Der Schweizerische evangelische Kirchenbund SEK sagt «Nein» zur Instrumentalisierung von Men- schen zu Forschungszwecken! Die Abwägung von Menschen- würde und Forschungsfreiheit ist Verrat am Staat

26. Dezember 2020


 


 

Der Rat SEK wendet sich gegen jede Relativierung der unbedingten Vorrangstellung der Menschenwürde vor der Forschungsfreiheit. Die Würde des Menschen ist unantastbar, und die Einzigartigkeit der Person ist unbedingt zu achten. Der Versuch, den unaufgebbaren Kerngehalt der Menschenwürde zugunsten der Forschungsfreiheit zu relativieren, wird entschieden zurückgewiesen.“

„Die Ethikkommissionen sind ein Ort der Reflexion und haben eine unabhängige Beratungsfunktion. Die im Gesetz zugeschriebene Kontrollfunktion im Sinne einer «Forschungspolizei» verkennt Sinn und Bedeutung dieser ethischen Institutionen.“

[https://www.kath.ch/medienspiegel/menschenwuerde-vor-forschungsfreiheit/]

 

Der Schweizerische Evangelische Kirchenbund SEK veröffentlichte 2006 seine Stellungnahme zum geplanten Verfassungstext zur Legalisierung von Menschenversuchen unter dem Titel „Forschung am Menschen“.[1] Diese bemerkenswerte grundsätzliche Stellungnahme bleibt im laufenden Abstimmungskampf auffallend unbemerkt. Obwohl sie eine humane Gegenposition gegen das inhumane Ziel der Initiative „Forschung am Menschen“ bietet! Die einzig mögliche, wie wir meinen. Das Anliegen der Initiative zur Legalisierung von Menschenversuchen wird vom SEK implizit als Verrat am Staatszweck charakterisiert. Das ist der schreckliche Kern der schrecklichen Sache.

Der SEK streicht bemerkenswert klar heraus, dass die Initiative „Forschung am Menschen“ das Grundprinzip der Schweizer Verfassung abschaffen will und damit den humanen Sinn des Staates vernichtet: nämlich dass die Menschenwürde nie verhandelbar sein darf und dass die Menschenwürde nicht abwägbar ist gegen „andere Werte“. Heisst: Forschungsfreiheit und Menschenwürde dürfen nie „gleichwertig“ nebeneinander stehen, um sie von Fall zu Fall gegeneinander abzuwägen. So will es allerdings die vom Utilitarismus eines Peter Singer infizierte Initiative. SONDERN: Es muss immer gelten, sagt der SEK, dass die Forschungsfreiheit aus der Menschenwürde abgeleitet wird.

Sonst – das folgt zwingend daraus, auch wenn der SEK das dann nicht mehr sagt – wird den in den Startlöchern wartenden Pharma-Mengeles, die nur auf den staatlichen Startschuss für Menschenversuche von ganz oben warten, Tor und Tür geöffnet.

Denn machen wir uns (warum ist das eigentlich nötig?) klar: Sinn und Zweck des demokratischen Staates ‑ und das ist das Wertvolle an der Schrift der SEK, darauf unerbittlich klar den Finger zu legen – ist die „Verwirklichung der Menschenwürde“.[2] Die Würde des Menschen ist „grundlegender Ausgangspunkt und Leitstern für die Konkretisierung aller Grundrechte.“[3]

Gibt der Staat diesen existentiellen Zweck auf, wie es die Initiative will, dann wird er dadurch unweigerlich zur Quelle von Unrecht: In ihm darf dann der Mensch legal (aber gegen jedes Gerechtigkeitsprinzip) zum guinea pig von „Biologischer Psychiatrie“, Pharmaindustrie, Gentechnik und den dahinterstehenden Mächten missbraucht werden – wenn es im „Interesse“ der „Allgemeinheit“ ist.

Und täusche man sich nicht: Es finden sich problemlos „Gründe“, warum ein Forschungsinteresse für so wichtig gelten soll, dass man dann und wann eben schon ein autistische Kind ins Labor schicken darf. Es wird ja, nach Annahme der Initiative, nur noch abgewogen: Die Würde des Kindes gegen das Forschungsinteresse!

Die Würde ist dann nicht mehr Barriere gegen den Missbrauch des Kindes.

Die „Ethiker“, die gegen gutes Geld und einem Platz am World Economic Forum, die entsprechenden Theorien zaubern, stehen parat: Peter Singer exerziert seit Jahren vor, wie das geht: Was leidet das behinderte Kind schon, fragt er uns, und liefert es dem Tod aus. Wenn der Tod eines behinderten Kindes, sagt Singer im eisigen Ton des Nazi-Schergen am Schreibtisch,  das Leben eines gesunden Kindes ermöglicht – voila töten wir es. Das sei nach Singer lediglich gerechte „Interessensabwägung“ und die für ihn einzige „Ethik“, die dem Menschen der Globalisierung bleibe.

Aber Singersches Denken ist keine „Ethik“, sondern – die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ im utilitaristischen Zeitalter! Und die Deutschen haben gut daran getan, ihm statt Argumenten Maulschellen zu verpassen. Denn er lehnt die Menschenwürde ab. Er will sie nicht. Wer seine Mutter zu töten vorschlägt, dem antworten wir nicht mit Argumenten, sondern mit Zurechtweisung, sagte der grosse Aristoteles zu recht.

Die smarten Experten in den Ethikkommisionen, die solche Singerschen „Interessensabwägung“ dann kalten Herzens treffen, sind problemlos zu finden, wenn es für den Wirtschaftsstandort nötig sei. So wird doch schon im Rat argumentiert!

Was ist mit dem „nie vergessen“? Die Geschichte des «Dritten Reichs» lehrt uns: Allein der Ehrgeiz spülte den Nazis genügend willige, vor allem junge Ärzte in die entsprechenden Stellen. Die Funktionäre riefen zum Töten und musste keinen der Ärzte zwingen Patienten „euthanastisch“ zu „behandeln“. Die Ehrgeizigen drängten sich nach vorne – und wogen kalt ihre «Forschungsinteressen» gegen die Menschenwürde ab, weil ihr Herz nicht mehr für die Würde des Menschen schlug, sondern im ideologischen Wahn, auf der rechten Seite zu stehen, erkaltet war: Kalt, weil man Gott spielte und Menschenleben gegen Forschungsfreiheit im Dienste des gesunden Volkskörpers abwog! Eine „Medizin ohne Menschlichkeit“, wie sie Mitscherlich im Bericht über die Nürnberger Ärzteprozesse nennt, zu der wir auf dem besten Wege sind. Der Wirtschaftsstandort Schweiz, der nach Felix Gutzwiler in der Ratsdebatte durch die Möglichkeit von Menschenversuchen besser gesichert werden solle, hat dann den „Volkskörper“ ersetzt – was ist sonst gross anders?

Exit und Dignitas haben längst grausam vorexerziert, wie man Töten in „selbstbestimmtes“ Sterben verwandeln kann: Der „Ethiker“ Klaus Peter Rippe zauberte für Exit mit Links ein Gutachten aus der Feder, dass sich psychisch Kranke „selbstbestimmt“ umbringen können. Wie praktisch für die Versicherungen, dass die Teuren sich via selbstbestimmtem Frühableben selbst aus der Bilanz verabschieden! Wer weiss noch, wie Binding und Hoche 1920 – lange vor Hitlers Gaskammern und im gleichen Ton wie Rippe – in ihrer furchtbaren Schrift „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ von „beachtlichen Fällen von Einwilligungsfähigkeit bei Geisteskranken“ schwafelten? Bei der Ärztekonferenz in Berlin, auf der den Ärzten die Tötung von über 100 000 Kranken angetragen wurde, knallte der Sitzungsleiter als erstes die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ auf dem Tisch – Handlungsanweisung für die „neue grosse Zeit“.

Menschenversuche und Euthanasie im Dritten Reich haben der Menschheit grausam gezeigt, dass die Gleichsetzung von Forschungsfreiheit und Menschenwürde im Morden endet. Die Nürnberger Prozesse haben sub spezie aeternitatis festgeschrieben, dass niemals mehr der Mensch Mittel zum Zweck irgendwelcher „Forscher“ (oder „Wirtschaftsstandorte“, wie es Felix Gutzwiler in der Ratsdebatte zynisch formulierte) werden darf. Zu allen Zeiten an allen Orten. Woran sonst sollten wir denn Verbrechen von selbstherrlich gewordenen Forschern messen? Der Mensch hat keinen Preis, sondern eine Würde. Der Mensch darf nie als Mittel zum Zweck gebraucht werden. Er darf nicht verkauft, verschenkt, verliehen, gebraucht oder irgendwelchen anderen Interessen ausgeliefert werden. Das ist die humane Staatsräson einer Demokratie, die wir aus dem Dritten Reich gelernt haben. Welcher politischen Amnesie wurde sie geopfert, dass diese Initiative alle parlamentarischen Hürden nahm? Wie kommen Bundesbeamte aus dem BAG dazu zu sagen, niemand wisse genau, was Würde sei?

Wir haben hier in diesem Artikel die Verbindung zum Dritten Reich selbst gezogen, wie sie sich aus der Initiative von ganz alleine ergibt. Deutsche sind vielleicht hellhöriger im Herzen bei derartigen Tönen, wie sie die Initiative anschlägt. Wenn des einen Vater 1956 gebrochen aus sibirischer Gefangenschaft zurückkehrte oder des anderen Vater  nach 1945 nachts regelmässig 35 Jahre lang weiter töten musste, bis er starb, liest man manchmal manches anders. Man sieht die Anfänge: „Klein“ fängt es an mit der Abwägung der Würde gegen die Forschungsfreiheit, und es endet bei den Mengeles und Bormanns. Die Geschichte hat unserer Generation diese Lehre blutig ins Lebensbuch geschrieben, dass die Menschenwürde nicht gegen die Forschungsfreiheit abgewogen werden darf.

Nie hätten wir es gewagt, so direkt in der Analyse zu sein, hätten wir nicht am 10.  Februar 2010 in Basel aus dem Mund von Beamten aus Bundesbern  w ö r t l i c h  das gehört, was wir gerade sagten: Zu einer öffentlichen Meinungsbildungsveranstaltung zum Verfassungsartikel  über die Forschung am Menschen hatte dort die Regionalgruppe der Demokratischen JuristInnen DJS Basel eingeladen. Als Experten kamen Michael Gerber, stv. Abteilungsleiter der Abteilung Recht im Bundesamt für Gesundheit, und Hermann Amstad, Generalsekretär der Schweizerischen Akademie für medizinische Wissenschaften SAMW, beide Befürworter der Initiative, sowie Pascale Steck, Geschäftsführerin des Basler Appells gegen Gentechnologie, die sich vor allem gegen die durch den Verfassungsartikel mögliche biomedizinische Forschung an urteilsunfähigen Kindern, Ungeborenen, geistig Behinderten, Komatösen, Demenzkranken und schwer psychisch Kranken, wandte.

Eltern behinderter Kinder empörten sich, dass sie keine Forschung an ihren behinderten, nicht-urteilsfähigen Kindern wollten, unter anderen die Mutter eines autistischen Kindes. Michael Gerber „beruhigte“ sie zynisch: Ohne ihre Zustimmung dürfe keine Forschung an ihrem Kind durchgeführt werden! Das sei verbindlich. Hermann Amstaddoppelte nach: Die Mutter sei doch sicher auch für Forschung zum Autismus, denn damit könne autistischen Kindern geholfen werden … Da war es, das Singer-Argument: Wenn der Tod eines behinderten Kindes das Leben eines gesunden Kindes ermöglicht – voila töten wir es. Aus dem Munde des Generalsekretärs der Schweizerischen Akademie für medizinische Wissenschaften! Auf welchem pseudoethischen Boden bewegen sich Funktionäre der ethischen Standesorganisation der Schweizerischen Ärzte heute?

Ein Teilnehmer empörte sich über die Haltung des Medizinfunktionärs, dass in der Zeit des Nationalsozialismus die schlimmsten medizinischen Experimente genau so begründet worden seien, nämlich, dass der Einzelne den Zwecken der Volksgesundheit untergeordnet werden müsse. So werde – wie im genannten Beispiel des autistischen Kindes – das behinderte Kind dem allgemeinen Zweck der Forschung am Autismus untergeordnet. Das verletzt das Recht und die Würde des einzelnen. Eine wahre slippery slope.

Amstad versuchte sich zu retten: Für solche ethischen Konfliktfälle gebe es die Ethik-Kommissionen als unabhängige Instanzen, die über die Zulässigkeit eines Forschungsvorhabens im Einzelnen entscheiden müssten. Das dürften nicht die Forscher selbst. Ja, dann sind wir bei den Kommissionen und Meldebögen der Nazi-Ärzte. Nicht der Nazi-Arzt entschied, sondern die Kommission! Daher kam sofort der nächste Protest aus dem Publikum: Das gerade sei ja das Problem. Dadurch wird der Entscheid über die Zulassung „fremdnütziger Forschung“ einem Konsens übergeben, und das Leben ist nicht mehr tabu. Ethik-Kommissionen sind ohne absolute gesetzliche Verpflichtung auf die Menschenwürde so wenig unabhängig wie ein einzelner. Das sei genau das Problem im Dritten Reich gewesen. Die völkischen „Ethik-Wächter waren sich in ihrem „Diskurs“ einig, dass medizinische Experimente an geistig Behinderten zum Beispiel zum Zwecke der Volksgesundheit nötig seien.

Der Jurist Michael Gerber, stv. Leiter der Abteilung Recht im Bundesamt für Gesundheit (BAG) setzte dem ganzen die Schand-Krone auf: Die Ethik-Kommissionen seien an Recht und Gesetz gebunden, obwohl er als Jurist aus der Rechtsgeschichte wissen muss, dass die im Initiativ-Artikel formulierte Gleichrangigkeit von Würde und Forschungsfreiheit auf eine Knebelung der Würde hinausläuft! Ein Teilnehmer legte sofort den Finger auf diesen Punkt: Wenn der Gesetzgeber die Würde des Menschen und der Persönlichkeit schützen solle und zugleich die Freiheit der Forschung wahren müsse, dann sei damit die Menschenwürde auf die gleiche Stufe gestellt wie die Forschungsfreiheit und werde so zum abwägbaren „Wert“ unter anderen „Werten“. So entscheide der Konsens, welcher Wert im konkreten Fall mehr oder weniger berücksichtig werde: die Menschenwürde oder die Freiheit der Forschung. Das sei ein Bruch mit Verfassung und mit dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, beide von der Schweiz ratifiziert. Diese hielten fest, dass die Menschenwürde ein unantastbares oberstes Prinzip sei, unverhandelbar, unabwägbar, da es sich um ein dem Menschen innewohnendes, angeborenes Recht handle.

Und jetzt kam das zutiefst Empörende: Michael Gerber, leitender Jurist beim Bundesamt für Gesundheit (BAG) hämmerte den Satz in die Luft: „Es gibt nicht die Wahrheit. Wer kann denn sagen, was Menschenwürde sei?“ Ein Jurist kann nicht sagen, was Würde ist! Kann man es denn klarer als Kant sagen: Der Mensch ist unverfügbar. Er ist Zweck an sich. Das will ein Jurist nicht verstehen?

Dass im Verlaufe der weiteren Diskussion Verfechter der Menschenwürde als „Forschungsfeinde“ abgekanzelt wurden, war nur die logische Fortsetzung des Satzes: „Es gibt nicht die Wahrheit. Wer kann denn sagen, was Menschenwürde sei?“ Das ist die Logik des Utilitarismus Peter Singers: Dass menschliches Leben sakrosankt ist, gilt ihm nämlich als „überholt“. Menschen töten ist kein Problem mehr für ihn. Menschen sind nicht alle gleich wertvoll für ihn. Sie haben ihre Rechtsgleichheit verloren, und „ein Leben ohne Bewusstsein (hat) keinen Wert mehr“ (Singer). Man muss Singer lesen (bitte nur mit geistiger Gasmaske), man glaubt es sonst nicht und hält ihn vielleicht für den gefühlvollen netten Onkel, der den Tierlein endlich ihre Würde gibt. Verführt vom Mitleid, liest man dann seine Todesphilosophie nicht! Und so entsteht „tödliches Mitleid“ (Dörner). Wer Peter Singers Buch „Leben und Tod“ (1998) gelesen hat, der versteht, warum leitende Juristen heute nicht mehr wissen, was die Würde des Menschen ist. Der Schutz der Menschenwürde ist für Singer nur der letzte Versuch des Menschen, sich für den Liebling des Universums zu halten.[4]

Aber das kann und darf nicht sein. Wir haben nicht die Nürnberger Prozesse geführt und die Verbrechen der Nazis gegen die Menschheit unter Hinweis auf die Menschenwürde verurteilt, damit eine geschichtslose Generation dahinter zurückgeht. Es ist mehr als Zeit, vors Haus zu treten und nach dem Rechten zu sehen!

 

 

 

[1] Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund. Forschung am Menschen. Zwischen Menschenwürde und Forschungsfreiheit. SEK Focus 6. Bern 2006. Der Text wurde am 4. April 2006 vom Rat des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes genehmigt.
[2] Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund: Forschung am Menschen. S. 11
[3] Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund: Forschung am Menschen. S. 11
[4] Peter Singer: Leben und Tod. Erlangen 1998, S. 204

 

 

 

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