Der «reuige Sünder»

17. November 2021 Moritz Nestor


 


 

Walters Grossvater, 1923 geboren, schlug seine Kinder wegen der geringsten Vergehen oder auch völlig ohne Anlass. Er stammte aus einem armen Appenzeller Geschlecht und war Alkoholiker. Sein Sohn, Walters Vater, 1945 geboren, ein «Büezer», war ebenfalls Alkoholiker, seitdem Walter denken konnte. Zum Kummer von Walters Mutter brachte der Vater regelmässig den Zahltag in der Wirtschaft durch. Süchtig, unfähig zur Rücksicht auf seine beiden Kinder und seine Frau, schlug der besoffene Vater die Mutter regelmässig, wenn er «geladen» nach Hause kam. Von seinem sowieso geringen Einkommen war für die Familie schnell kein Geld mehr übrig, nicht einmal für das Allernötigste. Alle im Dorf sahen zu, auch der Pfarrer. Niemand half. Alle kannten den Alkoholiker, verachteten ihn. Walters Mutter, eine einfache Innerschweizerin und gütige Frau, ging putzen, um ihre geliebten Kinder, ihren Ältesten Walter und die Tochter, vor dem Elend zu bewahren.

Walter wuchs auf im Hass gegen den Vater. Er fühlte, dass dieser ein böser Mann sei. Erst als er schon auf die Vierzig zuging, erfuhr er zufällig die wahren Hintergründe: Am Stammtisch, wo sich des Vaters Zahltage in Bier und Schnaps verwandelten und das Elend jeweils seinen Anfang nahm, machte man sich nämlich regelmässig über den Betrunkenen lustig. Dem Wirt schlug das Gewissen nicht, dass ihm das Leid einer Familie einen schönen Batzen einbrachte. «Deine Alte geht zu anderen», verleumdeten die Saufkumpane regelmässig Walters Mutter und lachten sich kaputt, dass sich der besoffene Trottel, wie sie einfältig dachten, Hörner aufsetzen liess. Walters Vater war labil und liess sich, vor allem im Rausch, leicht dazu verleiten, dem Spott der Saufkumpane zu glauben. Immer wieder kam er besoffen nach Hause, kochend von tiefer Demütigung und Wut. Lärmend drang er auf die arme Mutter mit Fäusten ein. Besinnungslos vor Eifersucht, brüllte er sie mit derben Worten an und beschuldigte sie, sie gehe fremd. Schon als Kind stellte sich Walter schützend vor die Mutter. Und musste die Schläge einstecken, solange er zu schwach war. Danach lag er immer noch lange wach, und der Hass auf den Vater kochte in ihm. Mit 13 begann Walter zurückzuschlagen, wenn der Vater schlug. Er war stark geworden. Er liess sich nichts mehr sagen. Schliesslich nahm man ihn – zu seinem Glück – aus der Familie. Er kam für drei Jahre in eine geschlossene jugendpsychiatrische Anstalt, wo er sich zum ersten Mal in seinem Leben verstanden und geborgen fühlte, sich erholte und eine Lehre abschloss. Aus dem «schwierigen» Jugendlichen wurde ein tüchtiger Berufsmann, der sich bald auch in der Gemeinde und in politischen Vereinen emporarbeitete. Es hörte nie auf. Immer wenn er sich an einer Arbeitsstelle oder in einem Verein zur höchsten Spitze emporgearbeitet hatte, verlor er das Interesse und sah sich nach einem anderen Betätigungsfeld um.

Seit er denken konnte, hasste Walter seinen Vater, hätte ihn umbringen können. Nie wollte er so werden wie «der». Der Hass verliess ihn nie, auch wenn er lägst erfolgreich geworden war. Entdeckte er an sich Verhaltensweisen, die er mit dem Vater gemeinsam zu haben schien, hasste er sich.

Als Walter 31 Jahre als war, verheiratet und ein erfolgreicher Geschäftsmann, liess er sich vasektomieren, denn er wollte damals keine Kinder. Er hatte zu sehr Angst, ein schlechter Vater zu sein. Als Walters Vater von der Vasektomie erfuhr, trat er, besoffen, im Affekt den Sohn mit voller Wucht zwischen die Beine. Walter, der stark geworden war, weil er lange im Sicherheitsdienst gearbeitet und Selbstverteidigungstechniken und Beherrschung gelernt hatte, warf – besinnungslos vor Schmerz – den Vater zu Boden, spannte dessen Arme auf dem Rücken fest und zischte dem Besoffenen ins Ohr: «Wenn Du nicht nachgibst, bringe ich dich um.» Er hätte es getan. Der Vater gab nach. «Wir entkamen nur knapp einer Katastrophe», sagte Walter. Der Vater aber erstattete Anzeige gegen den Sohn. Die Mutter hatte die furchtbare Szene miterleben müssen. Sie und Walter sagten vor Gericht gleich aus, weshalb der Fall schliesslich niedergeschlagen wurde. Ab da habe er den Vater nicht mehr gehasst, sondern nur noch verachtet, sagte er.

Die Jahre gingen dahin. Der erfolgreiche Walter fühlte, mal mehr, mal weniger deutlich, dass ein «schwarzer Fleck» sein täglicher Begleiter war: «Immerhin,» fiel es ihm immer wieder ein, «es ist doch mein Vater.» Und eines Tages gegen Jahresende war über lange Jahre hinweg ein Entschluss in ihm gereift, nicht aus Überlegung, betonte er. Eine lange gärende intuitive Tat sei es gewesen. Er suchte wenige Tage vor Heilig Abend seinen Vater auf, bot dem alten Mann die Hand, die dieser staunend ergriff, und vergab dem einst gehassten Vater. Dem alten Mann seien die Tränen nur so herabgerannt, und er habe zu Walter mit erstickter Stimme gesagt: «Das ist das schönste Weihnachtsgeschenkt.» Walter hatte erkannt, dass er sich mit seinem Hass selbst zerstörte, denn der Hass hatte ihn böse gemacht. Dass er sich mit dem Hass auf den Vater sozusagen auf eine Stufe stellte mit dem gewalttätigen Vater, den er ja gerade wegen dessen Gewalt hassen gelernt hatte, bewegte ihn zur Vergebung. Sie erst half ihm aus der Gewaltstrudel, denn er wusste, dass er mit dem Hass doch letztlich der Gewalt des Vaters nachgeeifert hatte.

Walter hat sich mit einer bewundernswerten seelischen Kraft aus dem Hass herausgearbeitet. Er hatte sich unausweichlich innerlich dazu gedrängt gesehen, seine Lebenslüge aufzugeben. Er ertrug seinen «dunklen Schatten» nicht mehr. Denn er wusste, er ist «immerhin der Vater». Und er war längst über seinen Vater hinausgewachsen und hatte verstanden, wie sehr der Vater von den Saufkumpanen aufgestachelt worden war und daher gegen die Mutter gewalttätig wurde. Auch dass der Vater nicht schlug, weil er Walter gehasst hatte oder «böse» war, lernte Walter durch die Hilfe eines Psychologen. Aus dem «bösen» Vater, für den Walter ihn immer gehalten hatte, war längst in Walter ein im Stich gelassener Alkoholiker geworden, dem niemand half und auf dessen Kosten man sich lustig machte und Geld verdiente. So entschloss Walter sich, lieber seinen Stolz und Hass – die eine mit «guten Gründen» genährte Lebenslüge waren – aufzugeben, als weiter darunter zu leiden. Wer hasst, ist das erste Opfer des Hasses, erkannte er. Schliesslich siegte in ihm die Erkenntnis der wahren Hintergründe von Vaters Gewalt über seinen alten kindlichen hassenden Stolz. Zur ehrlichen Selbsterkenntnis gedrängt, kehrte er innerlich um und begann, sich aus den Niederungen des Lebens, aus dem Hass, herauszuarbeiten. Er wollte Mensch, nicht Unmensch sein. Aus sich selbst heraus wollte er eine neue Richtung im Leben.

1668 malte der Niederländer Rembrandt van Rijn auf eine Leinwand von zwei Meter sechzig auf zwei Meter das Gleichnis Jesu «Die Rückkehr des verlorenen Sohns». Meine Frau hat mir einmal eine Reproduktion davon zu Weihnachten geschenkt. Immer wenn ich es ansehe, ergreift mich eine innere Erschütterung über das, was wir Menschen bewirken, wenn wir uns darauf besinnen, wer wir wirklich von Natur her sind: zu Umkehr, Gnade und Vergebung fähig. Und ich muss auch an Walter denken. Das gütige Gesicht eines alten blinden Vaters leuchtet auf Rembrandts Bild liebevoll über seinem heimgekehrten Sohn, der vor ihm kniet. Des Vaters abgearbeitete Hände ruhen segnend auf den Schultern des Sohnes, der mit geschlossenen Augen seine Wange an die Brust des Vaters gelegt hat, den Kopf gesenkt. Er hat jahrelang ein übles Leben geführt, alle Leidenschaften ausgelebt, das vorgezogene Erbe vertan. Not, Elend und Hunger wurden seine täglichen Begleiter. Das Haar trägt er kurz nach Sklavenart. Sein Gewand ist zerschlissen, keines stolzen Edelmannes Prunk – wie der neben ihm im Halbdunkel stehende eifersüchtige ältere Bruder. Im Zentrum des Lichts, das die Szene des vor seinem Vater knienden heimgekehrten Sohne erhellt, leuchten hell die segnenden Hände des Vaters und dessen gütiges Gesichts dem Betrachter entgegen. Der Evangelist Lukas hat dieses Gleichnis Jesu vom verlorenen Sohn überliefert, das Rembrand über tausend Jahre danach malte. Der jüngere von zwei Söhnen lässt sich das Erbe auszahlen, geht weg und führt ein wüstes Leben, verschleudert das Vermögen und kommt schliesslich am tiefsten Punkt eines Lebens an. Er bereut seinen Lebenswandel und kehrt nach Hause zurück, wo ihm der freudige Vater um den Hals fällt. Der Vater richtet ein Fest aus für den Heimgekehrten. Der eifersüchtige ältere Bruder wird auf den Vater zornig. Er sei doch immer der rechte Sohn gewesen, der andere ein übler Kerl. Der gütige Vater aber entgegnet dem Zornigen, dieser sei immer bei ihm gewesen, aber «dein Bruder, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.»[1]
Walter ist solch ein verlorener Sohn, wenn ihn auch andere Umstände als den biblischen Sohn prägten. Aber Walter hat seinem Leben eine neue Richtung gegeben und ist ein Beispiel für das, was Alfred Adler, der Begründer der Individualpsychologie 1927 in der Einleitung seines Buchs «Menschenkenntnis» schreibt:

«Wirkliche Menschenkenntnis wird bei unserer mangelhaften Erziehung heute eigentlich nur einem Typus von Menschen zukommen, das ist der „reuige Sünder“, derjenige, der entweder drinnen war in all den Verfehlungen des menschlichen Seelenlebens und sich daraus gerettet hat, oder der wenigstens nahe daran vorbeigekommen ist. Selbstverständlich kann das auch jemand anderer sein, insbesondere jener, dem man es demonstrieren konnte, oder dem die Gabe der Einfühlung ganz besonders gegeben ist. Der beste Menschenkenner wird aber sicher der sein, der alle diese Leidenschaften selbst durchgemacht hat. Der reuige Sünder scheint nicht nur für unsere Zeit, sondern auch für die Zeit der Entwicklung aller Religionen jener Typus zu sein, dem der höchste Wert zugebilligt wird, der viel höher steht als tausend Gerechte. Fragen wir uns, wieso das kommt, dann müssen wir zugeben, dass ein Mensch, der sich aus den Schwierigkeiten des Lebens erhoben, sich aus dem Sumpf emporgearbeitet hat, der die Kraft gefunden hat, alles das hinter sich zu werfen und sich daraus zu erheben, die guten und schlechten Seiten des Lebens am besten kennen muss. Ihm kommt darin kein anderer gleich, vor allem nicht der Gerechte.»[2]

Ohne je etwas von Alfred Adler gehört zu haben, hat Walter an sich selbst vollzogen, was der grosse Menschenkenner Adler meinte, als er schrieb: «Aus der Kenntnis der menschlichen Seele» erwachse «ganz von selbst eine Pflicht, eine Aufgabe»: die seelische «Schablone», die «sich als für das Leben ungeeignet erweist, zu zerstören» und durch eine zu ersetzen, «die für das Zusammenleben und für die Glücksmöglichkeiten dieses Daseins besser geeignet ist». In ihr aber spielt dann

«das Gemeinschaftsgefühl die hervorragende Rolle …, weil er [hier: Walter] bei seinen Irrtümern die sichere Empfindung hat, in welcher Richtung er fehlgegangen ist.» Die Individualpsychologie lehre, dass «die Auswirkungen eines Erlebnisses völlig andere werden, wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt. Er ist ein anderer geworden und kann sich dessen wohl niemals mehr entschlagen.»[3]

Das lehrt uns Walters lebendes Beispiel: Wir Menschen sind keine «Reiz-Reaktions-Wesen», keine genital-gesteuerte «Triebwesen», keine «lebenden System», kein «Produkt neuronaler Ströme», kein «Reflex der ökonomischen Verhältnisse», kein berechenbarer «Kosten-Nutzen-Maximierer». Unser seelischen Probleme sind nicht durch «Gene», «defekte» Hirnstrukturen, Synapsen oder Nervenleitungen, aber auch nicht durch Hormon- oder Stoffwechselstörungen oder die ökonomischen «Produktionsverhältnisse» determiniert. In uns ist innerer Wandel möglich, wie Alfred Adler schrieb, «wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt.» Wir sind fähig, unsere starken natürlichen moralischen Anlagen der Nächstenliebe und gegenseitigen Hilfe zu erkennen und unserer Lebensführung in Übereinstimmung mit ihnen zu formen und eine andere, bessere und menschlichere Richtung zu geben – wenn wir den Hass überwinden.

 

 

***

 

[1] Lukas 15, 11-32. Katholische Bibelanstalt. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift.
      Stuttgart 2016
[2] Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung
[3] Alfred Adler. Menschenkenntnis. 1927, Einleitung

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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