erziehbarkeit und Vernunftfähigkeit des Menschen als Kind der Aufklärung. Aus diesen anthropologischen Grundannahmen erwuchs ein Optimismus, den jungen Menschen zu einem selbständig denkenden und handelnden, sittlichen Individuum heranbilden zu können. Die Postmoderne erklärt diese Tradition der Aufklärung oder der Moderne in der Pädagogik als hinfällig und die damit verbundenen Hoffnungen auf eine sittliche Emporbildung der Menschheit als gescheitert.
Bezüglich der Auswirkungen der postmodernen Theorien auf die Pädagogik interessieren uns die folgenden Fragestellungen:
Welche Konsequenzen ergeben sich für die Pädagogik aus den postmodernen Ansätzen in der Philosophie? Wie wird das postmoderne Denken von Erziehungswissenschaftern auf die Pädagogik übertragen? Gibt es dabei Entsprechungen zu den im zweiten Teil dieser Arbeit herausgearbeiteten Kategorien für postmodernes Denken? Sind schon postmoderne Tendenzen in der Erziehungswissenschaft erkennbar? Auf welche pädagogischen Bereiche beziehen sie sich? Finden sich in der aktuellen pädagogischen Praxis schon postmoderne Tendenzen? Mit welchen Merkmalen?
Gemäss diesen Leitfragen ergibt sich folgende Gliederung des Kapitels über die Konsequenzen postmoderner Theorien für die Pädagogik:
III.1. Konsequenzen postmoderner Philosophie für die Pädagogik
III.3. Beiträge aus der erziehungswissenschaftlichen Debatte über die Postmoderne
III.2. Entwürfe für eine postmoderne Pädagogik
III.4. Postmoderne Tendenzen in der aktuellen Pädagogik
III.5. Ergebnisse für die Hauptbereiche der Pädagogik
Konsequenzen postmoderner Philosophie für die Pädagogik
In der Pädagogik geht es zuerst und vor allem um Menschen. Erziehung und Unterricht spielen sich in der Beziehung zwischen Menschen ab, geschehen zwischen Personen. „Wer danach fragt, was denn in der Erziehung geschehe, fragt immer nach dem Menschen in der Erziehung. Nur aus dem Menschsein im Ganzen kann Erziehung ihren Sinn erhalten.“[908] So stellt die philosophische Anthropologie mit ihren Aussagen über das Wesen des Menschen eine zentrale Voraussetzung pädagogischer Theorie dar. In den Fragen von Erziehungszielen, von Lernzielen und Lerninhalten, von Methodik und Didaktik oder einer pädagogischen Ethik, ist ein Menschenbild als zugrundeliegende Vorannahme immer schon miteingeschlossen, wie Hager betont:
„Jedes theoretische pädagogische Konzept, jede ausgearbeitete wissenschaftliche Theorie über Wesen und Ziel der Erziehung wird immer von einem bestimmten grundsätzlichen Menschenbild, von einer philosophischen Sicht über Wesen und Bestimmung des Menschen, über seine Freiheit und seine grundsätzlichen Möglichkeiten ausgehen müssen und wird ihre wichtigsten Aussagen auch immer im Rahmen einer philosophischen Gesamtdeutung der Wirklichkeit einordnen und entfalten müssen.“[909]
In diesem Sinne soll auch als erstes nach den Konsequenzen postmoderner Theorien auf das Menschenbild in der Pädagogik gefragt werden. Wir haben im Teil I unserer Arbeit bestimmte philosophisch-anthropologische Voraussetzungen pädagogischer Theorie aus der europäischen Tradition dargestellt: Vernunft und Freiheit, Tugend und Sittlichkeit als universelle Werte und Grundlagen des Menschseins. Wir haben gesehen, wie sie im Laufe der Geistesgeschichte als solche erkannt worden sind, und auch, wie sie historisch verschieden interpretiert und im jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Rahmen unterschiedliche Akzente erhielten. Vernunft, Freiheit und Sittlichkeit galten in der philosophischen und pädagogischen Tradition einer personalen Auffassung des Menschen als natürliche Eigenschaften und Werte des Menschseins. Durch Erziehung und Bildung können sie in der Persönlichkeit entwickelt und individuell ausgeformt werden.
Hier, an dieser zentralen Dimension für die Pädagogik, der Frage des Menschenbildes, setzt die Postmoderne an: sie anerkennt keine Natur des Menschen. „Den Menschen“, im Sinne universeller Konstanten des menschlichen Wesens gebe es nicht. Dies war schon die Auffassung des Marxismus. Die Postmoderne schliesst hier an und geht noch darüber hinaus: Auch der einzelne Mensch bedürfe keiner einheitlichen Identität – im Gegenteil, eine solche müsse geradezu aufgelöst werden. Die Theorie der „Sprachspiele“ wird auch auf das Innere der Menschen übertragen: Man spricht vom dezentrierten Subjekt. Postmoderne Menschen würden in sich selbst von verschiedenen Identitäten durchkreuzt. Welsch nennt dies in Anlehnung an Bell „crosscutting identities“.[910] „Postmoderne Subjekte verbinden unterschiedliche Paradigmen und sind zu Übergängen besonders befähigt. Transversalität wird zu ihrem ausgezeichneten Vermögen. (…) Der Mensch der Postmoderne ist (…) eine Figur des Übergangs und der Verknüpfung verschiedener Möglichkeiten.“[911] Derselbe Mensch könne in unterschiedlichen „Welten“ und Sinnsystemen verschiedene Identitäten annehmen, diese wieder abändern und spielerisch neue erfinden. Im Laufe ihres Lebens „erproben“ postmoderne Individuen ganz unterschiedliche Lebensformen: „… dass Individuen in Zukunft verstärkt nicht mehr bloss eine Existenzform verfolgen, sondern mehrere erproben werden. Postmoderne Subjektivität und Identität konstituieren sich nicht ausschliesslich innerhalb einzelner Lebensformen, sondern gerade im Übergang zwischen ihnen.“[912] Der postmoderne Mensch erfindet sich selber. Andere postmoderne Theorien postulieren, dass der Mensch von Trieben und Strukturen (sprachlichen, sozialen, ethnischen und anderen) beherrscht und keine freie Persönlichkeit sei. Der Mensch sei weder Ganzheit noch Person. Es sei gleichgültig, welche Lebensform jemand vorziehe, z.B. Homosexualität oder Bisexualität, ein Dasein als „Single“ oder die Ehe. Normalität wird kategorisch als Zwang abgelehnt, was sich auch auf seelische Gesundheit und Krankheit bezieht: habe doch die Vernunft den Wahnsinn ausgegrenzt. So anerkennt man in postmodernen Theorien keine Unterscheidung zwischen dem Menschen zuträglichen oder ihn schwächenden Verhaltensweisen und Gefühlszuständen. Es gebe keinen Massstab dafür.
Die einen Theorien sprechen dem Menschen eine Freiheit der Wahl zu, die bis in die Konstitution einer beliebigen Identität reicht, während andere, triebtheoretische Vorstellungen die freie Entscheidungsmöglichkeit des Menschen negieren. So flottieren postmoderne Menschenbilder zwischen neomarxistisch-freudianisch-ethnologisch begründetem Determinismus und einer Art radikalem Konstruktivismus. Die Menschenbilder der Postmoderne sind in sich widersprüchlich, was natürlich zum postmodernen Geisteszustand (Lyotard) dazugehört.
Was bedeutet dieses anthropologische Chaos nun für die Pädagogik? Offensichtlich ist, dass keine einheitlichen Erziehungsziele gewonnen werden können, wenn der Mensch sich je nach Bedarf selber konstituiere. Welchen Schüler soll der Lehrer ansprechen, etwa ein dezentriertes Subjekt, und darin welche der verschiedenen Identitätsbruchstücke? Ja darf der Lehrer überhaupt erziehen? Es dürfen ja keine Erziehungsziele gesetzt, bzw. aus der Tradition übernommen werden, wenn jeder seine eigene Persönlichkeit entwirft. Dazu ist anzumerken, dass der Mensch nicht beliebig formbar ist. Es gibt Gefühlszustände und Lebensstile, die der menschlichen Natur adäquat sind und andere, die ihr nicht entsprechen. Deshalb bedeutet z.B. eine depressive Stimmungslage auch ein Leiden für den Betroffenen. Desgleichen können bestimmte Beziehungsformen in der Ehe, z.B. sadomasochistische, die gesamte psychische Verfassung eines Menschen – auch in seinen anderen Lebensbereichen – beeinträchtigen. Es ist zudem fraglich, ob es überhaupt möglich ist, beliebige „Identitäten“ selber zu konstruieren.
Ohne Erziehungsziel kann aber nicht erzogen werden. Da die pädagogische Tradition nur eine „grosse Erzählung“ darstelle, habe sie keinen verbindlichen Charakter mehr, wird postmodern behauptet. Damit wird das neuzeitliche Persönlichkeitsideal der Entwicklung zur sittlich-autonomen Persönlichkeit durch Erziehung und Bildung, wie es z.B. Kant formulierte, aufgegeben. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Meinungen haben postmodern gleiche Geltung: Erziehungsziele und Erziehungsinhalte werden zu Meinungsfragen, desgleichen anthropologisches Wissen. Wie kann ein Lehrer aber die Beziehung zu seinen Schülern gestalten, wenn er nicht weiss, wen er vor sich hat? Ist das Kind ein Triebwesen, das seine Bedürfnisse sofort erfüllen muss? Oder ist es ein Beziehungswesen, das Anerkennung und mitmenschliches Echo möchte? Hierzu ist gleich zu sagen, dass die Postmoderne die Beziehungsdimension beim Menschen weitgehend ausklammert. Wie am Beispiel von Pestalozzi dargelegt wurde, stellt die Beziehung zwischen Erwachsenem und Kind die zentrale Dimension der Erziehung dar. Diese Tatsache wurde im Laufe der Geschichte der Pädagogik erkannt und in die Praxis umgesetzt. Ermutigung und Förderung der Schüler geschehen in einer vom Lehrer einfühlsam gestalteten zwischenmenschlichen Beziehung, im Dialog zwischen Lehrer und Schülern. Nach Adler besteht deshalb die „… wichtigste Aufgabe des Erziehers (…) darin, Sorge zu tragen, dass kein Kind in der Schule entmutigt wird und dass ein Kind, das bereits entmutigt in die Schule eintritt, durch seine Schule und durch seinen Lehrer Vertrauen in sich selbst gewinnt.“[913]
Wie verhält es sich mit der Vorbildrolle des Lehrers? Von der Lehrerpersönlichkeit hängt die Qualität des Unterrichts und der Erziehungsaufgabe ab: Es liegt am Lehrer, eine wohlwollende Atmosphäre in der Klasse zu schaffen, eine Stimmung, in der angstfrei gelernt werden kann. Junge Menschen sind natürlicherweise auf Erwachsene ausgerichtet, ob sie es nun zeigen oder nicht. Ein Schüler kann sich jedoch nicht am Lehrer orientieren, wenn er nach Lust und Laune eine neue Identität oder plurale Identitäten konstruieren soll. Der Lehrer wiederum darf nichts Allgemeinverbindliches, wie z.B. mitmenschliche Werte, vorleben, denn es handle sich dabei ja nur um „Erzählungen“. Der Lehrer kann nicht mehr erzieherisch arbeiten, wenn er keine Beziehung zu den Schülern aufbauen und nicht mehr Vorbild sein darf. Wenn er sich in seiner Persönlichkeit völlig zurücknehmen und alles zur Diskussion stellen muss, kann er nicht mehr unterrichten. Die Kinder erhalten dadurch keine Orientierung und werden sich selbst überlassen. Sie können keine stabile Identität entwickeln. Wozu soll das gut sein?
Bei Lyotard gibt es entsprechende Hinweise darauf, dass in der zukünftigen Informationsgesellschaft der Computer den Lehrer weitgehend ersetzen könnte: Lernende suchen sich ihre Informationen aus Datenbanken zusammen. So klammert Lyotard den Beziehungsaspekt aus der Schule aus. Foucault lehnt die Schule grundsätzlich als „Disziplinierungsanstalt“ und „totale Institution“ ab. Andere postmoderne Autoren wollen die Schule dazu instrumentalisieren, bei den Schülern Bewusstseinsveränderungen herbeizuführen, um einen postmodernen Geisteszustand herzustellen. Da Autoren, wie z.B. Welsch, den Menschen der Postmoderne entwerfen und ihm bestimmte Eigenschaften zuschreiben, muss angenommen werden, dass diese Vorstellungen in der Erziehung umgesetzt werden sollen. „Die Dekonstruktion des Subjekts, wie sie von postmodernen Denkern propagiert (…) wird, hat eigentlich eine Transformation des Subjekts zum Ziel (…).“[914] Hier zeigt sich, dass doch allgemeine Erziehungsziele konstruiert werden: es sind kulturrevolutionäre.
Welche Konsequenzen haben nun der postmoderne Relativismus der Werte und die Ablehnung allgemeingültiger Prinzipien für die Pädagogik? Wieder können nur einige Auswirkungen angesprochen werden. Pädagogisches Handeln, wie jedes menschliche Tun und Lassen, orientiert sich an Werten. „Werte spielen als moralische Tatsachen in der pädagogischen Forschung eine herausragende Rolle (…) und zwar in mindestens vier Bereichen: im terminologischen Bereich, im methodologischen Bereich, im Objektbereich der Erziehungswissenschaft und im Bereich der Erzieherethik.“[915] Dies gilt für die Ziele der Erziehung, oder für die zu vermittelnden Werte des Zusammenlebens, für den Umgang des Erwachsenen mit dem Kind oder der Kinder untereinander, es gilt auch für die Auswahl des Lernstoffes etc. Der Mensch steht in der Wirklichkeit, zu der er sich wertend verhält. Erziehen und Sollen gründen in der Wirklichkeit, auf die bezogen der Mensch Entscheidungen trifft, und im Sein des Menschen. Die pädagogisch-ethische Grundlage des Erziehens ist die Wirklichkeit selbst. Werte und Normen sind also keine abgehobenen, metaphyischen Ideen, die willkürlich vorgegeben und historisch kontingent sind, wie postmoderne Autoren sagen. Normen als Regeln menschlichen Handelns können natürlich auch dem Wandel der Zeit unterworfen sein oder zu einer bestimmten Institution gehören. Sie stellen aber kein Disziplinierungsmittel oder eine machtförmige Zurichtung zu einer Normalität dar. Will man erziehen und unterrichten, muss geklärt sein, welche Werte gelten sollen. Wir können heute auf einen reichhaltigen Fundus von Werten aus dem europäischen Kulturkreis zurückgreifen, die sich für das Zusammenleben der Menschen konstruktiv ausgewirkt haben, und auf denen unsere demokratischen Institutionen beruhen. So soll z.B. die Volksschule eine Bildung für alle ermöglichen. Die Auswahl der grundlegenden Werte für die Erziehung ist also keinesfalls beliebig. Sie ergeben sich aus der Natur des Menschen und der Tatsache der sozialen Strukturiertheit der menschlichen Lebensweise: es sind „Werte des Menschseins“ (Hager). Solche anthropologisch begründeten Werte sind: Mitmenschlichkeit, Achtung vor dem Anderen, Toleranz, Hilfsbereitschaft, Kooperationsfähigkeit, Freude am Lernen, Verantwortungsbewusstsein, Friedfertigkeit, und andere. Werte sind keine rational von Fall zu Fall anzuwendenden Entscheidungsmassstäbe, sie werden im Verlauf der Sozialisation in die Persönlichkeit integriert. Als emotional verankerte Grundeinstellungen eines Menschen leiten sie sein Verhalten in einzelnen Situationen.
Für die Pädagogik bedeutet die Tatsache, dass die Werthaltungen eines Menschen in der Persönlichkeit emotional gebunden sind, dass Werte nicht einfach rational-argumentativ vermittelt werden können. Der Lehrer muss sie selber leben und in der Beziehung zu seinen Schülern vorleben. Der Prozess der Wertevermittlung ist sehr komplex, er verläuft über die mitmenschliche Beziehung zwischen Lehrer und Schülern. Das Kind muss zum Lehrer erst einmal Vertrauen fassen können und erleben, dass er es versteht. Die Vorbildfunktion des Lehrers spielt eine grosse Rolle. Nun sind wir schon mitten im Thema der pädagogischen Ethik. Braun erachtet als etwas
„… ganz Wesentliches für eine grundlegende Ethik das Wohlwollen als die Urintention des Menschen. Sie spielt in der Pädagogik seit Jean-Jacques Rousseau eine bedeutende, wenn nicht entscheidende Rolle. (…) Wohlwollen ist das, was der Mensch selber anderen Menschen, aber auch Sachen entgegenzubringen hat, was er aber auch von anderen erwarten kann. (…) Die Haltung des wohlwollenden Menschen zu den Mitmenschen und Dingen ist Mitmenschlichkeit und Sachlichkeit. (…) Wenn wir so wollen, können wir diese beiden auch als die ‘Grundtugenden’ bezeichnen, von denen alle anderen sich ableiten.“[916]
Das Wohlwollen ist die angemessene Gefühlseinstellung gegenüber dem zu erziehenden Menschen angesichts seines Menschseins, in dem er dem Erzieher gleich ist.[917]
Die Ethik in der Pädagogik umfasst all jene Fragen, die darum kreisen, wie der junge Mensch gefördert werden kann, und welche Haltungen und Fähigkeiten der Lehrer braucht, um zum Wohl des Kindes handeln zu können, denn „… es geht um eine Erziehung, die an Werten orientiert ist, die Richtlinien und Beispiele gibt für ein Leben als Person und in der Gemeinschaft, und die auch noch für die Krisen des Lebens die Hoffnung bereithält.“[918] Von konkreten praktischen Situationen und Problemstellungen ausgehend erwachsen Fragen, die bis in die ethische Dimension hineinreichen. Zum Beispiel kommt es darauf an, wie der Lehrer auf Streitigkeiten zwischen Kindern eingeht. Soll er die Schüler einfach Kämpfe austragen lassen, nach dem Motto ‘der Stärkere gewinnt’ oder sie dazu anleiten, ihre Konflikte auf friedliche Art zu lösen? Im ersten Fall kann dies zu einer nervösen Stimmung in der Klasse führen, wobei die einen Kinder Angst vor den anderen haben und eine Art Faustrecht herrscht. Im zweiten Fall erwerben sie lebenspraktische Fähigkeiten, um zwischenmenschliche Probleme ohne Gewaltanwendung zu lösen. Nach postmoderner relativistischer Auffassung dürfte es hierfür keine universelle Entscheidungsregel geben. (Es existiert keine allgemeingültige Metaregel für unterschiedliche Diskurse.) Es wäre folglich gleichgültig, ob Gewalt oder friedliche Konfliktlösung angewendet wird. Eine allgemeingültige Ethik wird postmodern sowieso abgelehnt. Der Angelpunkt ist immer die Auffassung vom Menschen: An unserem Beispiel: Ist der Mensch ein aggressives Wesen, muss er ‘Dampf ablassen’ oder ist er im Grunde gern friedfertig und durch (emotional gestützte) Vernunfteinsicht auch zu friedlichem Verhalten fähig? Postmoderne Theorien postulieren höchstens „Ethiken“, unterschiedliche je nach Sprachspiel oder aufgrund von Verhandlungen. Da aber der Konsens z.B. nach Lyotard ein veralteter Wert sei, könnte man sich nicht einmal auf eine „situative Ethik“ einigen. Wobei eine situative Ethik gar keine mehr ist, denn Moral und Ethik haben Allgemeingültigkeitscharakter. Moral ist nach Zecha „… jenes System von Werturteilen und Normen, das den überzeitlich gültigen und interkulturell ordnenden Rahmen für das menschliche Handeln darstellt.“[919]
Gerade in der Erziehung von jungen Menschen würde die Relativierung von Wertorientierungen gravierende Folgen haben. Zum einen für den jungen Menschen selbst, der ohne Wertsicherheit den verschiedenen Einflüssen von aussen ausgeliefert wäre. Die Wertfrage hängt auch eng mit der Sinnfrage zusammen: Wie soll der junge Mensch später seinem Leben einen Sinn geben, der mehr Erfüllung bringt als die rastlose Suche nach Befriedigung egozentrischer Wünsche, dem heutigen Zeitgeist entsprechend? Zum anderen wäre dadurch die Erhaltung und Weiterentwicklung der rechtsstaatlichen Demokratie durch die nächste Generation gefährdet.
Wer sein Leben nach den Werten der christlich-abendländischen Kultur ausrichtet, hat von postmoderner Seite die Verunglimpfung, „fundamentalistisch“ zu sein, zu gewärtigen. Es wird suggeriert, die Anderen (Kulturen, Lebensformen) würden durch einen sicheren Wertestandpunkt ausgegrenzt. Jede Kultur solle auch ihre eigenen Werte leben. Die „multikulturelle Gesellschaft“ wird geschaffen. Es ist nichts dagegen einzuwenden, dass alle Bevölkerungsgruppen ihre Werte leben können sollen, doch eine demokratische Gesellschaft braucht gewisse Grundwerte und Grundnormen, um überhaupt bestehen zu können. Ist dieser Konsens nicht mehr vorhanden, zerfällt eine Gesellschaft, oder Gewalt breitet sich aus. Krieg und Totalitarismus könnte die Folge sein. Wozu führt es, wenn als „oberste Regel“ der Dissens propagiert wird? Oder lokale, partikulare Regeln, so dass z.B. jede Untergruppe einer Gesellschaft ihre eigenen Werte und Normen hat? Wir sind heute auf dem besten Wege dazu. Für die Schule bedeutet ein Wertechaos, dass keine Klassengemeinschaft entstehen kann. Was für die einen gut sei, sei für die anderen schlecht (vielleicht kulturell kontingent oder geschlechtsabhängig). Interessengegensätze nehmen überhand. Es gibt keine gemeinsame Basis mehr, um sich einigen zu können. Die mächtigste, sprich gewalttätigste Gruppe, wird den Ton angeben. Dass in einer derartigen Situation nicht mehr unterrichtet werden kann, liegt auf der Hand. Postmodern wird, wie wir weiter unten zeigen werden, tatsächlich die ganze Auffassung von Schule und Unterricht radikal verändert. Es darf aber kurz darauf hingewiesen werden, dass wir auch in einer multikulturellen Schulklasse oder an einer solchen Schule insgesamt, durchaus gemeinsame Werte zur Verfügung haben. Jede Schülerin und jeder Schüler ist auch Mensch und ein Individuum, und deshalb gelten die obenerwähnten Wertorientierungen für alle, unabhängig von Kultur oder Geschlecht. Auf den gemeinsamen Werten des Menschseins lässt sich eine schöne und konstruktive Basis der Zusammenarbeit aufbauen. Jeder kann dann wiederum aus seiner Kultur und seinem individuellen persönlichen Hintergrund zur Reichhaltigkeit des Klassenlebens beitragen und dadurch den Horizont der einzelnen Kollegen erweitern.
Die Postmoderne führt einen scharfen Angriff auf die Werte der christlich-abendländischen Kultur, die Aufklärung mitinbegriffen. Sie will einen eigentlichen Bruch mit der Tradition erreichen. Sloterdijk äussert sich z.B. abschätzig über die Moral mit ihren universellen Grundlagen. Er plädiert für die Ersetzung von Moral und Gewissen, die er freudo-marxistisch als Zwänge des Über-Ich interpretiert, durch eine unverbindliche, amoralische Lebenshaltung. Er nennt es „… die Kunst, sich in den Zwischenwelten und Widersprüchen der verselbständigten und gegeneinanderstehenden Wertbereiche mit dem geringsten Ergebnis an wirklichem Bösen und menschlichem Schaden zu bewegen.“[920] Wir finden auch bei Lyotard eine entsprechende Beschreibung des postmodernen Individuums. Gefragt sei eine „sveltezza“ als Charaktereigenschaft, eine Raschheit und Gewandtheit, sich zwischen den verschiedenen Welten und Sprachspielen hindurchzuschlängeln.[921] Nach Welsch wird in der „Prozessform postmodernen Lebens“[922] eine solche Fähigkeit gebraucht, um zwischen verschiedenen Sinnsystemen wechseln („übergehen“) zu können. Diese gewünschte Eigenschaft sei nochmals unter dem Aspekt der Werteorientierung, bzw. Wertezerstörung in der Erziehung betrachtet: Es fehlt hier die ganze Dimension des Interesses am anderen Menschen und des Mitgefühls. Ein Minimalismus, der nur noch darnach trachtet, möglichst wenig Schaden anzurichten, ist eine asoziale Einstellung. Es geht um ein (vermeintliches) Eigeninteresse, das Wohl des Anderen ist mir egal. Ich schaue, wie ich am besten in den verschiedenen „Welten“ zurechtkomme oder darin Karriere mache, spiele mal die eine, mal die andere Rolle. Kennt man diese Einstellung nicht auch unter dem Begriff „Wendehals“? Handkehrum beklagt man sich in postmodernem Gestus, der Andere und das Andere werde nicht geachtet. Sollen solcherart fühlende und denkende Individuen herangezogen werden? Müsste man als Erzieher nicht eher den heute schon bei Kindern verbreiteten Egozentrismus wieder in gesündere Bahnen lenken?
Was sind die Konsequenzen der postmodernen Verabschiedung der Vernunft für die Pädagogik?
Wie im Philosophisch‑Anthropologischen Teil dieser Arbeit und im Kapitel „Der postmoderne Angriff auf die Vernunft“ ausführlich dargelegt wurde, gehört die Vernunft ein wesentlich zur menschlichen Person. Dies muss hier nicht mehr weiter ausgeführt werden. Für die Pädagogik relevant ist, dass der „Glaube an die Vernünftigkeit und Erziehbarkeit des Menschen“ (Hager) eine grundlegende Voraussetzung von Bildung und Erziehung darstellt. Der junge Mensch kann als Vernunftwesen angesprochen werden und ist der Belehrung zugänglich, wie schon Aristoteles erkannte. Belehrung braucht es, um die erkennende Vernunft zu entwickeln. Eine sozial durchbildete Vernunft lässt das Gute erkennen und ist Grundlage der Urteilsfähigkeit. Die Aufgabe der Erziehung ist es, die Vernunft beim jungen Menschen heranzubilden. Der Begriff „pädagogische Vernunft“ bezieht sich auf die Aufgabe des Erziehers, da Erziehung vernünftiges und begründetes Handeln sein muss. Wie die sittliche Vernunft beim Heranwachsenden herangebildet werden könne, ist immer eine zentrale Frage in der Geschichte der Pädagogik gewesen.[923] Man hat schon früh erkannt, dass diese Aufgabe ausgesprochen anspruchsvoll ist und in Theorie und Praxis weiter erforscht und entwickelt werden muss.
Aus der Vielfalt postmoderner Argumente zur Verabschiedung der Vernunft können nur einige Beispiele ausgewählt werden, die relevant für die Pädagogik sind. Unter dem Stichwort „Vielfalt der Rationalitätstypen“ wird die eine Vernunft als totalitär gebrandmarkt. Es gebe viele Möglichkeiten des Vernünftigen. Dies hat zur Konsequenz, dass nicht mehr beurteilt werden kann, was vernünftig ist. Für die einen erscheint eine Handlung vernünftig, die den anderen unvernünftig erscheint. Das Allgemeingültige, was die Vernunft repräsentiert, wird als dogmatische Normativität denunziert. Im Sinne der pluralen Traditionen und Sprachspiele ist die Vernunft eine Tradition unter anderen. Sie darf keinen Massstab mehr zur Verfügung stellen. Ihre inhaltliche Bestimmung entfällt. Vernunft, wie sie in der europäischen Tradition verstanden wird, ist als praktische Vernunft auf die Sittlichkeit hin orientiert. Heute wird der Begriff der Vernunft häufig mit dem der Rationalität gleichgesetzt, obwohl die beiden Begriffe Unterschiedliches bezeichnen, wie weiter oben gezeigt wurde. Zum Teil haben Irrationales und Vernünftiges gleiche Geltung. Diese Umdeutung des Vernunftbegriffs zerstört das Ziel und die Möglichkeit der Ausrichtung auf ein ‘gutes Leben’, auf sittlich-moralische Zwecke. Sie können nicht einmal mehr erkannt werden. Dem Erzieher ergibt sich keine Orientierung mehr, woraufhin er erziehen soll, und dem jungen Menschen wird die Möglichkeit der Selbstbestimmung genommen. Er kann keine sittlich-autonome und kritische Vernunft entwickeln. Womit soll er dann unabhängig denken und urteilen? Das Erziehungsziel der selbständigen Persönlichkeit wird nicht mehr verwirklicht werden können.
Wenn die Vernunft als Unterdrückungsinstanz ausgegeben wird, wie bei Foucault oder Sloterdijk, muss konsequenterweise nicht nur die Heranbildung der Vernunft als Erziehungsziel aufgegeben werden, sondern der Mensch muss auch von seiner „repressiven“ Vernunft befreit werden. Damit hängt die Frage des Gewissens eng zusammen, wird dieses doch postmodern als Inbegriff der innerpsychischen Unterdrückung angesehen. Im Gewissen seien die moralischen Normzwänge verinnerlicht. Der Mensch müsse also von seinem Gewissen „befreit“ werden. Es werden auch schon einschlägige Techniken praktiziert, um dieses Ziel bei Kindern in der Schule zu erreichen (vgl. Kap. III.4., III.5.) Die Postmoderne hebt auf einen individualistischen Subjektivismus ab: Jeder entscheidet für sich selbst, was er gut oder schlecht findet. Jeder soll im Sinne der „Differenz“ möglichst anders sein als die anderen und sich seine eigenen Lebensregeln geben. Diese variieren wiederum je nach der „Welt“, in der sich jemand gerade bewegt. Es gibt keine vernünftige Lebensführung mehr im Sinne der „sozialen Vernunft“ (Adler), wo das Interesse des Mitmenschen in den eigenen Überlegungen und Handlungen berücksichtigt wird. Von der Verabschiedung der Vernunft ist deshalb gerade die sittlich-moralische, oder mit anderen Worten die soziale Erziehung, im Kern getroffen.
Mit dem Begriff der Vernunft verbindet sich auch das Verständnis der sprachlichen Argumentation und der logischen Denkweise sowie der sachbezogenen Reflexion. In unserem Kulturkreis wurde ein Verständnis von Diskussion, in der die Standpunkte rational begründet werden müssen, entwickelt. Das postmoderne Denken gibt nun den Anspruch auf logische und begründete Argumentation auf. Stattdessen sollen Paralogien und Paradoxien ins Spiel gebracht werden. Die Diskussion von ernsten Sachfragen wird auf die Ebene eines Spiels gebracht. Nach Lyotard ist die Suche nach einem Konsens der Gesprächspartner obsolet geworden, der Konsens ist kein Wert mehr. Dissens heisst die neue Spielregel. Eine Herausforderung für die pädagogische Theorie ist dies sicher, wenn nicht noch mehr. Darf man die Erziehungsfrage dem Streit der Diskurse überlassen, wenn gar keine Einigung erzielt werden soll? Unterschiedliche Erziehungstheorien ohne gemeinsame Basis führen zu differenter Praxis. Da das erzieherische Handeln nicht mehr rational begründet und einem Vernunftanspruch unterstellt werden muss, kann man annehmen, dass dem Experimentieren Tür und Tor geöffnet wird. Die Jugend als Experimentiermasse? Auch in der Pädagogik muss das Handeln wissenschaftlich begründet werden und von anthropologischen Voraussetzungen ausgehen.
Damit kommen wir zur Frage der Wissenschaftsfeindschaft der postmodernen Philosophie und ihrer Konsequenzen für die Pädagogik. Sie wendet sich gegen die Vorstellung von einer erkennbaren Wirklichkeit jenseits von subjektiver Wahrnehmung. Es solle nur noch Wirklichkeiten geben, für jeden seine eigene. Gleich wie jeder Mensch seine eigene Persönlichkeit konstruiere, konstruiere er auch seine eigene Wirklichkeit. Diese Vorstellungen laufen natürlich darauf hinaus, dass kein allgemeingültiges Wissen mehr vermittelt werden kann. Es sei Zwang und Unterdrückung, wenn Wissensinhalte als objektiv gültig, als wahr oder für alle von Bedeutung erklärt werden, wie man das in unserer patriarchalisch-herrschaftlichen abendländischen Kultur tue. Zum Beispiel hätten Frauen einen anderen Zugang zum Wissen als Männer. Sie hätten eine andere Art, Wissenschaft zu betreiben – implizit oder explizit natürlich eine bessere, sanftere nicht ausgrenzende. Eine Vielzahl feministischer Diskurse hat sich stark ans postmoderne Denken angelehnt und es auch beeinflusst.[924] Diese Stimmen bringen sich unüberhörbar in die Diskussionen um die Koedukation und um die Inhalte der Lehrpläne ein. Postmodern konstruiert jeder „Lerner“ sein eigenes Wissen, d.h., er wählt nach Belieben aus, was er wichtig oder interessant – lieber aber lustvoll – findet. Eine relativistische Sicht des Wissens hält Einzug. Die Allgemeinbildung entfällt damit. (Folglich auch die Chancengleichheit). Nur einzelne werden dann noch die geistigen Gehalte unserer literarischen und philosophischen Tradition kennen, aber auch die Fakten der Geschichte, aus der bekanntlich gelernt werden kann.
Wenn der Wissenschaftscharakter der Pädagogik bezweifelt wird, bedeutet dies für die pädagogische Theorie, dass sie kein begründetes Wissen über Mensch und Welt, Erziehung und Unterricht mehr für die Praxis bereitstellen kann, was ihre eigentliche Aufgabe ist. Sie verliert damit den Boden und mündet in einen Relativismus der verschiedenen konkurrierenden Theorien.
Beiträge aus der erziehungswissenschaftlichen Debatte über die Postmoderne
Darstellung verschiedener Positionen
Nach vereinzelten Beiträgen Mitte der 80er Jahre zur Rezeption postmoderner Ansätze für die Pädagogik, wird der Beginn der kontroversen Debatte mit dem Themenheft „Pädagogik und Postmoderne“ der Zeitschrift für Pädagogik[925] im Jahre 1987 angesetzt. Erst mit diesem Themenheft wird „… die Auseinandersetzung um die Postmoderne in einer breiteren pädagogischen Öffentlichkeit rezipiert (…).“[926] Im Verlaufe der Diskussionen wurde klar, dass postmoderne Theorien nicht nur als Modeerscheinungen behandelt werden können, die bald wieder vergessen sind. Sie müssen auch von der Erziehungswissenschaft kritisch auf ihre möglichen und faktischen Auswirkungen auf die Pädagogik hin untersucht werden und in diesem Sinne ernstgenommen werden. So war man sich zum Beispiel am 25. Salzburger Symposion mit dem Thema „Postmoderne“ darüber einig,
„… dass an einer kritischen Auseinandersetzung mit der Postmoderne, wie immer man sie verstehen mag, kein Weg mehr vorbei führt, zumal sich der Postmodernismus – Unkenrufen zum Trotz – gerade nicht als kurzlebiges Modephänomen erwiesen hat. Auch die Pädagogik, die allzu gern (post‑)modernen Themen aus dem Weg geht, muss sich seiner Herausforderung stellen.“[927]
Lothar Wigger bemerkt: „Mit einem gewissen time-lag, aber ohne allzu grosse Verzögerung hat auch die Pädagogik postmoderne Theorien rezipiert, zumindest das Wort hat Einzug gehalten, und sie gibt sich zum Teil selbst postmodern.“[928]
Alfred Schirlbauer findet im Jahre 1990 in der Pädagogik implizite schon „… beträchtliche Züge eines – wenn auch diffusen – Postmodernismus (…) vergleichbar dem diffus postmodernen Bewusstsein des Alltags.“[929]
Wir haben uns für dieses Kapitel die Frage gestellt, wie die Erziehungswissenschaft auf postmoderne Theorien in der Philosophie reagiert, welche Problematiken sie für die Pädagogik relevant findet, und ob in dieser Debatte die selben Kategorien für postmodernes Denken zur Sprache kommen, wie wir sie herausgearbeitet haben. Wie beurteilen Erziehungswissenschafter die Auswirkungen postmoderner Theorien auf die Pädagogik?
Zumeist werden postmoderne Ansätze aus der Philosophie in der Erziehungswissenschaft auf der metatheoretischen Ebene aufgegriffen: es geht zuerst einmal um pädagogische Theorie. Postmoderne Theorien, darin sind sich die Fachleute einig, beziehen sich schon auf die Rahmenbedingungen der Pädagogik, nicht erst auf methodische oder didaktische Fragen. Es geht um die Grundlagen der Pädagogik, um die Fragen der Subjektivität, der Vernunft, der Pluralität, der Geltung von Wahrheit, der Beziehung zwischen Theorie und Praxis, der Auffassung von Wirklichkeit oder der Wertorientierungen. Zuerst werde ich Beispiele, wie Erziehungswissenschafter die Postmoderne für die pädagogische Theorie allgemein rezipieren, aufgreifen. Im Zusammenhang ihrer Argumentation werden verschiedene Begriffe und Kategorien angesprochen, die in ihrer Verknüpfung eine tragende Basis pädagogischer Theorie bilden. Anschliessend soll untersucht werden, ob und wie unsere Kategorien für postmodernes Denken für die Pädagogik rezipiert werden. Gibt es eventuell noch andere wichtige Merkmale, die in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion aufscheinen?
In seinem Artikel „Verbindliche Argumentation in der Pädagogik? Überlegungen zu Lyotards Postmodernismus“ diskutiert Gerhard Mertens bestimmte postmoderne Positionen kritisch und beleuchtet anschliessend ihre Konsequenz für die Pädagogik.[930] „Die Postmoderne wirft ihre ersten Schatten nun auch auf die Pädagogik (…).“[931] heisst es am Anfang des Artikels. Mertens stellt eine „Mentalität postmodernen Ausstiegs“[932] fest, gerade auch bei den Protagonisten der jüngeren pädagogischen Bewegung, „eine Verweigerungshaltung gegenüber pädagogischer Theorie und Praxis insgesamt.“[933] Die postmodernen Strömungen seien
„… tendenziell mit einem nihilistischen Lebensgefühl verbunden (…), das in die Poren aller intellektuellen Bereiche eindringt und auf eine jede, der Aufklärungstradition und ihrem humanen Bildungsimpetus verpflichtete pädagogische Konzeption durchschlägt. Wo nämlich das Denken ortlos wird, Kategorien vernünftigen Tuns einstürzen und Subjektivität als ‘de-zentriert’ erscheint, dort geht es an die Grundlagen pädagogischer Theoriebildung selbst. Und es stellt sich die Frage, ob im Zeitalter der Fragmente und Frakta, der Parzellierung von Lebenswelten und Sprachspielen eine einheitgebende, sinnstiftende pädagogische Theorie überhaupt noch möglich ist.“[934]
Postmodernes Denken greift die Grundlagen der pädagogischen Theorie an, wenn das Denken keinen Bezugspunkt und keine verbindliche Orientierung mehr hat, die Vernunft in Frage gestellt wird und der Mensch ein dezentriertes Subjekt sein soll. Mertens wirft die Frage auf, ob eine einheitliche pädagogische Theorie überhaupt noch möglich ist, wenn Theorien und Lebensformen in Fragmente aufgelöst und zersplittert werden. Möge sich das postmoderne Denken noch so schillernd präsentieren, es werde
„… durchweg getragen vom elementaren Zweifel an der Vernunft und ihren Möglichkeiten, zum Prinzipiellen vorzustossen. Im Ergebnis läuft diese Skepsis auf die Verabschiedung des ‘modernen’ Rationalitätsprinzips und seine Transformation in ein ‘nachmodernes’ Denken hinaus. Dies meint zum einen das definitive Ende des in den Wissenschaften verkörperten Vernunftanspruches. So gilt die wissenschaftliche Rede lediglich als ein Sprachspiel neben anderen, ihre privilegierte Stellung einer Richterin über das Alltagswissen, ihr Anspruch auf universelle Geltung sind verfallen. Daneben wird auch der praktischen Vernunft ihre übergreifende Ordnungsfunktion abgesprochen. Es wird das gleichberechtigte Nebeneinander, die agonale Konkurrenz aller denkbaren Sprachspiele und Alltagskulturen eingefordert, wohingegen die Frage nach allgemeinen Regeln sozialer Sprachspiele und Lebensformen, nach universalen Bedingungen menschlicher Kommunikation und menschlichen Zusammenlebens erst gar nicht mehr in den Blick kommt.“[935]
So weit die konzise Zusammenfassung zentraler Postulate postmodernen Denkens bei Mertens, die Vernunft, Wissenschaftlichkeit und universelle Geltung betreffen. Als Konsequenz für die Pädagogik muss sich bei einer „solchen Unfähigkeit der Vernunft zum Allgemeinen“[936] das Unterfangen pädagogischer Theorie, handlungsleitende Gesetzmässigkeiten zu entwickeln oder „an einem gültigen Telos von Erziehung Orientierung zu suchen“[937] erübrigen. Postmodern gilt auch, dass Sprache oder Theorie die Wirklichkeit gar nicht abbilden könne. „Die sinnvolle Beziehung eines Zeichensystems theoretischer Konstrukte auf eine irgendwie geartete erzieherische Wirklichkeit gilt als eher unwahrscheinlich, das Band zwischen pädagogischer Theorie und pädagogischer Praxis als zerrissen.“[938] Erziehungswissenschafter wie Lenzen, die postmodernes Denken affirmativ rezipieren, propagieren, den Modus der Argumentation deshalb aufzugeben und verschiedene Arten von Erzählungen und Mythen zu produzieren.
Mertens empfiehlt der Pädagogik, unbedingt das Gespräch mit der Postmoderne aufzunehmen, denn eine Kritik, die das Vermögen der Vernunft zum Allgemeinen bestreite, rüttle nicht nur an den Grundlagen pädagogischer Theorie, sondern an der abendländischen Wissensform insgesamt. Der Modus wissenschaftlicher Rede ist die vernunftgeleitete Argumentation. Sie stellt eine Plattform dar,
„… auf der gleichsam ein universalistischer Standpunkt mit verbindlichem Geltungsanspruch eingenommen wird, um von hier aus ein der blossen Alltagserfahrung überlegenes, legitimiertes Wissen zu erlangen. Diese tragende Basis steht denn auch zur Disposition, wenn Pädagogik in eine Grundlagendiskussion mit der Postmoderne eintritt.“[939]
Im weiteren geht Mertens auf die postmodernen Stellungnahmen zur Wissenschaft ein, in denen Derrida, Foucault, Deleuze, Baudrillard und Lyotard „… postutopistisch liberalistische Vorstellungen mit Zügen einer postempiristischen Wissenschaftslehre im Sinne der anarchistischen Wissenschaftstheorie Feyerabends verbinden.“[940] In der neostrukturalistischen Betonung von Diskontinuität und Heterogenität, im Gedanken der Brüche, des Widerstreits „… und damit der Zersplitterung wissenschaftlicher Rationalität treffen sie mit jener extremen Spielart nachrationalistischer Wissenschaftstheorie zusammen, die eine von den Fesseln universaler Rationalität befreite ‘Erkenntnis für freie Menschen’ (P. Feyerabend) proklamiert.“[941] Philosophisch bedeute dies die „Zerstörung jeglichen Orientierungsrahmens in der Weltdeutung“[942] und zugleich das „Ende des ‘modernen’ Sprachspiels wissenschaftlicher Rationalität mit seinen allgemeinen Ordnungsprinzipien, seinem Wahrheits- und Geltungsanspruch wie auch seinen Kontrollmöglichkeiten.“[943] Lyotard konstatiere in seinem „Postmodernen Wissen“ auch, dass die Wissenschaft ihren Status, über Wahrheit und Gültigkeit zu befinden, eingebüsst habe. „Der Diskurs der Rationalität hat seine Verbindlichkeit verloren.“[944] Mertens kritisiert nun eine derartige Auffassung von Wissenschaft und das Ansinnen, sie in einem Sprachspielrelativismus aufzulösen. Wenn Vernunft ein umfassendes Vermögen der Reflexion sei, „… das Einsicht, Stellungnahme und diskursive Verstandesleistungen zugleich aus sich hervorbringt (…)“[945], versteht Mertens unter wissenschaftlicher Rationalität
„… jene in sich strukturierte Gesamtbewegung des menschlichen Geistes (…), in deren Vollzug logisches Regeldenken und exaktes Wissen eingebettet bleiben in mit Erfahrung verknüpfter schöpferischer Imagination, Intuition, Wertsetzung, Erfolgsorientierung, in die eigentümliche Sehweise eines Denkens in Mustern von beispielhaftem Charakter. Und das Unternehmen der Wissenschaft, weit mehr als ein exakt-logisches Sprachspiel von apodiktischer Sicherheit, manifestiert sich als die Aktionsform eben dieses umfassenden Vermögens der Vernunft innerhalb eines jeweils durch sie selbst gesetzten und nach Prinzipien geordneten Erkenntnisrahmens (der Theorien). Als solche vermag sie dem Zwecke der Weltorientierung und der Daseinsbewältigung zu dienen und ist darin blossem Alltagswissen an Einsichtskraft, an Kohärenz und Stringenz ihrer Aussagen weit überlegen.“[946]
Im nächsten Kapitel geht Mertens auf Lyotards Sprachspieltheorie ein, in der dieser die irreduzible Heterogenität von Sprachspielen behauptet. Es gebe kein homogenes Medium der Rationalität, das alle Sprachspiele umgreife. Nach Mertens bedeutet die Diversität von Sprachspielen jedoch nicht auch ihre Unverträglichkeit. Es sei überhaupt ein merkwürdiger Sprachobjektivismus bei Lyotard festzustellen, z.B. wenn er formuliert: „‘Ein Satz geschieht’“.[947] Das mit sich selbst identische Subjekt werde „… gleichsam vom Spiel sprachlicher Differenzen derart aufgesogen, dass es nun nicht als Ursache, sondern als die Wirkung sprachlich-strukturaler Prozesse gedacht ist. Der Desanthropologisierung der Sprache entspricht die Verbannung des Subjekts aus der Philosophie.“[948] Es sei dies ein „mystisch-ontologisierendes Sprachverständnis“.[949]
Die argumentative Rede sei „… die tragende Plattform für menschliche Kommunikation und menschliches Wirklichkeitsverständnis. Der argumentative Diskurs ist vernunftgeleitete, verbindliche Rede auf Gründe hin.“[950] Er richtet sich „… (idealiter) an die universale Hörerschaft vernünftiger Subjekte schlechthin.“[951] Er nimmt die Ebene unbestrittener Geltung in Anspruch und ist prinzipiell offen für eine unbegrenzte Anzahl denkbarer Argumente. „Verbindliche Argumentation ist mithin die Artikulationsform diskursiver Vernunft. Jeder potentielle Sprecher (Denkende), der sich darüber Klarheit verschafft, was als Realität zu gelten hat, ist unabdingbar auf sie verwiesen.“[952]
Entgegen Lyotard lässt sich also die heterogene Vielfalt der Sprachspiele in die Einheit eines individuellen Lebensentwurfs, eines soziokulturellen Traditionszusammenhangs und letztlich auch in einen übergreifenden Menschheitszusammenhang vernünftiger Subjekte einfügen, hält Mertens fest. Die Pädagogik und ihre Rationalität steht aber nicht nur unter dem Anspruch verbindlicher Argumentation unter vernünftigen Subjekten, sondern ist auch an Normen erzieherischen Handelns gebunden.
„Pädagogik hat es mit Gesetzmässigkeiten erzieherischen Handelns zu tun, das als solches unter dem Anspruch von Normen steht, die sich an personalem Wohl und Gelingen orientieren. (…) Ähnlich wie die Medizin und Psychologie, die Jurisprudenz und die politischen Wissenschaften ist somit auch die Pädagogik eine Theorie für menschliche Praxis. Infolgedessen ist sie konstitutiv auf die human-normative Anspruchsdimension verwiesen und sieht sich vor die Aufgabe gestellt, sowohl erzieherisches Handeln als ein verantwortbares zu reflektieren als auch über die in Erziehung und Bildung anzustrebenden Förderungsgestalten des Humanen Rechenschaft abzulegen.“[953]
Als eine Theorie für Praxis konstituiert sich Pädagogik erst in der Problemstellung des Seinsollens der Erziehungswirklichkeit und „… d.h. in der Frage nach der Gültigkeit erzieherischer Praxis und ihrer Ziele. Von daher richten sich ihre zentralen Aussagen auf die Dimension des Sollens, sie sind wesenhaft präskriptiver Natur.“[954] Diese wichtige Dimension der Normen erzieherischen Handelns kann wiederum nur in verbindlicher Argumentation behandelt werden. Oder, fragt Mertens, ist sie dem Irrationalismus anheimgegeben? Sie ist es nicht, wenn pädagogische Theorie ihre normative Basis als vernünftig ausweisen und einer rationalen Begründung und Rechtfertigung zugänglich machen kann. Die Grundnorm gültiger Praxis zielt auf die Allgemeinheit eines vernünftigen Lebens unter vernünftigen Subjekten. Für die Pädagogik bedeutet dies, so Mertens, dass die Zöglinge durch erzieherische Praxis zur Freiheit einer vernunftbestimmten, verbindlichen Lebensführung gelangen können. Die Hinführung zur eigenverantwortlichen Lebensführung ist mit dem aufklärerischen Begriff der „Mündigkeit“ gemeint:
„Die Mündigkeitsnorm also, basierend auf dem Eigenrecht des Heranwachsenden, im Erziehungsprozess jederzeit als Person anerkannt und angesprochen zu werden und zielend auf die Fähigkeit zur kritischen Selbstbestimmung und vernunftgeleiteten Lebensführung unter vernünftigen Subjekten wie auf die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme und schöpferischen Mitgestaltung im Kontext der vielfältigen komplexen Aufgabenfelder der modernen Gesellschaft, diese pädagogische Leitnorm markiert den übergreifenden Zweck aller erzieherischen Akte.“[955]
Die Fähigkeiten, die es zur Verwirklichung dieses menschlich hochstehenden Persönlichkeitsideals braucht, können nur im Rahmen von Erziehung und Bildung erworben werden. Es müsste in der Pädagogik darüber nachgedacht werden, wie Erziehung „… den Einzelnen freigeben kann, die heterogene Vielfalt der von ihm individuell erworbenen und sozial vermittelten Sprachspiele in die Einheit eines Existenzzusammenhangs zu integrieren (…).“[956] Pädagogische Theorie müsste darüber einen Diskurs führen. „Nichts könnte demnach der Pädagogik ferner liegen als im Sinne postmoderner Rationalitätskritik das argumentative Genre zu degradieren, ad absurdum zu führen oder es zu verlassen und d.h. sich selbst aufzulösen.“ Mertens erachtet den postmodernen Ausweg einer agonalen Wettkampfsituation unter den Bedingungen disseminaler Verständigungsverhältnisse als keine ernstzunehmende humane Alternative. Diese propagierte Agonistik muss „… mit ihren Anklängen an Vitalismus und Sozialdarwinismus doch wohl zu Bedenken Anlass geben, wenn anders der um die Verbindlichkeit und Dignität seiner Vernunft gebrachte Mensch nicht zur Welle im Daseinsstrom herabsinken soll.“[957]
Als kleiner Exkurs zur postmodernen Absage an die Verbindlichkeit: Wolfgang Welsch, der die Postmoderne affirmiert, fertigt den schon früher erhobenen Vorwurf der Unverbindlichkeit an die postmodernen Positionen mit einer Scheinbegründung ab: Er neige, wenn er
„ … derartige Verbindlichkeitsansinnen höre, zur lakonischen Gegenfrage ‘Woher nehmen, und nicht stehlen?’, und ich meine damit: Ich hätte nichts gegen solche Verbindlichkeit – wenn sie denn möglich wäre. Aber sie ist es nicht, und daher ist die Forderung nach ihr nicht nur falsch, sondern in ihren wissenschaftlichen Konsequenzen allenfalls schein-rational, in ihren lebensmässigen Folgen aber fatal und in ihren politischen Auswirkungen oft letal.“[958]
Indem Welsch eine Gleichsetzung von Verbindlichkeit mit einem Einheitsdenken, das das Andere unterdrücke, unternimmt, suggeriert er, dass Verbindlichkeit fatale Folgen habe.
Jürgen Oelkers rezipiert die Postmoderne für die Pädagogik im besagten Themenheft „Pädagogik und Postmoderne“ der Zeitschrift für Pädagogik unter dem Titel „Die Wiederkehr der Postmoderne. Pädagogische Reflexionen zum neuen Fin de siècle“.[959] In einer interessanten historischen und systematischen Analyse zeigt er Entwicklungen zu einem postmodernen Denken in der Pädagogik auf und beurteilt sie auf der Folie des Verständnisses von Pädagogik als modernem ‘Projekt’ seit der Aufklärung und dem klassischen Idealismus Kants. Dreh und Angelpunkt für die Pädagogik sei der postmoderne Angriff auf die Vernunft, der die weiteren Konsequenzen nach sich ziehe. Oelkers führt aus, dass der Begriff „Postmoderne“ zwei Bezugspunkte habe: die philosophische Vernunft der Aufklärung und die ästhetische Moderne der Jahrhundertwende. Philosophie, Literatur und Kunst der Jahrhundertwende weisen starke Analogien zur heutigen Postmoderne auf, so dass in gewissem Sinne von einer Wiederkehr gesprochen werden könne, besagt Oelkers historische These. Die systematischen Implikationen dieser Entwicklung liegen vor allem im Bestreiten eines allgemeinen Vernunftanspruchs. Sie werden im Artikel auf die Probleme der modernen Pädagogik bezogen. Oelkers meint, die Pädagogik werde sich auf nachklassische Verhältnisse des Ethischen und Ästhetischen einstellen müssen. Interessant ist, dass gemäss Oelkers die Pädagogik nie einen rein szientifischen Vernunftbegriff vertreten, sondern „Vernunft“ immer zusammen mit „Natur“ und „Sittlichkeit“ rezipiert habe. Die klassische Pädagogik habe ausserdem ihr Konzept des Guten jeweils im christlichen Denkhorizont begründet (Rousseau, Pestalozzi, Fröbel). Im Sinne Kants war Erziehung zur Vernunft gleichbedeutend mit einer Erziehung zur Sittlichkeit, weil vorausgesetzt wurde, dass es in der Natur des Menschen liegt, seine eigene Vervollkommnung anzustreben.[960]
Die „besondere Pointe der Postmoderne“ liegt nach Oelkers darin, dass sie „… die Vernunft überhaupt bestreitet. Das ist nicht nur eine Modeerscheinung: an dieser Stelle ist zu Recht ein Problem markiert worden.“[961] Zum Anspruch der Vernunft führt Oelkers aus, dass er im Sinne Kants „praktischer Vernunft“ genommen werden muss: transzendental begründet und doch innerweltlich wirksam. Diese Begründung versucht der Poststrukturalismus aufzusprengen. Nach Wittgenstein formuliert Lyotard: „’Die kognitive Vernunft (liegt) in den Regeln des Sprachspiels.’“[962] Im Unterschied zur Moderne Kants kann diese Vernunft nur zirkelhaft begründet werden, ohne archimedischen Punkt. So postuliert Derrida nach der Preisgabe der christlichen Geschichtsphilosophie eine „’Apokalypse jenseits von Gut und Böse’“.[963] „Kants Vision hatte noch den Sieg des ‘guten Prinzips über das böse’ (…) im ethischen Gemeinwesen behauptet (…).“[964] Die Sprachspieltheorie und die ironische Kritik der Aufklärung bestreiten nun beide die „… Vernünftigkeit von der Möglichkeit eines Fortschritts ins Unendliche aus (…). Der Zerfall (nicht die Reformulierung) des Vernunftbegriffs zieht alle Weiterungen der Postmoderne nach sich, die Frederic Jameson als Auflösung von ‘Tiefenmodellen’ der Theorie beschrieben hat (…).“[965] Die verschiedenen „Tiefenmodelle“ setzen voraus, dass es in der Tiefe etwas zu erkennen gibt, welches der Vernunft näher kommt als das, was die Oberfläche darbietet. „Streicht man den Vernunftbegriff, dann werden die Oppositionen leer, das Subjekt blind und die Moderne schwarz.“[966] Oelkers bestimmt in Anlehnung an Jamesons Kriterien der Postmoderne seinerseits „vier grundlegende Kriterien für die Position der Postmoderne“[967]:
1. Die Theorie des Subjektiven muss ohne Tiefendimensionen des Allgemeinen auskommen; in diesem Sinne kann man vom „Tod des Subjekts“ sprechen. 2. Mit dem Zerfall der Geschichtsphilosophie, die an die subjektorientierte Vernunft gebunden war, zerfällt die Geschichtlichkeit als Kategorie des Bewusstseins. 3. Die moderne Gesellschaft kann nur noch informationstechnologisch begriffen werden. ihr Grundmerkmal ist heterogene Vielfalt. 4. Aus dem Zerfall der natürlichen Referenz ergibt sich das Grundproblem der Erkenntnis: es wird eine unaufhebbare Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit konstatiert, die nun Voraussetzung für jede Theoriebildung ist. „Theorie und Kunst erscheinen deckungsgleich, weil beide nur ästhetische Spiele veranstalten.“[968]
Diese Postulate stehen tatsächlich der Moderne im Sinne des deutschen Idealismus kontradiktorisch entgegen, stellt Oelkers fest. Der Bildungsbegriff der Moderne vertraut darauf, „… den Menschen gemäss dem allgemein Guten und zu seinem Besten zu bilden, mit gebildeten Menschen die gesellschaftliche Zukunft vernünftig planen und aufgrund einer transparenten Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit alle Konflikte lösen oder jedenfalls unterhalb der Kriegsschwelle halten zu können.“[969] Die Moderne ist als ein pädagogisches Projekt zu denken, denn sie bedeutet eine Organisationsform gemäss der praktischen Vernunft. Vernünftig kann eine Gesellschaft nur dadurch werden, dass ihre Subjekte nach dieser Maxime erzogen worden sind. Die idealistische Pädagogik fand in der Erziehung des Menschen ihre Konsensformel, die in der allgemeinbildenden Schule verwirklicht wurde.[970]
Schon die radikale Schulkritik des Fin de siècle stellte nach Oelkers zwei wesentliche Elemente des Projektes der Moderne in Frage: die Emanzipationstheorie der Erziehung und ihre institutionelle Form als staatliche Schule. Diese konnte als Herrschaftsinstrument des modernen Staates und die Bildung als Barbarei beschreibbar werden, da diese anstaltsförmig vermittelt werde.[971] Oelkers zeigt nun auf, welche fatalen Konsequenzen die Übernahme postmodernen Gedankenguts in die Pädagogik hätte:
„Mit einem Einstieg in die longue duree der Postmoderne würde die Pädagogik ein für sie suizidales Programm übernehmen, aber es war die Frage, wie sie dieser Konsequenz ausweichen sollte. Wie kann ohne allgemeine Vernunft, fixiert auf das Hier und Jetzt der Gegenwart, in einem bloss subjektiven Verständnis von ‘Moderne’ und angesichts unüberwindbarer Referenzprobleme der Sprache noch Erziehung begründet werden? Pädagogische Theorien benötigten immer die umgekehrten Sicherheiten: Die Vernunft des Allgemeinen, die Hoffnung des historischen Wandels, ein Programm gesellschaftlicher Reform und eine stabile Referenz von Sprache und Wirklichkeit. Wenn das alles, zumal als Ensemble, nicht mehr zu haben ist, dann löst sich die klassische Auffassung von ‘Erziehung’ offenbar auf.“[972]
Oelkers versteht die Theorieentwicklungen in der Pädagogik seit der Jahrhundertwende als ein Experimentieren mit dieser Situation, sieht aber keine Veranlassung, daraus ‘postmoderne’ Konsequenzen zu ziehen. Die klassischen Motive der Erziehung sollten nicht ersetzt werden.[973] Wichtige pädagogische Richtungen des 20. Jahrhunderts hielten am Optimismus fest, dass „Erziehung eine erstrangige Kraft ist, die, wird mit ihr richtig verfahren, eine Zukunftshoffnung auch jenseits der negativen Wirklichkeit gestattet.“[974] Das pädagogische Denken wurde zwar neuen Theorielagen angepasst, in seiner Struktur jedoch nicht verändert: Zwang zum Allgemeinen, Definition vom Guten aus, idealistischer Rahmen. Der Artikel schliesst mit der Bemerkung, dass sich an hieraus erwachsenden Aporien die Herausforderer pädagogischen Denkens abarbeiten müssen.[975]
Während Mertens und Oelkers postmodernem Denken in der Pädagogik kritisch gegenüberstehen, nimmt der Berliner Erziehungswissenschafter Dieter Lenzen eine affirmative Position ein. Er entwickelt Ideen für eine postmoderne Umwandlung der Pädagogik. Im selben Themenheft „Pädagogik und Postmoderne“ veröffentlicht er einen Aufsatz mit dem Titel „Mythos, Metapher und Simulation. Zu den Aussichten Systematischer Pädagogik in der Postmoderne.“[976] Lenzen weist gleich einleitend daraufhin, dass „die Aufnahme postmoderner Theoreme“ für die Pädagogik „eine bestandeskritische Bedrohung“[977] darstellen kann. Er begreift das Reden von der Postmoderne nicht als Programm, sondern als Analyse der heutigen Situation unserer Kultur. Mit Bezug auf poststrukturalistisches Denken thematisiert Lenzen vor allem das Verhältnis von Theorie und Wirklichkeit. Anhand von Baudrillards „Agonie des Realen“ will er zeigen, dass „… der Bezug der Zeichen, aus denen sich Erziehungstheorie konstituiert, auf eine pädagogische Wirklichkeit“[978] zunehmend unwahrscheinlich geworden ist. Im Poststrukturalismus verweisen die Zeichen der Theorie auf keine Realität mehr. Die Zeichen sind ihre eigenen Simulakra geworden, wie Baudrillard schreibt. Sie simulieren eine Wirklichkeit. Das ‘Reale’ sei mit den Zeichen derart vermischt, dass beides nicht mehr voneinander getrennt betrachtet werden könne. Lenzen verweist auf Lyotards Ausstellung „Les Immatériaux“ im Centre Pompidou in Paris 1985. Die Ausstellung zeigte das Vordringen simulierter Hyperrealität in verschiedenen Lebensbereichen.
Indem Lenzen die obengenannten poststrukturalistischen Deutungen auf die Pädagogik überträgt, ordnet er die Systematische Pädagogik auch diesem Simulationszusammenhang ein: Theorien Systematischer Pädagogik produzierten Simulakra, Trugbilder und Phantasmagorien.[979] „Diese Theorien haben als Zeichenkomplexe ihre Referenz auf eine irgendwie geartete Wirklichkeit verloren, kreisen in sich selbst und rechtfertigen das erziehungswissenschaftliche Genre ebenso, wie die Kritik der schwarzen Pädagogik (…) den Gedanken an eine ‘weisse’ Pädagogik aufrechterhält.“[980] Lyotard betone, dass es heute darum gehe, die Theorie zu zerstören.[981] Mit Lyotard hält Lenzen nur noch „‘Anspielungen auf ein Denkbares’“ für möglich.[982] Dies bedeute eine Absage an jeden bekannten Typus von Theorie, weil sie immer mit der Suggestion eines Bezugs zur Wirklichkeit einhergehe. Lenzen will mit Lyotard den Modus der Argumentation, der auf Wahrheit beruht, durch einen der Kreativität ersetzen. Theorie wird zur Erfindung von „Wirklichkeit“.[983]
Als Lösungsmöglichkeit schlägt Lenzen die Rückkehr zum Mythos als „erklärende und sinnstiftende Kraft“[984] vor. Die Geschichte der Erziehung und der Pädagogik sei eine gigantische Erzählung, in der sich mythische Geschichten entgegen aller Rationalisierung erhalten hätten. „Diese Geschichten müssten wiedererzählt werden, in einer grossen Mythologie der Erziehung.“[985] Eine „vage Aussicht pädagogischen Schreibens in der Postmoderne“ wäre also: „Die tragende Metapher des Theorie‑Praxis‑Problems in den Strom jener Mythen zurückzulassen, dem sie entstammt, und dazu die Wunde aufzuspüren, die der Mythos von der zu kultivierenden Freiheit, derer sich der nicht Erzogene nicht zu bedienen wisse, es sei denn durch den Zwang der Erziehung (Kant), gerissen hat.“[986]
Spätestens hier wird die antipädagogische Tendenz des Autors deutlich, die in einem Artikel aus dem Jahre 1992 entfaltet wird: „Reflexive Erziehungswissenschaft am Ausgang des postmodernen Jahrzehnts oder why should anybody be afraid of red, yellow and blue?“[987] Hier will Lenzen nach der „condition postmoderne“ in der Erziehung fragen.[988] Dazu gehöre eine Vielfalt pädagogischer Theorien, die nicht wieder in Frage gestellt werden sollte. Für die Erziehungswissenschaft bedeute der „Verfall der Kategorien wissenschaftlicher Wahrheit und empirischer Kausalität“, dass „etliche Ergebnisse erfahrungswissenschaftlicher Pädagogik kontingent seien“.[989] Mit anderen Worten: Ergebnisse empirischer Forschung seien nicht als objektiv gültig anzusehen. Im weiteren wiederholt Lenzen seinen früheren Befund, dass Erziehungswissenschaft sich nicht mehr auf eine Wirklichkeit beziehe und führt als Bestätigung an, dass Kinder sich niemals freiwillig 13 Jahre lang in einer Lernanstalt kasernieren liessen. Und weiter:
„Trotz dieses Gewaltverhältnisses wird, bisweilen anthropologisierend, von einer universalen Erziehungstatsache gesprochen, aus der nicht nur der Orientierungsanspruch einer entsprechenden Erziehungswissenschaft universal abgeleitet wird, sondern noch allerlei andere vermeintlich anthropologische Konstanten oder doch wenigstens soziale Kryptokonstanten und mit ihnen verknüpfte Forderungen an den Bildungsprozess. (…) Erziehungswissenschaft hätte (…) in historisch‑anthropologischer Einstellung nach den Mythen zu fragen, von denen (nicht nur) erziehungswissenschaftliche systematische Theorie geprägt ist, um ihren Universalitätsanspruch zu problematisieren, um zu verhindern, dass unter Berufung auf vermeintliche Konstanten oder doch Quasi‑Konstanten des Menschseins pädagogische Optionen gefordert werden, ohne anthropologisch notwendig zu sein.“[990]
Lenzen fragt anschliessend, ob es einen an der Postmoderne‑Diskussion geschulten Typus von Erziehung gebe, der noch bleibe.[991] Er nennt ihn „Pädagogische Methexis“: ein Habitus und Weg der Ästhetik. Methexis heisse „Teilhabe“, nämlich an der Idee des Menschen, ohne „Beihilfe zur Menschwerdung“ (!) zu leisten.
„Keine Institution, die Theologie und ihre Nachfolgerin, die Pädagogik nicht, ist berechtigt, für sich Leistungen der Beihilfe zur Menschwerdung zu beanspruchen. Eine Aktivität, die auf solcherart Ansprüchen gründet, kommt nämlich kaum darum herum, Normen des Menschseins zu formulieren, auf die hin ihre Objekte, die Zöglinge, auszurichten seien. Die nach Nietzsche noch einmal provozierende postmoderne Rede davon, dass nicht nur Gott, sondern auch der Mensch tot sei, will nichts anderes besagen, als dass das Projekt Mensch als Finale von Höherbildungsansprüchen substantiell nicht mehr begründet werden kann.“[992]
Die schon oben ausgeführte Behauptung eines Referenzverlustes zwischen Theorie und Wirklichkeit untermauert Lenzen nun mit dem Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Die Realität sei immer eine konstruierte Realität (z.B. nach Luhmann). Dies sei nicht nur eine reine Angelegenheit der Erkenntnistheorie, denn wie Maturana/Varela schreiben, bringen wir uns durch Erkennen, wie wir erkennen, selbst hervor.[993] Der Prozess der Konstruktion von Wirklichkeit sei zugleich ein Prozess der Selbsterschaffung, der „Autopoiese“ oder der Selbstorganisation.[994] Es sei einleuchtend, dass eine solche Vorstellung für die Pädagogik bedeutsam sein müsse. Für die Pädagogik heisse das Konzept der Selbstorganisation, dass Leben diese schon gewährleiste. Daher brauche es keine pädagogische Aktivität, um einen solchen Prozess in Gang zu bringen. Autopoietische Einheiten sind als autonome gedacht. Es bestehe eine autopoietische Kraft im Organismus. Dieser verarbeite die Umwelteinflüsse nach eigenen Regeln. Ein psychisches System speise sich aus selbstorganisierenden Verarbeitungsregeln und aus den Angeboten der umgebenden Wirklichkeit.[995] Der Verlauf des Selbstorganisationsprozesses sei nicht prognostizierbar, meint Luhmann. Erziehung gehe aber immer noch davon aus, sie könne planbare Effekte erzielen.[996]
Wie sieht nun Lenzen die Frage der Erziehung aufgrund dieses Bildes vom Menschen als eines autopoietischen Systems? Hier kommt er wieder auf seinen Methexis‑Begriff zurück: Ihre Aufgabe bestehe darin, Selbstorganisationsprozesse zu ermöglichen durch die Teilhabe an der Fülle von Wirklichkeit. Durch Erziehungsbemühungen werde der Individualisierungsspielraum zunehmend eingeengt. Lenzen fragt, wie wir autopoietische Prozesse ohne Zwang zulassen wollen.
Weiter unten verwirft Lenzen „im Gegensatz zu Oelkers“[997] den Subjekt‑Begriff:
„Eine Theorie autopoietischer Systeme ist eine Theorie des Individuums, nicht des Subjekts. (…) bin ich der Auffassung, dass mit dem Verzicht auf den Gedanken einer den Organismen innewohnenden gemeinsamen menschlichen Substanz nicht mehr von Subjekten geredet werden kann. (…) Ich halte das aber auch nicht für beunruhigend, soweit es den Lebensverlauf der einzelnen Individuen betrifft. Ob sie dieses Leben als ein mehr oder weniger gelungenes deshalb erachten, weil es einen Beitrag zur Höherbildung der Menschheit geleistet hat, oder weil es einfach nur Individualisierung ohne allgemeine Richtung war, ist für die Betroffenen einigermassen belanglos, denn auch der vermeintliche Beitrag zur Höherbildung der Menschheit ist nur ein individueller und als ein Resultat, das erst nach der Geschichte messbar wäre, für den einzelnen allenfalls eine vage Zuversicht, eine Tröstung, die ihn vielleicht mit der Todestatsache zu versöhnen in der Lage war, als man weniger an ein Leben diesseits des Todes denn an ein solches jenseits glaubte. Um es noch einmal klar zu sagen: Ein Selbstorganisationsprozess ist hinsichtlich seines Gelingens nicht nach Kriterien zu beurteilen, die von ausserhalb kommen.“[998]
Lenzens Einschätzung des Lebenssinns verkennt die psychologische Tatsache, dass zufriedener lebt, wer gerne hilft und zum sozialen Miteinander aktiv beiträgt. Der Erfolg des eigenen Tuns stellt sich daher schon im Diesseits ein.
Heute sei ein Übergang von Wissenschaft zur Kunst erforderlich, meint Lenzen: „Da Wissenschaft sich (…) nicht mehr auf eine Allgemeinheit von Moralität verpflichten lässt, verbindet sich über die Selbsterschaffungsidee Wissenschaft hin zur Kunst.“[999] Eine notwendige Erweiterung des rekursiven Selbstorganisationskonzeptes bestehe in dieser Transgression der Wissenschaft. Damit kommt, ganz postmodern, der Bereich der Ästhetik und des Erhabenen ins Spiel. Der zweite Teil des Titels des vorliegenden Aufsatzes bezieht sich auf den Namen eines Bildes, mittels dessen der amerikanische Maler Barnett Newman die Absicht verfolgte, durch eine Unüberschaubarkeit des Bildes das Faktum des begrenzten Blickfeldes zu bestätigen und auch zu überwinden. Die Zahl der Blickpunkte in diesem Bild ist nämlich unbegrenzt. „Es soll desorientierend sein (…).“[1000] Newman wolle mit seinen Bildern eine völlig andersartige Wirklichkeit schaffen. Für Newman sei das Bild Ausdruck des Erhabenen und folge dem Impuls der modernen Kunst, das Schöne zu zerstören. Ästhetik des Erhabenen mit ihrer Betonung des Differenten, des Widerstandes gegen strukturelle Vereinheitlichung und der Befähigung zu Übergängen sei ein Pendant zu einer Kultur, die durch Pluralität gekennzeichnet sei und damit plurale Wirklichkeitsformen beinhalte. „Denn: Jedes Individuum bringt seine Wirklichkeit hervor, und es gibt keine Theorie, deren Rechtfertigungskapazität ausreichen würde, um die Wirklichkeit des einen oder der einen gegenüber derjenigen des oder der anderen vorzuziehen.“[1001]
Zum Schluss bezieht Lenzen „das Erhabene“ auf die Erziehung, nämlich mit seinem Begriff der erzieherischen Methexis. Es sei die Aufgabe der Erzieher, Hindernisse für die Teilhabe in einer Freiheit wegzuschaffen, welche es den jungen Menschen erlaube, ihre Selbstorganisation nach dem Bild des Erhabenen zu vollziehen, jenem Bild, das nur der Einzelne für sich selbst gestalten könne. Für den Erzieher gelte daher: „… nicht bilden, nicht leiten, keine hohen Taten und kein Abguss von Tugenden. Das ist bei aller Beteuerung des Gegenteils Bevormundung, Richtungsweisung und Mimesis. (…) Es gibt keine Gewährleistung und nichts ist zu machen, sondern viel zu unterlassen. Zulassen.“[1002]
Hans Rüdiger Müller reagiert in seinem im Jahr 1990 erschienenen Artikel „Vom ‘Ende der Erziehung’: Kritik der pädagogischen Rezeption ‘postmodernen’ Denkens“[1003] u.a. auf die Aussagen von Lenzen. Wohl die radikalste Kritik pädagogischer Wirksamkeit werde in der erziehungswissenschaftlichen Rezeption des ‘postmodernen Denkens’ (Lyotard) bzw. der poststrukturalistischen Analyse (Foucault, Baudrillard) geübt. Die Frage der pädagogischen Wirksamkeit erübrige sich angesichts eines tendenziellen Endes systematischen pädagogischen Denkens und praktischen Bemühens überhaupt. Die Existenz einer pädagogischen Wirklichkeit wird in Frage gestellt oder zumindest die Möglichkeit, eine solche zu reflektieren und systematisch beeinflussen zu können. Müller analysiert und kritisiert den oben erwähnten Aufsatz von Lenzen „Mythos, Metapher …“. Müller versteht ‘Erziehungspraxis’ als anthropologisch fundierte Aufgabe des Menschen. Ein zentraler Befund Müllers lautet:
„Die Vernunft als Idee der Aufklärung, die Fragen nach Wahrheit etwa und Legitimität, gehören, so der ‘postmoderne’ Standpunkt, selbst dem Simulationszusammenhang der Zeichenwelt an und können nicht als kritisches oder innovatives Korrektiv geltend gemacht werden. Der Mensch kann wahre von unwahren Aussagen, gerechtfertigte von ungerechtfertigten Lebensverhältnissen nicht mehr unterscheiden, sondern sich in seinem Denken nur noch ‘kreativ’ an der Produktion von Hyperrealität selbst beteiligen (Lenzen 1985 …), währenddessen wohl die ‘Wirklichkeit erster Ordnung’ sich selbst überlassen bleiben muss: den Systemimperativen, ungerechtfertigten Macht- und Herrschaftsinteressen, oder der Eigendynamik des technologischen Fortschritts. Die Freiheit der Praxis reduzierte sich dann auf die Beliebigkeit in der Erzeugung hyperrealer Scheinwelten; mit der rationalen Wahl zwischen Handlungsalternativen im Rahmen einer vernünftigen Lebensführung hätte der Begriff der Freiheit nichts mehr zu tun.“[1004]
Müller findet es im weiteren nicht einsichtig, weshalb Mythen und rituelle Bedürfnisse determinierende Kraft besitzen sollten. Immer noch sei die Notwendigkeit und Freiheit menschlicher Praxis gegeben, und es müssten Entscheidungen getroffen und verantwortet werden, z.B. über die Bildung und die Erziehung. Ein theoretisches Denken, das nach Prinzipien der Vernunft die bestehende Praxis aufzuklären und weiterzuentwickeln versucht, „… kann allenfalls um den Preis einer künstlichen Regression auf voraufklärerische mythische Weltbilder und Bewusstseinsstrukturen aufgegeben werden, wobei ein logisches Rätsel bleibt, wie man sich rational gegen die Vernunft entscheiden können soll.“[1005]
Es könne „… an dem Gedanken festgehalten werden, dass der Umgang der erwachsenen Generation vernünftig, d.h. auch intentional, kritisierbar, veränderbar zu gestalten ist (…).“[1006] Die Kinder haben immer die Aufgabe zu bewältigen, in eine vorgefundene Kultur hineinzuwachsen, die von der erwachsenen Generation repräsentiert wird und verantwortet werden muss.
Detlev Garz behandelt im Artikel „Paradigmenschwund und Krisenbewusstsein. Zum gegenwärtigen Stand erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung.“[1007] (1989) die aktuelle Situation der Erziehungswissenschaft. Innerhalb von 15 Jahren hätten die „zuvor verhältnismässig klar geschnittenen paradigmatischen Zugriffsweisen (…) an Bestand verloren und wurden durch eine Vielzahl von Theorien mit mehr oder minder umfassendem Geltungsanspruch verdrängt bzw. substituiert. Diese Entwicklung lässt sich als Paradigmenschwund bezeichnen.“[1008] Ein Kennzeichen dieser Krise stellt „der postmoderne Versuch der Zerstörung der Dignität wissenschaftlichen Wissens“[1009] dar. Der Postmodernismus verstehe sich als Angriff auf die Wissenschaft generell. Die Wahrheitsfähigkeit wissenschaftlicher Aussagen werde bestritten unter Hinweis darauf, dass der wissenschaftliche Metadiskurs nur eine Narration neben anderen repräsentiere. Durch diese Problemstellung hat sich die Auseinandersetzung um erziehungswissenschaftliche Theoriebildung verschärft, „… und es muss gefragt werden, wie sich die Pädagogik im Angesicht der neuen Herausforderung verhält.“[1010]
„Der Begriff Postmodernismus scheint nicht nur hinsichtlich seiner Suggestionskraft die Nachfolge des Paradigmenkonzepts angetreten zu haben. Auch substantiell verstärkt er die von Kuhn herbeigeführte Aushöhlung des Geltungsanspruches von Wahrheit. Kann man bei Kuhn noch von einer überwiegend deskriptiven Behandlung des Verlusts eines eindeutigen Wahrheitsbegriffs sprechen, wendet der Postmodernismus (hier ähnlich wie Feyerabend) die ebenfalls als richtig angesehene Vorstellung der Nichtfeststellbarkeit von Wahrheit normativ und potenziert damit den Legitimationsdruck für das wissenschaftliche Wissen: Das Erreichen der, also einer Wahrheit, ist nach postmoderner Auffassung unmöglich und trägt stärker noch bereits das Streben nach totalitärer Beeinflussung in sich.“[1011]
Garz analysiert im folgenden die erkenntnisleitende Vorstellung des Postmodernismus anhand von Lyotards „Postmodernem Wissen“. Für den erziehungswissenschaftlichen Kontext weise diese Arbeit den Vorteil auf, dass sie sich einer pädagogischen Fragestellung widmet: dem Zustand des Wissens in postmodernen Gesellschaften.[1012] Nach Lyotard verfällt das Prinzip, dass der Wissenserwerb unlösbar mit der Bildung der Person und des Geistes verbunden ist. Die Pädagogik werde nicht darunter leiden. Die Didaktik könne zwar Maschinen anvertraut werden, aber man müsse die Studenten trotzdem noch etwas lehren: den Gebrauch der Computer. Garz erachtet dies als eine „eigentümliche Engführung des pädagogischen Aufgabenbereichs“.[1013]
Wie beurteilt Garz nun die postmoderne Relativierung der Wissenschaft im Hinblick auf die Pädagogik? Der ‘Affekt gegen das Allgemeine’ mache Lyotard blind für den Preis, den noch jeder ‘unbedingte Relativismus’ habe zahlen müssen, wenn alle Informationen und alles Wissen als gleichwertig anzusehen seien:
„Damit ist die Beliebigkeit an die Stelle der universalen Übereinkunft (…) getreten. Das lässt sich auch am Beispiel der Erziehungswissenschaft erhellen. Bei allen Unterschieden, die zwischen den Entwürfen von Brezinka und Mollenhauer bestehen, gibt es doch auch die eine übergreifende Gemeinsamkeit; nämlich das Festhalten am universalistischen Anspruch von Wissenschaft, sowohl was deren Geltungsbereich betrifft als auch in bezug auf die metatheoretische Legitimation. Erst die postmoderne Argumentation klinkt sich aus diesen geteilten Basisannahmen aus, indem sie die faktisch sicherlich zum Teil eingetretenen gesellschaftlichpraktischen wie philosophischen ‘Delegitimationsprozesse’ normativ wendet und zu dem Schluss kommt, Universalität nicht als fruchtbaren Ausfluss der Moderne, sondern als deren tendenziell totalitäres Merkmal zu behandeln.“[1014]
Da bei Lyotard das Kriterium fehlt, das erlaubt, wahre von falschen Aussagen zu unterscheiden, bleibt allein die Faktizität der Lebenswelten übrig mit ihren unterschiedlichen Sichtweisen. Wenn der Rückgriff auf Normen aber allgemein verwehrt ist, lässt sich auch ein Verhältnis des gleichberechtigten und freien Nebeneinanders aller Alltagskulturen nicht mehr begründen.
Garz betont, dass man an universalistischen Ansprüchen festhalten und zugleich eine vernünftige, nicht bevormundende Wissenschaft betreiben kann.
Karl‑Franz Göstemeyer geht im Aufsatz „Pädagogik nach der Moderne? Vom kritischen Umgang mit Pluralismus und Dogmatismus“[1015] im Jahr 1993 von Beschreibungen der Diversifikationen in den Lebensverhältnissen und Kritiken an der Erziehung durch bestimmte Erziehungswissenschafter aus. Er nennt D. Lenzen, H. Giesecke, K. Wünsche und andere. Göstemeyer zitiert Pongratz, der die Veränderungen in der Erziehungswirklichkeit als „Krise des ‘sinnkonstitutiven Subjekts’“[1016] charakterisiert, „die von den ‘unterschiedlichsten Theoretikern der Postmoderne mit Akribie vor Augen’“[1017] geführt werde. Die Argumente der Kritiker seien bekannt, überraschend seien aber die Schlüsse, die sie daraus zögen, meint Göstemeyer: Die Erziehungswissenschaft müsse sich selbst beseitigen. Giesecke spricht vom „Ende der Erziehung“ und votiert z.B. für die Rückführung von Erziehung auf Sozialisation und Lernen. Wünsche optiert für die Verabschiedung pädagogischer Höherbildungsanmassungen.[1018]
Wie müsste, fragt Göstemeyer, demnach eine postmoderne Pädagogik beschaffen sein? Sie müsste radikal plural sein, auf ein vorgegebenes materiales Allgemeines wie auf Universalität überhaupt verzichten. Sie muss auch den modernen Erziehungsbegriff zugunsten einer Sozialisations- und Lerntheorie aufgeben. Eine Theorie, die diese Ansprüche erfüllt, sei tatsächlich schon geschrieben: von der Anti‑Pädagogik bei E. von Braunmühl, H. Kupffer, H. von Schönebeck oder H. Ostermeyer.[1019] „So ist es nicht verwunderlich, vielmehr bezeichnend, dass Kupffer mittlerweile seinen Versuch, das ‘pädagogische Bewusstsein’ auf das Niveau des ‘gesellschaftliche(n) Seins’ (…) zu heben, als ‘Pädagogik der Postmoderne’ vorstellt.“[1020] Göstemeyers These lautet daher: „Die Pädagogik der Postmoderne ist die Anti‑Pädagogik!“[1021]
Als Kritik formuliert Göstemeyer, dass Lernen unabdingbar der Erziehung bedarf. Es würde sonst der Kontingenz ausgesetzt werden. Und dies beinhalte einen grossen Dogmatismus. Die Erziehungs- und Bildungssituation sei im Vergleich zum 17. und 18. Jh. schwieriger geworden. Aus dieser Problemverschärfung „… lässt sich jedoch die postmoderne Pädagogik nicht einfach rechtfertigen.“[1022] Und: „Wo immer postmoderne Pädagogik zusammen mit der Anti‑Pädagogik auf eine pädagogisch vermittelte Selbstbestimmung verzichten zu können glaubt, liefert sie das Kind dem aus, was als zufällig Positives jeweils möglich erscheint.“[1023] Eine Nichterziehung, bzw. Sozialisation nach Giesecke läuft nicht nur auf eine Affirmation dessen hinaus, was schon ist, sondern er unterstellt dem Kind auch eine Autopoiesis.
Auch die neuzeitliche Pädagogik habe für Pluralität und Individualität optiert. Sie ist ja gerade dadurch entstanden, dass der überlieferte Traditionszusammenhang ausser Geltung gesetzt und in einzelne Praxen differenziert wurde.
„Pluralität und Multiformität ist der neuzeitlichen Gesellschaft ab ovo eigen; sie ist in ihr nicht nur deshalb unvermeidbar, weil die bürgerliche Gesellschaft, wie Hegel anmerkt, den Menschen unwiderruflich von traditionellen Bindungen entbindet (…). Sie ist auch deshalb unvermeidbar, weil die Idee der Freiheit vernünftigerweise nicht als eine Freiheit einiger oder bloss vieler, sondern nur als Freiheit aller Menschen gedacht werden kann.“[1024]
Wenn die postmoderne Pädagogik suggeriert, die moderne Pädagogik sei nicht für Pluralität und Individualität eingetreten, verkennt sie das Wesen der modernen Pädagogik, die sie ausser Kraft zu setzen versucht. Postmoderne genauso wie moderne Pädagogik lehnen Uniformität und Ganzheitsbestrebungen ab. Es besteht aber ein entscheidender Unterschied zwischen beiden, der die postmoderne Pädagogik „letztlich selbst dogmatisch“[1025] erscheinen lässt: „Gemeint ist ihre Verabsolutierung von Pluralität zum Pluralismus.“[1026] Bei der antipädagogischen Postmoderne werde, wenn sie darauf verzichte, nach einem vernünftigen Allgemeinen zu fragen, genau wie in Lyotards „Widerstreit“, die Multiformität bodenlos. Dies impliziert, dass „… die postmoderne Anti‑Pädagogik mit ihrem Verzicht auf die Frage nach einem Allgemeinen hinter das Reflexionsniveau der modernen Pädagogik zurückfällt.“[1027] Die Pädagogik für das postmoderne Zeitalter jedoch, kann nur eine moderne, reflektierende und in reflektierendes Handeln einführende Pädagogik sein. Göstemeyer schlägt vor, auf der Notwendigkeit eines Individuell‑Allgemeinen zu insistieren mit der Idee der Demokratie als Gemeinsamkeit der einzelnen Praxen. Das Miteinander würde auf den Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit beruhen.
„Die jeweilige Ausgestaltung dessen, was die Idee einer solchen Gemeinschaft beinhalten könnte, ist einzig und allein durch die Individuen selbst möglich. Ebenso wie das Allgemeine nicht aus der Individualität deduziert werden kann, ist das Individuelle nicht aus dem Gemeinsamen abzuleiten. Diese praktische Differenz, die der Einsicht korrespondiert, dass der Mensch weder in seiner Gesellschaftlichkeit aufgeht, noch seine Individualität ohne Gesellschaftlichkeit denkbar ist, gibt gerade den Blick frei für eine offene Bildsamkeit des Menschen (…).“[1028]
Der Mensch bedarf, um einen kritischen Umgang mit Individualität und Gesellschaftlichkeit führen zu können, wie er für die Idee der Demokratie erforderlich ist, erzieherischer Anleitung. Göstemeyer plädiert dafür, mit der modernen Pädagogik darauf zu beharren, „Menschen mittels Erziehung zu Menschen zu begaben“.[1029] Und dies bedeutet auch, an das noch unausgeschöpfte Denken der Tradition zu erinnern.
Volker Ladenthin behandelt in seinem Aufsatz „Normative Pluralität. Zur Kritik der absoluten Relativität.“[1030] die postmoderne Vorstellung einer „… Pluralität von Lebensformen extern – also gesellschaftlich – und intern – also intrapersonell – als Regulativ richtigen Handelns (…), wie sie z.B. Welsch vertritt.“[1031] Demnach sei das moderne Menschenbild einer geschlossenen Identität, eines in sich schlüssigen Subjekts, zu verabschieden. In letzter Zeit sei oft darauf hingewiesen worden, dass der moderne Identitätsgedanke aufgegeben werden müsse zugunsten des Ideals eines Menschen, der „… morgens im grauen Anzug, mittags in Jeans und abends im Frack unterschiedliche und traditionell nicht zu vereinbarende Praxen menschlicher Möglichkeiten lebt.“[1032] Ladenthin zitiert eine Stelle bei Lyotard, wo dieser eine Geschmeidigkeit, eine Fähigkeit zum ‘Switch’ von einem Genre zum anderen als für die heutige Zeit erforderlich behauptet. Zwischen den verschiedenen Genren, in denen man sich kompetent erweise, solle keine Synthese im Sinne Kants mehr vorgenommen werden.[1033] Die Postmoderne polemisiere gegen die Vorstellung eines in sich geschlossenen ganzen Menschen. Diese Konzepte Lyotards und Welschs haben nun erhebliche praktische Konsequenzen, auch für die Pädagogik.
„Und sie wollen diese Konsequenzen haben. Sie wollen z.B. zur Konsequenz haben, dass die Konzeption einer Einheit der Identität (die z.B. in der Bildungstheorie als Einheit von Bildung gedacht wird) in Frage gestellt und neu bestimmt wird. Denn wenn nicht einmal mehr das Individuum aus einem Sinnganzen, nämlich dem seiner Identität, heraus handelt, also wenigstens in seiner Besonderheit Totalität ermöglicht, sondern ‘zerfällt’ oder aufgeteilt ist in partielle Funktionen und Lebensbereiche, so ist z.B. der Gedanke, Bildung als Erzeugung einer Totalität des Besonderen, nämlich der Identität unter Geltungsanspruch, nicht mehr zu legitimieren. Die Bildungstheorie hätte eines ihrer Fundamente verloren.“[1034]
Ladenthin verweist die gespaltene Persönlichkeit, der diese postmodernen Konzepte entsprechen, in den Bereich der Pathologie. Der Anspruch richtet sich nach der Vorstellung eines nicht geteilten, gesunden Bewusstseins, einer einheitlichen Persönlichkeit. Welsch aber drehe diese Argumentation um. Für ihn habe sich der Anspruch nach dem Pathologischen zu richten. Welsch schreibt, dass die Kunst uns lehre, dass die variable Identität vom Stigma zum Modell geworden sei und dass sie uns auch aufzeige, wie eine solche variable Identität lebbar werde, „‘… so dass Strukturen, die bislang für krankheitscharakteristisch galten, künftig für eher lebensermöglichend anzusehen sind.’“[1035]
Als ein Kritikpunkt an der postmodernen radikalen Pluralität bringt Ladenthin vor, dass es die Frage sei, warum Welsch überhaupt seine These vertrete, wenn er doch behaupte, dass „‘… keine Wirklichkeitsbeschreibung tragfähig ist, die nicht zugleich die Plausibilität der Gegenthese verfolgt.’“[1036] Die „‘Polyphrenie’“[1037], die Welsch fordert, treffe auf seine eigenen Schriften nicht zu: „Dort liest sich in monophrener Argumentation, dass das Subjekt sich polyphren realisieren soll.“[1038] Unter Hinweis auf die Geschichtlichkeit des jeweils als wahr Angesehenen, kündige Welsch auch den Wahrheitsanspruch auf, was die völlige Beliebigkeit von Aussagen zur Folge hätte. „Er verabsolutiert die Relativität und begibt sich in einen Selbstwiderspruch.“[1039]
Zur ethischen Dimension der Ausführungen Welschs stellt Ladenthin folgenden Gedanken zur Diskussion: Welsch fordert eine interne Pluralisierung der Subjekte, die der externen Pluralisierung der Lebenswelten entspreche. Mit einer solchen Pluralität umgehen zu können, sei normativ geboten. Es gehe Welsch also um Normen, so Ladenthin. Dazu sei zu fragen, wieso es in einer Zeitsituation, die durch die Vielheit und Heterogenität von Lebensformen „‘objektiv’“[1040] bestimmt sei, überhaupt Normen geben soll. Wenn das Widersprechende und Widersprüchliche auch seinen Wahrheitswert habe, seien Normen nicht zu legitimieren. Welsch sage auch, Normen seien nicht letztlich zu legitimieren. Dies bedeutet aber, folgert Ladenthin, dass die Normen nur mittels Herrschaft und Gewalt durchgesetzt werden können. „Eine merkwürdige Pluralität, die er konzipiert.“[1041]
Und wie stellt sich Welsch vor, dass „erzogen“ werden soll? Ausgerechnet der Kunst schreibe Welsch erzieherische Bedeutung zu. Sie könne uns den Weg weisen. Ladenthin fragt, ob es die Aufgabe der Kunst sei, Wege zu weisen. Wodurch unterscheidet sich die Kunst von „uns“, dass sie einen Führungsanspruch behaupten kann? Wodurch wird sie zu dieser Funktion legitimiert? Und welche Kunst? Welsch schreibt, dass der Kunst Avantgarde-Funktion zukomme. „‘Sie generiert neue Identitätsformen, und sie lebt die entsprechenden Verhaltensweisen vor und übt sie ein.’“[1042] Durch das Vorleben der Identitätsformen, werden diese natürlich zu Identitätsnormen, folgert Ladenthin.
Woher bekommt Welsch aber den Geltungsgrund für das, was er als richtig ansieht, wenn Normen nicht zu legitimieren seien? Das Kriterium sei die Praktikabilität ethischer Aussagen in einer gegebenen Gesellschaft, meine Welsch. Ethisch gut und richtig sei, „… was in einer vorgefundenen Gesellschaft zum im Massstab dieser Gesellschaft erfolgreichen Handeln führt.“[1043] Welsch beruft sich unter anderem auf soziologische Analysen, die den Trend zur fortgesetzten Pluralisierung bestätigten. Ladenthin kommentiert, dass also nach Welsch die Geschichte die Richtung des Denkens und damit das Richtige vorgebe, und:
„Damit aber wird eine konkrete soziale Verfasstheit zur Legitimation ethischen Verhaltens angeführt. Übertrüge man diese Konzeption auf eine Unrechtsgesellschaft, dann wäre jenes Verhalten nicht nur gerechtfertigt, sondern auch ‘gerecht’ und moralisch richtig wie gut, das den (Unrechts‑)Normen dieser Gesellschaft Geltung verschafft. Das kann aber Welsch doch nicht wollen! Sein Vorgehen in ethischen Fragen verfährt aber eben so. Welsch fordert Normen. Und er legitimiert sie aus der (zufälligen) Faktizität einer gegebenen Gesellschaft. Er kann das aber nur tun, wenn er voraussetzt, dass das, was ist, auch gut ist, eben weil es ist.“[1044]
Auch wenn man der soziologischen Beschreibung Welschs zustimmen möge, der Deklaration dieses Zustands als Norm sei nicht zu folgen, meint Ladenthin. Welschs Modell einer relativen Wahrheit führe zu einer Apologie der absoluten Unwahrheit. Damit betreibt sein Modell die Selbstauflösung.
Christian Beck legt im Jahr 1993 eine detaillierte Zusammenstellung der Postmoderne-Rezeption der Pädagogik vor: „Ästhetisierung des Denkens. Zur Postmoderne-Rezeption der Pädagogik. Amerikanische, deutsche, französische Aspekte.“[1045] Ihn interessiert die Frage: „Was wird aus der Pädagogik, wenn ihr das Subjekt von Erziehung und Bildung verlorengeht, und wenn pädagogische Theorien auf keine Realität mehr verweisen?“[1046] Neben der Sichtung des vorliegenden Materials aus der pädagogischen Postmoderne-Debatte war es Becks Ziel, eine zentrale Kategorie zu entwickeln, die einer Vielzahl von Erscheinungen Rechnung trägt. Er fand sie unter dem Begriff: „Ästhetisierung des Denkens“. Der Begriff „Postmoderne“ stellt für Beck einen normativen Deutungsbegriff dar, der „Postmodernismus“ sei eine Geisteshaltung.[1047]
In unserem Zusammenhang interessiert Becks Definition dieser Kategorie der Ästhetisierung pädagogischen Denkens, die als eine Art Richtungsweisung für die Pädagogik gelesen werden kann. Beck definiert das Ästhetische in der Postmoderne-Diskussion im weiten Sinne der altgriechischen „aisthesis“ und „aisthanomai“: „… mit den Sinnen wahrnehmen, empfinden oder spüren; im übertragenen Sinn: mit dem Geist wahrnehmen, beobachten, merken, bemerken.“[1048] Es gehe weniger darum, die Beobachtungen auf Begriffe zu bringen, als deren Wahrnehmungen zu leisten. Es geht „… um eine andere Form des Begreifens – weniger um eine begriffliche ‘Wirklichkeit der Konstruktion’ als um eine solche ‘der Imagination’.“[1049] Ästhetische Denker seien „Wahrnehmungs-Experten“.[1050] Postmodernistisch-ästhetisches Denken stimme mit Momenten überein, die sich in der Begründungsschrift einer „wissenschaftlichen Ästhetik“ bei A. G. Baumgarten finden liessen: „‘Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis’, als ein ‘dem rationalen Denken analoges Erkennen’.“[1051] Es sei um eine ästhetische Revision und Revolution der wissenschaftsbestimmten Neuzeit gegangen. Damals wie heute sei eine „… stärkere Berücksichtigung sinnenhafter, mimetischer und imaginativer Potenzen“[1052] gefordert. Die Postmoderne anerkennt allerdings, anders als Baumgarten, die Vorherrschaft der Vernunft nicht mehr an. Die Ästhetisierung beanspruche, herkömmliche Verbindlichkeiten zu kritisieren. Die Kritik richte sich vor allem auf eine „durch Wissenschaft und Reflexion bestimmte, auf Begriffe fixierte Kultur.“[1053] Es sei auf eine „Kompetenz der Sinne“ zu setzen und ein „ästhetisches Wirklichkeitsparadigma“ zu konstruieren. Unter dem Titel „Ästhetische Konstitution von Wirklichkeit“[1054] behauptet Beck, dass die Grundlagen dessen, was wir unter Wirklichkeit verstehen, fiktionaler Art seien. Seit Kant, Nietzsche, Feyerabend, Goodman und Rorty sei bekannt, dass Wirklichkeit nicht gegeben, sondern gemacht sei, und dass unser Erkennen nicht wiedergebe, sondern erzeuge. Indem sich Wirklichkeitserzeugung fiktionaler Mittel bediene, nämlich Grundbilder, Anschauungsformen, Metaphern, Stile, Phantasmen und Projektionen verwende, habe sie kunstverwandten Charakter. Nach Welsch müsse deshalb die Pädagogik in ästhetische Wirklichkeitszugänge und -Weltdeutungen einführen. Die Kunst erhalte damit eine Leitfunktion.[1055]
Anschliessend postuliert Beck eine „Kongruenz von Wissenschaft und Kunst“[1056]. Die Postmoderne anerkenne die Relevanz der wissenschaftlichen Rationalität als einer Rationalität unter anderen. Postmodern geschehe der Wissenschaft „… eine Wiederverzauberung durch die Zulassung anderer Wissensarten und Arten der Wissenserzeugung, durch die Zulassung unmittelbarer sinnlicher und ästhetischer Erfahrung.“[1057] Auch Feyerabend betrachte Wissenschaft als Kunst, sofern die Kriterien ‘Wahrheit’ und ‘Überprüfbarkeit’ nur innerhalb bestimmter Denkstile Gültigkeit hätten. Beck stellt dann die Frage, ob es für eine aktuelle Konzipierung der Pädagogik als Wissenschaft auch eine Homologie von Wissenschaft und Kunst gebe.[1058]
Im Schlussteil der Arbeit, wo er wieder auf seine Frage einer Ästhetisierung der Pädagogik zurückkommt, fragt Beck, welches denn förderliche Bedingungen für die Aufnahme postmoderner Theorien in die Pädagogik wären. Unter anderem müsste die Pädagogik ein Krisenbewusstsein entwickeln, das sie „… u.a. nach postmodernistischen Theorien als möglichen Auswegen aus der Krise fragen lässt (…).“[1059] Bis jetzt lasse sich aber noch keine Verlaufsstruktur in der Diskussion erkennen, die zu einer diesbezüglichen Positiv-Diagnose führe. In der deutschen Diskussion seien es eher einzelne, die eine positive Wertung treffen, so z.B. Norbert Meder mit seinem Konzept des „Sprachspielers“.[1060]
Beck versucht, die Chancen eines postmodernen Wissenschaftsverständnisses für die Pädagogik auszuloten. Dazu stellt sich „… die Frage, welcher Wissenstyp als kennzeichnend für die Verfasstheit zeitgenössischer Pädagogik angesehen werden kann.“[1061] Gemäss Lothar Wigger, der sich am Wissenschaftsverständnis Lyotards orientiere, gehöre die Pädagogik dem Wissenstyp narrativen Wissens an. Sie sei nicht dem, was Lyotard Wissenschaft nenne, zuzurechnen. Unter den verschiedenen Pragmatiken von Erzählungen nach Lyotard sei für die Pädagogik die Zulässigkeit einer Pluralität von Sprachspielen hervorzuheben, die aber miteinander in einem dichten Geflecht zu einer Gesamtperspektive geordnet seien. Dies entspreche nicht einem postmodernistischen Konzept von Wissenschaft, das den Widerstreit von Differenzen einfordert. So hätte es die pädagogische Wissenschaft bei ihrem heutigen Stand schwer, sich überhaupt zu einer postmodernen Wissenschaft zu entwickeln. Ein postmodernistisches Wissenschaftsverständnis müsste sich nach Beck in die Richtung einer Homologie von Wissenschaft und Kunst bewegen.[1062]
Im folgenden diskutiert Beck die „zentrale Kategorie einer Ästhetisierung des Denkens“[1063] für die Pädagogik. Sinnenhafte und imaginative Potenzen sollten als Leit- und Vollzugsmedium des Denkens selbst dienen. Wie weit reichen nun diese Tendenzen einer Ästhetisierung in der pädagogischen Postmoderne‑Debatte? Kennzeichnend sei, dass die am weitesten entwickelten Entwürfe einer postmodernen Pädagogik[1064] durch ein in diesem Sinne ästhetisches Wirklichkeitsparadigma gekennzeichnet seien, z.B. bei Gregory L. Ulmer. In der Curriculumtheorie sei das „‘Pasticcio-Collage-Flüchtigkeits-Modell des Wissens’“ zu nennen, das Tim Mc Cracken befürwortet. (Beides US-amerikanische Autoren.) In der deutschsprachigen Pädagogik werden z.B. von Meder „Ästhetisierungen des Bildungsideals“ oder eine ästhetische Perspektive in der Bildungstheorie gefordert.[1065] Relevant sei auch, dass die massgeblichen Postmodernisten, die von der Pädagogik rezipiert werden, ästhetische Denker sind: Lyotard, der von der deutschsprachigen Pädagogik bevorzugt wird, oder Jacques Derrida (für die USA). Dies gilt auch, wie Beck an anderer Stelle erwähnt, für Foucault, Vattimo und Sloterdijk, die Bezüge zu ästhetischen Phänomenen herstellen. Feyerabend, von Welsch den anonymen Postmodernisten zugeordnet, betrachte „‘Wissenschaft als Kunst’“[1066]. Als Betreiber einer Aktualisierung der Ästhetik gilt auch D. Lenzen, der in der Postmoderne-Diskussion bereits einen Namen hat. Lenzen gab u.a. einen Sammelband heraus mit der Fragestellung „Ist die Erziehungswissenschaft auf dem Weg zur Ästhetik?“ (1990).[1067] Kann das Projekt Erziehung auch als ein künstlerisches betrieben werden? Diese Frage erachtet Beck als höchst relevant für die Chancen einer postmodernen Pädagogik. Die Vorstösse in Richtung Ästhetik würden eher von Sprach- und Literaturwissenschaftlern vorgenommen, wohingegen die „Riege genuiner Pädagogen“ sich darin schwertue.[1068]
Durch die politische Themenstellung „Aufklärung, Bildung und Öffentlichkeit“[1069] des Beihefts zur Zeitschrift für Pädagogik 1992, versucht Oelkers einen Kontrast zur ästhetischen Postmoderne zu entwickeln. „Die pädagogische Reflexion begrenzt damit ihre Selbstauflösung, die sich ‘postmodern’ kaum vermeiden liesse. Die Akzeptanz der modernen Pädagogik ist unmittelbar mit dem Programm der Aufklärung verbunden, und es wäre (…) zu zeigen, dass sich beides nicht erledigt hat.“[1070] Oelkers beurteilt die Aufnahme postmoderner Theoreme in die Pädagogik als destruktiv für die Pädagogik: Sie würde damit ihre eigene Auflösung betreiben
Von der erziehungswissenschaftlichen Diskussion angesprochene Merkmale des Postmodernismus und ihre Auswirkungen auf die Pädagogik
Die postmodernen Kategorien der Wissenschaftsfeindlichkeit und des Angriffs auf die Vernunft werden in der erziehungswissenschaftlichen Debatte als zentrale Ansatzpunkte der Destruktion pädagogischer Theorie hervorgehoben. In ihrer Verknüpfung stellen Vernunft und Wissenschaftlichkeit tragende Elemente einer allgemeinverbindlichen pädagogischen Theorie dar. Von mehreren Erziehungswissenschaftern wird darauf hingewiesen, dass mit der Umdeutung des Wissenschaftsbegriffs auf eine Relativierung der Wissenschaft hin und mit dem Aufgeben eines Vernunftanspruchs die pädagogische Theorie ihre Grundlage verliert. Die Verabschiedung des modernen Rationalitätsprinzips bedeutet das Ende des in den Wissenschaften verkörperten Vernunftanspruchs, so Mertens. Die Wissenschaft verliert die Möglichkeit, aufgrund ihrer Erkenntnisse dem Alltagswissen überlegene Einsichten und Aussagen zu liefern. Die praktische Vernunft wiederum kann keine Orientierung für die universalen Bedingungen menschlichen Miteinanders mehr geben. Bei einer Unfähigkeit der Vernunft zum Allgemeinen kann auch kein gültiges Telos der Erziehung gefunden werden. Den postmodernen Angriff auf die Vernunft erachtet Oelkers als den Dreh- und Angelpunkt für die Pädagogik mit weittragenden Folgen. Die Vernunft überhaupt werde bestritten. Dies bedeutet, dass die Dimension des Allgemeinen aufgegeben wird. Es existiert kein Beurteilungsmassstab mehr. Auch das Subjekt verliert seine Tiefendimension des Allgemeinen: Das ist der „Tod des Subjekts“. Die Moderne als pädagogisches Projekt strebt eine Organisationsform der Gesellschaft gemäss der praktischen Vernunft an. Dazu müssen die Menschen nach dieser Maxime erzogen werden. Die Erziehung des Menschen (und nicht nur von Mitgliedern privilegierter Gesellschaftsschichten) ist in der allgemeinbildenden Schule verwirklicht worden. Ohne allgemeine Vernunft, fixiert auf die Gegenwart, und angesichts unüberwindbarer Referenzprobleme der Sprache könne Erziehung gar nicht mehr begründet werden, folgert Oelkers. Mit der Aufnahme postmoderner Theorien in die Pädagogik würde diese ein für sie suizidales Programm übernehmen.
Zur Frage der Wissenschaft und der Wissenschaftlichkeit der Pädagogik verweisen die meisten Autoren auf die postmoderne Relativierung der Wissenschaft als eines Sprachspiels unter anderen, z.B. bei Lyotard. Wie schon bei Mertens erwähnt, kritisieren sie, dass die Wissenschaft damit ihren Objektivitätscharakter verliert und den Anspruch, allgemeingültiges Wissen bereitzustellen. Lenzen, als Vertreter postmodernen Denkens, stellt in Frage, dass die Ergebnisse empirischer erziehungswissenschaftlicher Forschungen objektiv und als Tatsachen zu verstehen seien. Lenzen geht im Sinne der poststrukturalistischen Simulationstheorie Baudrillards so weit, jegliche erziehungswissenschaftliche Theoriebildung als Mythos zu denunzieren, der seine eigene ‘Realität’ erzeuge. Er konzediert denn auch, dass die Aufnahme postmoderner Theoreme in die Pädagogik für diese eine bestandeskritische Bedrohung darstellen würde. Auch H. R. Müller folgert aus Lenzens Rezeption postmodernen Denkens für die Pädagogik, dass sich die Frage pädagogischer Wirksamkeit nachgerade erübrige, angesichts eines postulierten Endes systematischen pädagogischen Denkens und praktischen Bemühens. Es gebe ja keine pädagogische Wirklichkeit mehr oder zumindest die Möglichkeit, eine solche systematisch beeinflussen zu können. Erziehungspraxis ist nach Müller demgegenüber immer eine anthropologisch fundierte Aufgabe.
Garz spricht vom postmodernen Versuch der Zerstörung der Dignität wissenschaftlichen Wissens. Der Postmodernismus verstehe sich als Angriff auf die Wissenschaft generell. Dadurch, dass die Wissenschaft zu Diskursen mit relativer Gültigkeit aufgelöst werde, werde die Wahrheitsfähigkeit wissenschaftlicher Aussagen bestritten. Der Postmodernismus verstärke die schon existierende Aushöhlung des Geltungsanspruchs von Wahrheit, indem er die Vorstellung einer Nichtfeststellbarkeit von Wahrheit normativ wende. Es werde nun bereits behauptet, dass das Streben nach Wahrheit den Wunsch nach totalitärer Beeinflussung beinhalte. Wenn alle Informationen und alles Wissen als gleichwertig anzusehen seien, bedeutet dies für die Pädagogik, dass die Beliebigkeit an die Stelle der universalen Übereinkunft getreten ist. Ist der Rückgriff auf Normen verwehrt, lässt sich auch kein Verhältnis des freien und gleichberechtigten Nebeneinanders mehr begründen.
Göstemeyer deduziert aus den Aussagen postmoderner Theoretiker die Beschaffenheit einer postmodernen Pädagogik. Sie wäre radikal plural, würde auf ein vorgegebenes inhaltliches Allgemeines verzichten, wie auf Universalität überhaupt. Es existiere tatsächlich schon eine Theorie, die diese Ansprüche erfülle: die Anti‑Pädagogik bei v. Braunmühl, Kupffer und anderen. Die Pädagogik der Postmoderne sei die Anti‑Pädagogik. Göstemeyer hebt als Kritikpunkt hervor, dass das Lernen unabdingbar der Erziehung bedarf, wenn es nicht der Kontingenz ausgeliefert werden soll. Wenn postmoderne und antipädagogische Positionen auf eine pädagogisch vermittelte Selbstbestimmung zu verzichten können glauben, liefern sie das Kind dem willkürlich und zufällig als positiv Bezeichneten aus. Er merkt auch an, dass Pluralität und Individualität schon Optionen der neuzeitlichen Pädagogik waren. Postmoderne Pädagogik erscheine hingegen als dogmatisch, wenn sie Pluralität zum Pluralismus verabsolutiere. Wenn die antipädagogische Postmoderne das Allgemeine aufgebe, falle sie hinter das Reflexionsniveau der modernen Pädagogik zurück. Den Menschen mittels Erziehung zum Menschen zu begaben, sei eine bleibende Erkenntnis und Zielsetzung moderner Pädagogik.
In seiner Rezeption postmodernen Denkens für die Pädagogik geht auch Christian Beck davon aus, dass pädagogische Theorien auf keine Realität mehr verweisen würden. Die Grundlagen unseres Wirklichkeitsverständnisses seien fiktionaler Art. Die Wirklichkeit werde durch unser Erkennen konstruiert. Die wissenschaftliche Rationalität sei eine Form der Rationalität unter anderen, deshalb sollten auch unmittelbare sinnliche und ästhetische Erfahrungen gleiche Geltung haben wie jene. Als ein postmodernistisches Wissenschaftsverständnis müsste die Kongruenz von Wissenschaft und Kunst anerkannt werden, fordert Beck. Das neue Paradigma solle eine Ästhetisierung des Denkens werden, worin das begrifflich‑rationale Denken bildhaft, subjektiviert und versinnlicht werde. Ästhetische Erfahrung stelle denn auch eine radikale Provokation für die Pädagogik dar.
Die Kategorie der Subjektivität oder die der menschlichen Natur wird auch zu den wichtigen Rahmenbedingungen pädagogischer Theorie gezählt, die durch die Rezeption postmodernen Denkens in die Pädagogik gefährdet ist. Das selbstbestimmte Subjekt der Moderne ist vernunftorientiert im weiteren und praktischen Sinne des Begriffs, der auch Sittlichkeit und tätige Mitmenschlichkeit miteinschliesst. Daher beziehen sich die obenerwähnten Aussagen zur Vernunft auf die menschliche Person insgesamt. Speziell zum postmodernen Antihumanismus einer intendierten Auflösung der menschlichen Person äussern sich obige Autoren wie folgt: Mertens kritisiert die Vorstellung einer De‑zentrierung des Subjekts, z.B. durch eine Ontologisierung der Sprache bei Lyotard. Das mit sich selbst identische Subjekt werde gleichsam vom Spiel sprachlicher Differenzen aufgesogen, so dass es nun nicht mehr als Ursache, sondern als Wirkung sprachlicher Prozesse erscheint. Der Desanthropologisierung der Sprache entspreche die Verbannung des Subjekts aus der Philosophie. Die Pädagogik stehe aber unter dem Anspruch verbindlicher Argumentation unter vernünftigen Subjekten. Auch eine heterogene Vielfalt von Sprachspielen lasse sich in einen übergreifenden Menschheitszusammenhang vernünftiger Subjekte einfügen. Mertens hält daran fest, dass es Aufgabe von Bildung und Erziehung ist, den jungen Menschen zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung hinzuführen, was mit dem aufklärerischen Erziehungsziel der ‘Mündigkeit’ gemeint ist. Die Mündigkeitsnorm basiert auf einer personalen Auffassung des Menschen: auf dem Eigenrecht des Heranwachsenden, in der Erziehung jederzeit als Person anerkannt und angesprochen zu werden. Die pädagogische Leitnorm der Mündigkeit bedeutet die Erziehung zur Fähigkeit zur kritischen Selbstbestimmung und vernunftgeleiteten Lebensführung unter vernünftigen Subjekten und zur Fähigkeit zur Teilnahme und aktiven Mitgestaltung im Kontext der komplexen Aufgabenfelder der modernen Gesellschaft. Die postmodern propagierte Agonistik aller Sprachspiele müsse demgegenüber zu Bedenken Anlass geben, wenn der um die Dignität seiner Vernunft gebrachte Mensch nicht zur Welle im Daseinsstrom herabsinken solle.
Ladenthin nimmt Bezug auf die postmoderne Verabschiedung des einheitlichen Subjekts und die Propagierung einer pluralen Identität. Das Phänomen einer gespaltenen Persönlichkeit sei ein pathologisches, während der „gesunde“ Mensch eine in sich geschlossene einheitliche Identität hat. Welsch z.B. verdrehe die Pathologie zur Normalität. Ladenthin stellt fest, dass die erheblichen Konsequenzen für die Pädagogik, die mit diesem Menschenbild einhergehen, durchaus gewollt seien. Lyotard wolle, dass die Konzeption einer Einheit der Identität, die in der Bildungstheorie als Einheit von Bildung gedacht wird, aufgelöst wird. Bildung als „Erzeugung einer Totalität des Besonderen“, der Identität unter Geltungsanspruch, ist nicht mehr möglich, so Ladenthin, wenn das Individuum „zerfällt“ oder aufgeteilt ist in partielle Funktionen und Lebensbereiche. Mit dieser Zerstörung der Auffassung über ein einheitliches Subjekt verliert die Bildungstheorie ein Fundament. Wegleitend für die Erziehung sei nach Welsch die Kunst. Sie generiere neue Identitätsformen und übe sie ein. Ladenthin stellt die Legitimation der Kunst, Wegweiserin für die Erziehung zu sein, in Frage. Womit wolle sie diesen Führungsanspruch begründen? Durch das Vorleben neuer Identitätsformen würden diese zu Identitätsnormen. Normen aber seien nach Welsch letztlich nicht begründbar. Ladenthin zeigt mit seiner logischen Argumentation, dass derartige Postulate, wie Welsch sie vorträgt, in sich widersprüchlich sind.
Lenzen verwirft im Sinne der Postmoderne den Subjekt-Begriff. Er schlägt eine Theorie autopoietischer Systeme vor, die eine Theorie des Individuums sei. Da auf die Vorstellung einer gemeinsamen menschlichen „Substanz“ – mit anderen Worten: einer bei allen Menschen gleichen menschlichen Natur – verzichtet werden müsse, könne man auch nicht mehr von Subjekten sprechen. So könne man auch nicht mehr darüber urteilen, welche Art von Lebensführung ein gelingendes Leben sei. Es handle sich (bloss) um Selbstorganisationsprozesse. Lenzen will daher den Begriff der Erziehung durch den der Selbstorganisation (Autopoiese) ersetzen. Der Erzieher habe nicht anzuleiten und einzuwirken, auch nicht zu bilden, sondern seine Aufgabe bestehe nur noch darin, Hindernisse für die freie Selbstorganisation der Jugendlichen wegzuschaffen. Die jungen Menschen würden sich selbst erschaffen nach ihrem individuellen Bild des „Erhabenen“. Hier wird also mit Hilfe des Bildes vom Menschen als eines autopoietischen, sich selbst erschaffenden Systems die Erziehung abgeschafft: die Stossrichtung der Antipädagogik.
Nach Garz wird im postmodernen Denken die Verbindung des Wissenserwerbs mit der Bildung der Person aufgelöst. Bis anhin galt als klassische pädagogische Auffassung, dass der Wissenserwerb unlösbar mit der Bildung der Person und des Geistes verbunden ist. Die Studenten müssten nun nach Lyotard lediglich den Gebrauch von Computern zur Informationsbeschaffung lernen. Dies bedeutet für Garz eine eigentümliche Engführung des pädagogischen Aufgabenbereichs. Allgemein werde von Theoretikern der Postmoderne, konstatiert Göstemeyer, eine Krise des sinnkonstitutiven Subjekts ausgemacht. Daraus werde der Schluss gezogen, dass die Erziehungswissenschaft ausgedient habe. Erziehung solle durch (selbstgesteuertes) Lernen und Sozialisation ersetzt werden. Auch Beck deutet die postmoderne Situation für die Pädagogik als Verlust des Subjekts von Bildung und Erziehung. Das Projekt der Erziehung könne (auf dem Hintergrund eines ästhetischen Wirklichkeitsparadigmas, d.h. der Konstruktion von subjektiver „Wirklichkeit“) vielleicht auch als ein Künstlerisches betrieben werden. Ein ästhetischer Ausgangspunkt sei dem Erziehungsbegriff fremd, denn jener nimmt Abschied von der Vorstellung eines vernünftigen, autonomen Subjekts.
Die postmoderne Kategorie des Relativismus und der Wertezersetzung ist der Theorie der Sprachspiele und der radikalen Pluralität des Postmodernismus zuzuordnen. Deshalb bezieht sich die erziehungswissenschaftliche Kritik an der postmodernen Verabschiedung des Allgemeingültigen auch auf die Wertefrage. Negation der Universalität von Werten und Relativismus sind Kehrseiten der selben Medaille. Werte und Normen, Ethik und Moral gelten postmodern als Konventionen innerhalb eines Sprachspiels oder Diskurses. Abgelehnt wird die Universalität von Werten und Normen und die historisch überdauernde Gültigkeit von bestimmten Werten, wodurch auch die Werte des Menschseins aufgegeben werden. Mertens kritisiert die postmoderne Vorstellung eines gleichberechtigten Nebeneinanders aller Sprachspiele und Lebensformen, ohne dass noch nach universalen Bedingungen menschlichen Zusammenlebens gefragt wird. Dazu hält auch Garz fest, dass ohne Normen sich ein gleichberechtigtes Nebeneinander aller Alltagskulturen nicht mehr begründen lässt. Pädagogik ist aber wesenhaft an Normen erzieherischen Handelns gebunden: sie fragt nach den Gesetzmässigkeiten erzieherischen Handelns und denjenigen Normen, die sich an personalem Wohl und Gelingen orientieren, schreibt Mertens. Die Dimension der erzieherischen Normen kommt immer ins Spiel, wenn nach dem Seinsollen der erzieherischen Wirklichkeit gefragt wird. Es sind gerade die zentralen Aussagen der Pädagogik als Theorie für Praxis, die präskriptiver Natur sind. Pädagogik kann ihre normative Basis argumentativ als vernünftig ausweisen und rational begründen. Im Gegensatz dazu behauptet Lenzen, wie oben erwähnt, man könne im postmodernen Paradigma nicht mehr von gelungenem oder nicht gelungenem Leben sprechen. Es komme nicht darauf an, wie jemand lebe, ob er nun einen vermeintlichen Beitrag zur Höherbildung der Menschheit geleistet habe oder nicht. Da im Anschluss an Nietzsche und gemäss der postmodernen Auffassung der Mensch tot sei, könnten keine Normen des Menschseins formuliert werden, auf die die Zöglinge auszurichten seien. Die Pädagogik sei also auch nicht dazu berechtigt, für sich Leistungen der „Beihilfe zur Menschwerdung“ zu beanspruchen, die sich auf sogenannt anthropologische Normen gründeten.
Zum postmodernen Bruch mit der Geschichte wird in der vorliegenden Auswahl von Texten aus der erziehungswissenschaftlichen Diskussion wenig gesagt. Klar ist für die Autoren, dass in der postmodernen Sichtweise die Moderne als pädagogisches Projekt verabschiedet wird. Festgehalten wird auch, dass die postmoderne Auffassung von Wissen und Wissenschaft einen Bruch mit der abendländischen Episteme bedeutet. Oelkers erwähnt die postmoderne Fokussierung auf das Hier und Jetzt, und dass die Geschichtlichkeit als eine Kategorie des Bewusstseins zerfalle. Er weist darauf hin, dass auch im 20. Jahrhundert einflussreiche pädagogische Konzeptionen vom Optimismus getragen waren, dass die Erziehung, wenn mit ihr richtig verfahren werde, eine Zukunftshoffnung jenseits negativer Wirklichkeit gestatte. Pädagogik, die wesenhaft auf die Zukunft ausgerichtet ist, beinhaltet den Gedanken an einen Fortschritt durch Bildung und Erziehung für das Leben des einzelnen aber auch die Hoffnung auf eine geistige und moralische Vervollkommnung der Menschheit insgesamt. Ladenthin verweist auf den postmodernen Historismus. Mit dem historistischen Argument werde der Wahrheitsanspruch aufgekündigt.
Es konnte hiermit gezeigt werden, dass unsere Kategorien für postmodernes Denken auch in der erziehungswissenschaftlichen Auseinandersetzung über die postmoderne Philosophie diskutiert werden: Angriff auf die Vernunft, Wissenschaftsfeindschaft, Antihumanismus (Auflösung der menschlichen Person), Relativismus und Wertezersetzung, und ein Bruch mit der Geschichte.
Wir hatten uns auch die Frage gestellt, ob in der Debatte noch andere Kategorien für postmodernes Denken erscheinen. Ein weiteres Merkmal fällt hier auf: die „Ästhetisierung“. Verschiedene Erziehungswissenschafter, die postmodernes Denken affirmieren, nennen als Hauptmerkmal des postmodernen Paradigmas eine „Ästhetisierung“. So spricht Christian Beck von der zentralen Kategorie einer „Ästhetisierung des Denkens“[1071]. Darunter werden dann einzelne Charakteristika des Postmodernismus subsumiert. Es wurde also versucht, eine übergreifende Charakterisierung der diversen Merkmale postmodernen Denkens durch einen einzigen Begriff zu finden, der gewissermassen ein neues Paradigma abgebe. Diese Ästhetisierung sei richtungsweisend für ein Umdenken in postmoderner Zeit. Interessanterweise wird nun von Vertretern der Postmoderne wieder eine „Einheitskategorie“, eine „Totalität“, aufgestellt, wo sie sich doch vehement gegen jegliches „Einheitsdenken“ verwahren.
Was bedeutet nun aber diese Ästhetisierung für die Pädagogik? Im vorigen Kapitel wurde darauf eingegangen, was z.B. Beck unter ästhetischem Denken versteht: kein begrifflich-rationales Denken, sondern sinnlich-bildliche Imagination. „Es geht (…) um eine andere Form des Begreifens – weniger um eine begriffliche ‘Wirklichkeit der Konstruktion’ als um eine solche ‘der Imagination’.“[1072] Sinnenhafte und imaginative Potenzen dienen als „Leit- und Vollzugsmedium des Denkens“[1073]. Beck zählt einige exemplarische Hinweise für eine Ästhetisierung des Denkens in der Pädagogik auf: die am weitesten entwickelten Entwürfe einer postmodernen Pädagogik seien durch ein in diesem Sinne ästhetisches Wirklichkeitsparadigma geprägt. Bildung könnte „ästhetisch“ als etwas definiert werden, schreibt Beck,
„… das, stets flüchtig, tendenziell auf idiosynkratischer Erfahrung beruht (eine Vorstellung, die auch gängigem Unterricht und gängiger Lehrplanorientierung weitgehend widerspricht). Das aber wäre genau die Einfallsstelle einer postmodernistischen Pädagogik, die in gewisser Weise als Radikalisierung solch extremer Vorstellungen gedeutet werden kann. Als paradigmatisch kann dafür das Genre ‘Mystory’ gelten, welches persönliche Geschichte (auch sie ist stets überdeterminiert, in ihrer Deutung flüchtig), die historische Geschichtsschreibung und andere differente Wissensarten miteinander ins Spiel bringt.“[1074]
Als Beispiel bringt Beck eine von einem Germanisten entworfene Vision postmodernen Literatur‘unterrichts’:
„‘Die postmoderne Literatur betreibt Sinn-Verweigerung, wo die Lehrpläne der Literatur Botschaften, Sinn-Suche oder zumindest Sinn-Angebot abverlangen. Die Sinn-Destruktion erzeugt aber keinen bedeutungsleeren Chaos-Raum, sondern ein Spiel mit möglichen, miteinander konkurrierenden Bedeutungsangeboten. Innerhalb dieses Spiels der Varianten werden zugleich die Techniken und die Kategorien des Lesers, mit deren Hilfe er gelernt hat, Sinn herzustellen oder zuzuweisen, problematisiert. (…) Die Institution Schule müsste dann allerdings ihr pädagogisches Wächteramt über das, was, und die Art, wie man lesen soll, möglichst bald an die Literatur selbst zurückgeben.’“[1075]
Beck kommentiert, dass sich in solchen Publikationen zeige, dass eine Ästhetisierung pädagogischen Denkens eine Distanz zu überwinden hätte. Kein Wunder, da ja die Pädagogik offensichtlich überflüssig und abzuschaffen sei. Nach dem Schweizer Kunsthistoriker Gottfried Boehm könne man bei ästhetischer Erfahrung keineswegs von „Erkenntnis“ sprechen, wie sie ein herkömmlicher Unterricht verlange. Ihre Qualität sei bildlich, subjektivistisch und nicht kommunizierbar. Beck meint, dass gerade eine postmodernistische Pädagogik damit keine Schwierigkeiten hätte.[1076] Die Ausgangspunkte der ästhetischen Modernität, auf die sich der Postmodernismus beziehe, so der belgische Erziehungswissenschaftler Jan Masschelein, seien dem Erziehungsbegriff völlig fremd: „Sie liessen dessen Grundvorstellungen von Subjektivität und dessen Grundvorstellungen über das Verhältnis von Subjektivität und Intersubjektivität (das Prinzip der Entwicklung, die Idee der autonomen, vernünftigen Subjektivität) ausser acht.“[1077] Mollenhauer kritisiert, dass ästhetische Erfahrung „‘eine radikale Provokation dessen, was neuzeitlich (und immer noch) Pädagogik heisst.’“ sei. Und: „‘Auf egologische Sätze – denn von dieser Art sind die Beschreibungen ästhetischer Wirkungen – lässt sich keine Pädagogik gründen, jedenfalls nicht in dem Sinne von Pädagogik, an den wir uns seit Comenius gewöhnt haben.’“[1078] Beck gesteht seinerseits zu, dass sich die Pädagogik „nur um den Preis einer Selbstauflösung auf einen ästhetischen Postmodernismus einlassen“[1079] könnte.
Die erziehungswissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem postmodernen Denken behandelt die gleichen Kategorien und Themenbereiche der postmodernen Theorien, wie wir sie herausgearbeitet haben. Für die Vertreter der Erziehungswissenschaft stellen diese Bereiche (Kategorien) ebenfalls zentrale Voraussetzungen pädagogischer Theorie (und Praxis) dar. Sie dürfen als „Einfallstore“ des postmodernen Angriffs auf die Pädagogik gelten. Die Überlegungen, die in der Erziehungswissenschaft zur Bedeutung postmoderner Theorien für die Pädagogik angestellt werden, weisen in die Richtung, dass deren Anwendung in der Pädagogik zerstörerische Auswirkungen hätte. Die Kategorien des Angriffs auf die Vernunft, der Zerstörung oder Verabschiedung des Subjekts, der Wissenschaftsablehnung, der Wertezersetzung und des Relativismus, des Bruchs mit der europäisch‑abendländischen Geistestradition und des Projektes der Moderne, sowie des Historismus, werden auch von der Erziehungswissenschaft als zentrale Merkmale postmoderner Philosophie mit zerstörerischen Konsequenzen für die Pädagogik beurteilt. Als zusätzliche, übergreifende Kategorie für ein postmodernes Paradigma schlagen einzelne Vertreter der Erziehungswissenschaft eine „Ästhetisierung des Denkens“ vor.
Im Durchgang durch die erziehungswissenschaftliche Diskussion wurde deutlich, dass die Aufnahme des postmodernen „Paradigmas“ mit seinem Angriff auf die zentralen anthropologischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen pädagogischer Theorie zur Selbstaufgabe der Pädagogik führen würde.
Konzepte für eine postmoderne Pädagogik
Im folgenden Kapitel soll auf Beispiele von postmodernen Entwürfen für die pädagogische Praxis, d.h. für Lehrplan und Unterricht im Sinne eines Postmodernismus eingegangen werden. Um den Rahmen der Arbeit nicht zu sprengen, werden drei ausgewählte Konzepte in ihren Grundzügen dargestellt. Anschliessend (Kapitel III.5.) werden wir Beispiele dafür aufgreifen, wie und wo postmoderne Tendenzen schon in die aktuelle Pädagogik eingeflossen sind. Entwürfe und Vorschläge für einen postmodernen Unterricht finden sich in der angelsächsischen Literatur und zum Teil in der deutschsprachigen. Es muss auch darauf hingewiesen werden, dass der Begriff des Postmodernismus nicht immer erscheint, obwohl vom Inhalt her eine solche Tendenz auszumachen ist. Zuerst gehen wir aber auf die explizit postmodernen Entwürfe ein.
Im folgenden werden drei Ansätze für eine postmoderne Pädagogik behandelt. Die erste Konzeption stammt aus England mit dem Titel „Postmodernism and Education. Different voices different worlds.“ von Robin Usher und Richard Edwards, erschienen 1994.[1080] Das zweite Beispiel ist ein deutsches von Edmund Kösel: „Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur Subjektiven Didaktik.“[1081] für die Zeit der „Postmoderne“ aus dem Jahr 1993. Die von Beck genannte am weitesten ausgearbeitete amerikanische Konzeption für eine postmoderne Pädagogik heisst „Applied Grammatology. Post(e)-Pedagogy from Jacques Derrida to Joseph Beuys.“ von Gregory L. Ulmer, zweite Auflage 1987.[1082]
Postmodernism and Education
Zuerst zu Usher/Edwards „Postmodernism and Education“. Die britischen Autoren rezipieren verschiedene postmoderne Ansätze aus der Philosophie und versuchen, daraus Ansätze für die Erziehung und das Lernen in der Postmoderne zu gewinnen. Ausführlich dargestellt und für die Pädagogik rezipiert werden Foucault, Lyotard, Derrida und Lacan. Die vier poststrukturalistischen Autoren sind sich darin einig, dass der postmoderne Moment bedeutet, die essentialistischen und transzendentalen Konzeptionen einer menschlichen Natur zurückzuweisen. Einheit, Homogenität, Totalität, und Identität werden ebenfalls abgelehnt. Jeder der genannten Autoren habe massgeblich zur Entwicklung der aktuellen postmodernen Situation beigetragen, schreiben Usher/Edwards.[1083]
Die Postmoderne wird von Usher/Edwards wie folgt charakterisiert: Das Vertrauen in Wissenschaft und Rationalität sei zusammengebrochen. Es gebe keine Objektivität und Werteneutralität in der Wissenschaft. Alle Wissen (Mehrzahl!) sind lokal, partiell, historisch und mit Macht verbunden. Universelle Begründungen von Wissen werden in der Postmoderne verworfen. Es existiert kein legitimes Zentrum, worauf Glauben und Handeln begründet ist. Wir leben in der Postmoderne in einer Welt rapiden Wandels und verwirrender Unstabilität, wo Wissen sich ständig wandelt und die Bedeutung „flottiert“, ohne in einem grundlegenden Wissensbestand fixiert zu sein. Nach Baudrillard befinden wir uns in einer Situation der Hyperrealität mit multiplen Interpretationen, multiperpektivischem Wissen und dem Zusammenbruch von Objektivität. Die Repräsentationen werden selber zur ‘Realität’. Kein Schema des ‘common sense’ könne mehr angewendet werden.
Zentral ist die Stellungnahme der Autoren zum Menschenbild: Es gebe keine menschliche Natur oder ein „wahres Selbst“. Das Subjekt sei durch Bedeutung konstituiert: Obwohl wir in der modernen Sichtweise meinen, wir kontrollierten Bedeutung als souveräne Subjekte, kontrolliert diese uns. Diese Sichtweise bedeutet eine Herausforderung für das moderne souveräne Subjekt. Die Identität wird lediglich als eine relationale angesehen. Die Autoren sprechen auch von einer „multiple subjectivity“[1084]. Mit ihrer Zelebrierung von Pluralität und Differenz präsentiert die Postmoderne eine ambivalente und weniger fixierte Sicht von Subjektivität als die Moderne:
„It is equally clear that the emphasis in postmodernism on the inscribed subject, the subject constructed by discourses and signifying systems, ‘decentred’ through language, society and the unconscious, denies the existence of a ‘natural’ subject with inherent characteristics and potential and thus seem to contradict the very basis of educational activity. (…) the postmodern critique ‘stabs at the very heart of the most cherished ideals of Western culture [particularly that of] personal autonomy as an educational goal’.“[1085]
Die postmoderne Negierung einer menschlichen Natur und einer einheitlichen Persönlichkeit sticht mitten ins Herz der hochgeschätzten Ideale der westlichen Kultur, betonen die Autoren. Vor allem wird die Autonomie der Person als Erziehungsziel zerstört. Durch diesen Wandel werden die Tradition der Aufklärung und die Bedeutung der Erziehung in ihr in Frage gestellt. Die Pädagogik gehört zum Projekt der Moderne, die Erziehung ist ein Kind der Aufklärung. Heute ist die Erziehung einer tiefgreifenden Veränderung in ihren Zielen, Inhalten und Methoden unterworfen. Die Fundamente von Theorie und Praxis der Erziehung werden erschüttert. So wie die Postmoderne die Konzeption eines lernenden Subjekts herausfordert, fordert sie auch die existierenden Konzepte, Strukturen und Hierarchien von Wissen heraus. Die Erziehung spielt wiederum eine signifikante Rolle für den Wandel.
Postmodern soll in der Pädagogik das Gewicht verlagert werden von der Wissensvermittlung auf das „Erfahren“. Erfahrungsorientierte Zugänge zum Lehren und Lernen können als die Veränderungen gesehen werden, die nun stattfinden, schreiben Usher/Edwards.[1086] Ein weiterer, damit zusammenhängender Akzent wird auf die Kultivierung des „Begehrens“ gelegt. Dieses ersetzt die moderne Orientierung an der Vernunft. „Experiencing becomes his own justification. In postmodernity the cultivation of desire threatens and to some extent replaces the modernity’s cultivation of reason.“[1087] „Erfahrung“ ersetzt die Vernunft und das Denken. Erfahrung ist natürlich immer subjektiv und soll nach Meinung der Autoren auch nicht anhand von objektiven Massstäben (die es sowieso nicht gebe) eingeordnet und beurteilt werden. Nach Featherstone sei jetzt das ästhetische Leben das ethisch gute Leben.[1088] Hiermit wird tatsächlich Ethik durch Ästhetik ersetzt.
Nach Lacan seien Lehrer kulturell konstruiert als jene, die wissen. Da sie aber von einem Unbewussten gelenkt würden, könnten sie das Wissen nicht beherrschen. Der Lehrer müsse also die Position des Wissenden verlassen. Zwischen Lehrern und Studenten wird keine scharfe Unterscheidung mehr gemacht. Die Lehrer müssten den Boden, auf dem sie stehen, ständig hinterfragen. Bezeichnenderweise wenden die Autoren das postmoderne Gedankengut auf die höhere Erziehung an, z.B. an der Universität. Auf der Primarschulstufe wären die bedenklichen Auswirkungen einer Auflösung der Lehrerrolle wohl offensichtlich. Betrachtet man aber die Sichtweise von der Schule bei Foucault, der diese mit Gefängnissen gleichsetzt, liegen derartige Strategien, die zur Abschaffung von Erziehung und Bildung in der Schule führen, auf der Hand. Das Thema „Foucault und die Postmoderne“, das Usher/Edwards ausführlich behandeln, interessiert hier im speziellen, da Foucault einer unserer repräsentativen Postmoderne‑Denker darstellt.
Foucaults Werk nimmt – gerade in den USA – eine bedeutende Position im sich entwickelnden ‘Kanon’ der Postmoderne ein, schreiben die Autoren. Foucault hat die Sicht von der Moderne umgekehrt, indem er die rationalistische und humanistische Grundlage der Gesellschaft bezweifelt. Erziehung bedeutet nach Foucault nicht Emanzipation, sondern Disziplinierung des Subjekts. Wissen-Machtdiskurse konstituieren die Rolle von Objekten und Praktiken. Erziehung ist nicht einfach das, was in den Schulen vorsichgeht, sondern ein grundlegender Teil von Herrschaft. Um das Verständnis von Erziehung zu verändern, bieten sich Foucaults Texte geradezu an. Durch Erziehung werde das Kind „normalisiert“, d.h. an eine unterdrückerische Norm angepasst, und zu einem gehorsamen Körper gedrillt, der sozusagen automatisch in der gewünschten Richtung funktioniere. Gewisse Eigenschaften würden für Personen als „normal“ festgeschrieben und durch die Erziehung entsprechend angepasste Subjekte konstruiert. Andersartiges werde ausgeschlossen. Die Lehrer fungieren in diesem Schema als Ausführungsgehilfen der Disziplinierungs- und Normalisierungsmacht. Die „Lerner“ würden mittels des Erwerbs bestimmter Kompetenzen und Verhaltensweisen diszipliniert. So würden z.B. nicht arbeitsbezogene Kompetenzen ausgeschlossen, um gehorsame, arbeitswillige und funktionierende Körper zu produzieren. Nach Meinung der Autoren biete aber „the very fact of multiple determinations“[1089] (die Tatsache der multiplen Determinationen von Subjekten) Widerstandsmöglichkeiten.
Nach Zygmunt Baumann sei ein grundlegender Gedanke des Projekts der Moderne die Idee der Notwendigkeit, zu erziehen. Dies sei aber das Resultat einer bestimmten Erzählung unserer Kultur: nämlich von der Aufgabe der Erziehung, aufzuklären und zu emanzipieren.[1090] Usher/Edwards führen dazu aus, dass Erziehung nicht ‘natürlich’ aus einer Erkenntnis der essentiellen Attribute der menschlichen Natur erfolge. Erziehung sei selber ein historisches kulturelles Konstrukt. Baumann behauptet, im Sinne der Autoren, dass wir heute Zeugen des Zusammenbruchs dieses legitimierenden Diskurses als eines Aspektes des Trends zur Postmoderne seien. Daraus folge eine Krise der Erziehung. Das Ziel ‘menschlich zu werden’ sei nicht mehr definierbar, es habe einen variablen Inhalt, und es gebe verschiedene Mittel, es zu erreichen. Keines davon könne anderen gegenüber als „besser“ bevorzugt werden.
Im folgenden soll kurz auf Ushers/Edwards Rezeption von Derrida eingegangen werden. Derrida untergräbt durch seinen dekonstruktivistischen Zugang die Gedanken der westlichen Philosophie, schreiben sie. Es gebe nicht eine Wahrheit, da sei immer Interpretation. Dass ein Text eine einzige, definitive Bedeutung habe und diese gelehrt werden könne, sei Resultat der logozentrischen Position der westlichen Philosophie. Wortspiele, Scherzhaftigkeit und eine generelle Unseriosität sind Werkzeuge einer dekonstruktiven Strategie, deren Ziel es ist, die Gewissheiten der Sprache und ihre Transparenz zu untergraben.[1091] Auch bei Derrida wird natürlich das Subjekt aufgelöst.
„If the centre does collapse and subjects do not control language then the very notion of a centred ‘sovereign’ subject is undermined. As we have seen, (…) many troubling ‘postmodern’ questions then emerge. Who and where is the subject? If the subject in control of the language is rendered problematic are we not thereby deprived of any sense of agency and therefore efficacy?“[1092]
Das bedeutet für die Erziehung, dass keine Vorstellung mehr besteht, woraufhin und wie erzogen werden soll. Und noch mehr: Wir könnten keinen Sinn mehr in unserem Handeln finden, auch Erziehung hätte keinen Sinn mehr. Derrida operiert mit einem Begriff von „Text“, dem er eine eigene Bedeutung gibt: Alles ist ein Text, vorgegeben durch die Präexistenz der Sprache, die durch Kultur, Geschlecht und Gesellschaft geprägt ist. Wir übernehmen Bedeutungen. So wie wir die Welt verstehen, ist dies Teil eines Textes. Da es keine Wahrheit, keinen Bezugspunkt gibt, gibt es immer nur Interpretation. Unterhalb eines Texts befindet sich wieder ein Text und so weiter. Subjekte sind selbst Texte. Das dezentrierte, relative Selbst stellt kein Zentrum mehr dar. Derridas antihumanistische Dezentrierung des Subjekts bedroht die Vorstellung von Autonomie, von einem selbstbewussten Subjekt, welches direkten Zugang zum Realen hat. Ohne ein autonomes Subjekt würde Erziehung aber überflüssig werden, folgern die Autoren. Es gebe nach Derrida auch keine Realität, auf welche der Text der Erziehung zurückgreifen könnte. Es existierten nur Geschichten über Erziehung. Damit habe Derrida die Art verändert, wie wir Philosophie und das ganze logozentrische Projekt westlichen Denkens verstehen, in welchem Erziehung eine so wichtige Rolle spielt, schreiben Usher/Edwards. Als Erzieher hätten wir zu erkennen, dass wir in eine machtförmige Erzählung verstrickt sind, um sie dann zu dekonstruieren.
Unter dem Titel „The cultivation of desire. Experience and the postmodern moment.”[1093] erörtern Usher/Edwards Konsequenzen aus der postmodernen Sichtweise für die Pädagogik. Postmoderne Texte würden die herkömmliche Sicht von Geschichte als einem Fortschritt hin zu Emanzipation durch die Entwicklung der Vernunft und wissenschaftlichem Wissen herausfordern. Usher/Edwards propagieren das Erfahrungslernen („experiential learning“) als Zusammenhang zwischen Erziehungstheorie und -Praxis für den postmodernen Moment. Erfahrungslernen liefere ein Feld, um das Begehren hervortreten zu lassen. Durch das Hervorrufen von Erfahrung könne man das Begehren besser kultivieren. Auch könnten darin viele unterschiedliche Meinungen artikuliert werden. Das Erfahrungslernen hat gemäss den Autoren immer als die authentische Stimme des Individuums gegolten. Es wurde als progressive Bewegung in der Erziehung konstruiert, eine Bewegung weg vom Lernen eines Wissenskanons hin zur Kultivierung des Begehrens. In England wurde diesem in den 80er Jahren wichtige Bedeutung zugemessen. Es wurde kritisiert, weil es darin versagte, den Misserfolg vieler Kinder zu überwinden, da die Standards nicht erreicht wurden, berichten die Autoren. (Anders formuliert: durch das Erfahrungslernen selber und die damit einhergehende Vernachlässigung der Wissensvermittlung konnten die Standards nicht mehr erreicht werden, wie verschiedene Untersuchungen belegen.)
Kennzeichen des Erfahrungslernens sind[1094]:
Die Relativität von Wissen: Wissen (Mz.) werden geschaffen durch breit gestreute Quellen, auch solche des Alltagslebens. Die Erfahrung wird ständig neu konstruiert. Die Diversität von Erfahrung wird betont und ihre Artikulation durchgesetzt (!).
Innerhalb dieses Paradigmas gibt es kein universelles Wissen mehr, nur noch lokale, partikuläre Wissen in der Mehrzahl („knowledges”[1095]). Jeder Teilnehmer ist selber Produzent eines Wissens.
Damit hängt eine veränderte Rolle der Erziehungspraktiker zusammen: sie sind nicht mehr Quelle oder Vermittler des Wissens, sondern sie werden zu Förderern, die helfen, Wissen zu erzeugen und zu interpretieren.
Ein Angriff auf den Kanon der höheren Kultur und seine privilegierte Position in der Erziehung.
Die Verschiebung vom Wort zum Bild. Man soll nun in den Stoff eintauchen, statt ihn aus „Distanz“ zu bearbeiten. Das bedeutet eine Bewegung weg vom Buchlernen hin zu einer Betonung der Erfahrung als Quelle des Lernens, zum learning by doing, und der audiovisuellen Hilfen.
Wenn der Erfahrung und dem Lernen als Teil des Alltagslebens Wert beigemessen wird, gibt es keinen einzelnen Punkt der Beurteilung, was ‘richtiges’ oder ‘falsches’ Lernen sei. Alles hängt ab von der Situiertheit der Person in der Gesellschaft und dem Sinn, den sie selber hineinbringt oder herauszieht. „There is no single ordered view of the world to be imparted, but multiple ‘realities’ to be constructed through an already interpreted experience. Our knowledge and understanding of history and the present are relative and partial, dependent upon the meanings we take and which regulate and construct our experience.“[1096] Das Erfahrungslernen hat also unter anderem die Funktion, multiple ‘Wirklichkeiten’ zu erfinden.
Ein Ziel der postmodernen Erziehung ist die Kultivation des Begehrens und der Formlosigkeit. Für das Wichtigste halten Usher/Edwards, dass die Erfahrung Vorrang gegenüber der Rationalität habe. Hierbei fällt auf, dass in diesem postmodernen Verständnis Erfahrung und Vernunft/Verstand zueinander in einen Gegensatz gesetzt werden. Im neuzeitlichen, modernen Verständnis dagegen ergänzen sie sich: Subjektive Erfahrung wird reflektiert und kann objektiviert werden. Man muss sich daher fragen, ob da postmodern nicht irrationale Momente ins Spiel gebracht werden. Der Angriff auf den „Logozentrismus“ würde diese Vermutung bestätigen. Nach Baudrillard sei das ‘Reale’ nicht mehr das, was es gewesen war, und daher werde grösserer Nachdruck auf die gelebte Erfahrung gelegt. Postmodern werde die Welt in einer Art und Weise erfahren, in welcher sie noch nie erfahren wurde: durch Partizipieren und Eintauchen in ihre Bilder. Es gelte zu anerkennen, dass Erfahrung keine direkte Repräsentation der Welt ist, sondern selber ein Konstrukt, das Ergebnis diskursiver Praktiken.[1097] Unterschiedliche Gruppen geben ihm ihre eigenen Bedeutungen und konstruieren es auf ihre besonderen Weisen.
Klar ist, dass mit der postmodernen Ablehnung allgemeingültigen, universellen Wissens eine subjektivistische Sicht des Lernens eingeführt werden soll. Wenn ein Wissensbestand nur das Ergebnis bestimmter Machtdiskurse sei, muss er ‘logischerweise’ zerstört werden. Wenn das Wissen nur durch die Sichtweise bestimmter Gruppierungen, vor allem der patriarchalischen westlichen Kultur, konstituiert sei, muss es destruiert werden. Als Folge ihrer Negierung einer Realität muss die postmoderne „Pädagogik“ auf die Konstruktion und „Kreation“ von partikularen „Wissen“ in der Mehrzahl abheben. Diese radikal konstruktivistische Position für die Pädagogik deckt sich mit der Propagierung eines ästhetischen Paradigmas für die Pädagogik durch verschiedene Erziehungswissenschafter.[1098]
Usher/Edwards weisen daraufhin, dass in der postmodernen Sichtweise natürlich keine umfassenden Konzepte geboten oder Handlungsvorschriften gemacht werden könnten. Versuchsweise könnten folgende Charakteristiken für die Rolle der Erziehung in der Postmoderne gegeben werden:
Die Bedeutung des Werks von Derrida liege darin, das der Erziehung eigene Selbstverständnis als ein ‘Projekt’ zu dekonstruieren. Eines der Hauptcharakteristiken der Erziehung in der Postmoderne stelle das ‘Ende’ der Erziehung als eines Projekts dar, einer Erziehung als Vehikel, um das Projekt der Moderne zu realisieren. Das heisst: „It can no longer be dedicated – in its various forms – to the achievement of universally applicable goals – truth, emancipation, democracy [!], enlightenment, empowerment – pre-defined by the grand narratives.“[1099] (Erziehung kann nicht mehr universell anwendbaren Zielen verpflichtet sein: Wahrheit, Emanzipation, Demokratie, Aufklärung, Ermächtigung, die durch die grossen Erzählungen vordefiniert sind.)
So würde Erziehung sich diversifizieren in Bezug auf ihre Ziele und Prozesse, und sich nach kulturellen und lokalen Kontexten richten. Dies gilt natürlich auch für Lehrpläne und Methoden. Erziehung kann nicht mehr kontrollieren und ist nicht mehr kontrollierbar. Sie wird grenzenlos sein in Zeit und Raum, potentiell den epistemologischen, politischen und physischen Grenzen entfliehend, die ihr in der Moderne auferlegt wurden. Der Verlust der Fundamente stellt die Bestimmung der Erziehung als Produktion und Verbreitung von Fachwissen in Frage. Der „ergebnisorientierte Instrumentalismus“ („outcomes-based instrumentalism“)[1100] wird nur ein Teil der Diversität und Pluralität des erzieherischen Angebots sein. Die Schule wird so zum Selbstbedienungsladen oder Kiosk, wo sich jeder aus den Angeboten aussuchen kann, was er will und wozu er gerade Lust hat. Er darf dann damit seine Erfahrungen machen…
In der Postmoderne wird die erzieherische Autorität und „Kontrolle“ dezentriert. Als Konsequenz brechen die Grenzen in der Erziehung zusammen und zwar zwischen den Sektoren innerhalb und zwischen der Erziehung und ihr verwandten Bereichen. Denn nun könne jede Aktivität in jedem Kontext beanspruchen, potentiell erzieherisch zu sein. Erziehung hört auf, spezifisch konstruiert zu sein und wird stattdessen zu einem Aspekt des Lebens selber. Die ‘erzogene’ Person ist nicht eine, die durch die Vollendung der „Durchgangsriten“, die durch erzieherische Institutionen kontrolliert werden, beglaubigt worden ist. Jeder ist in verschiedenen Graden eine erzogene Person.
In der postmodernen Situation können durch Widerstand und Überschreitung, nicht durch Emanzipation, die dominanten Formen der Macht herausgefordert werden. In Gramsci’s Begriffen sei dies analog einem Manöverkrieg anstelle eines Verschleisskriegs. Es müssten aber viele Kriege an vielen Fronten geführt werden, behaupten Usher/Edwards. Der Krieg ende nie. Für Menschen, die durch den Diskurs des liberalen Humanismus geformt seien, sei der Gebrauch des Kriegs als Analogie zum postmodernen Widerstand zwar unbequem, aber der Krieg erziele eine Spaltung der modernen Erzählungen. Obwohl Krieg inhuman sei, seien solche „Disruptionen“ Teil der menschlichen Geschichte und keine Abirrungen. Sie manifestierten die Kämpfe und Wünsche der Leute, die Konflikte, die die Moderne zu unterdrücken versuchte. Die Postmoderne führe sie wieder ein in die Erzählungen der Menschheitsgeschichte. Die Kämpfe und Begehren, wovon die aktuellen Kriege nur ein Ausdruck seien, seien endemisch. Die Postmoderne zeige eine Perspektive auf, die das Ausmass ernstnimmt, in welchem der Traum der Vernunft von Frieden und Harmonie genau das sei: ein Traum.[1101]
Der Krieg wird also von Usher/Edwards ausdrücklich bejaht und als Notwendigkeit für eine postmoderne Gesellschaft angesehen. Der Humanismus mit seinen Idealen von Gewaltlosigkeit und Frieden stelle in Wirklichkeit eine Unterdrückung der wahren Wünsche und Bedürfnisse der Menschen dar, behaupten die Autoren im Sinne Foucaults und Lyotards. Wenn es nicht möglich wäre, unterschiedliche Interessen zu vereinbaren und diese durch Kämpfe ausgetragen werden müssten, bedeutet dies aber den Bürgerkrieg. Ist es das, was die Autoren wollen? Es mutet zynisch an, das Phänomen des Kriegs, nur weil es bis anhin vorgekommen ist, positiv zu wenden.
Die Autoren versuchten zu illustrieren, wie der postmoderne Moment in der Erziehungstheorie und -Praxis schon angedeutet wird, und wie der Beitrag der postmodernen Analyse sein kann, um laufende Prozesse in der Erziehung verständlich zu machen.
Applied Grammatology. Post(e)-Pedagogy from Jacques Derrida to Joseph Beuys
Beck stellt in seiner Übersicht zur Postmoderne-Rezeption der Pädagogik den Ansatz von Gregory Ulmer „Applied Grammatology“[1102] ausführlich dar. Ulmer habe den am weitesten ausgearbeiteten und theoretisch anspruchsvollsten Ansatz einer postmodernen Pädagogik vorgelegt. Er lehnt sich an die Rezeption des französischen Poststrukturalismus in den USA an. Die „Angewandte Grammatologie“ soll den Grundriss einer möglichen Vorgehensweise entwickeln, durch die sich zu einer postmodernistischen Pädagogik gelangen lässt, schreibt Beck. Derrida in Verbindung mit anderen Autoren ergibt den Ausgangspunkt für das von Ulmer angestrebte neue Paradigma. Der Titel „Grammatologie“ bezieht sich auf Derridas Theorie der Schrift, des Zeichens und des Bezeichnens. Grammatologie nach der Interpretation Ulmers umfasst den Aspekt der „Dekonstruktion“ und den des „Schreibens“ (auch als gestaltende Praxis gemeint). Derridas Theorie
„… bricht mit einer Anzahl herkömmlicher Vorstellungen und Begriffen der Philosophie: darunter so zentrale wie Vernunft, Ursprung, Subjekt und Geschichte, letztere gedeutet als eine Geschichte der Vernunft. Ulmer kommt es darauf an, das, was hier zunächst als Theorie vorliegt (theoretische Grammatologie), praktisch zu wenden und daraus eine angewandte Grammatologie zu entwickeln (…).“[1103]
Eine Pädagogik, die sich auf die angewandte Grammatologie gründet, werde durch eine besondere Art von Schrift gekennzeichnet sein, so die Kernthese Ulmers: durch eine „‘pikto-ideo-phonographische Schrift’“[1104]. Diese Schrift beinhalte piktographische (bilderschriftliche) und ideographische (sprachlich ungebundene) Elemente neben den üblichen Schriftzeichen.
„Mit dieser Vorstellung von Schrift tritt Ulmer (im Anschluss an Derrida) einem Logozentrismus, d.h. einer Vernunftvorherrschaft im westlichen Denken gegenüber. Dieser Logozentrismus habe eine pikto-ideo-phonographische Schriftpraxis bislang unterdrückt, und zwar zugunsten einer Höherbewertung alles Sprachlichen. (…) Worauf Ulmer anspielt und wogegen er sich wendet, ist die Vorstellung von der sprachlichen Verfasstheit des Denkens überhaupt. Diese Vorstellung gelte es zu relativieren (…).“[1105]
Derrida begreift alles, was eine Inskription sein kann, als Schrift. So zählen Film, Tanz, Bilder, Musik und Skulptur dazu, ebenso wie ganze gesellschaftliche Handlungsfelder. Daran knüpft nun Ulmer an: auch der gesamte pädagogische Handlungszusammenhang lässt sich als Schrift begreifen.[1106] „Erfindung“ und „Kreativität“ seien die entscheidenden Begriffe der neuen Pädagogik. Ulmer verortet die neue Pädagogik völlig im „‘Reich des Unbekannten’“[1107]: Erfindung tritt an die Stelle der traditionellen Realität. Im Anschluss an Bachelard wird eine dreiwertige Logik eingeführt, die Wahres, Falsches und Absurdes beinhaltet. Die Rede müsse stets durch das Bildliche ergänzt werden, so wie die pikto-ideo-phonographische Schrift es tue, um die logozentrische Herrschaft des Verbalen und des Diskursiven zu brechen. Die neue Pädagogik fühle sich der Veränderung verpflichtet.
Spezifisches Merkmal der neuen Pädagogik ist der
„… Imperativ, der darin besteht, die rein intellektuelle, distanzierte und neutralisierte Übermittlung von Informationen (die ideologische Vorstellung einer pädagogischen Kommunikation) zu ersetzen durch eine ‘paradoxe Technik der affektiven Erkenntnis’. (…) er verlangt nun ausdrücklich die Einbeziehung des Körpers (der bisher vernachlässigten Ränder des unterrichtlichen Diskurses), des Wunsches und des Begehrens sowie des Erkenntniswillens in dieses Konzept.“[1108]
Zu einer derartigen Pädagogik führe der Weg über die Erfahrungen der experimentellen Künste unseres Jahrhunderts. Hier finde die Pädagogik einschlägige Vorgehensweisen und Techniken. Das grammatologische Klassenzimmer sei einem Avantgarde-Theater vergleichbar. Wichtig ist nun die Neubestimmung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses: Es gestalte sich analog zur Abschaffung der Bühne und der Distanz zwischen Schauspieler und Publikum.[1109] Dies will wohl heissen, dass der Lehrer keine Fachautorität mehr darstellt. Das Klassenzimmer werde zu einem Ort der Lust und des Erfindens, nach dem Motto: „‘Jeder Mensch ist ein Künstler.’“[1110] Nach Ulmer unterliegen die Modi der Kognition einer entscheidenden Transformation im Zeitalter der elektronischen Medien. Das Denken müsse nun den Erfordernissen von Video entsprechen. Ein Genre sei vonnöten, das sich quer zu den verschiedenen medialen Ebenen (des Gesprochenen, des Geschriebenen und von Video) hindurchträgt. Durch Video werde nun eine Logik der Erfindung nutzbar. Ulmers Idee geht dahin, von den elektronischen Medien zu lernen und eine Verbindung zu schaffen zwischen den poststrukturalistischen Theorien von Derrida und der Medienkultur.
„‘… dass die Theorien von Derrida und den anderen französischen Poststrukturalisten (unterstützt durch gewisse Praktiken der Kunst) erstens die meiste Hoffnung für das Verständnis einer Ära anbieten, in der die Kulturtechnik sich vom Gedruckten zu Video verschiebt; und dass dieses Verständnis zweitens nicht nur eine Pädagogik einschliesst, sondern auch ein Programm der Popularisierung, das fähig ist, die fortgeschrittene Forschung in den geisteswissenschaftlichen Disziplinen mit der Führung des Alltagslebens wiederzuvereinigen.’“[1111]
Das von Ulmer dafür entwickelte Genre heisst „Mystory“: „my story“ oder „mystery“ und „history“, als „meine persönliche Geschichte“, die einem Rätsel mit vielen Bezügen gleicht und mit der allgemeinen Geschichte und den Wissenschaften verwoben ist.[1112] „Mystory“ soll eine Beziehung herstellen zwischen Oralität, Literalität und Videokultur. Es sei ein Übersetzungsverfahren, „… ‘das die Äquivalenzen zwischen den Diskursen der Wissenschaft, dem Alltagsleben und der persönlichen Erfahrung erforscht.’“[1113]
Diese Vorstellung lehnt sich an die postmoderne Gleichsetzung von Alltagskultur und höherer Kultur an, so wie es Finkielkraut trefflich charakterisiert hat: „Ein paar Stiefel sind ebenso gut wie Shakespeare.“[1114] Nach Leslie Fiedler, der in den sechziger Jahren auf die spezifischen Merkmale postmoderner Literatur hinwies, gilt als deren besonderes Kennzeichen eine neue Verbindung von Elite- und Massenkultur. In seinem programmatischen Aufsatz: „Überquert die Grenze, schliesst den Graben!“[1115] hat Fiedler diese Grundformel postmodernen Denkens entfaltet. Die Integration persönlicher Erfahrung in den akademischen Diskurs der Schule sei bisher ausgeklammert worden, so Ulmer.
Beck beurteilt Ulmers Entwurf folgendermassen: Die formalen Charakeristika postmoderner ‘Pädagogik’ wie Grenzüberschreitung, Betonung der Differenz oder der Pluralität als Chance erlangen durch ihre extrem ästhetische Prägung bei Ulmer eine andere inhaltliche Qualität. Es gibt dafür kaum Anknüpfungspunkte in der herkömmlichen Pädagogik oder Didaktik. Mit seinem Import poststrukturalistischer Theorie in einer spezifischen Lesart stehe Ulmer in der US-amerikanischen Pädagogik noch vereinzelt da.[1116]
Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur Subjektiven Didaktik.
Edmund Kösel, Professor für Schulpädagogik und Gruppenpädagogik an der Pädagogischen Hochschule in Freiburg/Br., konstruiert eine „Subjektive Didaktik“[1117] für die „Zeit der sogenannten ‘Postmoderne’”[1118]. Der Begriff ‘Postmoderne’ bezeichnet die „gegenwärtige politische und gesellschaftliche Situation”[1119], gekennzeichnet durch tiefgreifende Veränderungen in der Gesellschaft. Wir befinden uns „offenbar in einer weltweiten kulturellen, gesellschaftlichen und geistigen Krise”, so Kösel, und wir hätten „keine einheitlichen und verbindlichen Massstäbe”, um diese zu beurteilen.[1120] Mit dem Begriff Postmoderne sei innerhalb der Diskussion um neue Positionen im wissenschaftlich‑philosophischen Bereich eine neue Möglichkeit gemeint, diese Gegebenheiten angemessen zu untersuchen und mit ihnen umzugehen. Die Pluralität zu bejahen werde zur Chance, und die „Vielheit der Wirklichkeiten” zu akzeptieren eröffne neue Dimensionen im Umgang mit sich selber und mit anderen.[1121]
Die Schule müsse Raum bieten, um diese neue Weise des Umgangs mit Menschen zu verwirklichen. Das ist es, was Kösel unter dem Begriff „Lernkultur”[1122] versteht: als Lehrer und Schüler eine Bewusstseinsveränderung durchzumachen und andere Verhaltensweisen zu erlernen. In der Schule müsse ein Paradigmenwechsel stattfinden. Die „alten Mythen” gelte es zu durchschauen. Zu diesen „Mythen” zählt Kösel unter anderem: das linear-kausale Denken, Politik als verantwortliches Handeln, Theologie als Werte-Instanz, Wissenschaft als Garant des Fortschritts, der Mythos von der Erziehung und dem Kind als der „Noch-Nicht-Erwachsene“ oder der Mythos der Didaktik als Möglichkeit, den Menschen direkt zu verändern.[1123] Man müsse diese alten Mythen relativieren oder verabschieden, ebenfalls die Vorstellung von ‘Wahrheit’, ‘Objektivität’, ‘Gerechtigkeit’, ‘Frieden’, ‘Leistung’ etc. Auch unsere Vorstellungen über den lernenden Menschen als Kind oder als Erwachsener seien Mythen. Diese Mythen seien im Laufe der Jahrhunderte zu einer Didaktik verfestigt worden, die Kösel „Als-Ob-Didaktik” nennt.[1124] Kösel meint mit dieser abwertenden Bezeichnung die heutige Didaktik mit ihren vielfältigen Möglichkeiten, sich dem Entwicklungsstand der Schüler anzupassen und auf ihrem Vorwissen aufzubauen. Dieser postmoderne Paradigmenwechsel ist nach Kösel „… eine radikale und dramatische Veränderung unseres Bewusstseins. Meinungen, Gedanken und Werte, die uns jahrhundertelang gewiss waren und uns ein Gefühl der Sicherheit gegeben haben, erweisen sich immer mehr als unzulänglich, ja sogar als falsch.”[1125] Wir müssten, um eigenverantwortlich handeln zu können, lernen „individuelle Werte und Normen zu entwickeln”.[1126]
Beim „Mythos von der Erziehung”[1127] bezieht sich Kösel auf die antipädagogisch argumentierende Autorin Alice Miller.[1128] Die „fatale Leistungsideologie”[1129] unserer Kultur werde schon kleinen Kindern zum Verhängnis. Kösel setzt die Schule mit dem Arbeitsleben der Erwachsenen analog und beklagt, dass die Kinder keine Interessenvertretung wie etwa eine Schülergewerkschaft hätten. Er schildert die Bedingungen der „Lernfabrik” wie folgt: „Eintritt ins Schul- d.h. Arbeitsleben mit 6 bis 7 Lebensjahren, Mindest-Wochenarbeitszeit von 32 bis 40 Stunden, meist fremdbestimmt, nicht vereinbart, keine Entlohnung, zusätzlich 2 bis 4 Stunden täglich Hausaufgabenzeit (…).”[1130]
Mit Miller spricht Kösel von der „Schwarzen Pädagogik”[1131], der die Kinder heute ausgesetzt seien: der Verachtung und Verfolgung des schwachen Kindes und der Unterdrückung des Lebendigen. Ein zentrales Prinzip der „Schwarzen Pädagogik” sei es, „dass die Erwachsenen Herrscher – statt Diener! – des abhängigen Kindes sind”.[1132] Dies ist ein „klassisches” antipädagogisches Postulat: Die Antipädagogik fordert nämlich, dass die Erwachsenen dem Kinde dienen sollten. Kinder wüssten schon vom Säuglingsalter an selber und besser als die Erwachsenen, was gut für sie sei.[1133] Ganz im Sinne der Antipädagogik auch folgende Stelle:
„Die Schule ist die einzige öffentliche Institution, die noch auf der Annahme beruht, dass es wichtige Unterschiede zwischen Kindheit und Erwachsenensein gäbe, und dass die Erwachsenen den Kindern etwas Sinnvolles zu vermitteln hätten. (…) Aber der Autoritätsverfall der Schulen ist unverkennbar, und inmitten einer radikal veränderten Kommunikationsstruktur sind sie eher ‘Haftanstalten’ als ‘Bildungsanstalten’.”[1134]
In der Postmoderne, die nach Welsch eine „Geistes- und Bewusstseinshaltung”[1135] sei, wird das gleichzeitige Auftreten von unterschiedlichen Denk-, Lebens-, Lehr-, Lern- und Wertformen als etwas Befreiendes begrüsst. Die Tatsache der Pluralisierung betreffe nicht nur die Gesellschaft, sondern auch das Individuum selbst: „Auch im Individuum ist nicht nur eine Identität anzutreffen, sondern viele.”[1136] Im Individuum seien unterschiedliche Lebensformen, Wissenstypen, sogar kulturelle Unterschiede vorhanden. Innerhalb der vielen Lebenswelten zurechtzukommen, stelle eines der Hauptlernziele schon im Kindergarten dar!
Was bedeuten die geschilderten Veränderungen nun Kösels Meinung nach für den Unterricht? Die Didaktiker müssten Anreizstrukturen schaffen, um mit den Schülern eine gemeinsame „Biographische Selbstreflexion” professionell zu ermöglichen: das Reden über sich selbst und „… das Einüben in die Vielheit einer Gruppe mit ihren verschiedensten Werte-, Norm-, und Wissenssystemen.”[1137] Der Begriff des Unterrichts wird bei Kösel völlig umdefiniert: Unterrichten heisst nun „modellieren”.
„Jeder am Lernprozess Beteiligte darf und muss seine eigenen didaktischen Modellierungsinstrumente besitzen und sie entsprechend seiner biographischen Verfasstheit anwenden. Das gilt also nicht nur einseitig für den Lehrenden, sondern diese Modellierung geht gleichzeitig und gleichrangig auch vom Lernenden aus. Entsprechende Modelle gibt es schon und sie sind erprobt.”[1138]
Kösel ersetzt die Begriffe Lehrer und Schüler durch „Lehrende“ und „Lernende“. Beide Seiten durchleben einen Prozess, in dem kein Unterschied besteht zwischen Lehrer und Schüler. Der Lehrer soll also keine Fachautorität mehr sein. Jeder „lernt” auf seine eigene Art, so wie ihm gerade zumute ist und gemäss den Voraussetzungen, die er aus seiner Biographie mitbringt. Es darf hierzu angemerkt werden, dass die Konzepte des Offenen Unterrichts und der Freiarbeit schon seit Jahren eine Niveausenkung der Schüler zur Folge haben: in Deutschland, in den USA oder in England. Gerade die schwächeren Schüler werden durch diese „neuen Lernformen“ nicht mehr gefördert und erhalten keine Unterstützung und fachliche Hilfe beim Lernen.
Zurück zu Kösels Konzept. Dieses „Modellieren” verlangt natürlich die entsprechende Einstellung beim Lehrer, einen „Habitus“, wie Kösel sagt. Die Haltung des Modellierens müsse im „… beruflichen Habitus der Lehrenden völlig neu verankert werden, weil wir alle noch aufgrund unserer beruflichen Sozialisation in anderen Bewusstseinsstrukturen und Haltungen verharren.”[1139] Als Referenzen für das neue Bewusstsein bezieht sich Kösel auf die New-Age-Propheten Fridtjof Capra und Ken Wilber: Wir müssten wieder eine ganzheitliche und kosmische Sichtweise erlernen. Es werde nun eine Subjektive Didaktik benötigt, da eine objektivistische Didaktik nicht mehr zu verantworten sei, in der nur [!] die Sachkompetenz als Richtschnur für unsere Welt, die wir in Unterricht und Schule hervorbringen gelten dürfe.[1140] Als Rechtfertigungsbasis für eine Subjektive Didaktik sucht Kösel nach Metatheorien, die plurale Ansätze berücksichtigen. Er nennt die Systemtheorie (Maturana/Varela), den Radikalen Konstruktivismus (v. Foerster; v. Glasersfeld) und die Habitustheorie von Bourdieu für einen allgemeinen Rahmen. Weiter braucht Kösel „Referenztheorien”, die „im methodischen Bereich hilfreich”[1141] seien: die Transaktionale Analyse, die Themenzentrierte Interaktion, das Psychodrama, die Neurolinguistische Programmierung und die Kommunikationstheorie (Schulz v. Thun).[1142] Die Gestaltpädagogik wird später auch noch dazugenommen. Diese für den methodischen Bereich hilfreichen „Theorien” stellen die gewünschten Methoden zur Bewusstseinsveränderung bei Lehrern und Schülern bereit: Sie bewirken Einstellungs- und Verhaltensveränderungen durch psycho-technische Eingriffe bei den Betroffenen. Kösel geht weiter hinten genauer darauf ein.
Der systemische Ansatz liefert das Konzept der Autopoiese, der Selbstorganisation von Lebewesen. Diese Theorie von Maturana/Varela besagt, dass Erkennen ein Prozess des dauernden Hervorbringens einer Welt durch den Prozess des Lebens selbst ist. „‘Realität’ erweist sich hierbei als Konstrukt, das erst durch die Abstimmung mit anderen Menschen den Charakter einer unabhängigen, ausserhalb von uns existierenden Welt erhält.”[1143] Autopoietische Systeme (Lebewesen, auch Menschen) erzeugen sich andauernd selber. Sie erhalten die ihnen eigene Gestalt unabhängig von der Aussenwelt. Da sich jedes System nur gemäss seiner Struktur verhalten kann, ist es durch externe Bedingungen zwar beeinflussbar, aber nicht steuerbar.[1144] Diese sogenannte Autonomie des Menschen setzt Kösel dem Verhalten der Urzelle analog (!): „… dass wir Menschen, genau wie die Urzelle, nach wie vor von der Maxime geprägt sind, ‘so wenig Aussenwelt wie möglich und nur so viel Aussenwelt, wie unbedingt erforderlich, um überleben zu können’.”[1145] Der menschliche Horizont sei zwar im Laufe der Entwicklung erweitert worden, aber diese Maxime sei grundsätzlich erhalten geblieben. „Wir Menschen sind dazu ‘verdammt’, uns miteinander zu verständigen (…).”[1146] Die vielen Missverständnisse, falschen Wahrnehmungen, Machtgefühle etc., die im zwischenmenschlichen Bereich auftreten, sind „… die Folgen einer relativ unflexiblen Kommunikations-Bereitschaft in unserer menschlichen Struktur.”[1147] Diese Aussagen verdeutlichen Kösels Menschenbild: Scheinbar wird der Mensch noch von den gleichen Motiven wie die Urzelle bewegt. Kösels Mensch ist monadenhaft in sich selbst abgeschlossen. An der Aussenwelt und mitmenschlichen Beziehungen hat er kaum Interesse. Von aussen nehme er nur, was er unbedingt zum Überleben brauche. Von einem biologistischen Reduktionismus her wird ein Bild vom Menschen als einem asozialen Individuum gezeichnet. In Wirklichkeit strebt der Mensch über das reine Überleben hinaus. Er will ein gutes Leben und befriedigende mitmenschliche Beziehungen führen, seinem Leben einen Sinn geben, sich selbst verbessern und weiter entwickeln. Seine Lebensweise ist sozial: er ist auf die Beziehung mit anderen Menschen angewiesen und ausgerichtet.[1148]
Weiter geht es bei Kösel mit dem Radikalen Konstruktivismus als Basistheorie: Da Realität ein subjektives Konstrukt sei, müssten wir die tradierten Vorstellungen von ‘Objektivität’ und ‘absoluter Wahrheit’ aufgeben. „Die Vorstellung einer objektiven Realitätserkenntnis ist damit in Frage gestellt.”[1149] Für die Subjektive Didaktik heisst dies, dass es nicht darum gehe, ob Inhalte, Probleme und Themen „als Konstruktionen eines Lehrenden” wahr oder falsch seien. Es sei überhaupt nicht mehr möglich, dies festzulegen. Im Offenen Unterricht geht es tatsächlich nicht mehr darum. Die Schüler arbeiten mit dem „Lernmaterial”, das sie erhalten, alleine und basteln sich ihr eigenes Verständnis von Sachverhalten zusammen. Ob sie die Sache wirklich verstanden haben, spielt keine Rolle mehr. Oft geht es in der Projektarbeit auch um politische Themen, wo die Schüler ohne Kenntnis der Fakten – eben ganz subjektiv – sich eine Meinung bilden müssen.
Die Habitus-Theorie des Marxisten Bourdieu wird benötigt, um vordergründig zu legitimieren, dass der „Primärhabitus“, also die Werte und Lebenseinstellungen, die sich die Kinder in der Familie erworben haben, aufgelöst werden müsse. Denn in der Primärsozialisation seien gesellschaftliche Strukturen reproduziert worden. Unsere Handlungen seien bis tief in den Körper hinein gesellschaftlich geformt. Die frühen Interaktionen „… in den ersten drei Lebensjahren, die nach kulturellen Mustern und Regeln, Normen und Verhaltensweisen verlaufen, ergeben beim Lebewesen ‘inkorporierte Strukturen’ als Einverleibung von Strukturen und Bedeutungen (…).“[1150] Sie sind dem Bewusstsein kaum zugänglich.
Diese Gewohnheiten seien schwer wieder aufzulösen. Wer masst sich hier eigentlich an, zu bestimmen, dass die in der Familie gelernten Werte und Einstellungen aufgelöst werden müssen? Ist das nicht ein Programm totalitärer Systeme? Doch es ist offensichtlich ein Ziel der Subjektiven Didaktik: „Einschärfungen und Scham-Programmierungen aus der frühen Kindheit z.B. werden also immer wieder in dieser ‘Rekonstruktion’ (des Primär-Habitus, d.V.) auftauchen. Die Veränderung von – oft geheimen – Lebensplänen ist Arbeit an der Rekonstruktion des Primärhabitus.“[1151] Und:
„Im Rahmen der herkömmlichen Unterrichtspraktiken wird sich der in der Primärsozialisation erworbene Habitus der Schüler kaum verändern lassen. [!] Dies wäre nur möglich in einer ganzheitlichen Lernkultur, in der unter Berücksichtigung der jeweiligen subjektiven Standpunkte gemeinsame individuelle und soziale Strukturen erarbeitet werden könnten.”[1152]
Also: die in der Familie gelernten Werte und Einstellungen müssen gemäss Kösel verändert werden. Diese Umprogrammierung von Kindern wird heute schon durchgeführt, ohne dass die Eltern gefragt werden, ob sie dies wollen, und ohne dass eine öffentliche Diskussion darüber geführt wird. Die Werteauflösung geschieht zum Beispiel durch die Konfrontation mit anderen Sichtweisen und Werten unter dem Anspruch, die eigenen Werte zu relativieren. Eine beliebte Strategie ist es, den Kindern zu sagen, alle in der Klasse vorhandenen Wertorientierungen seien gleichwertig, und es gebe keinen Grund, die selber gelernten zu bevorzugen. Ja, man würde gar andere dadurch ausgrenzen. Von den Kindern wird verlangt, sich für ‘eigene Werte’ zu entscheiden. Die Folge ist eine Verunsicherung des Kindes in seiner gesamten Persönlichkeit, denn die Werte, die es lebt, sind Teil seiner schon früh erworbenen Gefühlsstruktur und seiner Identität. Im Zürcher „Neuen Lehrplan” wird dieses werterelativierende Vorgehen „Wertvorstellungen klären” genannt. Zu diesem Lernziel heisst es für die Unterstufe (1. ‑ 3. Klasse): „Durch sorgfältiges Abwägen (der verschiedenen in einer Klasse gelebten Werte gegeneinander, d.V.) wird das zumutbare – und damit konstruktive – Mass an Verunsicherung möglichst nicht überschritten.“[1153] Oder „Verschiedene Identifikationsmöglichkeiten ermöglichen eine eigene Wertorientierung.“[1154] Es ist bekannt, dass in den USA durch solche Methoden der „clarification of values“ Kinder herangezogen worden sind, die keine Moral mehr haben.
Aufgrund der oben beschriebenen angenommenen Strukturdeterminiertheit und Selbstreferentialität des Menschen sei nun die Frage, wie man die zyklischen Prozesse beim Lernenden beeinflussen könne, schreibt Kösel. Man brauche eben eine neue Didaktik, die die subjektiven Strukturen berücksichtige. Das persönliche Engagement des Lehrers, seine Vorbildwirkung, vorformulierte Lernziele und konventionelle Lehr- und Lernmethoden genügten keineswegs, um einen „zweiten Habitus im obigen Sinne”[1155] aufzubauen. Sondern:
„Es müssen neue Bewusstseinsstrukturen, entsprechende Konzeptionen und Methoden entwickelt werden. Systemische Methoden, wie sie z.B. die Transaktionale Analyse, das Psychodrama, die Neurolinguistische Programmierung entwickelt haben, Meditation und Projekte mit Realcharakter sind weitaus günstiger und bieten erfolgversprechendere Ansätze zum Aufbau eines zweiten Habitus als ausschliesslich intellektuell und kognitiv orientierter Unterricht.”[1156]
Alle aufgezählten Methoden zur Schaffung von „neuen Bewusstseinsstrukturen“ sind psycho‑technische Methoden. Kösel propagiert, sie nun in der Schule an Kindern anzuwenden. Der Lehrer soll zukünftig bei den Kindern Bewusstseinsveränderungen durchführen, indem er durch geeignete Techniken Eingriffe ins Gefühlsleben der Kinder vornimmt. Das Resultat sind veränderte Einstellungen und Verhaltensweisen – eine veränderte Persönlichkeit – des Kindes. Abgesehen davon hat die Schule auch keinen therapeutischen Auftrag.
Angesichts der postmodernen Situation, in der die Pluralität der Sinn- und Lebenswelten ein Faktum geworden sei, gebe es keine allgemeinverbindlichen Wahrheiten mehr. Es gelte deshalb neue gemeinsame Normen, Postulate und Werte innerhalb einer Lerngemeinschaft oder einer Lernkultur zu entwickeln. Selbstverständlich werden diese neuen Werteinstellungen von den Betref