Samuel Pufendorf (1632-1694)

1995 Moritz Nestor

Samuel Pufendorf (1632-1694) baut auf Hugo Grotius auf und wurde entscheidend für die gesamte neuzeitliche Naturrechtsdebatte. Auf ihn wiederum baut John Locke später auf und beider Gedanken flossen direkt in die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung ein und wurden zur Vorlage der «Bill of Rights» des Staates Virginia von 1776[1] und später der Menschrechtsbestimmungen in der amerikanischen Verfassung. In Artikel 1 der «Bill of Rights» von Virginia lesen wir: «Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen angeborene Rechte, deren sie ihre Nachkommenschaft bei der Begründung einer politischen Gemeinschaft durch keinerlei Abmachung berauben […] können […:] nämlich das Recht auf Leben und Freiheit und dazu die Möglichkeit, Eigentum zu erwerben und zu behalten und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen.»

Diese Grundrechte sind bei Pufendorf aus der menschlichen Sozialnatur unmittelbar abgeleitet. Bei ihm taucht erstmals der Begriff der «socialitas» so auf, wie wir ihn heute in der modernen Anthropologie verstehen. Grundlage für die Naturrechtslehre Pufendorfs war die anthropologische Tatsache, dass die Menschen natürliche Pflichten haben. Aus diesen fliesst das Recht. Erst wo eine Pflicht zu vernünftigem, naturgemässem Verhalten besteht, kann es nach Pufendorf ein Recht geben und Dritten gegenüber pflichtgemässes Tun.

 

Die «Socialitas», das oberste Prinzip des Naturrechts

 

Selbsterhaltung, Schwäche und Gegenseitige Hilfe

Der Mensch will sich natürlicherweise selbst erhalten,[2] und dabei «ist er auf sich allein gestellt ganz hilflos.»[3] «Kaum ein anderes Geschöpf ist bei seiner Geburt so schwach, daß es geradezu ein Wunder wäre, wenn er ohne Hilfe von seiten anderer Menschen erwachsen würde. Neben den zahlreichen für die menschlichen Bedürfnisse erfundenen Hilfsmittel ist eine jahrelange sorgfältige Erziehung erforderlich, um zu erreichen, daß sich ein Mensch aus eigener Kraft mit Nahrung und Kleidung versorgen kann.»[4] Nur durch den Mitmenschen kann der Mensch Mensch werden. «Stellen wir uns einen Menschen vor, der ohne jede menschliche Obhut und Pflege aufgewachsen ist […] Ein armseligeres Geschöpf kann man sich kaum vorstellen. Stumm und nackt, bleibt ihm nichts anderes übrig, […] als bei jedem Geräusch und bei jeder Begegnung mit einem anderen Lebewesen zu erschrecken und schließlich durch Hunger und Kälte oder durch ein wildes Tier umzukommen. […] Neben Gott gibt es nichts auf der Welt, was dem Menschen mehr nützen kann als der Mensch selbst.»[5] Der Mensch ist nach Pufendorf auf den Mitmenschen angewiesen, um überhaupt als Mensch leben zu können.

 

Die „natürliche Neigung zur Gesellschaft“

Dieses Angewiesensein findet seine Entsprechung in der Menschennatur. Der Mensch ist von Natur her zur gegenseitigen Hilfe und Mitmenschlichkeit disponiert. Er ist, sagt Pufendorf, «bestens geeignet zur gegenseitigen Förderung.»[6] Es gibt «eine natürliche Neigung des Menschen zur Gesellschaft».[7] Das einsame Leben ist elend für ihn, er hat eine Neigung zum Umgang mit anderen, Sprache wäre ohne Geselligkeit sinnlos, und so weiter. Pufendorf zählt noch eine Reihe von Merkmalen der, wie er es nennt, «geselligen Natur des Menschen» auf.[8] Diese gesellige Natur des Menschen ist aber kein Trieb, der den Menschen dazu treibt, ein nützliches Mitglied des Staates, der «Bürgerlichen Gesellschaft» (oder, wie Pufendorf immer wieder sagt, ein «Bürgerliches-Thier»[9]) zu werden. Die natürliche «Gesellschafts-Begierde» des Menschen kann gestillt werden durch «erste Gesellschaften»,[10] das sind Ehe und Familie. Das Kind muss erst lernen, was für ein Leben in der Republik notwendig ist: Aufrichtigkeit, Treu und Glauben, Urteilsvermögen und Bildung. Kinder und Ungebildete leben in der Republik, ohne sich um sie zu kümmern. Der Staat besteht also nach Pufendorf nicht einfach aus einer Menge geselliger Individuen. Der Mensch lebt in Familien zusammen. Diese wiederum sind die Keimzellen der Republik.

 

Instinktreduziertheit und Ursache des Krieges

Der Mensch ist zwar auf die gegenseitige Hilfe angelegt, er hat eine «gesellige Natur». Die Begegnungen zwischen Menschen sind aber nicht automatisch friedlich und von Hilfsbereitschaft getragen. Der Mensch ist in seiner Lebensführung nicht triebgesteuert wie die Tiere, die meist ihrem Selbsterhaltungstrieb und dem Fortpflanzungstrieb folgen. Der Mensch muss deshalb in allem, was er tut, das rechte Mass auch finden lernen. Ehe er das gelernt hat, neigt er zu überschiessenden Reaktionen, die sich störend auf die Beziehungen auswirken.

Darüber hinaus aber ist der Mensch auch ein sehr empfindliches Wesen, das zu Habsucht, Ruhm, Neid, Wetteifer, Geltungsstreben und Rivalität neigt. Der Mensch ist im Vergleich mit anderen Tieren zwar körperlich schwach. Seine geschickte Hand jedoch und die enorme geistige Beweglichkeit des Menschen machen es ihm leicht, einen anderen zu töten, «das größte aller in der Natur vorkommenden Übel».[11] «Deswegen schafft jedes Zusammentreffen von zwei Menschen zunächst eine unsichere Lage und erfordert große Vorsicht, damit daraus nicht Böses statt Gutem erwächst.»[12] So sehr jeder Mensch den anderen braucht, so sieht Pufendorf doch auch, dass jede zwischenmenschliche Begegnung immer auch eine Aufgabe ist, die viel Sorgfalt verlangt. Und die Schlussfolgerung Pufendorfs ist: «Abstimmung und Lenkung» gehören grundsätzlich zum menschlichen Leben.[13] Das bedeutet, der Mensch «muß sich mit seinen Mitmenschen zusammentun und sich ihnen gegenüber so betragen, daß sie ihrerseits nicht jeden Vorwand ergreifen, ihm zu schaden, sondern stattdessen bereit sind, auch seinen Vorteil zu wahren und zu fördern.»[14] «Die Regeln dieses Gemeinschaftslebens oder die Lehren darüber, wie sich ein jeder betragen muß, um ein nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft zu sein, werden als Naturrecht bezeichnet. Daraus ergibt sich folgende Grundregel des Naturrechts: Jeder muß die Gemeinschaft nach Kräften schützen und fördern. Nach dem Grundsatz ‚Wer ein Ziel will, dessen Wille umfaßt notwendigerweise auch die Mittel, ohne die das Ziel nie erreicht werden kann‘ folgt daraus: Gebot des Naturrechts ist alles, was für das Leben in Gemeinschaft notwendig und nützlich ist; was stört und schadet, ist verboten.»[15]

 

Die Regeln des Zusammenlebens

Die Regeln des Zusammenlebens der Menschen haben also ihren Ausgangspunkt in einem anthropologischen Sachverhalt: Pufendorf hat nämlich gesehen, dass am Anfang aller Menschenrechte die in der sozialen Natur des Menschen begründete allgemeine Menschenpflicht steht, zum Gedeihen der universellen Gemeinschaft beizutragen. Grundlage des Rechts sind also nach Pufendorf die Sollensforderungen, die der Sozialnatur innewohnen: Sie nennt er die natürlichen Pflichten des Menschen gegenüber seinem Mitmenschen. Durch sie erst wird Recht möglich, ohne sie unmöglich.

Ausgangspunkt der Grundrechte ist nach Pufendorf die allen Menschen gleichermassen zukommende soziale Natur : «Jeder teilt mit allen die gleiche menschliche Natur. Niemand kann und will sich mit solchen zu einer Gemeinschaft zusammenschliessen, die ihnen nicht wenigstens als Mensch und Träger der gleichen Natur gelten lassen.»[16] Weil allen Menschen die gleiche Sozialnatur zukommt haben alle Menschen von Natur aus Grundpflichten, die zu allen Zeiten und an allen Orten gelten, und hieraus resultieren universelle Menschenrechte: Als die oberste und heiligste Pflicht des Menschen nennt er: «Keiner schädige den anderen».[17] Dies ist die umfassendste aller Gemeinschaftspflichten, ohne deren Beachtung für Pufendorf kein Zusammenleben möglich ist. Das Lebensrecht, das Menschenrecht auf Freiheit und das Recht auf Eigentum fliessen hieraus.

Die zweite aller Grundpflichten des Gemeinschaftslebens ist nach Pufendorf: «Jeder beachte den anderen und behandele ihn als einen von Natur Gleichgearteten, nämlich als Menschen schlechthin.»[18] «Denn die Verpflichtung, das Gemeinschaftsleben aufrechtzuerhalten, bindet alle Menschen in gleicher Weise.»[19] Heiden wie Christen. Und die dritte Gemeinschaftspflicht lautet, «soviel wie möglich den anderen zu nützen».[20]

Die bisher behandelten Pflichten ergeben sich unittelbar aus der Sozialnatur des Menschen. Um das gesellschaftliche Leben im Einzelnen zu regeln, hat die Natur dem Menschen neben der Gegenseitigen Hilfe und der Vernunft das Instrument der Sprache gegeben. Hieraus ergibt es sich, dass die Menschen natürlicherweise ihr Leben regeln, indem sie gegenseitg Verträge abschliessen. Der aus freien Stücken, mit Vernunft abgewogene und den menschlichen Kräften angemssene  Vertrag oder Vereinbarung oder Versprechen sind also das natürliche Mittel für die Menschen, das soziale Leben durch Rechte und Pflichten zu regeln, die einklagbar sind. Das bedingt, dass Menschen, die Vereinnbarungen treffen, Treu und Glauben einhalten. Und das Naturrecht fordert: «Niemand darf den anderen durch den Gebrauch der Sprache oder anderer Zeichen, die dazu dienen, Gedanken auszudrücken, täuschen.»[21]

 

Person und Würde des Menschen

Die Natur zum Ausgangspunkt des Rechts zu machen, wie dies Pufendorf tat, war nichts Neues. Gestritten hatte man sich meist über die Frage, was denn jetzt die Menschennatur sei. Sein Begriff von der sozialen Natur hatte erstmals jene Gestalt, wie wir sie bei Alfred Adler 250 Jahre später treffen. «Die Erweisung wahrer Menschlichkeit gegen alle und jeden Menschen […] ist der tiefste Sinn der socialitas. In der Liebe zum Mitmenschen, eben weil er Mitmensch ist, liegt das echte Menschentum, die ‚Natur‘ des Menschen.»[22] Pufendorf anerkennt Gott als den Schöpfer des Naturrechts. Er sieht die Würde des Menschen nicht mehr geknüpft an die Gottesebenbildlichkeit, sondern diese ist anthropologisch begründet und prägt somit den modernen Begriff der Würde des Menschen als individuelle Person. Und in diesem Sinn bedeutet Mensch sei, sich selbst durch Gesetze zum Handeln bestimmen zu können, und das ist würdig. Die Vernunft ist das Instrument, womit der Mensch die in seiner Sozialnatur liegenden Pflichten und Normen seines Handelns erkennen kann und dadurch sein Handeln bestimmen kann. (Bei ihm ist es noch nicht jener anthropologiefreie kantsche Begriff der Würde als Mitglied des Reichs der Vernunft, zu dem nach Kant auch Gott und die Engel gehören.)

 

«Socialitas», Person und Würde: Individuum und Gemeinschaft

Diese Würde des Menschen als Person ist aber eingebunden in die Sozialnatur, denn die Person ist bei Pufendorf nicht isoliert gedacht, wie wir gesehen haben, sondern als ein geselliges Wesen: Die natürlichen Pflichten ergeben sich aus der Sozialnatur des Menschen, und sich nach ihnen zu verhalten kann der Mensch widerum nur in Gemeinschaft. «Es ist nicht um den Menschen allein zu tun, wenn er sich um seine eigene Vollkommenheit Mühe gibt; vielmehr erstrecken sich die Früchte seiner Anstrengungen über das ganze Menschengeschlecht. Je vortrefflicher jemand für sich selbst ist, desto größer ist sein Ansehen als ein edler und pflichtgetreuer Bürger dieser Welt. Deshalb muß der Mensch, wenn er die Gesetze der Sozialität erfüllen will, notwendig zuerst um seine eigene Ausbildung besorgt sein; denn je vortrefflicher er an seiner eigenen Vervollkommnung arbeitet, um so glücklicher wird er die Pflichten gegen die Mitmenschen erfüllen.»[23] «Ist nun der Einzelne als […] Person notwendig in einen sozialen Zusammenhang eingeordnet, so kann sich der Wert sittlichen Handelns nicht auf den Wert der Gesinnung beschränken, sondern muß den Wert der Tat in sich einbeziehen: sittlich vollkommen ist nur die Handlung, die sowohl in der Gesinnung, mit der sie unternommen wurde, wie im Ziel, das sie verfolgt und vollbracht hat, wertvoll ist. So ist in der Sozialität der Wert der Gesinnung mit dem Wert der Tat als Wesenseinheit verschlungen, und so entsprechen der Nächstenliebe, der Hilfsbereitschaft, dem Gerechtigkeitssinn u.s.f. die Achtung und die humane Behandlung aller Menschen, die Hilfeleistung mit Rat und Tat, die Unterlassung von Schadenszufügung, die Erfüllung vertraglicher oder sonstiger […] Pflichten, überhaupt alle Handlungen zur Aufrechterhaltung und Förderung menschlicher Gemeinschaft.»[24]

 

Freiheit, Gleichheit

Allen Menschen kommt diese personale Würde gleichermassen zu. So soll jeder den anderen als Person gleich ihm achten und behandeln. Und er soll anerkennen, dass der andere wie er nur Mensch werden kann in Gemeinschaft. Daher müssen auch alle Menschen als frei von Natur aus geachtet werden. Damit sind keine Sklaven mehr möglich, Herrschaft von Menschen über Menschen – so Pufendorf – ist nur aufgrund freier Verabredung rechtens. Der geistige Weg zur Demokratie war frei geworden.

 


[1]   Vgl. Randelzhofer, Albrecht. Die Pflichtenlehre bei Samuel von Pufendorf. Berlin/New York.1983, S. 8. Vgl. auch: Voigt. Alfred. Geschichte der Grundrechte. 1948, S. 192ff.
[2]   Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 45.
[3]   Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 47.
[4]   Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 45.
[5]   Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 45f.
[6]   Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 47.
[7]   Pufendorf, Samuel. Vom Natur- und Völkerrecht. Band II. S. 425.
[8]   Pufendorf, Samuel. Vom Natur- und Völkerrecht. Band II. S. 421.
[9]   Pufendorf, Samuel. Vom Natur- und Völkerrecht. Band II. S. 427.
[10]   Pufendorf, Samuel. Vom Natur- und Völkerrecht. Band II. S. 425.
[11]   Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 47.
[12]  Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 46.
[13]  Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 47.
[14]  Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 49.
[15]   Pufendorf, Samuel von. Über die Pflichten des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur. Insel Verlag. Frankfurt/Main & Leipzig 1994, S. 48.
[16]   Pufendorf, Samuel. Zit. nach: Randelzhofer, S. 18.
[17]   Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 17.
[18]   Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[19]   Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[20]   Pufendorf, Samuel. Zit nach: Randelzhofer, S. 18.
[21]
[22] Welzel, Hans. Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs.Walter de Gruyter. Berlin 1958, S. 47.
[23] Zitiert nach: Welzel, Hans. Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs.Walter de Gruyter. Berlin 1958, S. 48.
[24] Welzel, Hans. Die Naturrechtslehre Samuel Pufendorfs.Walter de Gruyter. Berlin 1958, S. 50.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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