Moritz Nestor
7. Oktober 2016
Die 31-jährige Sophie Dannenberg (Pseudonym), Jahrgang 1971, hat mit ihrem Roman Das bleiche Herz der Revolution eine Darstellung der Kulturrevolution von 1968 aus der Perspektive eines ihrer Opfer vorgelegt, der noch reden geben wird – und muss. Ein literarischer Versuch, 1968 und danach zu beschreiben, und zwar jenseits der Klischees der herrschenden Geschichtsschreibung, die 68 harmlos „Studentenbewegung“ nennt, welche angeblich „Verkrustungen aufgebrochen“ und die Republik liberalisiert, ja sie erst wirklich gegründet habe.
1968 war vor allem Kampf gegen und Zerstörung von Familie und Bildung. Günter Amendt schrieb damals das Buch „Kinderkreuzzug“ und redete stolz davon, Jugend sei „Terror“. Unser damaliger Klassen- und Schulsprecher Degler machte in einem Beitrag meinen Vater, seinen Klassenlehrer, fertig. Was der herrschenden Geschichtsschreibung über 68, die im Wesentlichen die Geschichtsschreibung der herrschenden 68er ist, gerne als „freiheitliche“ oder „antiautoritäre“ Erziehung nennen, entlarvt Sophie Dannenberg als Demütigung des Kindes, das durch die Ideologie so mancher ideologisch eingleisiger Eltern in eine fast psychotische Wahnwelt getrieben wird. Ihre eindrücklichen Beschreibungen machen klar, „mit welcher Leichtfertigkeit die Eltern von 1968 ihren Nachwuchs enteignen konnten. Mit welcher euphorischen Brutalität komplette Kindheiten durch die Planspiele ihrer Eltern zerstört wurden. Der Exorzismus von Kapitalismus und Bürgerlichkeit aus den eigenen Kindern gehörte zu den Feinheiten des Klassenkampfes jener Zeit. … Sophie Dannenbergs Roman kann daher ‑ um es im Jargon jener Zeit zu formulieren ‑ dazu beitragen, den Hochmut der Ideologen vor den Fall zu bringen. Da ihrem Roman keinerlei Ideologie zu Grunde liegt, ist er weder Pamphlet gegen die so genannten 68er, noch ist er ein Traktat für eine bessere Welt. Die Autorin ist in der deutschen Geschichte bei einem Stoff fündig geworden, hat ihn in einen erstaunlichen Text verwandelt.“, schreibt Joachim Bessing in der Welt am Sonntag[1].
Und bemerkenswert: Dannenbergs Roman zeigt die „Revolte“ nicht nur aus der Sicht der mit Arbeiterliedern und Internationale erzogenen, als Versuchskaninchens der antiautoritären Erziehung bis ins Schlaf- und Kinderzimmer hinein von den freudomarxistischen Ideologie der Eltern verfolgten und schliesslich zur Psychoanalyse gezwungenen Tochter zweier Revolutionäre der ersten Stunde. Opfer sind schon die „fortschrittlichen“ Eltern selbst: Dannenberg lässt den Grossvater der beiden 68er Eltern, der Soldat im Zweiten Weltkrieg war, in Ostpreussen Schreckliches durchlebte und von dem sich seine Kinder mit der notorischen Überheblichkeit jener Zeit distanzierten, die Tragik in den bewegenden Sätzen zusammenfassen:
«Meine Kinder, die kennen meine Geschichte, aber es ist nicht die ihre. So wie ich Eltern und Grosseltern habe, so habe ich keine Kinder. Meine Kinder sind nicht meine Erben. Sie führen nicht fort. Sie sind fortschrittliche Menschen, stolze Besitzer eines selektiven Gedächtnisses, ohne Neugier, ohne Mitleid, ganz und gar gnadenlos. Irgendwann wollten sie wissen, was ich im Kriege gemacht habe. Ich habe begonnen zu erzählen. Das Ritterkreuz war ein Schandfleck für sie, dafür sollte ich um Verzeihung bitten. Ich glaube, sie hätten darin ein Taufritual gesehen, nur umgekehrt. Danach bin ich verstummt. Und sie auch.»
Ein nötiges Buch. Wer die Zeit miterlebt hat, wird jede ihre Facetten – zum Teil selbstironisch lachend, zum Teil tief erschreckt – wiedererkennen. Dies kann nur ein wertvoller Anfang sein. Die wirkliche Geschichtsschreibung über die Kulturrevolution von 1968 hat unter anderem mit derartigen Büchern erst begonnen.
[1] Joachim Bessing: «Zeig doch mal» oder: So unfrei war die freie Liebe. Welt am Sonntag vom 15.8.2004.