«Alle Menschen sind frei und gleich an Würde …» Teil 2. Für eine anthropologische Begründung der Menschenrechte

1997 Joachim Hoefele

 


(1) Vortrag, gehalten 1997 an der Pädagogischen Schulungswoche des Vereins zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis VPM (2) Artikel in Standpunkt Nr. 1/88, Zeitung des Studenten Forums an der Universität Zürich
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In der letzten Ausgabe des Standpunkt (11/97) wurde der erste Teil des Artikels „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde …“ Eine Kritik der linken Menschenrechtskritik (1. Teil) veröffentlicht. Es wurde gezeigt, dass die Menschenrechte insbesondere durch marxistische beziehungsweise neomarxistische Strömungen massiven politischen Attacken ausgesetzt sind, hier allen voran durch die Frankfurter Schule von Horkheimer/Adorno, die Diskursethik Habermas‘, Rorty‘s klassenkämpferischen Kommunitarismus, postmoderne Strömungen und andere. Der folgende Artikel (2. Teil) stellt den positiven Ansatz Otfried Höffes dagegen, der an der universellen Geltung der Menschenrechte festhält, und zwar für alle Menschen, weil sie Menschen sind; er begründet damit die unveräusserlichen Menschenrechte anthropologisch, aus der Natur des Menschen, wie dies dem Geist der Menschenrechtskonvention von 1948, ihrer philosophischen und politischen Tradition entspricht.

Artikel 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ aus dem Jahre 1948 lautet: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren, sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ In diesen knappen Formulierungen ist der gesamte Schatz der abendländisch-christlichen Naturrechtstradition der Menschenrechte zusammengefaßt. (Vgl. STANDPUNKT 11/97, S.13) Weil alle Menschen so geboren sind, wie da ausdrücklich geschrieben ist, sind alle Menschen von Natur aus so, nämlich frei und gleich an Würde und Rechten geboren, mit Vernunft und Gewissen begabt.

Die Begründung der Menschenrechte führt auf die Frage zurück: Was ist der Mensch von Natur? Und welche natürlichen Bedürfnisse und Ansprüche muss er naturnotwendig als Mensch an andere Menschen stellen, damit er als Mensch leben und sich im gesellschaftlichen Zusammenleben mit anderen Menschen voll entfalten kann. Das Naturrecht – und das galt von Platon und Aristoteles, Thomas von Aquin bis Pufendorf, Kant und anderen – begründet die Rechtmässigkeit dieser Ansprüche aus der menschlichen Natur. Die Menschenrechte, wie sie uns in der allgemeinen Erklärung von 1948 vorliegen, gründen in dieser anthropologischen Naturrechtstradition.

Das heisst mit anderen Worten: Die Menschenrechte gelten, weil sie in der menschlichen Natur gründen, für alle Menschen, weil sie Menschen sind, unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion, sozialer und kultureller Herkunft. Sie sind gerade deshalb universell gültig.

Einen derzeit aktuellen Versuch, die Menschenrechte gegen alle ideologischen und politischen Anfechtungen als unveräusserliche Rechte des Menschen anthropologisch, das heisst aus der Natur des Menschen zu begründen und so ihre universelle Geltung fest in der menschlichen Natur zu verankern, stellt Otfried Höffes „Vernunft und Recht. Bausteine zu einem interkulturellen Rechtsdiskurs“ (Frankfurt/Main 1996, stw 1270) dar. Otfried Höffe hat als ordentlicher Professor einen Lehrstuhl für Philosophie am Philosophischen Institut der Universität Tübingen; er ist Experte für Politische Philosophie (Rechts- und Staatsphilosophie), Angewandte Ethik und Moralphilosophie. Höffe leitet das DFG-Projekt „Moralische Grundlagen der Demokratie“ und kann schon von daher als Experte in Fragen philosophischer Begründung der Menschenrechte gelten..

Angesichts der weltweiten Missachtung der Menschenrechte, so schreibt er, angesichts der Globalisierung der Lebensverhältnisse durch Wirtschaft, Medien, Wissenschaft und Kultur, angesichts des Aufeinanderprallens von Kulturen durch Immigration gehört die Rückbesinnung auf die Menschenrechte zu einer der drängendsten Fragen unserer Zeit; es gehe darum, eine verbindliche internationale Rechtsgemeinschaft auf der Grundlage des Völkerrechts und der Menschenrechte zu zementieren, die für alle Menschen, weil sie Menschen sind, Sicherheit und Frieden bieten kann.

Er stellt es sich zur Aufgabe, die Universalität der Menschenrechte philosophisch zu begründen, zu verteidigen, zu rechtfertigen. „Die Rechtfertigung der Menschenrechte“, so schreibt er, „gehört … in eine Debatte, die wir noch zu selten pflegen …“ (S.13), deren „Grundlagen und Bedingungen wir auch kaum noch kennen“ (ebd.), die „weder in unserer Kultur allein stattfindet noch sich an deren Voraussetzungen bindet“. (ebd.)

Soll es tatsächlich Rechte geben, die dem Menschen, bloß weil er Mensch ist, zukommen …, so müssen sie von kulturspezifschen Bedingungen unabhängig und für die verschiedenen Rechtskulturen gleichermaßen gültig sein.“ (13)

Tatsächlich gehören die Menschenrechte zu jener universalistischen Moral, näherhin der Rechtsmoral, die vom Westen und seiner Neuzeit nicht entdeckt, wohl aber in größerer Radikalität gedacht wird.“ (S.49) Sie gründen in den „allgemeinen Bedingungen des Menschseins, vor allem in der Vernunft …“ (S.49)

Höffe plädiert für eine kulturübergreifende Debatte, für einen, wie er es nennt, „interkulturellen Rechtsdiskurs“ (S.13), durch den die Menschenrechte den verschiedensten Kulturen, islamischen ebenso wie afrikanischen, vermittelt werden können.

Die Menschenrechte müssen philosophisch so gerechtfertigt werden, daß sie für alle Menschen gelten können, eben weil sie Menschen sind, egal welcher Kultur sie entstammen.

Sie müssen sich an (kulturunabhängigen) allgemeinen Bedingungen des Menschseins orientieren, sie müssen der Natur des Menschen entsprechen, d.h. sie müssen anthropologisch begründet werden.

Drei Faktoren sind es nach Höffe, die die Natur des Menschen bestimmen:

1. Das Verhalten des Menschen ist – im Gegensatz zu dem des Tieres – nicht instinktdeterminiert; er ist – philosophisch gesprochen – frei.

2. Der Mensch ist ein soziales Wesen.

3. Der Mensch verfügt über die Fähigkeit des vernünftigen Denkens.

Bei aller (instinktungebundenen) Freiheit, die die Natur des Menschen vor allen anderen Lebewesen auszeichnet, wagt er es dennoch nicht, in einem rechtlosen Zustand mit seinesgleichen zu leben. „Zu den Wagnissen“, schreibt Höffe, „die der Mensch nicht eingeht, zumindest nicht für längere Zeit, gehört ein Leben ohne das Recht.“ (S.10)

Es gibt zwar in den verschiedensten Kulturen verschiedene Rechtsformen und verschiedene Arten der Rechtsprechung, daß der Mensch „das Zusammenleben rechtsförmig … organisiert, findet sich jedoch ab einer gewissen Entwicklungshöhe in so gut wie allen Kulturen.“ (S.10)

Nicht bloß aus Achtung vor der Tradition oder aus Scheu vor den Göttern, sondern aufgrund von Erfahrungen, die er mit sich und seinesgleichen generell macht, aufgrund von kollektiven Einsichten, hält er [= der Mensch] gewisse Grenzen ein“ (10), schafft sich der Mensch Rechtsverhältnisse. So spiegeln auch die ältesten überlieferten Gesetzestafeln ähnliche kollektive Einsichten. Höffe nennt beispielsweise den altbabylonischer Kodex Hammurabi (10f.), alttestamentarisch-jüdische Gesetzestafeln und andere.

Auch die Menschenrechte verdanken ihre Entstehung der Einsicht, daß das Zusammenleben der Menschen durch Grundrechte gesichert werden muß, sie wurden nach den blutigsten und grausamsten Erfahrungen verfasst, die der Mensch durch Verfolgung, Mord und Krieg gemacht hat.

Wir können daher mit Höffe „den Mensch das Wesen nennen, das sich Rechtsverhältnisse schafft …“ (S.10) Das ist eine anthropologische Grundtatsache.

Daß sich der Mensch Rechtsverhältnisse schafft, dazu befähigt ihn die „soziale Vernunft“ (S.12) Weil der Mensch über soziale Vernunft verfügt, kann er im Konfliktfall – über seine eigenen Interessen hinaus – erkennen, was eigentlich in diesem oder jenen Fall recht ist.—

Nun zu den Menschenrechten im einzelnen.

Sie gelten als unveräußerliche und universell gültige Rechte, weil sie in der menschlichen Natur gründen. Sie stehen in der Tradition des klassischen, christlich-abendländischen und des modernen Naturrechts und haben in der westlichen Welt die schnellste Verbreitung gefunden.

Tatsächlich aber sind die Menschenrechte, so Höffe, vom Westen und seiner Neuzeit nicht entdeckt, wohl aber in größerer Radikalität gedacht worden.(vgl. S.49) Elemente der Menschenrechte finden sich in den verschiedensten Rechtskulturen.

…Tatsächlich gehören die Menschenrechte zu jener universalistischen Moral … . Gegründet in allgemeinen Bedingungen des Menschseins, vor allem der Vernunft …“ (49)

Sie sind Freiheits- beziehungsweise Abwehrrechte gegen allgemein geltendes Unrecht und gegenUnrechtsstaaten, das heisst gegen positiv geltendes (Un-)Recht.

Inwiefern sichern die Menschenrechte die allgemeinen Bedingungen des Menschseins? Inwiefern sind sie universelle, unveräußerliche Rechte?

1. Höffe zitiert hier Nietzsches Genealogie der Moral (3. Abh. Abschn. 13), zitiert nach Höffe, Seite 34, der einmal gesagt hat, daß der Mensch „unfestgestellter als irgendein Thier sonst“ ist. Gemeint ist damit, daß das Verhalten des Menschen – im Gegensatz zum Tier -,wie schon erwähnt, nicht durch Instinkte bestimmt ist; daß der Mensch also in diesem Sinne frei ist. Höffe spricht von der Handlungsfreiheit des Menschen.

2. Frei ist der Mensch in der individuellen Lebensgestaltung, denn er kann und muß das Leben aus eigener Entscheidung führen, frei ist er aber auch in der Gestaltung des gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenlebens.

3. Weiter ist für Höffe der Mensch von Natur ein soziales Wesen,

(a) „das seinesgleichen zum bloßen Überleben braucht“ (35) – er nennt hier u.a. die Hilfsbedürftigkeit der Kinder, der Schwachen und Alten, oder aber

(b) der Mensch braucht seinesgleichen zum angenehmen und guten Leben – er nennt hier die Notwendigkeit der Kooperation usw.

Nun ist die soziale Natur des Menschen nicht immer positiv am Wirken; der Mensch ist für den Menschen nicht bloß Hilfe und Ergänzung, sondern – wegen seiner Gewaltfähigkeit – auch Gefahr.

Wo nämlich die Beziehungen zwischen den Menschen in gegenseitiger Hilfe bestehen und die Hilfe immer spontan und verläßlich zustande kommt, so argumentiert Höffe weiter, wo also ausschließlich die Sozialnatur positiv am Wirken ist, da bräuchte es kein Recht, also auch keine Menschenrechte.

Es stellt sich im zwischenmenschlichen Zusammenleben die Aufgabe, „eine Freiheitsgefährdung von seiten der Artgenossen zu verhindern.“ (36)

Freiheit beziehungsweise Handlungsfreiheit aber ist ein anthropologisches Wesensmerkmal des Menschen. Die Menschenrechte gelten als unveräußerlich, weil sie die der menschlichen Natur entsprechende Handlungsfreiheit vor Übergriffen durch den andern sichern. Ohne die Garantie der Handlungsfreiheit kann der Mensch sich als Mensch gar nicht verwirklichen, gar nicht entwickeln. Die Menschenrechte schützen also die Bedingungen des Menschseins, die Handlungsfreiheit und die Bedingungen der Handlungsfreiheit: Die Unversehrtheit von Leib und Leben).

Jeder Mensch hat ein naturgegebenes Interesse an der Sicherung seiner Handlungsfreiheit. Daraus ergibt sich auch die Verpflichtung, das gleiche Interesse des anderen zu wahren. Im Grunde genommen, so meint Höffe findet sich diese gegenseitige Verpflichtung in allen Rechtskulturen und Moralsystemen, und zwar in der sogenannten „Goldenen Regel“: Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg’ auch keinem andern zu.

Wir sehen also: Der Mensch hat ein unverzichtbares, unveräußerliches Interesse an den Bedingungen seiner Handlungsfreiheit, welche die Unversehrtheit von Leib und Leben zur grundlegenden Voraussetzung hat (vgl. S.77 f.).

Deshalb hat der Mensch von Natur aus ein unveräußerliches Interesse an der Unversehrtheit von Leib und Leben und an der eigenen Handlungsfreiheit; diese unveräußerlichen, weil naturgegebenen Interessen schützen die Menschenrechte: Deshalb hat jeder Mensch das unveräußerliche „Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person und auch die Pflicht, dieses Recht des anderen in gleicher Weise zu schützen und zu wahren.

Als Sprach- und Vernunftwesen hat der  Mensch Gewissens-, Gedanken- und Meinungsfreiheit, und als Kooperationswesen die Versammlungs- und Vereinsfreiheit, auch das Recht auf Schutz der Familie, hinzu kommt nach Höffe das Recht, in Freiheit über die selbstgeschaffenen Güter verfügen können; das ist das Recht auf Eigentum. Aus diesen grundlegenden Menschenrechten lassen sich alle weiteren ableiten.

Im Standpunkt Nr. 36 (S. 13-16) wurde gezeigt, dass die Menschenrechte und ihre universelle Geltung heutzutage Ziel politischer Attacken insbesondere durch radikal-feministische, marxistische beziehungsweise neomarxistische Gruppierungen und Strömungen der verschiedensten Art sind.

Höffe begründet die Menschenrechte philosophisch-anthropologisch, wie dies dem Sinn und Geist von Artikel 1 der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ aus dem Jahre 1948 entspricht. Höffes Verdienst ist es, die objektive und universelle Geltung der Menschenrechte für alle Menschen, weil sie Menschen sind, gegen alle Relativierungsversuche und linksideologischen Attacken verteidigt zu haben.

 

Autor

Joachim Hoefele, Prof. Dr. phil., Dozent, Lehrer für Deutsch als Fremdsprache

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