„Das Wunder von Bern“

8. März 2016

Gäb´ es ein Lied, das unser Elend umfasste,
Könnt´ ich Euch vielleicht, was wir leiden, erzählen.
Dann könnte es sein, dass uns niemand sehr haßte,
Und die uns feind sind, würden uns nicht mehr quälen.
(Ricarda Huch, 1947)

 

Vordergründig ein Film über das „Wunder von Bern“: das legendäre Endspiel der Fussballweltmeisterschaft 1954 im Wankdorfstadion zu Bern, wo die deutsche Mannschaft unter Sepp Herberger gegen die ungarische mit dem Siegestor von Helmut Rahn neun Jahre nach Kriegsende Weltmeister wurde. Mit viel Liebe zum Detail wird der Zuschauer in die Nachkriegszeit zurückversetzt: Essener Bergarbeiterfamilien zwischen Kruppschen Reihenhäusern, Schutthalden, Fussballplatz, Kneipe und Schloten auf der einen, chromglänzender Nierentischbarock des bürgerlichen Milieus auf der anderen Seite.

Doch der Film überrascht jeden, der einen sentimentalen 50er-Jahre-Schinken erwartete oder eine weitere Legende um die Fussballweltmeisterschaft 1954. Die Geschichte des Endspiels 1954 bildet nämlich einen Rahmen, in den hinein eine zweite feinfühlig erzählte Geschichte gewoben ist, die der Essener Bergarbeiterfamilie Lubanski: Eine Mutter mit drei Kindern, deren Mann nicht aus dem Krieg heimgekehrt ist, hofft immer noch auf ihn. Die Not des Krieges hat sie wie Tausende und Abertausende Frauen jener Zeit gezwungen, die traditionelle Frauenrolle aufzugeben, Stärke und Beharrlichkeit zu entwickeln und die Aufgaben des an die Front gestellten Mannes zusätzlich zu übernehmen, um das Leben der geliebten Kinder durch Krieg und Nachkriegszeit zu retten. Sie und die Kinder führen eine Bergarbeiterkneipe in Essen. Der Älteste hat in vielen Dingen Vaters Aufgaben übernommen. Aber auch der jüngste Sohn Matthias trägt durch den Verkauf von selbst gedrehten Zigaretten aus weggeworfenen Kippen zum Lebensunterhalt bei.

Eine Tages kehrt der Vater der Familie als einer der letzten Kriegsgefangenen aus Sibirien zurück. Ein versteinerter, vom Kriegsgrauen, Töten und Getötet-werden gebrochener Mensch, seelisch müde und stumm von Krieg und 11 Jahren Lagerhaft in Sibirien. Seine Freunde sind dahingestorben, durch Zwangsarbeit in Eis und Schnee vernichtet – „Wiedergutmachung“ gegenüber dem sowjetischen Volk, wie Stalin seine Rache nannte. Auf dem Bahnhof umarmt der Spätheimkehrer seine Tochter irrtümlich als die Ehefrau. Seine Zeit ist stehen geblieben. Er findet sich nicht mehr zurecht, kann nicht über das Erlebte reden. Für den Schrecken von Krieg und Sibirien hat er wie sein Zeitalter keine Sprache und treibt einsam unter Menschen dahin. Er schämt sich zutiefst für sein Schicksal. Mit schlichten Pinselstrichen bringt der Autor dem Publikum die Persönlichkeit eines traumatisierten Kriegsopfers nahe, der im Bergwerk einen Nervenzusammenbruch erleidet, weil das Stakkato der Presslusthämmer in seinem Kopf zum hämmernden Maschinengewehrfeuer wird. In ihm lebt der Krieg weiter, ohne dass die Menschen um ihn herum es wahrnehmen.

In seiner Not will er wieder Herr im Hause werden, kritisiert, schlägt seine Kinder. Misstrauisch vermutet er, sein Jüngster sei gar nicht von ihm, weil er von der dritten Schwangerschaft nichts mehr erfahren hatte, ehe er damals vom Heimaturlaub zurück an die Front musste. Der älteste Sohn, der als aktives Mitglied der KPD,  – die Tragik der 1968er Zeit vorwegnehmend ‑ den Vater als Faschisten anfeindet, ohne auch nur ein einziges Mal gefragt zu haben, was dieser im Krieg erlebt hat, steht für das Tabu, dass die Täter nicht Opfer sein durften.

Aber der Autor geht über die Beschreibung dieses so oft schon beschriebenen Dramas hinaus und gestaltet in Mutter Lubanski eine Frauenfigur, die aus ihrer Zeit herausragt. Sie, die vordergründig keine Hauptrolle einnimmt, wird zur entscheidenden Person. Sie ist stark geworden, um dem Krieg zu trotzen, ohne aber ihre Menschlichkeit dabei zu verlieren. Sie erfasst, wie es ihrem Mann geht und baut ihren Kindern eine Brücke, den Vater zu verstehen. Mit schlichter innerer Grösse und einfachen Worten gelingt ihr, was in 60 Jahren „Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit“ so schmerzlich gefehlt hat: Ohne das Vergangene zu leugnen, einen Neuanfang zu machen und die mitmenschliche Haltung einzunehmen, dass es bei einem Krieg nur Verlierer gibt.

Vater Lubanski verkörpert auch meinen Vater und Millionen Väter, die nicht offen über den Zweiten Weltkrieg reden konnten, und die meine Generation in den 60er Jahren unerbittlich begann für ihre Vergangenheit im „Dritten Reich“ abzulehnen. Wir 40er- und 50er-Jahre-Kindern haben am eigenen Leib bitter erlebt, wie verständnislos mit unseren Vätern umgegangen wurde, die man belogen und betrogen und schliesslich zur Schlachtbank geführt hatte und die den Krieg überlebt hatten, aber als körperliche und seelische Krüppel zurückgekehrt waren. Über ihre tief verwundeten Seelen, ihre Schuldgefühle, ihre Wut, ihre innere Leere, ihren zerknickten Stolz  und ihre Angst konnten sie nicht mit uns sprechen. Den „Tätern“ wurde das Klagen über das auch ihnen angetane Unrecht von vorn herein als Ewiggestrigsein, als faschistoid, als Verharmlosung des „Holocaust“ und Ähnliches mehr ausgelegt, ohne auch ihnen zuzuhören und zu verstehen, was sie brach, was sie meinten, und dass auch sie nicht gerne im Kriege waren. Auch wenn noch so viele Geschichten aus Wohnzimmern zu erzählen sind, wo noch in den 60er und siebziger Jahren beim Sonntagnachmittagskaffe Worte fielen wie „Der Krieg war die schönste Zeit meines Lebens“. Mein Vater, der so sprechen konnte, hat mir einmal anvertraut, was er nicht am Sonntagnachmittag strahlend erzählen konnte: Dass er seit dem Krieg immer wieder schweissgebadet aufwachte, weil er im Traum einem Russen den Gewehrlauf in den Mund steckte und beim Donnern des Schusses, der den Kopf des Gegners zerplatzen liess, starr vor Schreck aufwachte, weil er einen Menschen getötet hatte. Bei uns zu Hause war wie in vielen Millionen Familien der Krieg nicht 1945 zuende. In Vaters Wutausbrüchen steckte auch immer ein Stück in Krieg und Diktatur erlebte Gewalt und ein verzweifeltes wütendes Aufbegehren dagegen, Jahr für Jahr im Traume weiter töten zu müssen, Jahr für Jahr, von 1945 bis 1980.

Wer damals seinen eigenen Vater angefangen hatte abzulehnen, weil er nicht verstand, warum dieser nicht offen über den Krieg reden konnte, der wurde selbst zum  Opfer des Krieges, denn es lehnt keiner einen geliebten Menschen ab, ohne unweigerlich an seiner eigenen Seele Schaden zu nehmen: Er beginnt sich selbst abzulehnen, muss ablehnen und verstecken, was er an Positivem von seinem Vater gelernt hat, denn er will ja bei den „fortschrittlichen“ linksliberalen „Antifaschisten“ ankommen, will ihre Gunst nicht verlieren, die es zum Verbrechen erklärte haben, so zu sein wie der Vater – und er merkt nicht, dass er das tut, was der Vater einst tat, der zu den Hitlerleuten lief, um dabei zu sein, anzukommen, nicht vor allen dumm dazustehen und so weiter …. Er gleicht dem Eiferer, der der Sabbath entheiligt, um seinen Sonntag zu heiligen.

Wer von uns das durchgestanden und den Irrtum bemerkt hat und dann den Weg zurückgegangen ist – den überkommt ein inneres Brennen, eine Freude und eine Wehmut und ein ehrliches Weinen, denn Mutter Lubanski in dem Film vermag etwas, was kaum jemand von unseren Eltern und von unserer „zweiten“ Generation vermocht hat. Als ihr Jüngster tief getroffen ist, dass der Vater seine beiden geliebten Kaninchen zum Geburtstagsessen der Mutter geschlachtet hat, und verzweifelt und wütend wegläuft, legt die Muter in ihm das Samenkorn der Verständnisses, indem sie an seinem Schmerz anknüpft:

– Matthes! Denk mal an vorhin und wie es in dir drin wehgetan hat, als du gemerkt hast, dass Atze und Blacky [seine Kaninchen] weg sind. … Und jetzt stell dir mal vor, dass es in dir drinnen jeden Tag so wehtut, zehn Jahre und acht Monate lang, jeden Tag. Kannst Du dir das vorstellen?

Matthias schüttelt den Kopf. …

– Aber so muss es für deinen Papa gewesen sein, als er nicht nach Hause durfte. Elf Jahre lang.

– Aber da kann doch ich nichts dafür.

– Kann denn der Papa ‚was dafür?

Jetzt schaut Matthias hinaus auf den Kanal … Noch einmal sieht Matthias den Moment, als sein Vater aus dem Zug stieg, ein grauses Gespenst, das mit seinem entschlossenen Schritt über den Bahnsteig auf sie zu nicht seine abgrundtiefe Verlorenheit überspielen konnte. Langsam schüttelt Matthias den Kopf: Nein, der Mann hatte nicht mehr genug Kraft, um überhaupt noch für irgendetwas zu können. …

– Aber wir können alle helfen, dass es besser wird. So legt sie in ihrem Sohn, der die Grobheiten seines vom Kriege gekennzeichneten Vaters nicht versteht, die Grundvoraussetzung für den Frieden: Du bist´n ganz Grosser, mein Kleiner. Und das haste bestimmt nicht allein von mir. Dein Papa is nämlich auch ´n ganz Grosser. Tief drinnen. Und wenn wir alle ihm helfen, dann wirst du dich noch wundern, was du´n tollen Vater hast.

Mit dem Wunder von Bern hat ein deutscher Filmemacher das das schier unmöglich erscheinende Wagnis fertig gebracht, einen deutschen Soldaten des Zweiten Weltkrieges auch als Opfer darzustellen. Die Versöhnung der Kinder mit ihrem Vater gerät zur menschlichen Utopie: „So hätte es sein können“, ruft sie einem ihre Botschaft zu:  „So allein ist Neuaufbau und Aufarbeitung nationalsozialistischer Vergangenheit möglich.“ Und der Film hinterlässt einen sehr nachdenklichen Zuschauer, der sich fragt, was gewesen wäre, wenn sich in den letzten 50 Jahren statt Rache, Hass, Siegerjustiz, Klassenhass und Klassenkampf die mitmenschlich Haltung von Mutter Lubanski die Grundlage gewesen wäre für die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit.

(Das Wunder von Bern, 2003, ein Film von Sönke Wortmann, nach dem Drehbuch als Roman von Christof Siemens erschienen im Verlag Kiepenheuer & Witsch.)

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