Besorgniserregende Zunahme schwerer Sprachstörungen

16. September 1995 Moritz Nestor

Rasches Handeln fordert die Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter e. V. in einer Resolution, da die Sprachentwicklungsstörungen bei deutschen Kindern innerhalb des letzten Jahrzehnts erschreckend zugenommen haben. 1982 wiesen nach umfangreichen Reihenuntersuchungen etwa 4% aller deutschsprachigen Dreijährigen in Deutschland Sprachentwicklungsstörungen auf. 1988 erbrachten Querschnittsuntersuchungen der Universitätsklinik für Kommunikationsstörungen Mainz und der Logopäden-Lehranstalt Mainz in verschiedenen Kindergärten der Stadt Mainz und des Landkreises Mainz-Bingen, dass etwa 25% aller dreieinhalb- bis vierjährigen deutschsprachigen Kinder Störungen der Sprachentwicklung aufwiesen. Etwa 12,5%, d.h. die Hälfte dieser Kinder, war mittel- bis hochgradig gestört, so dass sofortige Behandlung angezeigt war.

Nicht organische Ursachen sind hierfür verantwortlich, wie ein Arbeitsausschuss der Deutschen Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter unter der Leitung von Prof. Dr. M. Heinemann (Mainz) betont. Vor allem durch mehrstündiges tägliches Fernsehen und eine allgemeine Reizüberflutung hat sich, so der Ausschuss, das Kommunikationsverhalten in den Familien derart verschlechtert, dass Kinder immer weniger sprachlich angeregt werden. Die Integration von Sehen, Hören und Fühlen werde gestört und dadurch die gesamte sprachlich geistig-seelische Entwicklung der Kinder beeinträchtigt. Mögliche Ursachen für die veränderten Sprachgewohnheiten in den Familien sind nach Ansicht des Ausschusses soziale und familiäre Veränderungen, wie Berufstätigkeit beider Eltern, Scheidungskinder, aktive Gewaltbereitschaft in Gruppensituationen.

Typische Symptome sind: Verzögerter Sprechbeginn, eingeschränktes Sprachverständnis, unzureichender Wortschatz, gestörte Grammatik, undeutliche bis unverständliche Aussprache und eingeschränkte Fähigkeiten, ein Gespräch zu führen und sich zu verständigen. Werden diese Störungen nicht spätestens im dritten Lebensjahr behandelt, drohen Rückstände im eigenständigen Denken und in der Beziehungsfähigkeit der Kinder, was sich in Verhaltensstörungen, Lese- und Rechtschreibschwächen, Stottern, Poltern oder Sprachverweigerung ausdrücken kann.

Die Deutsche Vereinigung für die Rehabilitation Behinderter appelliert an Eltern, Erzieherinnen, Erzieher und Kinderärzte. Sie trügen die Verantwortung, bereits die ersten Symptome solcher Störungen der Sprachentwicklung zu erkennen und eine genaue Abklärungen einzuleiten. In vielen Fällen reiche schon eine intensive Elternberatung und eine häusliche Sprachförderung, um bleibende Schäden zu verhindern.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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