Wer erinnert sich noch daran, dass der deutsche Bundeskanzler Kohl Gorbatschow einmal mit Goebbels verglichen hat? Aber Gorbatschow hatte verkündet: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen!“ Wollte er nicht die UdSSR „umgestalten“? Woltte er nicht ein „neues Denken“ fördern? Sollte nicht alles anders werden? Und da der Vergleich mit Goebbels – nein, das ging zu weit!
Am 27. 1. 1987 hält Gorbatschow eine bemerkenswerte Rede vor dem Zentralkommittee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. Im Februar liegt sie dem deutschen Publikum übersetzt vor.[1] Der Rowohlt Verlag macht damit dem Lesepublikum ein wichtiges historisches Dokument zugänglich. Der Verlag geht jedoch weiter. Er preist in seiner Ausgabe Gorbatschow als wahren Demokraten an. Das Titelzitat lautet dementsprechend: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“. Ebenso die hintere Umschlagseite: „Unser Feind hat uns durchschaut, unsere Atommacht schreckt ihn nicht. Die USA beunruhigt nur eins: wenn sich bei uns eine Demokratie entfaltet.“[2] Man hat dieses Zitat gerne so gelesen: In der UdSSR soll es jetzt eine wirkliche Demokratie geben.
Liest man die Rede jedoch genau, wird klar, dass es Gorbatschow nicht um einen demokratischen Verfassungsstaat mit Gewaltenteilung, Garantie der Menschenrechte und wirklicher Volkssouveränität geht.
Gorbatschow will neuen „strategischen Kurs“ (11). Eine „Umgestaltung“ (11) der UdSSR und der „Kaderpolitik der Partei“ (11). Auf dem Spiel stehe das „Schicksal des Sozialismus“ (12). Er will „unsere Bewegung beschleunigen“ (13) und „die dem Sozialismus wesenseigene Fähigkeit zur ständigen Selbstvervollkommnung“ (13) beweisen.
Was will Gorbatschows „umgestalten“? Was bedeutet „Umgestaltung“? Gorbatschows Antwort:
„Vor fast sieben Jahrzehnten hat die Partei Lenins das siegreiche Banner der Sozialistischen Revolution (…) über unserem Land gehisst. (…) Unter der Führung der Partei hat das Sowjetvolk den Sozialismus aufgebaut, den Sieg über den Faschismus im Grossen Vaterländischen Krieg errungen, die Volkswirtschaft wiederaufgebaut und gefestigt sowie seine Heimat zu einer starken Macht entwickelt. Unsere Leistungen sind gewaltig und unbestreitbar (…) Sie sind die stabile Grundlage für die Realisierung der heutigen Pläne (…).“ (15)
Nach Lenin sei es bergab gegangen. Die sozialistische Entwicklung habe begonnen, „an Entwicklungstempo zu verlieren, es begannen sich Schwierigkeiten und ungelöste Pobleme zu häufen (…) Das alles wirkte sich ernsthaft auf die Wirtschaft sowie auf die sozialen und geistigen Sphären aus.“ (15) „Objektiv reifte in der Wirtschaft und auch auf anderen Gebieten die Notwendigkeit von Verändeurngen heran, aber in der politischen und praktischen Tätigkeit der Partei und des Staates fand sie keine Realisierung.“ (16) „Der Hinweis Lenins, dass der Wert der Theorie darin besteht, dass sie <alle Widersprüche, die im Leben bestehen> (…), genau abbildet, wurde zum Teil einfach ignoriert.“ (16) Die Vorstellungen von Sozialismus sei daher „auf dem Niveau der 30er bis 40er Jahre“ (16) geblieben. Die „Dialektik seiner Triebbkräfte“ (16) sei vernachlässigt worden.
Was waren die Ursachen für den Niedergang? Gorbatschow: „Die leninschen Thesen vom Sozialismus wurden vereinfacht aufgefasst und nicht selten ihrer theoretischen Tiefe und Bedeutung beraubt. (…) Dadurch wurden die historische Bedeutung des Sozialismus geschmälert und der Einfluss der sozialistischen Ideologie geschwächt.“ (17)
Wenn es in der UdSSR mehr Demokratie geben soll, was ist dann mit der Frage des Eigentums? Gorbatschow antwortet: Es gab Menschen, die stahlen „sozialistisches Eigentum“. (18) Das „Kollektiveigentum“ sei immer mehr als „etwas Zweitrangiges und Perspektivloses hingestellt“ (18) worden. Es seien „irrige Ansichten über individuelle Nebenwirtschaft und Erwerbstätigkeit“ (18) aufgekommen. „Die Autorität des Plans als Hauptinstrument der Wirtschaftspolitik wurde untergraben (…)“. (18) „Das führte dazu, dass die gewaltigen Vorzüge des sozialistischen Systems der Wirtschaftsführung und vor allem ihre Planmässigkeit uneffektiv genutzt wurden.“ (18) Das marxsche „Wertgesetz“, heisst die marxsche „Ware-Geld-Beziehung“ sei als unsozialistisch hingestellt worden. (18)
Nun zählt er die bestehenden Ungerechtigkeiten auf. Diese aber, so Gorbatschow, seien die Folge davon, dass man Lenin abgewichen sei. Nicht die Folgen des Marxismus-Leninismus’. Weilman nicht mehr auf Lenin gehört habe, sei es einem „Absinken der Aktivität des Menschen in der Arbeit und im gesellschaftlichen Leben, zum Nachlassen von Disziplin und Ordnung.“ (19) gekommen. Seit den Siebzigerjahren sei daher des Wachstum des russischen Nationaleinkommens um mehr als die Hälfte gesunken. Das Plansoll sei nicht mehr erfüllt worden. (20) Wohnverhältnisse, Lebensmittelversorgung, Transportwesen, Gesundheitswesen, Bildungswesen hätten sich nicht mehr verbessert. (19) Ungerechtfertigte Prämien und Vergünstigungen seien bezahlt, Gewinnabrechnungen gefälscht worden und Schmarotzertum sei aufgekommen, „die Psychologie der <Gleichmacherei> begann sich im Bewustssein festzusetzen“. (19) Arbeitselan und „sowjetischer Patriotismus“ seien gesunken (19). Die Menschen hätten kein Interesse mehr an der sozialistischen Gesellschaft, würden gleichgültig oder skeptisch gegen sie, moralische Anreize hätten keine Wirkung mehr. Konsumdenken, Streben nach rein materiellem Wohlstand und Bereicherung um jeden Preis würden zum alleinigen Ziel des Menschen. Trunksucht, Drogenmissbrauch und Kriminalität nähmen zu. (19) Gesetze würden missachtet. Korruption, Katzbuckelei, Lobhudelei und Augewischerei nähmen zu. (20) Und so geht es fort durch alle Bereiche der Gesellschaft.
Dann die Partei: „Unsere Parteiorganisationen (…) vernachlässigten die Herausbildung der ideologischen und politischen Eigenschaften der Kommunisten.“ (22) Der „strikten Einhaltung der leninschen Prinzipien und Normen des Parteilebens“ wurde „nicht genügend Aufmerksamkeint“ geschenkt. (22) Und: Die Rolle der Parteiversammlungen sei unterschätzt worden, „wodurch Kommunisten die Möglichkeit verloren, aktiv an der Beratung lebenswichtiger Fragen teilzunehmen und letztendlich wirklich auf die Lage in den Arbeitskollektiven und in der ganzen Gesellschaft Einfluss zu nehmen.“ (22)
Fazit: Wir müssen die Zügel anziehen. Die Partei muss die Sache noch besser in die Hand bekommen! Und vor allem: Zurück zu Lenin! So sein Fazit. Das Schlamassel sei entstanden, weil der „strikten Einhaltung der leninschen Prinzipien und Normen des Parteilebens … nicht genügend Aufmerksamkeint“ geschenkt worden sei. (22)
Wie aber reimt sich das mit Gorbatschews Slogan: „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“? Zur Erinnerung: Für Lenin war der Staat „eine Maschine zur Aufrechterhaltung der Herrschaft einer Klasse über eine andere.“ Lenin hielt das Regierungssystem Kerenski für ‚Demokratismus’ und putschte es weg. Seine bolschewistische Diktatur nannte er ‚Demokratie’. Jetzt herrschten die „Richtigen“. Dass das nur dem Namen nach eine Dekokratie war, steht mittlerweile in Geschichtsbüchern.
Was also wollte Gorbatschew mit seinem Zurück-zu-Lenin? Und: Hat Kohl ihn daher mit Goebbels verglichen?
Anmerkungen
[1] Gorbatschow, Michail. Die Rede „Wir brauchen die Demokratie wie die Luft zum Atmen“. Referat vor dem ZK der KPdSU am 27.1.1987. Rowohlt Verlag. Reinbek 1987. (= rororo Aktuell 12168)
[2] Gorbatschow im Juni 1986 vor sowjetischen Schriftstellern.