Ideologen der Globalisierung: Anthony Giddens. Noch ein Chaos-Theoretiker

2016 Moritz Nestor

Anthony Giddens (1999): Entfesselte Welt. Frankfurt/Main: Suhrkamp

12200Anthony Giddens, Direktor der London School of Economics, hielt 1999 – im Jahr des Kosovo-Krieges – die Reith Vorlesungen zum Thema Globalisierung. Sie wurden von der BBC ausgestrahlt und wendeten sich an ein grosses Publikum mit der Botschaft: Die Globalisierung verändere sowohl die Demokratie als auch die Familie und verlange eine „kosmopolitische Einstellung“, damit die Welt nicht im „Chaos des Fundamentalismus versinkt.“ (Giddens) Das Manuskript dieser Vorlesungsreihe gabe Giddens heraus als Buch „Entfesselte Welt“. Es stellt eine eigentliche, sehr gedrängt Kurzfassung seiner Theorie des „Dritten Weges“ dar. Giddens war Berater von Anthony Blaire, Gerhard Schröder und der Sozialistischen Internationale vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs.

Giddens‘ Kerngedanke ist: Demokratie sei eine „störrische Pflanze„, „die sogar auf ziemlich kargem Boden wächst. … die Ausbreitung der Demokratie (ist) an strukturelle Veränderungen der Weltgesellschaft gebunden. Nichts vollzieht sich ohne Kampf. Aber die Ausweitung der Demokratie ist einen Kampf wert, und sie ist machbar. Unsere entfesselte Welt braucht nicht weniger, sondern mehr Lenkung – dies können nur demokratische Institutionen leisten.“ (103)

Dem ist entgegenzuhalten: Die einzige ‚Demokratie‘, die bisher in der Geschichte „an strukturelle Veränderungen der Weltgesellschaft gebunden“ (Giddens) war und sich durch „Kampf“ (Giddens) ausbreitet, ist das System der US-amerikanischen ‚gelenkten Demokratie‘, von der Edward Bernays 1928 in seinem Buch „Propaganda“ schreibt: „Die bewusste und zielgerichtete Manipulation der Verhaltensweisen und Einstellungen der Massen ist ein wesentlicher Bestandteil demokratischer Gesellschaften.“[1]

Bindeglieder zwischen den Nationalstaaten und der „Weltgesellschaft“ sind für Giddens „transnationale Systeme„. (102) Er sieht in ihnen die „Vorreiter einer Form transnationalen Regierens“ (101) und nennt sie „Demokratie oberhalb der nationalen Ebene„. (101) Daher lobt er die EU: „Das Bedeutsame an der EU ist nicht, dass sie europäisch ist, sondern … Die Länder, die ihr beigetreten sind, haben der EU zuliebe freiwillig auf einen Teil der Souveränität verzichtet.“ (101)

Dem ist entgegenzuhalten: Demokratie entsteht aus einer von ‚unten‘ aus der Bevölkerung wachsenden Selbstverwaltung und ist das Gegenteil von herrschaftlichem Zentralismus. ‚Transnationale Systeme‘ der ‚Weltgesellschaft‘ a la Giddens (er nennt vor allem die EU) sind zentralistische herrschaftliche Gebilde von oben. Für sie den Namen ‚Demokratie‘ zu verwenden ist unlauter. Wenn Linke von ‚Weltgesellschaft‘ reden und das ‚Demokratie‘ nennen, steht das in der trotzkistischen Tradition.

Das „heute praktizierte demokratische Sstem hat eine nationale Gemeinschaft zur Voraussetzung, die sich selbst regiert  … Es setzt also die souveräne Nation voraus.“ (99f.) Demokratie dürfe aber, so Giddens, „nicht auf die Ebene des Nationalstaats beschränkt“ bleiben. (99) Zwischen den Nationalstaaten und „den globalen Kräften … eröffnen sich erhebliche demokratielose Räume.“ (100) Die Probleme der heutigen Welt „kümmern sich nicht um nationale Grenzen„. (100) Giddens empfiehlt daher die Auflösung des souveränen Nationalstaats, weil Souveränität „ein unscharfer Begriff“ geworden sei. (100) Gebilde wie die EU, sollen Souveränität der Nationalstaaten übertragen bekommen und „transnational“ regieren. Das nennt Giddens „Demokratie oberhalb der staatlichen Ebene„. (100)

Dem ist entgegenzuhalten: Die den Menschen bedrohenden frei flotierenden Herrschafts- und Machtgebilde haben sich noch nie an Rechts- und Staatsgrenzen gehalten, weder vor noch nach der „Globalisierung“. Und: Diese Probleme von frei flottierenden Machtgebilden lösen zu wollen durch Zentralismus a la EU/Giddens, ist nur eine der möglichen Methoden – und erst noch die schlechteste, denn sie bekämpft den Teufel mit dem Belzebub. Giddens ignoriert als trotzkistischer Stratege, dass es ein zweites Modell gibt, das der EFTA. Dieses Modell löst die von Giddens angesprochenen real existierenden Probleme nicht durch zentralistische Herrschaftgebilde, sondern durch internationale Vertragsgesellschaften, in denen Nationalstaaten in gleichwertiger Kooperation internationale Probleme bekämpfen – und zwar nach dem demokratischen Prinzip ein Staat, eine Stimme. Diese antiautoritäre föderative Lösung von Gleichwertigen will Giddens nicht. Seine Lösung ist autoritär. Seine ‚Demokratie‘ „ist einen Kampf wert“ (193), und natürlich meint er damit unter anderem auch den Kosovokrieg: „Im Kosovo-Krieg kämpften nicht Nationen gegeneinander. Vielmehr war es ein Konflikt zwischen einem territorialen Nationalimus alter Prägung und einem neuen, aus moralischen Überzeugungen gespeisten Interventionismus.“ (30) Giddens: „Auf den Schlachtfeldern des einundzwanzigsten Jahrhunderts werden sich Fundamentalismus und kosmopolitische Tolerenz gegenüberstehen.“ (14f.)

In Wirklichkeit griffen mehrer militärisch Überlegene einen Schwachen an und nannten diesen völkerrechtliche verbotenen Krieg nicht Krieg, sondern euphemistisch eine ‚humanitäre Intervention‘.

 


[1] Edward Bernays: Propaganda, S. 19.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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