Fragmente aus der Geschichte des Begriffs «Lebensqualität»

1998 Moritz Nestor

Die Würde des Menschen ist unantastbar

 

Das Bundesdeutsche Grundgesetz hat keine Bewertung menschlichen Lebens zugelassen. Nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt es daher auch kein lebensunwertes Leben. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Dieses Sittengesetz ist nichts anderes als die Aussage, dass jeder Mensch Achtung verdient, weil er zur Gattung Mensch gehört. Das Grundgesetz und die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichtes verbieten damit eine Bewertung des Lebens nach „Qualität“.

Trotzdem hat der Begriff „Lebensqualität“ seit Mitte der 70er Jahre in unseren allgemeinen Sprachgebrauch Einzug gehalten, dass es heute selbstverständlich ist, Leben nach unterschiedlichen Qualitäten zu bewerten. Am brutalsten geschieht das in der sogenannten „Euthanasie“diskussion, wo die Unterscheidung von Lebensqualitäten zur Rechtsfertigung der Tötung auf Verlangen und der Beihilfe zum Suizid herangezogen wird.

 

 

Vorgeschichte in USA

Ausgegangen ist diese Bewegung von den USA. Bis etwa zum Zeitpunkt des Erscheinens der Bücher von Forrester („World Dynamics“) und Meadows („Grenzen des Wachstums“) erscheint „Lebensqualität“ dort in keinem wichtigen Nachschlagewerk als Stichwort.

1956 führt E. Sevareid den Begriff in den US-amerikanischen Wahlkampf ein, um das wirtschaftspolitisch Programm des Präsidentschaftskandidaten Stevenson zu stützen. „Lebensqualität“ hat eine ökonomisch-materielle Bedeutung.
Die US-amerikanischen Wirtschaftsexperten A. Schlesinger jr. und J.K.Galbraith greifen ab 1958 den Begriff „Lebensqualität“ auf und führen ihn in den offiziellen Sprachgebrauch der amerikanischen Regierung ein. 1964 verwendet Johnson ihn in seiner Theorie der „Great Society“ und 1965 in seinem Bericht zur Lage der Nation.

Danach wandelt sich der Begriff von einem ökonomischen zu einem ökologisch-ideologischen. „Lebensqualität“ wird bald verstanden als kritischer Begriff, der gegen den Glauben an grenzenloses Wachstum der Industrie und Wirtschaft gerichtet ist.
Wachstums- und Fortschrittsfeindlichkeit

1971 veröffentlichte J.W.Forrester sein Buch „World Dynamics“. Darin stellte er erstmals die Behauptung auf, weiterhin ungebremstes exponentielles Wachstum führe unweigerlich zu einem weltweiten Zusammenbruch der Wirtschafts- und Ökosysteme. Forrester fordert einen schnellen Wachstumsverzicht, was ein weltweites Gleichgewicht bewirken soll. Zentraler Leitbegriff ist „Lebensqualität“. Steigende oder sinkende „Lebensqualität“ – jetzt als ökologischer Begriff – ist nach Forrester das Zeichen dafür, ob sich das „Weltsystem“ zu besseren oder zum Schlechteren hin bewege. Lebensqualität wird nach Forrester bestimmt durch
(a) materieller Lebensstandard
(b) Nahrungsmittelversorgung,
(c) Ballungsgrad der Bevölkerung und
(d) Umweltverschmutzung.

1972 erscheint der erste Bericht des „Club of Rome“ und D. Meadows publiziert sein Buch „Grenzen des Wachstums“. Darin übernimmt Meadows im wesentlichen Forresters Theorien, verfeinert und differenziert sie. Während Meadows eher am Rande von „Lebensqualität“ spricht, nennt eine Auswertung seines Forschungsberichts durch den „Club of Rome“ als Ziel die Steigerung der „Lebensqualität“.

Ursprünglich wurde also „Lebensqualität“ als rein ökonomisch-materieller Begriff verwendet. Im Zuge der ökologischen Wachstums- und Fortschrittskritik wurde der Begriff „Lebensqualität“ dann zu einem ökologisch-ideellen Wort. Diesen ideologisierten Leitbegriff der „Lebensqualität“ greift Forrester auf.

 

 

Die Übernahme des Begriffs „Lebensqualität“ durch die deutsche Sozialdemokratie

In Deutschland findet der Begriff „Lebensqualität“ ab Mitte der siebziger Jahre Eingang ins öffentliche Bewusstsein der Bevölkerung, jetzt bereits als Eingrenzungsbegriff gegen Wachstum und Fortschritt gerichtet.
Führend ist dabei zunächst Willy Brandt, damals deutscher Bundeskanzler und Wortführer der SPD. Am 13. Juli 1971 hält Brandt vor dem Politischen Club der Evangelischen Akademie Tutzing einen Vortrag[1], der gleichen Akademie übrigens, die 1998 zur Diskussion über „Gesundheit, das höchste Gut unter Kostendruck“ einladen wird.
Die SPD sprach in ihrem Godesberger Programm von 1995 noch von „Lebensstandard“, „Wohlleben“ und von „kultureller, wirtschaftlicher und sozialer Lage“ – nicht von „Lebensqualität“.[2]

Brandt entwirft 1971 in seinem Tutzinger Vortrag ein erstes Konzept der „Lebensqualität“: Ziel sei eine Gesellschaft, in der es um die „Entfaltung“ und „Selbstverwirklichung“ des Menschen geht, in der die (in Brandts Worten) „kollektive Komponente des Lebensstandards – oder der Lebensqualität – immer wichtiger wird.“ [3] Das sollte ein kritische Abgrenzung sein gegen eine einseitige Konzentrierung auf das Bruttosozialprodukt in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung.

In der Folge erlebt der Begriff eine wahre Inflation und wird zu einem gängigen Wort des allgemeinen Sprachgebrauchs. Die SPD führte ihren Wahlkampf mit diesem Wort. Im Metallarbeiterstreik von Baden-Württemberg 1976 wurde er zum Kampfbegriff. Die IG-Metall veranstaltet 1972 einen internationalen Kongress zum Thema „Lebensqualität“.

1973 schliesslich erlebt der Begriff Lebensqualität seinen politischen Durchbruch in der Regierungserklärung der Regierung Brandt/Scheel: „Die Qualität des Lebens ist zu einem zentralen Begriff unserer politischen Arbeit geworden. Sie darf nicht zur abstrakten Formel gerinnen.“

Interessant ist ein Hinweis von K. W. Thomas, der sagt: Dieser Ausdruck wurde weder von Eppler noch von dem ebenfalls erwähnten Club of Rome geprägt, sondern ist ein im Laufe vieler Jahre hemmungslosen Gebrauchs stark abgenutzter Kampfschrei (…) amerkikanischer Soziologen, Ökologen und der ihnen anhängenden studentischen Jugend gegen die Konsumgesellschaft mit ihrem Daseinsideal der quantity of life.“[4]

Eppler, unter Brandt/Scheel Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit, ist einer der Multiplikatoren des Wortes Lebensqualität. Er hat sich derart viel zu dem Thema geäussert, das er zuweilen als Schöpfer des Wortes gehandelt wird. Eppler baut den Begriff inhaltlich und gesellschaftspolitisch aus: „Lebensqualität ist mehr als höherer Lebensstandard. Lebensqualität setzt Freiheit voraus, auch Freiheit von Angst. Sie ist Sicherung durch menschliche Solidarität, die Chance zur Mitbestimmung und Selbstverwirklichung, zum sinnvollen Gebrauch der eigenen Kräfte in Arbeit, Spiel und Zusammenleben, zur Teilhabe an der Natur und den Werten der Kultur, die Chance gesund zu bleiben oder zu werden. Lebensqualität meint Bereicherung des Lebens über den materiellen Konsum hinaus.“

Mit von der Partie ist Jochen Steffen (der „rote Jochen“, der zur von Ost-Berlin bezahlten Konkret-Gruppe um Röhl gehörte). Steffen„Das Ziel Lebensqualität ist, den Menschen und die Entfaltung seiner Möglichkeiten zu Masstab zu machen.“

Der Begriff bekommt 1987 bei Zapf den für die Euthanasiedebatte so gefährlichen Touch: Lebensqualität sind für ihn die „guten Lebensbedingungen, die mit einem positiven subjektiven Wohlbefinden einhergehen.“! Einem subjektivenWohlbefinden! Wenn es also unerträglich ist, dass kann man es töten, das Leben, das keine „Qualität“ mehr hat! Hier ist der Link zun Euthanasie!
Es ist keine Zufall, dass Eppler 1998 zusammen mit dem Schweizer Euthanasieideologen Cavalli in Boldern über „Neue Werte für das nächste Jahrhundert“ diskutiert.

[1] In: W. Brandt. Reden und Interviews. Hamburg 1971, S. 576-584.
[2] Grundsatzprogramm der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Beschlossen vom Ausserordentlichen Parteitag der SPD in Bad Godesberg vom 13. bis 15. November 1959. Köln. S. 17.
[3] In: W. Brandt. Reden und Interviews. Hamburg 1971, S. 576-584.
[4] K. W. Thomas. Qualität des Lebens. In: Sprachsienst 17 (1973) 46-47.

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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