Wenn das Bonum Commune die freie Entfaltung des Menschen in und durch Gemeinschaft ist, dann ist die Aufgabe der Humanwissenschaften die Sicherung des Lebens durch die wissenschaftliche Erforschung der Bedingungen, unter denen der Mensch Mitmensch werden und sein kann. Wir stehen jedoch heute vor der erschreckenden Tatsache, dass ein grosser Teil der heutigen Wissenschaften vom Menschen diesen ihren eigentlichen Fachgegenstand nicht mehr oder noch nicht hat. Sie beschreiben – vielfach überzogen mit einer ideologischen Frostschicht – den Menschen als Klasse, Reflex der Ökonomie, black box, System, Schnittpunkt, Rolle, nur nicht als Person und soziales Wesen.
Wo und wie kann die eigentliche Bestimmung (wieder)erlangen werden? Lassen Sie mich dazu kurz historisch zurückgreifen auf eine humanwissenschaftliche Tradition, die die heutige Gesellschaft fast vergessen hat: Das Naturrecht war im Grunde das Projekt einer Wissenschaft vom menschlichen Zusammenleben. Thomas von Aquin nannte es ja gerade daher das die „Theologie der Natur“. Neben der Offenbarung war sie für ihn eine eigenständige Methode für die Erkenntnis der natürlichen Regeln des menschlichen Zusammenlebens. Die Naturwissenschaftler haben seit Galilei die Gesetze der unbelebten Natur untersucht. Die Naturrechtler untersuchten die Sozialnatur des Menschen und fragten, welche natürlichen Regeln der Zusammenleben aus ihr ersichtlich sind. Die Naturrechtler übertrugen nicht einfach Zählen, Wiegen, Messen auf das Zusammenleben der Menschen. Sie passten die rationale wissenschaftliche Methode ihrem Untersuchungsgegenstand richtig an und beobachteten, wie der Mensch sich zum Menschen entwickelt und wie er als Mensch würdig und in freiem gerechten Frieden sich entwickeln und leben kann. Die Bedingungen für eine würdige freie Existenz, auf deren Erfüllung ein jeder Mensch einen natürlichen Anspruch hat nannten die Naturrechtler natürliche Rechte oder Menschenrechte.
Ob die aufgestellten Regeln des Zusammenlebens richtig waren, prüften die Naturrechtler nicht wie Galilei im Labor mit Uhr und Metermass. Die Prüfung des Erfolgs des Naturrechts erfolgte im historischen Wandel von Absolutismus und Gottesstaat hin zum freien Rechtsstaat. Der Erfolg des Naturrechts lag seinem neuen Menschenbild begründet, das vor der Geschichte eine glänzende Probe ablegte. Es hatte gewaltige historische Erfolge: Es erkannte den Eigenwert des Individuums und die Kindheit als eigenständige Entwicklungsphase und sah, dass der Gang der Erziehung dem natürlichen Entwicklungsgang des Kindes angepasst sein muss. Würdiges Leben setzt voraus, dass Herrschaft von Menschen über Menschen nur durch Vertrag möglich ist. Aus dem Naturrecht entstand der moderne Verfassungsstaat mit seinen drei Säulen: Menschenrechte, Gewaltenteilung und Demokratie. Durch ihn wurden Adel und Klerus unter das gerechte Recht genommen und Bürgerkriege und Religionskriege wirklich überwunden.
Eigentlich wäre das Naturrechts damit der Traditionsstrang gewesen, an den die Humanwissenschaften hätten anschliessen könnten. Die Aufklärung versuchte dies auch. Die Franzosen fügten zum Beispiel der Volkssouveränität die (wissenschaftliche) Bildung bei und die Forderung nach einem allgemeinen öffentlichen Bildungssystem. Die Aufklärung betonte gerade, dass Meinungen über das Zusammenleben mit dem Mittel der Vernunft an den Tatsachen des Lebens geprüft werden müssten. (Das Prüfen von Meinungen mittels Vernunft an der Realität ist schliesslich der Kern der wissenschaftlichen Methode.)
Es wäre ein eigenes Thema die Gründe alle zu nennen, warum das Naturrecht nicht oder kaum zur geistigen Grundlage der Humanwissenschaften wurde, als sich diese im 19. Jahrhundert aus der Philosophie lösten und zu eigenständigen universitären Disziplinen wurden. Entscheiden war der Bruch, der mit dem Marxismus durch das gesamte Geistesleben ging. Das Naturrecht «geriet in Vergessenheit». Der Marxismus brach radikal mit allen philosophischen, staatsrechtlichen und sonstigen Grundlagen des bisherigen konstruktiven europäischen Geisteslebens, brach damit, dass der Mensch eine feste (Sozial)Natur hat, dass er überhaupt eine Natur hat; dass er Person ist. In diesem Bruch mit der personellen Auffassung folgten, anders und auf seine Weise, Freud, statistische Methoden. Hatte das Naturrecht die Befreiung des Menschen durch das Recht verkündet, weil es an der menschlichen Person und ihrer Sozialnatur festhielt, so brach Marx mit der Person, nahm dem Menschen die Vernunft und seine Sozialnatur und verkündete, dass die Befreiung nur über Terror und Diktatur verlaufen könne.
Die neuen universitären Humanwissenschaften griffen leider zu einem sehr grossen Teil auf den Marxismus, später auch auf die Freudsche Triebtheorie oder biologistische Konzepte zurück. Oder sie versuchten, den Menschen in das Prokrustesbett fachfremder Methoden aus den Naturwissenschaften zu zwingen. Oder aber sie erklärten den Menschen für grundsätzlich nicht erforschbar. Zu einem grossen Teil verloren sie dadurch ihren eigentlichen Fachgegenstand, den Menschen, die menschliche Person, das soziale Wesen des Menschen.
Nur ein kleinerer Teil der Wissenschaftler – in der Tiefenpsychologie zum Bespiel Alfred Adler, teilweise die Neoanalytiker ‑ griff auf die naturrechtliche Tradition bzw. die personale Auffassung von Menschen zurück. Dabei wäre gerade in der Psychologie ein solide personale Grundlage von grosser Tragweite gewesen und man hätte an die grossen naturrechtlichen Pädagogiken des 18. Jahrhunderts anschliessen und sie weiterentwickeln können. Es war ja ein «altes Postulat der Pädagogik, dass die Erziehung bei den Erziehern beginnen soll. Doch erst durch die Forschungen der Tiefenspychologie wurde deutlich, in welch tiefgreifendem Masse die Persönlichkeit des Erziehers auf den psychischen Werdegang des Kindes einwirkt.»[1] Gemeint ist das schmale Rinnsal jener Tiefenpsychologen, die der personalen Auffassung vom Menschen und damit der naturrechtlichen Tradition entsprechen.
Oder nehmen wir den Bereich der Soziologie: Statt sich in Klassenkampf zu üben und den Menschen nur noch als «gesellschaftliche Rolle» oder Reflex der Ökonomie abzuwerten, hätte sie heute die schöne und herausfordernde Aufgabe, die Lebensbedingungen der Gesellschaften genau zu untersuchen und die innerhalb der Gesellschaften entwickelten Wertvorstellungen und deren Entstehung zu untersuchen und auf dem Hintergrund des personalen Menschenbildes vom Menschen als sozialem Wesen, abzuwägen.[2] Hier könnten sich eine Soziologie und eine Psychologie, die sich beide auf das personelle Menschenbild besinnen, gegenseitig wertvolle Hilfe leisten. Der Psychologe hat es nämlich im therapeutischen Arbeitsfeld nicht nur mit isolierten Einzelfällen zu tun. Er erkennt in der Fülle individudueller Lebensstile und Lösungsversuche, die er tagtäglich erlebt, auch gemeinsame Züge, die er mit bestimmten herrschenden Werten in der Gesellschaft in Verbindung setzen kann. Dazu kann ihm der Soziologe wichtige Analysen und Hintergrundwissen zur Verfügung stellen.
Wir sehen zum Beispiel heute Lehrer verzweifeln, weil sie im Unterricht mit dem, was früher einmal geklappt hat an didaktischer Kunst und psychologischem Wissen, immer weniger etwas ausrichten können. Das allein kann zu schweren seelischen Belastungen und Persönlichkeitskrisen beim Lehrer führen. Kann der Psychologe auf eine wissenschaftliche Analyse über die gegenwärtige soziologische Entwicklung der gesellschaftlichen Werte zurückgreifen, wird er dem Lehrer erklären können, dass die Schule in unserer Gesellschaft immer weniger der Menschen- und Charakterbildung dient. Sonst gerät der Psychologe in Gefahr, gesellschaftliche Faktoren fälschlicherweise der Lebensgeschichte des einzelnen zuzuordnen und ihn auf sich zurückzuwerfen. Natürliche können auch unaufgearbeitete Anteile aus der Lebensgeschichte in die gesellschaftlichen Faktoren hineingemischt sein. Von Fall zu Fall muss die Mischung immer auf dem Hintergrund der gesellschaftlichen Werteentwicklung individuell abgeklärt werden. «Durch sorgfältigen Vergleich lassen sich dann die Grundfaktoren herausschälen, durch welche eine neurotische Entwicklung erst möglich ist.»[3] Aus diesem Zusammenwirken zweier Humanwissenschaften kann eine am Problem gereifte und gestärkte Lehrerpersönlichkeit hervorgehen, die trotz ‑ ja gerade wegen ‑ der laufenden Zerstörung der Schule immer noch einen pädagogischen Weg zur Seele der ihm anvertrauten Kindern findet und ihnen ein Mass an Vertrauen und Stabilität vermitteln kann, das sie wappnet, auch schwerere Zeiten zu überstehen, ohne den Glauben an den Menschen zu verlieren.
Das ist ein Beispiel, wie der Humanwissenschaftler die Menschen unterstützen kann, tatkräftig am mitzuhelfen, menschenwürdige Verhältnisse (wieder oder besser) gemeinsam mit allen und für alle zu schaffen. In diesem Prozess können alle Humanwissenschaften auf dem Hintergrund der personalen Auffassung vom Menschen gegenseitig zusammenwirken. So können sie auch einen Masstab für eine menschliche politische Ethik schaffen, die die Befreiungstheologie und andere in ihre Schranken weist: Die Prinzipien einer politischen Ethik sind nicht direkt aus der Bibel ableitbar, sie sind nicht ideologisch verordnet oder eine Frage der Taktik, sondern sie kommen allein aus der Menschennatur und der Forderung, dass zum allgemeinen Wohl jeder Mensch sich frei in und durch Gemeinschaft entfalten können muss. Das ist anti-totalitär und zeigt mit wissenschaftlicher Objektivität dem Menschen die Möglichkeit, wie er mit seinesgleichen in Frieden leben kann.
Und das ist meiner Meinung nach der richtige, der würdigste und der schönste Beitrag, den der Humanwissenschaftler an das Bonum Commune leisten kann.
Der Fachgegenstand der Humanwissenschaft ist also der Mensch. (Es ist nötig und beschämend, das sagen zu müssen!) Der freien Entfaltung jedes einzelnen Menschen in einer gerechten und friedlichen Ordnung müssen sie dienen. Das allgemeine Wohl der Humanwissenschaften muss daher sein: die Sicherung des Lebens und die wissenschaftliche Erforschung der Bedingungen, unter denen der Mensch als Person sich frei zum seelisch und körperlich gesunden Erwachsenen entwickeln kann und welches die Bedingungen sind, damit er mit seinesgleichen im gerechten, sicheren Frieden zusammenleben kann.
Gerade weil alle Humanwissenschaften immer mit dem Menschen zu tun haben, ist zu einem gewissen Mass auch immer der Psychologe gefragt, wenn es um den Menschen geht: «Gewiss hat jede Art von menschlicher Einsicht einen bestimmten Wert, aber das Verständnis für die seelischen Reaktionen des Mitmenschen erhält seinen besonderen Rang dadurch, dass es unmittelbar unserer Lebensführung beeinflusst. Um einen Naturvorgang sinnvoll zu verwerten, muss man in der Lage sein, seine Ursachen und Wirkungen zu begreifen; … Ähnlich ist es im Umgang mit Menschen, wo ein gewisses Mass an Menschenkenntnis vorausgesetzt wird, welches darüber entscheidet, ob mitmenschliche Beziehungen sich günstig oder ungünstig gestalten.»[4] «Zählen, Messen, Rechnen, Schematisieren aus den Naturwissenschaften und ihrem Gegenstandsbereich wohlvertraut, versagen im psychischen Bereich.»[5] Die Erkenntnis-Methode muss dem Gegenstand folgen: der unteilbaren Einheit der Person und ihre natürliche Einbindung in die menschliche Gemeinschaft. Wissenschaftliche Grundlage ist die objektiv gegebene, historisch unwandelbare, personale Menschennatur, die nur in und durch Gemeinschaft und in Freiheit und Gewaltlosigkeit entfaltbar ist. Hierzu gehört Objektivität und Wissen, das der Prüfung an der Realität standgehalten hat. Jeder Versuch des Humanwissenschaftler, menschliches Handeln zu beurteilen ist immer auch «eine sittliche Probe» (Liebling). «Er wird nur verstehen, was er selbst an Werten der Einstellung oder der Gesinnung zu realisieren imstande ist.»[6]
Den Menschen zu erforschen ist daher immer auch eine ethische Frage, wie Friedrich Liebling sagte:
„Menschen zu kennen und zu verstehen ist nicht in letzter Instanz eine Problematik der sachbezogenen Praxis, sondern des menschenbezogenen Ethos. Dies unterscheidet jede tiefere Menschenkenntnis von der gewiegten Klugheit oder Menschenbeurteilung eines Kellners, Verkäufers, Portiers u.s.w.; hier wird ein Mensch aus einem bestimmten Aspekt heraus betrachtet und gibt demgemäss auch nichts anderes als diesen Aspekt her.“ [7]
Wer den Menschen wissenschaftlich erfassen will, muss ihn um seiner selbst willen studieren,
„vielleicht ist sogar ein grundlegendes Verstehen nicht abtrennbar von dem Wunsche oder der Neigung, dem anderen zu helfen, ihm zu verhelfen, sein wahres Wesen zu verwirklichen. … Es mag moralisch klingen, aber man kann tatsächlich die Menschen nur verstehen, soweit man sie liebt; und man wird sie besser lieben, wenn man sie besser versteht. Das Grundgefühl eines echten Menschenkenners muss die Achtung vor der Fremd-Persönlichkeit sein.“ [8]
Anmerkungen
[1] Annemarie Kaiser: Das Gemeinschaftsgefühl bei Alfred Adler. Zürich 1977, S. 36.
[2] Vgl. ebd., S. 104. Vgl. auch: Horney, Karen: Neue Wege in der Psychoanalyse.
[3] Annemarie Kaiser: Das Gemeinschaftsgefühl bei Alfred Adler. Zürich 1977, S. 104. Vgl. auch Horney, Karen. Neue Wege in der Psychoanalyse.
[4] Liebling, Friedrich. Psychologische Menschenkenntnis. In: Ders. Aufsätze. Zürich 1992, S. 22.
[5] Ebd., S. 33.
[6] Ebd., S. 37.
[7] Ebd., S. 43.
[8] Ebd., S. 43f.