Günter Amendt: «Jugend und Terror sind synonym» oder die Verweigerung des rationalen Diskurses

Moritz Nestor


Günter Amendt: «Jugend und Terror sind synonym» oder die Verweigerung des rationalen Diskurses


 

Eine der wichtigsten politischen Thesen der Studentenrevolte von 1968 war: Wir können und wollen nicht Antwort geben, wie wir uns eine klassenlose sozialistische Gesellschaft konkret vorstellen. 1968 ruft zum Beispiel der damals führende SDS-Funktionär Günther Amendt zusammen mit dem damaligen Schulsprecher des Markgraf-Ludwig-Gymnasiums zu Baden-Baden, Günter Degler, zum «Kinderkreuzzug» [1] auf und verkündet mitten in einem freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat: «Jugend und Terror sind synonym.» [2]

An einer Diskussion etwa um die gleiche Zeit herum in Zürich sagte Amendt: «Ich weiss gar nicht, was Sie gegen die autoritäre Erziehung haben. Das waren unsere besten Barrikadenkämpfer!» [3]

Indem diese autoritär erzogenen Kinder ihren durch Sexualtabus eingeklemmten Aggressionstrieb ausleben lernen würden und zum Beispiel Lehrer zusammenschlügen [4]), statt zu zu lernen, entstehe – beschreibt Amendt im «Kinderkreuzzug» – schon unter den Kleinsten «eine unerwartete Generation zehnjähriger Revolutionäre»,[5] revolutionär «wie die fünfzehnjährigen Kinder Vietnams sind, die mit der Waffe als Vietkong kämpfen.»[6]

Wozu sollen die Kinder gegen ihre Eltern und Lehrer Krieg führen? Wer von den Kindern und Jugendlichen ist damals nicht durch diese Frage in Verlegenheit gekommen, weil er keine Ahnung hatte, wofür er eingespannt wurde? Amendt gibt die bezeichnende Antwort: «Der stupiden Aufforderung zu sagen, was sie eigentlich wollen, wie die Gesellschaft aussehen soll, für die sie eigentlich kämpfen, gehen sie unbekümmert aus dem Weg. … In ihrem persönlichen Anspruch liegt ihr Glaubwürdigkeit …»[7]

Der vollständige Wortlaut dieses unglaublich zynischen  Zitats lautet:

«Der stupiden Aufforderung zu sagen, was sie eigentlich wollen, wie die Ge­sellschaft aussehen solle, für die sie kämpfen, gehen sie unbekümmert aus dem Weg. Sie bestehen auf dem, was sie jetzt nicht wollen. Der Vorwurf der Programmlosigkeit kann sie nicht treffen, und indem sie sich gegen ihn immun» zeigen, entziehen sie sich der ihnen zugedachten Rolle, spätere Elite zu sein.» [4] «In ihrem persönlichen Anspruch liegt ihre Glaubwürdigkeit. […] Ihre Bedeutung liegt nicht in dem Programm, das sie hätten, sondern in dem Beispiel, das sie geben. Deshalb hat in der Schülerbewegung die Frage das Primat über die Antwort, weil die Schüler wissen, dass Antworten in dieser Gesellschaft doch nur Werbeantworten sind, die nichts als Trostpreise versprechen. Die Antwort gibt es später.» [4] «Die Osteroffensive gegen den Springer-Konzern in der Bundesrepublik, der Mai-Aufstand in Frankreich waren ein Anstoss, aus Kindern Revolutionäre zu machen (revolutionär wie die fünfzehnjährigen Kinder Vietnams sind, die mit der Waffe als Vietkong kämpfen). Die Jugend, die an den Unruhen teilnahm, wurde unwiderruflich politisiert, … Anstatt von Programmen reden sie von Bedürfnissen, und zwar beharrlicher als jemals eine Generation vor ihnen. … sie gehen damit ans Äusserste in einer Gesellschaft, wo die ‚Baumeister der Zukunft’ nur Mauern errichten, die die Perspektive verstellen.» [4]

So schwätzte ein 30-jähriger Doktorand mitteleuropäischen Kindern ein, sie sollten wie die Vietnamesen in den «Kinderkreuzzug» ziehen: Wenn ich behaupte, in meinem «persönlichen Anspruch» liege meine «Glaubwürdigkeit», dann setze ich mich absolut. Das ist die offene Verweigerung des Diskurses. Wenn der Wille zur Macht meine Glaubwürdigkeit sein soll, dann benehme ich mich wie ein Faschist oder als absolutistischer Potentat. Mit «Weil es mir beliebt» unterschrieb der absolutistische Herrscher  Ludwig XIV. seines Ordres.

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Aus: Amendt, Günter et. al. Kinderkreuzzug oder beginnt die Revolution an den Schulen? Reinbek b. Hamburg 1968, S. 34.

Das nebenstehende Bild aus Amendts «Kinderkreuzzug» macht sinnfällig, was es hiess, dass die Führer der «antiautoritären Bewegung» den minderjährigen Schülerinnen und Schülern rieten, nicht Rechenschaft darüber ablegen zu wollen, wie sie sich die neue Gesellschaft vorstellte, sondern im Kampf ein «neues Bewusstsein» erwerben wollte: Zuerst schlagen, dann denken! Das war die bewusste Verweigerung des rationalen Diskurses.

 

Logik des Ganzen: Wenn diese jugendlichen Terroristen «wie die fünfzehnjährigen Kinder Vietnams» ihre Lehrer zusammenzuschlagen, dann bräuchten sie keine Gründe und keine Legitimierung. Wer zuerst denkt, ehe er handelt, der bejahe das Alte! Wer das Denken verachte, und stattdessen den Feind angreife, wo er ihn treffe, der werde zum «neuen Menschen». Welch ein Fortschritt! Der Wille rechtfertigt die Gewalt! Das Denken ist ausgeschaltet. Wieviel Unglück hat der Satz «In ihrem persönlichen Anspruch liegt ihre Glaubwürdigkeit» 1968 in die Familien gebracht!

Bei Rudi Dutschke, dem anerkannten Führer der Bewegung, hiess es: «Ein neues Konzept kann noch nicht vorhanden sein, kann nur im praktischen Kampf … erarbeitet werden.»[8]

Sein Freund Rabehl  forderte im gleichen Sinn, «dass man in der Gegenwart … sich nicht vertrauensvoll dem Programm einer ‚sozialistischen’ Partei anschliessen darf oder Illusionen über die Parlamentarischen Auseinandersetzungen hegen kann, sondern allein die direkte Aktion gegen die irrationale Herrschaft … kann Bewusstsein darüber schaffen, dass diese spätkapitalistische Gesellschaft ersetzt werden muss durch eine sozialistische Gesellschaft». [9]

Auch Sartre sah im gedankenlosen Dreinschlagen die eigentliche Bildung: «… nicht nur die Studenten, sondern auch die Gymnasiasten. Kinder im Alter von zehn Jahren, die ältere Brüder und Schwe­stern haben, wissen nach der Erfahrung des Mai bereits, warum sie diese Gesellschaftsordnung nicht mehr wünschen. … Die jungen Leute begreifen das sehr schnell, und deshalb tritt heute eine unerwartete Generation zehnjähriger Revolutionäre in Erscheinung.»[10]

Das Resultat beschreibt 2004 Sophie Dannenberg in ihrem Roman Das bleiche Herz der Revolution: «Sie sind fortschrittliche Menschen, stolze Besitzer eines selektiven Gedächtnisses, ohne Neugier, ohne Mitleid, ganz und gar gnadenlos.»  [11]

 

 


 

 

Anmerkungen

[1]   Amendt, Günther. Kinderkreuzzug. Oder beginnt die Revolution an den Schulen? Reinbeck 1968.
[2]   ebd, S. 29.
[3]   Amendt 1968 in einer Diskussion in Zürich.
[4]   Amendt, Günter. Kinderkreuzzug, S. 35.
[5]   ebd.
[6]   ebd.
[7]   ebd.
[8]   Dutschke, Rudi. Die Widersprüche des Spätkapitalismus, die antiautoritären Studenten und ihr Verhältnis zur Dritten Welt. In: Bergmann, Dutschke, Lefévre, Rabehl (1968): Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition. Hamburg: Reinbek, S. 91.
[9]   Rabehl, Bernd: Von der antiautoritären Bewegung zur sozialistischen Opposition. In: Bergmann, Dutschke, Lefévre, Rabehl (1968): Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition. Hamburg: Reinbek, S. 178.
[10]   Jean-Paul Sartre Interview. In: Der Spiegel, Nr. 29, Jg. 22.
[11]   Sophie Dannenberg: Das bleiche Herz der Revolution, München 2004

 

Autor

Moritz Nestor, Psychologe

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