Wirtschaft muss die Dienerin der Menschenwürde sein – nicht «freie» Märkte, sondern mitmenschlich geordnete

22. Mai 2002 Moritz Nestor

„Globalisierung“ ist ein ständiger wirtschaftlicher Überlebens- und Konkurrenzkampf und Konzentrationsprozess unter den internationalen Konzernen und innerhalb der Hochfinanz, dessen einziges Gesetz das „Recht des Stärkeren“ ist. Dabei versteckt sich die Globalisierung gerne hinter Etiketten wie „Freiheit“, „Liberalismus“, „Privatisierung“. Sie hat aber radikal gebrochen mit dem echten Liberalismus eines Adam Smith und anderer zutiefst ethisch gesinnter Philosophen und Staatsdenker des 18. und 19. Jahrhunderts. Der klassische Wirtschaftsliberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts hat ‑ leider ‑ Entgleisungen seines ursprünglichen Gedankens erleben müssen. Sein einstige Ziel, für den Menschen zu wirtschaften, wurde von einigen angloamerikanischen Ideologen wie Walter Lippmann zugunsten eines ungehemmten Profitstrebens völlig aufgegeben. Hieran knüpft das Menschenbild der Gobalisierung an: „freie Wirtschaft“ in ihrem Sinne eine Wirtschaft, die an keine rechtsstaatliche Regel, an kein Gesetz, an keine Moral gebunden ist – es sei denn, sie nütze ihr. Eine „freie Wirtschaft“ im Sinne der Globalisierung ist nicht mehr wie alle anderen Gruppen und Institutionen in den demokratischen Rechtsstaat eingebunden, sondern macht sich umgekehrt den demokratischen Staat zum ausführenden Büro seiner Wirtschaftsinteressen – und ersetzt ihn durch hemmungsloses Gewinn- und Machtstreben sowie einen brutalen Sozialdarwinismus. Daran – und nicht an die wertvollen Grundgehalt des Liberalismus – knüpfen die heutige Globalisierer an.

Wenn die Globalisierung sich auf die „Freiheit“ beruft eröffnet sie einen Nebenkriegsschauplatz und lenkt von ihrem Grundmangel ab: Globalisierung akzeptiert keine vorstaatlichen Rechte und keine der Wirtschaft übergeordneten Werte.

Dabei sind in einer funktionierenden Demokratie sehr viele Dinge sehr viel wichtiger als die Wirtschaft: Familie, Vereine und freie Verbindungen, Kooperativen, Gemeinden, Schule, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Staat, Recht, Menschenrechte, Kultur im weitesten Sinne, Erziehung etc. Wirtschaft ist eine wichtige Institution, aber nur eine unter vielen, beileibe nicht die oberste und sie ist nur ein Teil des demokratischen Rechtsstaates.

Dass Menschen mit Menschen zusammenleben und ohne Menschen nicht Menschen werden können, ist der Wirtschaft übergeordnet. Wirtschaft ist nur – muss man heute betonen – ein Teil der gemeinsamen Anstrengungen menschlicher Gemeinschaften, das Leben zu erhalten, zu sichern und zu schützen, eine notwendige, keinesfalls hinreichende Bedingung. Diesem, Ziel muss die Wirtschaft untergeordnet bleiben, ihm muss sie dienen, indem sie die materiellen Grundlagen eines würdigen Leben zur Verfügung stellt. Der Markt ist Mittel der Gesellschaft, nicht umgekehrt!

Der Zeck der Wirtschaft besteht also im Dienst an der Menschenwürde, die nur im demokratischen Gemeinwesen verwirklicht werden kann. Wirtschaft darf daher keine politischen Formen annehmen, die mit dem unvereinbar ist, dem sie zu dienen hat: Familie, Schule, Wissenschaft,  s. o.! Das ist Quintessenz europäischen naturrechtlichen Denkens seit Aristoteles: Politik muss auf Ethik ruhen!  Planwirtschaft ist notwendig mit totalitärer Diktatur gekoppelt.

 

 



 

 

Alexander Rüstow: Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit

„Wir sind der Meinung, dass es unendlich viele Dinge gibt, die wichtiger sind als Wirtschaft: Familie, Gemeinde, Staat, alle sozialen Integrationsformen überhaupt bis hinauf zur Menschheit, ferner das Religiöse, das Ethische, das Ästhetische, kurz gesagt, das Menschliche, das Kulturelle überhaupt. […] Aber sie alle können ohne die Wirtschaft nicht existieren; für sie alle muss die Wirtschaft das Fundament, den Boden bereiten. […] Das heisst alle diese überwirtschaftlichen Dinge haben Forderungen an die Wirtschaft zu stellen. Die Wirtschaft hat diese Forderungen zu erfüllen, sie hat sich in den Dienst dieser Forderungen zu stellen. Es ist der eigentliche Zweck der Wirtschaft, diesen überwirtschaftlichen Werten zu dienen. […] Es folgt daraus, dass die Wirtschaft ihrerseits nicht Formen annehmen darf, die mit jenen überwirtschaftlichen Werten unvereinbar sind.[…] Eine totale Planwirtschaft lässt sich anders als mit totalitärer Diktatur überhaupt nicht durchführen   […] die Wirtschaftsfreiheit (ist) die notwendige, die unentbehrliche Grundlage der politischen Freiheit, der menschlichen Freiheit, d.h. also im Dienste der Menschenwürde.“

Aus: Rüstow, Alexander (1960):Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit. In: Ders. et al.: Was wichtiger ist als Wirtschaft. Vorträge auf der fünfzehnten Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 29.6.1960 in Bad Godesberg. Verlag Martin Hoch. Ludwigsburg, S. 8.

 

 



 

 

Alexander Rüstow: Monopole, Bedrohung der Freiheit

„Diese ganze Monopolbekämpfung steht aber in Wirklichkeit im Dienste überwirtschaftlicher Zwecke. […] unser Kampf richtet sich dagegen, dass die Monopole eine Bedrohung der Freiheit sind. Es ist unter dem Gesichtspunkt der Staatsstruktur nicht erträglich, dass man es in einem Land, das demokratische Freiheit auf seine Fahne geschrieben hat, duldet, dass sich private Machtpositionen nach privatem Belieben bilden, dass mitten in unserem demokratischen Gefilde sozusagen Raubritterburgen errichtet werden, die von den vorüberziehenden Kaufleuten und Konsumenten Tribute erheben. Das ist ein grundsätzlich unerträglicher Zustand […] Es macht ausserdem unsere Front gegen die Planwirtschaft unglaubwürdig. Denn wenn wir derartige planwirtschaftliche Enklaven zulassen, wo private Monopolinhaber innerhalb ihres Bereichs nach eigenem Gutdünken Planwirtschaft betreiben, dann kann man mit Recht sagen: «Hier lasst ihr es ja selbst zu! Aber wenn schon Planwirtschaft, dann soll wenigstens die öffentliche Hand sie betreiben, nicht irgendein beliebiger Unternehmer!»“

Aus: Rüstow, Alexander (1960):Wirtschaft als Dienerin der Menschlichkeit. In: Ders. et al.: Was wichtiger ist als Wirtschaft. Vorträge auf der fünfzehnten Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 29.6.1960 in Bad Godesberg. Verlag Martin Hoch. Ludwigsburg, S.12.

 

 



 

 

 

WIRTSCHAFT ALS DIENERIN DER MENSCHLICHKEIT[1]
Professor Dr. Alexander Rüstow
(Zusammenfassung und Untertitel von Moritz Nestor)

 

Quelle:
Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft. Alexander Rüstow, Wilhelm Röpke, Götz Briefs, Hans Herman Walz, Ulrich von Pufendorf, Wolfgang Frickhöfner. Was wichtiger ist als Wirtschaft. Tagungsprotokoll Nr. 15. Vorträge auf der fünfzehnten Tagung der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft am 29. Juni 1960 in Bad Godesberg. Ludwigsburg 1960, Seite 7–16

 

Neoliberalismus

Der «Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft» werde der Vorwurf gemacht, sie «hielten die Wirtschaft und den Markt für das eigentliche Zentrum menschlicher Dinge, wir seien der Meinung, dass der Mensch im Wesentlichen ein Wirtschaftsmensch sei.» Den «Wirtschaftsliberalismus, der in der Mitte des 18. Jahrhunderts entstand und das 19. Jahrhundert weitgehend beherrschte,» nennt Rüstow «Paläoliberalismus». In ihm habe es Strömungen und Vertreter gegeben, auf die der oben zitierte Vorwurf zutraf, sie hielten den Menschen im wesentlichen für einen Wirtschaftsmenschen. Leider würden sich «heutige Vertreter jenes Paläoliberalismus … neoliberal nennen.» Was die «Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft» aber unter Neoliberalismus verstehe, sei aber gerade im Gegensatz «gegen jenen Paläoliberalismus entstanden». Die berechtigten Vorwürfe gegen den Paläoliberalismus würden daher zu unrecht gegen die Aktionsgemeinschaft erhoben.  Denn es sei gerade die Aktionsgemeinschaft gewesen, welche gegen den Paläoliberalismus den Vorwurf erhoben habe, er sehe den Menschen nur als Wirtschaftssubjekt. Gerade daher habe man sich gegen den Paläoliberalismus abgegrenzt.

Die Vorwürfe, welche die Kirchen und «idealistisch eingestellte Menschen» zu recht gegen den Paläoliberalismus erheben, seien «genau dieselben Vorwürfe und dieselben Kritiken, die für uns den Ausgangspunkt unserer Scheidung gegenüber dem alten Liberalismus, gegenüber dem Paläoliberalismus, bilden. Unsere Betonung der überwirtschaftlichen Werte ist mit aller Entschiedenheit neuerdings auch wieder von unserem Wirtschaftsminister Ludwig Erhard ausgesprochen worden. Er hat es auf dem Parteitag, der vor einigen Monaten stattfand, geradezu zum Zentrum seiner Betrachtung gemacht, daß es auch für die Wirtschaft um überwirtschaftliche, um höhere Werte gehe, und daß die Wirtschaft in den Dienst dieser höheren Werte gestellt werden müsse.»

Erhards Mitarbeiter, «mein Kollege Müller-Armack» habe den Ausdruck «Soziale Marktwirtschaft» geprägt und jüngst gefordert, es «sei höchste Zeit, daß die Soziale Marktwirtschaft in eine neue Phase einträte, […] für die ein neues Leitbild der Gesellschaft, und zwar der Gesellschaft im ganzen, nicht nur des Wirtschaftssektors der Gesellschaft, notwendig und zentral sei.»

 

 

Es geht um überwirtschaftliche Werte

«Wir sind der Meinung, dass es unendlich viele Dinge gibt, die wichtiger sind als Wirtschaft. Familie, Gemeinde, Staat, alle sozialen Integrationsformen überhaupt bis hinauf zur Menschheit, ferner das Religiöse, das Ethische das Ästhetische, kurz gesagt, das Menschliche, das Kulturelle überhaupt. Alle diese großen Bereiche des Menschlichen sind wichtiger als die Wirtschaft. Aber sie alle können ohne die Wirtschaft nicht existieren; für sie alle muss die Wirtschaft das Fundament, den Boden bereiten. Primum vivere, deinde philosophari [Zuerst leben, dann philosophieren]. Wenn die Wirtschaft nicht dafür sorgt, dass die materiellen Grundlagen eines menschenwürdigen Lebens gegeben sind, können alle diese Dinge sich nicht entfalten. Das heißt, alle diese überwirtschaftlichen Dinge haben Forderungen an die Wirtschaft zu stellen Die Wirtschaft hat diese Forderungen zu erfüllen, sie hat sich in den Dienst dieser Forderungen zu stellen. Es ist der eigentliche Zweck der Wirtschaft diesen überwirtschaftlichen Werten zu dienen.»

 

 

Gegner der Planwirtschaft

Erstens folge daraus, «dass die Wirtschaft ihrerseits nicht Formen annehmen darf die mit jenen überwirtschaftlichen Werten unvereinbar sind.» Darum seien sie Gegner der Planwirtschaft, denn diese sei «mit Notwendigkeit» «mit totalitärer Diktatur gekoppelt» und lasse sich «anders als mit totalitärer Diktatur überhaupt nicht durchführen und ist nie anders durchgeführt worden. Da wir aus sehr grundlegenden überwirtschaftlichen Gründen die Diktatur ablehnen, müssen wir aus denselben überwirtschaftlichen Gründen auch die Planwirtschaft ablehnen.»

 

 

Wirtschaftsfreiheit, politische Freiheit

Zweitens folge daraus, dass sie «für die Wirtschaftsfreiheit eintreten», «weil die Wirtschaftsfreiheit die notwendige, die unentbehrliche Grundlage der politischen Freiheit, der menschlichen Freiheit ist». Das Eintreten für die Wirtschaftsfreiheit und damit für die politische Freiheit geschieht also «im Dienst der Menschenwürde. […] wir bejahen die Marktwirtschaft mit allem Nachdruck und mit allem Einsatz eben deshalb, weil sie die unentbehrliche Grundlage eines so hohen überwirtschaftlichen Wertes wie der Freiheit ist.»

Es «treten gerade bei der Planwirtschaft immerfort unerwartete Wirkungen auf, die sie, weil sie kein eigenes Modell hat, nicht im voraus ablesen kann.» Der «Vorteil der Marktwirtschaft ist ihre überlegene Produktivität.» Nun komme sofort der Vorwurf, die soziale Marktwirtschaft setze «höchste Produktivität als letzten Wert». Aber das sei nicht wahr. Die Vertreter der «Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft» «wären bereit, für das aus überwirt­schaftlichen Gründen vorzugswürdige Wirtschaftssystem auch dann einzutreten, wenn es weniger produktiv wäre als andere. Wir wären bereit und müssten bereit sein, dafür auch wirtschaftliche Opfer zu bringen.» Es sei lediglich eine «große Gnade, dass überraschenderweise diese Opfer gar nicht von uns verlangt werden».

Der Vorwurf, die soziale Marktwirtschaft setze «höchste Produktivität als letzten Wert», sei zudem «etwas leicht Snobistisches. So lange, als weder in unserem eigenen Bereich und noch viel weniger in der Welt draußen dafür gesorgt ist, dass alle Menschen das Existenzminimum gesichert haben, ist die Steigerung der Produktivität eine überwirtschaftliche Forderung, eine soziale Forderung, eine ethische Forderung, und nicht nur ein bloß materielles Mehr-haben-wollen. Es wird noch sehr lange dauern, und es wird noch sehr großer Anstrengungen bedürfen, bis man mit der Unterernährung, dem Hunger und dem Elend draußen in der Welt fertig wird, bis die gesamte Produktivität der Wirtschaft für die Menschheit so groß geworden ist, dass kein Elend, kein Hunger mehr in der Welt existiert. Bis dahin ist die Forderung nach Produktivitätssteigerung eine soziale Forderung, eine ethische Forderung, eine überwirtschaftliche Forderung an die Wirtschaft. Von der Wirtschaft wird hier verlangt, dass sie das ihre dazu tut, um allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen also eine durchaus überwirtschaftliche Forderung und weit davon entfernt, materialistisch zu sein.»

 

 

Arbeitszeitverkürzung

«An und für sich ist das Streben nach Arbeitszeitverkürzung schon ein Bekenntnis zu überwirtschaftlichen Werten. Wenn man rein materialistisch auf ‚mehr, noch mehr, immer noch mehr‘ eingestellt wäre, wie es einmal ein amerikanischer Gewerkschaftler als sein Programm formuliert hat, dann dürfte man die Arbeitszeit ja nicht verkürzen, sondern müsste immer mehr, immer noch mehr herausarbeiten, die Löhne erhöhen, die Lebenshaltung erhöhen usw.» Auch wenn die Gewerkschaften Arbeitszeitverkürzung fordern, sei «das ein Beweis, dass auch sie überwirtschaftliche Werte anerkennen, dass auch für sie die Steigerung des Einkommens kein letztes Ziel ist.»
Was aber fangen wir mit unserer dadurch entstehenden Freizeit an? Hier ergebe sich ein grosses Problem: «Das bloße Frei-von-Arbeit-sein ist eine ganz neutrale Sache, […] und erst in dem Maße, als sie positiv angewandt wird, ist sie wirklich bejahenswert.» Darum könne «die sehr ernsthaften kulturpolitischen Bestrebungen der deutschen Gewerkschaften gar nicht hoch genug anerkennen».

 

 

Entwicklungspolitik

Problematisch seien ausserdem die «Entwicklungsländer und ihrer Notlage. Es ist die Frage, ob wir uns den an sich durchaus bejahenswerten und überwirtschaftlichen Luxus der Arbeitszeitverkürzung leisten können ohne jede Rücksicht darauf, dass andere Völker das nicht nur noch nicht können, sondern noch nicht einmal das bare Lebensminimum erreicht haben. Das hängt zusammen mit dem Problem der Hilfe für die Entwicklungsländer überhaupt, das ja gerade jetzt bei uns sehr aktuell ist.»
Auch an der Frage der Hilfe für die Entwicklungsländer zeige «sich die Wichtigkeit, das Wirtschaftliche den überwirtschaftlichen Werten unterzuordnen, in ganz besonders deutlicher Weise». Die bisherige Hilfe für die Entwicklungsländer habe zudem «vielfach zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen geführt als denen, die bezweckt und erwartet waren. Man hat sich gutwilliger-, aber kurzsichtigerweise eingebildet, mit der wirtschaftlichen Hilfe sei schon alles getan, und wenn das nicht genüge, müsse man eben die Summen noch steigern. Darüber hat man völlig vergessen, dass es sich auch hier in allererster Linie um überwirtschaftliche Dinge handelt, und dass man mit dem bloßen Betreiben des Wirtschaftlichen ohne Rücksicht auf die höheren Werte weit mehr schaden als nützen kann.»

«Ein sehr krasses Spitzenbeispiel hat sich gerade jetzt in Japan gezeigt. Die Amerikaner haben für Japan in materieller Hinsicht außerordentlich viel getan. Als Antwort darauf haben sich die Erscheinungen ergeben, die wir leider in den letzten Tagen erlebt haben. Das ist aber nun nicht etwa Undank, der der Welt Lohn ist, sondern das liegt daran, dass die Amerikaner nicht bedacht haben, dass die Zerstörung der traditionellen japanischen Strukturen und Werte, die sie, wie sie meinten, im Interesse der Demokratisierung betrieben haben, katastrophale Folgen haben musste. Ein Stück dieser katastrophalen Folgen ist das, was wir jetzt erlebt haben.

Das ist um so lehrreicher für das Problem der Entwicklungsvölker, als man ja Japan gar nicht als unterentwickeltes Volk rechnen kann. Japan ist ein Volk von außerordentlicher Kulturhöhe, von einer Kulturhöhe, die lange Zeit der unseren überlegen war. Wenn also selbst in einem Land, das über eine Hochkultur, die der unseren gleichrangig ist, verfügt, eine als Hilfe gemeinte Politik, die die Traditionen und die überlieferten Strukturen zerstört, derartig katastrophale Folgen haben kann, so ist es klar, wieviel katastrophaler es wirken muß, wenn bei der Wirtschaftshilfe an die wirklich noch unterentwickelten Völker, sogenannte Naturvölker, nicht auf die Pflege und die Weiterentwicklung der traditionellen, eingewurzelten, sozialen, religiösen und ethischen Strukturen Rücksicht genommen wird.

Also auch beim Problem der Hilfe für Entwicklungsvölker handelt es sich in allererster Linie und in übergeordneter Weise um überwirtschaftliche Werte Die wirtschaftliche Hilfe kann viel mehr schaden als nützen und viel mehr den feindlichen Kräften in die Arme arbeiten, wenn diese überwirtschaftlichen Werte nicht gebührend vorangestellt werden.»

 

 

Sozialpolitik

«Gerade wir Neoliberalen und wir hier von der Aktionsgemeinschaft haben von jeher die Wichtigkeit der Vitalpolitik betont, einer Politik, die nicht nur wirtschaftliche Werte, in Ziffern messbare, in Geldsummen ausdrückbare Werte berücksichtigt, sondern die sich bewusst ist, dass viel wichtiger ist, wie der Mensch sich in seiner Situation fühlt. Dieses Sich-Fühlen des Menschen in seiner Lebenslage hängt zwar als Grundlage ebenfalls von ökonomischen Dingen ab, aber im weit höherem Maße von überökonomischen Dingen. Daher muss in der Wirtschaftspolitik und in der Sozialpolitik gegenüber Schichten, die eine Hilfe der öffentlichen Hand noch nötig haben, ganz entsprechend wie bei den Entwicklungsländern auf die überwirtschaftliche Seite der allergrößte Wert gelegt werden, wenn die Ziele, die man besten Willens mit dem materiellen Teil der Wirtschafts- und Sozialpolitik verfolgt, auch wirklich erreicht werden sollen.»

 

 

Monopolbekämpfung

«Wir haben in den vergangenen Jahren […] sehr grosse Energie dahinter gesetzt, […] dass das Kartellgesetz zur Monopolbekämpfung durchgedrückt wurde. Es ist durchgegangen, leider in einer sehr viel unvollkommeneren Form, als wir es gewünscht hätten.» Sie hätten schon immer gesagt, «dass das Kartellgesetz sehr viel schärfere Möglichkeiten des Eingriffs bei Kartellen als bei marktbeherrschenden Unternehmungen gibt.» Die «Monopolbekämpfung steht aber in Wirklichkeit im Dienste überwirtschaftlicher Zwecke.» Der Kampf dagegen richte sich nicht in erster Linie gegen «die Monopolrenten und gegen die Markbeträge, die dadurch verschoben werden, die zu Unrecht dem einen zugeschoben und dem anderen weggenommen und letzten Endes dem Konsumenten aufgebürdet werden; sondern unser Kampf richtet sich dagegen, dass die Monopole eine Bedrohung der Freiheit sind. Es ist unter dem Gesichtspunkt der Staatsstruktur nicht erträglich, dass man es in einem Land, das demokratische Freiheit auf seine Fahne geschrieben hat, duldet, dass sich private Machtpositionen nach privatem Belieben bilden, dass mitten in unserem demokratischen Gefilde sozusagen Raubritterburgen errichtet werden, die von den vorüberziehenden Kaufleuten und Konsumenten Tribute erheben. Das ist ein grundsätzlich unerträglicher Zustand, ganz gleich, wie groß oder wie klein die Tribute sind; davon hängt es gar nicht ab.

Es macht außerdem unsere Front gegenüber der Planwirtschaft unglaubwürdig, Denn wenn wir derartige planwirtschaftliche Enklaven zulassen, wo private Monopolinhaber innerhalb ihres Bereichs nach eigenem Gutdünken Planwirtschaft betreiben, dann kann man mit Recht sagen: ‚Hier laßt ihr es ja selbst zu! Aber wenn schon Planwirtschaft, dann soll wenigstens die öffentliche Hand sie betreiben, nicht irgendein beliebiger Unternehmer!‘ […] Diejenigen Unternehmerkreise, die immer noch für diese monopolistische Privat-Planwirtschaft eintreten, sollten bedenken, daß sie damit an dem Ast der Wirtschaftsfreiheit sägen, auf dem sie doch letzten Endes selber sitzen.»

 

 

Kindergeld

Sie hätten gegen das Kindergeld «die allerschwersten Einwände», «und zwar wiederum Einwände überwirtschaftlicher Natur.» «Die wirtschaftliche Verantwortlichkeit der Eltern für ihre Kinder ist ein so zentraler Punkt der Familienintegration, und der menschliche Zusammenhalt und die Moral der Familie hängt in so zentraler Weise von dieser Verantwortlichkeit ab, dass wir es für höchst verhängnisvoll halten, wenn gerade an diesem Punkt Sozialisierungsbestrebungen einsetzen und wenn .gerade diese Verantwortung den Eltern vom Staat in mehr oder minder großem Umfang abgenommen wird.

 

 

Mütterarbeit

«Bei der augenblicklich höchst dringenden Nachfrage nach Arbeitskräften als Folge unserer Überbeschäftigung liegt der Gedanke sehr nahe, der denn auch allgemein ventiliert wird, daß man in stärkerem Umfang auf Frauenarbeit zurückgreifen könne und müsse. Das wird im höchsten Grade bedenklich, wenn es sich dabei um Mütter kleiner, noch nicht schulpflichtiger Kinder handelt. Wir wissen aus amerikanischen und anderen Untersuchungen, welch katastrophalen Folgen für das Kind und für seine ganze weitere Entwicklung es hat, wenn es an mütterlicher Liebe unterernährt bleibt. In Amerika ist unfreiwillig ein krasser Versuch in dieser Richtung gemacht worden. Es wird von einem Kinderheim für uneheliche Kinder berichtet, in dem für die hygienische Behandlung der Kinder in allermodernster Weise gesorgt war. Die Schwestern fassten die Kinder sozusagen nur mit Gummihandschuhen an. Unter ökonomischem Gesichtspunkt war es so eingerichtet, dass nicht mehr Schwestern da waren, als unbedingt zur Versorgung der Kinder notwendig. Eine Schwester kam auf, ich glaube, zwanzig Kinder. Die Folge war, dass diese hochhygienisch behandelten Kinder derartig unter dem Mangel an Liebe und Zärtlichkeit litten, dass sie richtig geisteskrank wurden. Es gibt einen Film darüber, in dem man in wahrhaft erschreckender Weise sieht, wie die Kinder durch diesen Mangel an mütterlicher Liebe von Monat zu Monat mehr verblödeten.

Das ist ein krasser Fall, aber in geringerem Maße tritt dieselbe Erscheinung sehr häufig auf, und sie würde direkt provoziert werden, wenn man bei dem Mangel an Arbeitskräften jetzt in größerem Umfang auf Mütter kleiner Kinder als Arbeitskräfte zurückgriffe.

Ich kann hier das Problem nur aufwerfen. Die Lösung ist schwierig. Ich möchte sagen, dass ich persönlich nicht einmal etwas dagegen hätte, daran sehen Sie, wie sehr wir Neoliberalen uns von den Altliberalen mit ihren Eingriffsverboten unterscheiden -, wenn man ein Einstellungsverbot für Mütter kleiner Kinder erliesse. Natürlich müsste man dann für diejenigen Mütter, die nicht nur in Arbeit gehen, um sich einen Fernsehapparat oder dergleichen kaufen zu können, sondern die es nötig haben und die einfach arbeiten müssen, um sich und ihre Kinder ernähren zu können, eine Unterstützung gewähren. Das wäre sozusagen eine Art verlängerter Stillprämie, die dazu führt, dass Mütter, die sonst aus wirtschaftlichen Gründen arbeiten müssten, den Kindern als Mütter erhalten bleiben. Eine solche gesetzliche Bestimmung würde wirklich den Kindern nützen, im Gegensatz zu den wahllos gegebenen Kinderprämien, über deren negative Seite ich schon sprach, und die nicht einmal sicherstellen, dass die Mutter nicht außerdem noch auf Arbeit geht, auch wenn sie es gar nicht nötig hätte.
Ich könnte noch eine ganze Reihe von Problemen berühren, bei denen sich jedesmal nachweisen ließe, daß unsere Einstellung zu ihnen überwirtschaftlich bedingt ist, im Dienst überwirtschaftlicher Werte steht, und daß wir zugunsten solcher überwirtschaftlichen Werte auch ohne weiteres bereit sind, unvermeidliche wirtschaftliche Opfer zu bringen.»

 

 

Siedlungspolitik

«Gegen die Siedlungspolitik, die auf das familiengerechte Einfamilienheim mit entsprechendem Garten gerichtet ist, wird häufig der Einwand erhoben, das sei unwirtschaftlich, das sei teurer als Etagenwohnungen und beeinträchtige außerdem die marktwirtschaftliche Beweglichkeit der Arbeitskräfte. Das mag sein. Aber wir sind der Meinung, dass der wirtschaftliche Mehraufwand, den eine familiengerechte Wohnstätte gegenüber einer Mietskaserne erfordert, bei weitem lohnt und dass auch die verminderte Beweglichkeit ohne weiteres in Kauf genommen werden muss im Dienste überwirtschaftlicher Werte, die ungleich viel wichtiger und höher sind. Auch das ist eine Forderung unserer Vitalpolitik.»

 

 

Die Sauberhaltung von Wasser und Luft

Ein von Tag zu Tag dringenderes Problem und «eine Sache, die sehr hohe Kosten verursacht. Vom rein wirtschaftlichen Rentabilitätsgesichtspunkt lässt sich also sehr viel dagegen sagen, denn es handelt sich hier wirklich um sehr hohe Gesamtsummen. Trotzdem ist es eine Forderung, die unbedingt durchgesetzt werden muss. Ich bin durchaus der Meinung, die kürzlich unser Bundespräsident Lübke vertreten hat: Man muss sich fragen, ob ein Volk, das eine dauernd zunehmende Verschmutzung seines Wassers und seiner Luft zulässt, überhaupt noch ein Kulturvolk genannt werden kann.»

 

 

… überwirtschaftliche Werte

Er habe zeigen wollen, «dass kein Vorwurf gegen uns neoliberale Vertreter der Sozialen Marktwirtschaft ungerechter sein kann als der, dass wir das Wirtschaftliche überschätzten. Wir sind im Gegenteil der Meinung, dass die Wirtschaft in allen Punkten und durchweg in den Dienst überwirtschaftlicher Werte gestellt werden muss, und dass im Konfliktfall diese überwirtschaftlichen Werte den Vorrang verdienen. Wir sind darin mit den Kirchen […] und mit allen Vertretern idealistischer Anschauungen vollkommen einig und in einer Front.

Wir sind darüber hinaus der Meinung, dass – abgesehen von einer Wirtschaftspolitik, die sich ihrer Dienstverpflichtung gegenüber jenen höheren Werten nicht nur grundsätzlich, sondern bis in alle Einzelheiten hinein bewusst ist – jene Gebiete, auf denen die höheren, überwirtschaftlichen Werte herrschen, natürlich ihr Eigengewicht haben. Wenn die Wirtschaft dafür sorgt, dass die wirtschaftlichen Voraussetzungen für sie erfüllt sind – das muss sie eben –, ist es Sache der Vertreter jener Werte, das ihrige zu tun, um diese Werte entsprechend zur Entfaltung zu bringen. Da sind wir allerdings der Meinung, dass in unserer Bundesrepublik auf den anderen, nicht wirtschaftlichen Gebieten in dieser Richtung sehr viel mehr getan werden müsste und mit sehr viel mehr Idealismus und Schwung die Pflege dieser überwirtschaftlichen Werte betrieben werden müsste.

Wir sind der Meinung, dass unter diesem Gesichtspunkt der Sektor der Wirtschaft derjenige ist, der im Gegensatz zu den oft erhobenen Vorwürfen noch am meisten für die Erfüllung dieser überwirtschaftlichen Forderungen getan hat, während auf den anderen Gebieten, wo die überwirtschaftlichen Werte im Zentrum stehen und der eigentliche Inhalt sind, zur Pflege der überwirtschaftlichen Werte, in deren Dienst wir die Wirtschaft stellen, ein viel größeres Maß an idealistischem Schwung und idealistischer Zielbewusstheit erforderlich wäre. (Beifall.)»

 


 

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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