13 Thesen: Anthropologische Grundlagen der Familie

10. Januar 1999 Moritz Nestor


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Phylogenetischer Aspekt

 

These 1

In früheren Zeiten hat man unterschieden zwischen vereinzelt lebenden Tieren – man verstand hierunter zum Beispiel die Insekten, die man als Tiere ohne Sozialverhalten begriff – und Wesen mit sozialen Lebensformen, worunter man gerne ausschliesslich den Mensch fasste. Das Soziale ist in der Natur jedoch nicht auf den Menschen oder die hochentwickelten Säugetiere beschränkt. Portmann zeigt, dass es verschiedene Grade der Differenziertheit in der Ausgestaltung des Sozialen bei allen Tieren, den Menschen eingeschlossen, gibt. Er weist nach, dass das Soziale bereits bei einfachen Tierarten wie den Insekten zum wesentlichen Bestandteil ihrer Natur gehört. Es äussert sich dort im Erkennen der Artgenossen, im reich differenzierten Zusammensein der Geschlechter und der Verteilung des verfügbaren Lebensraumes unter rivalisierenden Männchen: lauter Einzelzüge, die man bei den höheren Tiere als wichtige Faktoren des sozialen Lebens antrifft. Alle Formen des Verhaltens und Eingespieltseins der Individuen zu- und aufeinander finden sich schon bei den einfachsten Tieren in den Individuen angelegt, und ihre, Erfahrungen, die sie von die Welt machen, schliessen bereits ein mehr oder minder starkes und differenziertes Gruppenleben mit ein, welches sie mehr sein lässt als lediglich isolierte Organismen. Ihre grundlegenden und lebenserhaltenden Erfahrungen machen die Individuen hier schon immer im Zusammenleben mit den Artgenossen und die lebenswichtigen Handlungen geschehen in Kontakt mit ihnen. Dieses arterhaltende Zusammenspiel ist das Wesentliche und Lebenserhaltende bereits des einfachen tierischen Lebens.
Je höher wir nun steigen in der Entwicklung der Tiere, desto reichhaltiger und vielfältiger werden die Formen des ‚Sozialen‘, die wir im Tierreich antreffen, und bei allen höheren Lebewesen finden wir, je höher desto ausgeprägter, soziale Lebensformen.
Diese mannigfaltigen Erscheinungsformen des Sozialen im ganzen Tierreich, die ausgesprochen soziale Lebensweise höherer Säugetiere und auch die am höchsten entwickeltste soziale Lebensweise des Menschen beruhen auf ererbten Grundlagen. Freilich ist es sehr unterschiedlich wie dies bei den einzelnen Arten ausgeprägt ist. Spricht Portmann von «ererbten Anlagen oder Grundlagen der sozialen Lebensweise», ist nie einen Trieb, Instinkt oder etwas ähnliches im Sinne einer innere Kraftquelle, einem Motor gleichend, gemeint, welche das Einzelwesen zum anderen treibt. Vielmehr hat er erkannt, dass der gesamte Aufbau eines Organismus, seine nachgeburtliche Entwicklungsweise und sein arteigenes Verhalten von Anfang an grundlegend auf das Leben in der Gruppe, auf die Begegnung mit dem Artgenossen hin angelegt ist, dass also seine Natur durch und durch soziale Strukturen zeigt, das heisst sozial ist.
Bei den Menschenaffen garantiert bereits das konstante Leben mit Artgenossen, das Vertrautsein in einer Gruppe die Erhaltung und die grösstmöglichste Entwicklung der Individuen. Die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind ist hier bereits im hohem Grade zu Einführung des werden Individuums in das Leben entwickelt. Vertrauensvolle Zuwendung und Beziehung ist also nicht nur beim Menschen eine natürliche Einstellung zu Anderen, die lebenswichtig für die Erhaltung der Gruppe und des Einzelnen ist. Es ist bereits fest in der Natur aller höheren Säugetiere, vor allem der Primaten und des Menschen angelegt. Vertrauen ist also eine natürliche Gegebenheit, eine anthropologische Grösse, die zur sozialen Lebensweise und Natur, nicht nur des Menschen gehört.

 

These 2

Ordnet man das Tierreich nach der Ausbildung und Ausdifferenzierung des Gehirns und steigt dann von den «niederen» Tieren zu den «höheren» Tieren auf, dann ist ein gesetzmässiger Zusammenhang zu beobachten zwischen
a) der Reichhaltigkeit des Grosshirns (=komplizierterer Körperbau),
b) der Art der Jungperiode und
c) der Form der Brutpflege. (Bei Menschen die Familie)

 

These 3

Die Art der «Brutpflege» beim Menschen nimmt unter den Säugetieren eine Sonderstellung ein:

Kriechtiere: Sind Nestflüchter, ihr Neugeborenes ist ein verkleinertes Abbild der Erwachsenen; keine Brutpflege weil Grosshirnanteil gering; Entwicklung ist Auswachsen

Vögel:
1. Nestflüchter: Vögel mit kleinem Grosshirnanteil: keine Brutpflege wie bei den Kriechtieren
2. Nesthocker: Vögel mit hohee Grosshirnentwicklung: komplizierterer Körper, mehr Reifezeit. Statt längerer Brutzeit im Ei tritt aber hier Brutpflege auf.

Säugetiere: (umgekehrte «Lösung» wie bei den Vögeln))

1. Niedere Säuger mit wenig Grosshirn sind Nesthocker: Brutpflege (fast wie höhere Vögel)
2. höhere Säuger mit hoher Grosshirnentwicklung brauchen mehr Reifezeit
Lösung: nicht längere Brutpflege, sondern verlängerte Schwangerschaft. Die längere Embryonalzeit führt zu einer Mischung aus Nestflüchtern und Nesthockern: Neugeborene sind verkleinerte Abbilder der Erwachsenen, wenigen Stunden nach Geburt lebenstüchtig, aber nachgeburtliche Pflege: einige Zeit von der Muttermilch abhängig.

Menschnoch höher entwickeltes (Gross)hirn = : noch mehr gesteigerte Entwicklungszeit
Lösung: nicht längere Schwangerschaft, sondern verlängerte nachgeburtliche Pflege «sozialer Mutterschoss» = Familie.

 

 

 

Ontogenetischer Aspekt

 

These 4

Der menschliche Körperbau, die soziale Lebensweise des Menschen und die Entwicklung des Kindes in der ersten Sozialumgebung, der Familie, bilden eine Einheit. Die hohe Instinktreduziertheit zusammen mit der sozialen Lernfähigkeit korellieren mit der langen Kindheits- und Jugendphase. Die Entwicklung vom Neugeborenen zum selbständigen Menschen geschieht in der innigen Wechselbeziehung zur ersten Sozialumgebung, d.h. Mutter und Vater. Diese Familie ist die natürlich gegebene Gemeinschaftsform. Der Staat ist nicht im gleichen Masse natürlich (wenn man davon überhaupt sprechen will)

 

These 5

Das menschliche Neugeborene kommt als Person zur Welt. Bei Geburt ist es zwar in hohem Masse noch unfertig. Es kommt aber als Individualität, mit bereits wachen Sinnen, einem aktiven Streben nach immer neuen Bewegungen, einer wachen Neugierde, mit der Fähigkeit Nachahmung und zum innigen Sozialkontakt zur Welt (Adler: «schöpferische Kraft», Eigenaktivität) und besitzt eine aussergewöhnlich hochentwickelte Lernfähigkeit. So ist es von Geburt an Mitgestalter des sozialen Wechselspiels mit der Familie (Adler). Seine Anlagen determinieren es nicht. Es entwickelt im «Reifendem Lernen und lernenden Reifen» die Dispositionen und ein Selbstbewusstsein (entscheidend!). Das Grundgesetz der menschlichen Entwicklung besteht in folgendem: Die Entwicklung von Individualität und Eigenständigkeit (Messner: Vollperson) geschieht um so besser, je besser die Familie (erste Sozialumgebung, Gruppe) sozial durchbildet ist. Diese soziale Durchbildung der Familie (aber auch aller anderen menschlichen Gemeinschaften) hängt entscheidend davon ab, wie gut Individualität und Eigenständigkeit in jedem Mitglied des Sozialverbandes entwickelt ist.

 

These 6

Die Entwicklung der menschlichen Person zur Vollperson geschieht in der Familie und durch sie. Damit ist das allgemeine Wohl menschlicher Gemeinschaften bestimmt: die freie Entfaltung der Person in und durch Gemeinschaft zur Vollperson.

 

These 7

Die Bedeutung des ersten Jahres:
– aufrechter Gang: Schreitbewegung angeboren, Stehen wird durch Nachahmung gelernt
– Sprache: tiefer Kehlkopf + Sprachzentrum + Nachahmung, Neugierde, soziale Ausrichtung + Familie (Sozialumgebung)
– Denken: Alle Zellen da, Verbindungen nachgeburtlich ausgebildet, Gehirn als Organ, mit dem das Sozialleben geschieht, reift dabei noch – unter sozialen Bedingungen! – aus, ist also extrem formbar (à Verantwortung, Familie)
– Einheit des Entwicklungsgeschehens: die Nachahmung, aufrechte Haltung, Sprache und einsichtiges handeln sind von Anfang an soziale Phänomene und werden unter sozialen Bedingungen («sozialen Uterus») entwickelt. Familie: «sozialer Uterus»

 

These 8

Die «Reifeform» (Messner. Vollperson) des Menschen ist – wenn das Genannte gut geht – zu einsichtigem Handeln fähig, es wesentlicher Aspekt seiner Personnatur. Er ist nicht an seiner unmittelbare subjektive perspektive Gebunden, sondern kann sich objektiv zu den Dingen verhalten, einen übergeordneten Standpunkt einzunehmen, sich in (noch so!) fremde Welten, Gedanken, Kulturen, in die kleinsten und grössten Dimensionen der Natur hineinzudenken. «Innerlichkeit» ist der zentrale Begriff Portmanns: Der reife Mensch entwickelt eine innere Bühne, auf der Probehandlungen möglich sind, ohne das Leben in Gefahr zu bringen. Das gilt für Umgang mit der äusseren, ist vor allem aber auch für die friedliche zwischenmenschlichen Abläufe von nicht zu überschätzenden Bedeutung. Der Mensch kann sich über sich nachdenken (Selbstbild, Selbstbewusstsein) er kann darüber nachdenken, was ein andere über ihn denkt, kann sich dazu geistig in Beziehung setzen und so soziale Abläufe reflektieren und planen. Dadurch ist er nicht der unmittelbaren Emotion ausgesetzt. (Adler fügt hier das Gemeinschaftsgefühl an à Golemann: soziale Intelligenz) Damit ist all das in der menschliche Natur angelegt, was das Naturrecht und die Soziallehre beschreiben als: Gerechtigkeit (goldene Regel), überhaupt ein Rechtsbegriff, Menschenrechte, friedliche Konfliktlösungen, Gemeinwohl, Tugend, Rechtsgleichheit, Würde,
Was das Naturrecht formuliuert hat, dass den Menschen von Tier unterscheidet, dass seine natürliche Lebensform ist, in Rechtszuständen zu leben, ist hier in der Natur des Menschen abgelegt.
Wesentlich für unser Thema ist das deshalb, weil dies nur in der Familie, im ersten innigen Sozialkontakt des Menschen gesund heranreifen kann.

 

These 9

Ethisches Moment: Die Familie als Gemeinschaftsform ist grundsätzlich natürlich gegeben: Sie ist das Gründende aller sozialen Gebilde. Wie der Mensch sie gestaltet, ist Teil der allgemeinen Kulturtätigkeit des Menschen. Er muss aber eine Lösung immer finden. Dafür sind im Menschen tief verankert soziale Anlagen die Triebfeder. Je besser der Mensch diese Anlage (Messner: natürlichen Zwecke) der Familie versteht, desto besser kann er das Familienleben diesen Zwecken entsprechen gestalten. Die Familie ist also eine «offene Anlage» deren Verwirklichung von der Gestaltung des Menschen abhängt.

 

These 10

Die Familie ist Teil des Wesens des Menschen als Kulturwesen. Er hat keine Automatismen, Triebe, Instinkte, die sein Verhalten determinieren. Er ist frei, sich sein Sozialleben zu gestalten. Im Zusammenleben mit den Mitmenschen formt sich der Mensch eine «zweite Natur», die Kultur.

 

These 11

Dreigenerationenmodell: So bedeutend wie die ausgedehnte Kindheits- und Jugendphase ist die ausgedehnte Altersphase des Menschen. Sie ist davon gekennzeichnet, dass mit Alterungsprozess eine weitere Steigerung der Individualität stattfindet, die im günstigen Fall allen Nachkommen und der gesamten Gesellschaft zugute kommt. (Körperliche Gesundheit hängt entscheidend vom Sozialkontakt ab. 50% weniger Sterblichkeit unter geselligen «Alten». Gegenseitige Hilfe stärkt die geistig und körperliche Gesundheit.) Dann nämlich, wenn die «Alten» als mehr gesehen werden als nur als im Abbau befindliche Maschinen, wie dies der Marxismus tut.
Während die Elterngeneration in der Verantwortung des vollen Erwerbslebens stehen, können die Grosseltern Qualitäten wie Weisheit, Ruhe, Überblick über das Leben und damit einhergehende gesteigerte Ausgeglichenheit und vieles andere mehr, was die Eltern weniger zur Verfügung haben vorleben.
Das alles hängt davon ab, wie der Mensch den sinnvollen Zusammenhang (Messner: existentielle Zwecke) erkennt und ihn verwirklicht.
Durch diese Überlappung von mindestens drei Generationen (wenn es gut geht, sind es sogar noch mehr) ist eine gesteigerte Gegenseitige Hilfe, eine Entlastung aller, ein vergrösserter Erfahrungs- und Traditionsschatz und – alles in allem – dadurch eine grössere Sicherung des Lebens möglich. Am Erziehungsprozess des Kindes wirken nicht nur die Eltern, sondern auch die Grosseltern (oder sogar die Urgrosseltern) mit, wodurch die Weitergabe der Kultur in der Familie gesteigert und gesichert wird. Mehr Erfahrungen fliessen zusammen: das Kind erlebt 100 und mehr Jahre lebendige Geschichte in der Familie (man muss es sich einmal durchrechnen! mein Vater geb. 1915, mein Grossvater geb. 1883; mein Grossvater kannte aber aus der unmittelbaren Erfahrung wiederum das Leben seiner Eltern, meine Urgrosseltern. So hatte ich, geb 1951 in der Person meines Grossvaters jemanden, der mir die Lebenserfahrungen schon aus der Mitte des letzten Jahrhunderts berichten konnte, mit ihm waren Kaiserreich, Erster Weltkrieg und die Weimarer Republik in der Wohnstube gegenwärtig.
Grossfamilie naturgegeben (wegen optimaler Sicherung des Lebens)

 

These 12

In der Familie geschieht die Weitergabe der Kultur durch Tradition. Portmann spricht auch von «sozialer Vererbung». Menschliche Gesellschaften bestehen aus Familien. Die Sicherung des Lebens durch die (Gross)familie ist daher auch ein Beitrag zur Sicherung des Lebens der Gesellschaft. Der demokratische Staat als Mittel des Gesellschaft, das Leben aller zu sichern, muss die Familie also zu allererst sichern.

 

These 13

Der Kulturaufbau, das Zusammenleben ist dem Menschen eine ständige Aufgabe, für die er Verantwortung übernehmen muss. Die Familie ist der Ort, wo er dies lernt. Es gibt keinen natürlichen Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft, auch keinen natürlichen «Generationenkonflikt». Gerade die innigste Verankerung in der Familie ist die natürliche Voraussetzung dafür, dass das Individuum all die reichhaltigen Möglichkeiten seiner Natur ausschöpfen und zur vollen Geltung bringen kann (Freiheit an Gewaltlosigkeit gekoppelt). Hass, Kampf und Krieg sind Folgen missglückter Lösungen. Es gibt keine endogene Aggression. Es braucht keine «Streitkultur» im Sinne dass der «Kampf der Vater aller Dinge» ist (Joschka Fischer).

 


 

Literatur

Portmann, Adolf: Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. 
(enthält das ganze Bild inclusive die vergleichende morphologische Analyse im Tierreich)

Portmann, Adolf: Das Tier als soziales Wesen.
(enthält die Rolle des Sozialen im Tierreich, am Ende jedes Kapitels sind immer eine oder zwei Seiten in konzentrierter Form dem Menschen und seinem sozialen Wesen gewidmet.)

Portmann, Adolf: Entlässt die Natur den Menschen?
(verschiedene Aufsätze auch zu Zeitfragen. Im Aufsatz «Biologisches zum Frauenstimmrecht» vergleicht er kurz tierische und menschliches Sozialleben und beschreibt kurz die biologischen Grundlagen des menschl. Soziallebens
1. das Bedürfnis zum Zusammenschluss mit anderen
2. Notwendigkeit der geschlechtlichen «Begegnung»
3. Bindung von Mutter und Kind als Vorbild aller Gemeinschaften
Im Aufsatz «Um eine basale Anthropologie» beschreibt er, dass alles höhere Tierleben sozial ist)

Portmann, Adolf: Der naturforschende Mensch (1969)
(zur Frage der Bedeutung der «Innerlichkeit»; Methode des Erfassens der Ganzheitlichkeit einer Lebensart)

Portmann, Adolf: «Vorwort». In: Uexküll, Jakob von, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen.
(Bestätigung des Umweltmodells von Uexküll und Beitrag zur menschlichen «Weltoffenheit»)

Nickel, Entwicklungspsychologie, Band 1
Zitiert S. 110 kurz die Befunde Portmanns und beschreibt aus der Sicht des Biologen – ohne dann wieder auf Portmann einzugehen – ab S. 111 die Fötalentwicklung und die Entwicklung im ersten Jahr mit vielen Details, die sich nahtlos in Portmanns Bau einfügen, die er aber gar nicht alles nennt. man kann es zur Beschreibung Portmanns hinzunehmen und hinterher sieht niemand mehr die Naht. Leider leistet Nickel viel zu wenig die Arbeit, diese Befunde zusammen mit den entwicklungspsychologischen in ein Bild zu fügen.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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