Ärzte dürfen einer Degradierung ihres Berufsstandes durch staatlich beauftragte Sozial-Ingenieure nicht länger tatenlos zusehen

5. Juni 2002, Rede von Professor Friedrich-Wilhelm Kolkmann vom Vorstand der Bundesärztekammer vor dem 105. Deutschen Ärztetag in Rostock Moritz Nestor

Strikte Standards gefährden den Heilauftrag

Die Regie des Deutschen Ärztetages hätte gut daran getan, neben den Eingangstüren zu diesem Tagungsort Kübel mit Asche aufzustellen und sackleinene Gewänder auszugeben. Denn es ist an der Zeit, dass der Deutsche Ärztetag deutliche Zeichen setzt, die Häupter mit Asche bestreut und in Sack und Asche geht. (…) Denn wir haben uns mit permanenter krimineller Energie der Über-, Unter- und Fehlversorgung schuldig gemacht. (…) Wir haben in uneinsichtiger Weise alle gesundheitsökonomisch, epidemiologisch, soziologisch evidenzbasierte Kritik ignoriert. (…) Das alles hat dazu geführt, daß unser Gesundheitssystem, obwohl im Prinzip vorbildlich (…), im internationalen Ranking auf den letzten Plätzen rangiert.

Bei uns … Patientinnen und Patienten einen vorzeitigen Tod an Mamma- und Dickdarmkarzinomen, Schlaganfall und Herzinfarkt. Ganz zu schweigen von den chronisch Kranken, denen, obgleich sie die Krankenkassen Unsummen kosten, nur eine rudimentäre Versorgung zuteil wird. All das, so das evidenzbasierte Urteil unbestechlicher und unabhängiger Sachverständiger ist der rückständigen, reformresistenten Deutschen Ärzteschaft anzukreiden, die, da sie freiwillig keinen Reformwillen erkennen läßt, der politischen Umerziehung und scharfen Überwachung durch Sachverständige und Krankenkassen bedarf.

Es stellt sich die dringliche Frage, sind die sachverständigen Umerzieher, mit denen wir es zu tun haben, die Retter in der Not, die Heilsbringer für unser Gesundheitssystem, für die Patientinnen und Patienten, für Ärztinnen und Ärzte? (…) Es hat eigentlich ganz harmlos angefangen. Der Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen hat im Jahre 1994 in seinem damaligen Sachstandsbericht die „Notwendigkeit von Standards und Leitlinien“ erörtert und die Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) aufgefordert, Leitlinien zu entwickeln. Es war davon die Rede, daß Leitlinien und Standards Instrumente sind zur Vermeidung des Unnötigen oder Überflüssigen und Gewährleistung dessen, was in Diagnostik und Therapie notwendig ist. Offensichtlich ging es dem Sachverständigenrat darum, mit Hilfe von Standards und Leitlinien Rationalisierungsreserven zu aktivieren. Man darf also im Wesentlichen ökonomische Beweggründe hinter der Forderung nach Leitlinienentwicklung durch die AWMF vermuten. Schließlich gehörten dem Sachverständigenrat damals namhafte Ökonomen an.

Der Sachverständigenrat hat sich drei Jahre später in einem Sondergutachten erneut mit dem Thema Leitlinien beschäftigt und gewarnt, daß eine ernsthafte Störung des Arzt-/Patientenverhältnisses zu befürchten sei, wenn die klinische und ärztliche Entscheidungsfreiheit durch ökonomische Erwägungen eingeschränkt wird. …  Leider war diese Warnung offensichtlich in den Wind gesprochen. … Der Sachverständigenrat hatte mit seiner Initiative eine Leitlinieneuphorie und -proliferation ausgelöst. … Leitlinien müssen natürlich evidenzbasiert sein, sonst sind es keine richtigen Leitlinien. Evidence Based Medicine lautet die neue Heilslehre, der wir uns zu unterwerfen haben und die alle tatsächlichen und vermeintlichen Probleme lösen soll. Zur Erinnerung: Der Begriff stammt bekanntlich von David Sackett … . Er versteht darunter die Integration der individuellen klinischen Erfahrung mit der jeweils besten externen Evidenz aus wissenschaftlichen Studien, zur Lösung eines individuellen Problems. Für Sackett ist Evidence Based Medicine – etwas frei übersetzt – „die bewußte, ausdrückliche und verständige Nutzung der jeweils besten Evidenz bei Entscheidungen über die Versorgung individueller Patienten. Ihre Praxis beinhaltet die Integration individueller klinischer Kenntnisse mit der jeweils besten externen Evidenz aus systematischer Forschung“ – wobei mit systematischer Forschung klinisch relevante Forschung durchaus auch aus dem Bereich der Grundlagenforschung, bevorzugt aber aus patientenbezogener klinischer Forschung gemeint ist.

Es sollen also statt 20 Jahre alten Lehrbuchwissens möglichst aktuelle, weltweite wissenschaftliche Erkenntnisse für die Behandlung individueller Patienten vor Ort nutzbar gemacht werden. Das läßt sich im Zeitalter der EDV durchaus realisieren. Dieses vernünftige, wenn auch keineswegs revolutionäre Konzept ist in mehr als stark verfremdeter Form über uns gekommen. Evidenz Based Medicine hat die Gestalt einer überwertigen Idee angenommen.

Professor Hans-Heinrich Raspe von der Medizinischen Universität Lübeck, einer der Vorbeter evidenzbasierter Medizin hat sich schon 1998 nicht gescheut, zu verkünden „in der Evidence Based Medicine hat der Prozeß der Rationalisierung der Weltbeherrschung durch Wissenschaft und Technik seinen vorerst letzten Ausdruck gefunden“.

Nach Raspe hat Evidence Based Medicine Bedeutung für die Beurteilung klinischer Studien, die Beschreibung und Klassifikation von Krankheiten, für Diagnostik und Diagnosestellung, für Prävention und Rehabilitation, für Fragen des Verlaufs und der Prognostik, sowie für Fragen der Qualitätssicherung.

Evidenzbasierte Medizin als Ausdruck der Weltbeherrschung mit allumfassender Zuständigkeit. Wahrheitsanspruch durch ein, weil evidenzbasiertes, unbestechliches Bewertungssystem von Wissenschaft und Technik. Das gemahnt an sektiererische Ideologie. Mir will eher scheinen, es handelt sich um die Reduktion von medizinischer Wissenschaft auf Biologie und das statistische Mittel.

Das alles hat mit dem ursprünglichen Konzept von Sackett nichts mehr zu tun, sondern ist Falschmünzerei. Man ist versucht, mit Konrad Lorenz zu sagen: „Der Mensch ist das einzige Tier, das an allen Blödsinn glaubt“.

Dies gilt insbesondere für die gesundheitspolitische Diskussion, die seit Beginn der gegenwärtigen Regierungskoalition von sogenannten Fachleuten und deren Mitläufern angezettelt wurde. Man hat den Eindruck erweckt, daß:

Es gibt in Deutschland auch seit gut 200 Jahren eine wissenschaftliche Medizin. Die wissenschaftlichen Fachgesellschaften repräsentieren die medizinisch wissenschaftliche Kompetenz in unserem Land. Die in diesen Gesellschaften zusammengeschlossenen Fachwissenschaftler betreiben neben wissenschaftlicher Forschung Krankenversorgung in Diagnostik und Therapie, sie sind zuständig und verantwortlich für die Ausbildung des ärztlichen Nachwuchses an den Universitäten, sie sind voll integriert in die ärztliche Weiterbildung (…).

Die Fachgesellschaften veranstalten Jahr für Jahr eine Fülle nationaler und internationaler Kongresse, die nicht nur der Präsentation aktueller Forschungsergebnisse, sondern auch der Disseminierung und Implementierung dieses Fortschritts in die ärztliche Praxis und den klinischen Alltag dienen. Die wissenschaftlichen medizinischen Fachgesellschaften verkörpern gewissermaßen die lex artis medicinae in unserem Land.

Es kann keinen vernünftigen Zweifel daran geben, daß es in Deutschland immer eine lex artis medicinae gegeben hat und daß die weit überwiegende Zahl der Ärztinnen und Ärzte nach den aktuellen Regeln der ärztlichen Kunst handelt. (…) Freiberuflichkeit und Therapiefreiheit bedeuten eben keineswegs unbeschränkte Handlungsfreiheit oder diagnostische und therapeutische Anarchie. Ärztliche Entscheidungen müssen nachprüfbar sein. Sie müssen sich an den anerkannten jeweils geltenden Regeln der ärztlichen Kunst orientieren. Sie werden im Zweifelsfall von anderen Angehörigen der Ärzteschaft überprüft.

Was sind die Regeln ärztlicher Kunst? Wer legt sie fest? Gemeint sind offensichtlich medizinische Standards. Medizinische Standards beruhen auf jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dem Stand der Wissenschaft, auf ärztlicher Erfahrung, also der Empirie und auf der Akzeptanz der Profession. Man kann medizinische Standards als allgemein anerkannte Richtschnur oder Maßstab für ärztliches Handeln verstehen. Standards haben einen hohen Verbindlichkeitsgrad. Absolute Standards erreichen einen Verbindlichkeitsgrad von 100 Prozent. Sie sind einzuhalten. Gerade deshalb sind sie in der Medizin, wenn überhaupt, nur mit äußerster Zurückhaltung anwendbar. Standards entscheiden darüber, ob man das, was man medizinisch tun kann, auch tun soll. Einheitliche Standards gibt es nicht. Es kommt auf die jeweiligen Umstände des Falles an. (…) Leitlinien dienen der Sicherung und Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung unter Berücksichtigung systematisch entwickelter Entscheidungshilfen in der ärztlichen Berufspraxis. Sie sollen zu wissenschaftlich begründeter und ökonomisch angemessener Vorgehensweise unter Beachtung der Bedürfnisse und Einstellungen einer Patientin oder eines Patienten motivieren. Großer Wert wird darauf gelegt, daß es sich um Entscheidungshilfen handelt, die wissenschaftlich begründete Optionen und Orientierungshilfen darstellen, im Sinne von Handlungs- und Entscheidungskorridoren, die dem Arzt Spielräume lassen. Leitlinien sind also nicht als Handlungsanweisungen zu verstehen, sie besitzen nicht die Verbindlichkeit von Standards oder Richtlinien. Von Leitlinien soll und muß der Arzt abweichen, wenn dafür plausible, durch den individuellen Krankheitsfall gebotene Gründe vorliegen. (…) Die Regeln der ärztlichen Kunst, medizinische Standards wie Inhalte von Leitlinien werden durch die Ärzteschaft selbst festgelegt. Die Ärzteschaft besitzt nach mehr als 100jähriger immer noch aktueller Rechtsauffassung ein Definitionsmonopol gegenüber der Gesellschaft über Gesundheit und Krankheit. Krankheit ist ein Zustand, der ärztliche Behandlung notwendig macht. Die Notwendigkeit der Behandlung wie die Behandlungsinhalte sind von ärztlicher Feststellung abhängig.

Aus diesem Definitionsmonopol folgt eine hohe Verantwortung des ärztlichen Berufsstandes, eine gute Patientenversorgung zu sichern, diagnostische und therapeutische Prozesse wie deren Ergebnisse zu optimieren und sie dem wissenschaftlichen medizinischen Fortschritt anzupassen. Auf diesem Definitionsmonopol und der daraus resultierenden Verantwortung beruht die Professionalität des ärztlichen Berufsstandes, sie bilden auch die Grundlage der ärztlichen Freiberuflichkeit.

Die wissenschaftliche Medizin ist weder eine reine Naturwissenschaft, noch eine Ingenieurwissenschaft oder eine Sozialwissenschaft, sie ist auch keine Biowissenschaft. Die Medizin bedient sich wissenschaftlicher Methoden, die nicht medizinspezifisch sind, sondern von anderen wissenschaftlichen Disziplinen stammen. „Die Medizin war methodisch nie selbständig. Die Daseinsberechtigung moderner medizinischer Forschung beruht überwiegend auf der Würde des Forschungsgegenstandes, nicht auf dem Wert ihrer Methoden. Die Fähigkeit, Arzt sein zu können, schöpft sich nur aus der Humanität“, so Paul Ernst, ein früherer Heidelberger Pathologe.

Konventionelle naturwissenschaftliche Forschung verfolgt Kausalketten. Dieses wird aber sehr schwierig und erfaßt allenfalls Teilbereiche, wenn es um die Erforschung menschlicher Krankheiten geht. Es ist eine triviale Erkenntnis, die sich allerdings noch nicht zu bestimmten Expertenkreisen und manchen EBM-Napoleons herumgesprochen hat, daß Menschen und ihre Krankheiten sehr vielgestaltig sind, daß Lebensvorgänge auf hochdifferenzierten, sehr komplexen biologischen Prozessen mit Wechselwirkungen zahlreicher Variablen beruhen, multidimensional sind, daß es psycho-somatische Wechselwirkungen gibt und daß Menschen – untechnisch ausgedrückt – eine Seele haben. Deshalb stößt eine streng naturwissenschaftliche Definition von Gesundheit und Krankheit auf erhebliche Schwierigkeiten. Wahrscheinlich kann es sie gar nicht geben. (…) Die Heilkunde hat ein Grundproblem. Sie teilt sich in zwei Teile, in die Theorie und in die Praxis. Der Heidelberger Philosoph Hans-Georg Gadamer hat darauf hingewiesen, daß der Unterschied zwischen Wissenschaft und Praxis darin besteht, daß Wissenschaft unabgeschlossen, also vorläufig ist, Praxis aber Entscheidungen verlangt und daß Praxis stets auch Wahl und Entscheidung zwischen Möglichkeiten bedeutet.

Unser Sprachgebrauch ist auch heute noch ontologisch. Man hat eine Krankheit, der Arzt behandelt eine Krankheit. Unter dem Einfluß epidemiologischer Forschung neigen wir dazu, Patienten statistisch zu entindividualisieren. Einzelschicksale definieren sich durch die Stellung in der Gesamtstatistik der entsprechenden Krankheitsbilder. (…) Wir sprechen zwar von Krankheiten, meinen aber kranke Menschen. Ärzte behandeln keine Krankheiten, sondern kranke Menschen. Epidemiologische Erkenntnisse, statistische Mittelwerte oder sogenannte Restrisiken sind für den einzelnen Patienten, für das kranke Individuum ohne jede Bedeutung. Kranke Menschen sind niemals Objekt, sondern Subjekt mit einer ganz eigenen Biographie, die Symptomatik, Verlauf und Bewältigung einer Krankheit wesentlich beeinflußt. Ärztinnen und Ärzte treten als Person in Beziehung zu kranken Personen und nicht zu irgendwelchen krankhaften Erscheinungen, Laboratoriumsbefunden oder Studienergebnissen.

Man kann dem Träger der Paracelsus-Medaille, Herrn Professor Arnold, nur zustimmen, wenn er feststellt, daß die Einmaligkeit von Patienten und die aus der mangelnden Wissenschaftlichkeit der Medizin folgenden Unsicherheiten es nur in Ausnahmefällen möglich machen, strenge Normierungen vorzunehmen oder „goldene Regeln“ für Diagnostik und Therapie aufzustellen.

Standards und Normen im Sinne verbindlicher Handlungsanweisungen sind in der Medizin höchst problematisch und können – bei strikter Einhaltung – den ärztlichen Heilauftrag in sein Gegenteil verkehren. Maßgeblich ist im Einzelfall nicht ein Standard, gleich welcher Evidenz, sondern mit ganz wenigen Ausnahmen, das kranke Individuum. Standards oder Leitlinien können ärztliche Verantwortung nicht ersetzen.

Natürlich ist der Arzt an die Regeln der ärztlichen Kunst gebunden. Der Grundsatz der ärztlichen Methoden- und Therapiefreiheit verlangt jedoch vom Arzt das Eingehen auf die individuelle Situation des Patienten. Deshalb läßt sich Qualität nicht zentral verordnen. Sie muß immer auf den kranken Menschen Bezug nehmen und an ihm gemessen werden.

Eine standardisierte Medizin, die nach obligaten Leitlinien gestützten Diagnose- und Therapiekriterien vorgeht, setzt den standardisierten Menschen und Patienten voraus. Den aber gibt es nicht. (…) Offenbar ist es aber so, daß die Technisierung und der ungeheure apparative Aufwand moderner Hochleistungsmedizin manchen, auch manchen unter uns, den Blick für das kranke Individuum verstellen. Sie verwechseln technische Effizienz mit geistigem Fortschritt und Machbarkeit mit Wahrheit. Sie ignorieren, daß Krankheit, um noch einmal Gadamer zu bemühen, ein sozialer Tatbestand ist. Sie verkennen die soziale Funktion des ärztlichen Berufes. Sie degradieren Kranke zu Objekten und Ärztinnen und Ärzte zu technischen Handlangern. Das gilt besonders für die Vereinnahmung der Evidence Based Medicine durch die Gesundheitsökonomie. EBM im Sinne von Sackett kann in der Tat eine wertvolle Hilfe für den Arzt sein. EBM als gesundheitsökonomisches Steuerungsinstrument, als Basis von versorgungsrelevanten, sanktionsbewehrten verbindlichen Diagnose- und Therapiestandards führt zu einer inhumanen, weil entindividualisierten Medizin, letztlich zu einer flächendeckenden, allumfassenden Fehlversorgung sozialversicherter Patienten. Das kann und darf von der Ärzteschaft nicht akzeptiert werden. Die pseudowissenschaftlichen Experten, die uns auf diesen Weg führen wollen, sind in der Tat falsche Propheten. Man sollte ihnen die rote Karte zeigen oder ein Flugticket one way nach Harvard spendieren.

Der Arztberuf verkommt mehr und mehr, wie Horst Baier es einmal ausgedrückt hat, zu einer Agentur für gesellschaftspolitische Zwecke. Unvoreingenommene Beobachter diagnostizieren seit langem eine zunehmende Entprofessionalisierung des Arztberufes. (…) Nicht medizinisch-wissenschaftliche, sondern medizinisch-wirtschaftliche Standards sind gefragt. Ärztliches Berufsethos, daß der Arzt nämlich dem Patienten und niemand sonst verpflichtet ist, wie die Interessen kranker, schwacher und hilfloser Menschen werden vom Gesetzgeber massiv mißachtet.

Es stellt sich die Frage, warum dulden wir diese zunehmende Entprofessionalisierung und Degradierung unseres Berufsstandes? Ist es nicht ein ausgesprochenes Armutszeugnis, daß wir uns zunehmend als Teil des GKV-Systems begreifen, dem, frei nach dem Motto „mitgefangen, mitgehangen“, gar keine andere Wahl bleibt als Anhängsel und Ableger gesetzlicher Krankenkassen zu sein?

(…) Stimmt die sarkastische Prognose von Arnold – „Das bisher leistungserbringerbestimmte System ist im Begriff zu einem kostenträgerbestimmten System zu werden. Verbindliche Diagnose- und Therapierichtlinien sind goldene Regeln, weil sie von denen aufgestellt und durchgesetzt werden, die das „Gold“ haben. Die ärztliche Behandlungsautonomie wird durch all dies geschwächt oder am Ende sogar aufgehoben“. – Sind wir wirklich käuflich, korrupt? Sollten wir nicht wenigstens passiven Widerstand leisten? Zum Beispiel indem wir den Menschen sagen, mit welcher Unverfrorenheit sie an der Nase herumgeführt werden.

Warum zum Beispiel sagen wir den Menschen nicht, was längst gesagt sein müßte? Daß nämlich das ganze unsägliche Gedöns um die Disease-Management-Programme ein Kümmelblättchen ist, Bauernfängerei, ein falsches Spiel. Daß die Verunglimpfung, in Deutschland würden chronisch Kranke generell schlecht versorgt, jeder beweiskräftigen Grundlage entbehrt; es sei denn, man sieht windige OECD-Statistiken als beweiskräftig an. (…) Warum sagen wir den Menschen nicht, daß sie selbstverständlich innerhalb wie auch außerhalb von DMP nach den jeweils aktuellen Regeln der ärztlichen Kunst behandelt werden – wenn es nach dem Willen der Ärzteschaft geht. Daß DMP deshalb in unserem Gesundheitssystem aus medizinischer Sicht überflüssig sind. Daß es nur der Hartnäckigkeit der sogenannten Leistungserbringer, besonders aber der Bundesärztekammer, zu verdanken ist, daß die aktuellen DMP nicht hinter dem geltenden medizinisch-wissenschaftlichen Standard zurückbleiben. Diese Gefahr bestand und besteht durchaus, wenn es nach dem Willen der Kostenträger geht. Die Teilnahme an einem DMP Ulla Schmidtscher Prägung kann nach meinem Eindruck durchaus eine schlechtere Versorgung bedeuten. (…) Dies ist der Grund, warum die Bundesärztekammer die Schirmherrschaft über ein Nationales Leitlinien-Programm übernommen hat. Sie will verhindern, daß Patienten in DMP nach Minimalstandards versorgt werden. Deshalb erarbeitet die Ärztliche Zentralestelle für Qualitätssicherung im Auftrag der KBV und Bundesärztekammer auch ein „Curriculum strukturierte Behandlungsprogramme“. Darin sollen die ärztlich verantwortbaren Rahmenbedingungen solcher Programme definiert werden.

Der Internist Victor von Weizsäcker hat vor fast 100 Jahren eine Habeas Corpus Akte für Patienten gefordert, als eine Art Grundrecht für Kranke im Hinblick auf ihre alleinige, persönliche und individuelle Verfügungsmacht über Gesundheit und Krankheit. Ich denke, heutzutage benötigen Ärzte – wie Patienten – eine solche Habeas Corpus Akte, die sie vor dem Zugriff moderner Sozialpolitik bewahrt.

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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